Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 2016

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Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 2016
Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie
Ergebnisse aus Psychotherapie, Beratung und Psychiatrie
Herausgeberinnen und Herausgeber:
Albert Lenz, Paderborn; Franz Resch, Heidelberg; Georg Romer, Münster;
Maria von Salisch, Lüneburg; Svenja Taubner, Heidelberg
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Univ.-Prof. Dr. med. Franz Resch, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Zentrum für Psychosoziale
Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg, Blumenstr. 8, D-69115 Heidelberg
Univ.-Prof. Dr. med. Georg Romer, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychosomatik und
-psychotherapie, Schmeddingstr. 50, D-48149 Münster
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D-28209 Bremen, E-Mail: [email protected]
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Frühere Herausgeber: R. Adam, M. Cierpka, A. Dührssen, E. Jorswieck, G. Klosinski, U. Lehmkuhl,
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ISSN (Printausgabe): 0032-7034, ISSN (online): 2196-8225
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Inhalt
Editiorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Originalarbeiten / Original Articles
Florian Schepper, Jessy Herrmann, Marlies Gude und Birgit Möller
Geschwister chronisch kranker und behinderter Kinder im Fokus –
ein familienorientiertes Beratungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Focus on Siblings of Children with Chronic Illness or Disability – A Family Oriented
Counselling Program
Wolfgang Hantel-Quitmann und Katja Weidtmann
Familienklima, elterliche Paarbeziehung und kindliche Symptombildung –
Mentalisierungsbasierte Familientherapie bei kindlichem Kopfschmerz . . . . . . . . 22
Family Climate, Parental Partner Relationships and Symptom Formation in Children –
Mentalisation-Based Family Therapy for Childhood Headache
Anna Sidor und Manfred Cierpka
Der Familienbogen (FB-K) – eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens,
seine Reliabilität und Validität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
The Family Questionnaire (FB-K) – A Short Version of the General Family Questionnaire
and its Reliability and Validity
Birgit Leyendecker und Alexandru Agache
Engagement türkischstämmiger Väter im Familien- und Erziehungsalltag fördert
das subjektive Wohlbefinden von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Involvement of Turkish Immigrant Fathers Elevates Children’s Well-Being
Autoren und Autorinnen / Authors 75 | Buchbesprechungen / Book Reviews 76
Tagungskalender / Congress Dates 78 | Aus dem Inhalt des nächsten Heftes /
Preview of the next Issue 80
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Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 1 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
EDITORIAL
Familienresilienz und Familientherapie
Als eine Basiskategorie menschlichen Zusammenlebens stellt Familie in entscheidender Weise den umfassenden sozialen und emotionalen Rahmen dar, in dem sich
positive und negative Entwicklungen der Familienmitglieder und des Familiensystems als Ganzes vollziehen und sich wechselseitig beeinflussen (Petzold, 2002).
Schützende Bedingungen im Familienkontext tragen entscheidend zur Entwicklung
von Resilienz der Kinder bei. Kinder, die ein positives, emotional warmes Familienklima sowie einen stabilen familiären Zusammenhalt erleben, können mit Belastungen
und Problemen besser umgehen. Solche Kinder verfügen offenbar über einen starken
Schutzschirm, der sie widerstandsfähig und krisenfester macht. Neue Studien verweisen
darauf, dass familiäre Schutzfaktoren in der Lage sind, die Widerstandsfähigkeit der Kinder in besonderer Weise zu stärken (Ravens-Sieberer, Wille, Bettge, Erhart, 2007). So zeigen die Ergebnisse der BELLA-Studie, dass sich die familiären Schutzfaktoren hinsichtlich psychischer Auffälligkeit deutlich protektiv auswirken und das Risiko für psychische
Störungen verringern. Bei einem positiven Familienklima und einem guten familiären
Zusammenhalt ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit eines Kindes, depressive Symptome oder Angstsymptome zu entwickeln, etwa halbiert. Familiäre Schutzfaktoren beeinflussen auch deutlich das allgemeine Wohlbefinden und die Lebensqualität der Kinder in wichtigen Bereichen wie der Schule (Ravens-Sieberer et al., 2007).
Resilienz kann als ein Systemgeschehen verstanden werden, indem dynamische, interaktive familiäre Prozesse die Anpassung an Belastungen und ungünstige Umstände
ermöglichen (Walsh, 2003). Das Modell der familiären Resilienz verbindet systemischökologische Sichtweisen und Entwicklungsperspektiven mit dem Ziel, die Funktionsweise der Familie in ihrem sozialen Kontext zu verstehen und in der Problembewältigung zu stärken. Familiäre Resilienz beinhaltet nicht nur den Blick auf die einzelnen
Familienmitglieder als potenzielle Schutzfaktoren für die Resilienz des Individuums,
sondern richtet die Aufmerksamkeit auch auf das Wechselspiel zwischen Risiko und
Resilienz in der Familie als System. Zu den familieninternen Schutzfaktoren gehören
binnenfamiliäre Strukturen und Interaktionsmuster wie Zusammengehörigkeitsgefühl, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und emotionale Verbundenheit, Ausdruck von
Emotionen, offene Kommunikation und die Qualität der Partnerbeziehung (WelterEnderlin u. Hildenbrand, 2006).
Eine resiliente Familie legt Wert auf ein Zusammengehörigkeitsgefühl und sieht in
der Bewältigung der belastenden Lebensumstände eine gemeinsame Herausforderung.
Die Familie kann sich auf unterschiedliche Weise organisieren und auf verschiedene
Situationen einstellen, um mit den Herausforderungen und Belastungen, mit denen
sie konfrontiert ist, angemessen fertig zu werden. Einen weiteren wichtigen Aspekt
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 2 – 4 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
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Editorial 3
der familiären Resilienz stellt Verbundenheit der Familienmitglieder dar. Die Verbundenheit meint die gefühlsmäßige Bindung untereinander und das Gefühl der inneren
Verpflichtungen, sich bei Belastungen und Problemen gegenseitig zu stützen und die
Herausforderungen gemeinsam durchzustehen. Zugleich wird in resilienten Familien
respektiert, dass jedes Mitglied anders ist als die anderen, eine eigene Persönlichkeit
besitzt und auch seine individuellen Grenzen hat (Lenz, 2014).
Walsh (2003) verknüpft die binnenfamiliären Strukturen und Interaktionsmuster
zu familiären Schlüsselprozessen. In den familiären Schlüsselprozessen wirken die
Schutzfaktoren in einem komplex vernetzten Prozess aufeinander ein und beeinflussen sich durch die vielfältigen Wechselwirkungen gegenseitig. Ausgangspunkt ist die
Annahme, dass Krisen und anhaltende Belastungen sich auf die Familie insgesamt
auswirken. Starke familiäre Schlüsselprozesse schaffen Entlastung, während schwache
familiäre Schlüsselprozesse zu einer schlechten Anpassung an die Belastungssituation
aller Familienmitglieder und des familiären Systems führen. Entscheidend sind die
Reaktionen der Familie auf die Belastungen. Sie können die Funktionsweise eines Familiensystems zusammenbrechen lassen, wobei sich die Wirkungen davon allmählich
auf alle Familienmitglieder ausbreiten.
Durch Schlüsselprozesse der Resilienz wird hingegen das Familiensystem befähigt,
Belastungen abzupuffern, sich von Krisen zu erholen, das Risiko der Dysfunktionalität
zu verringern und eine Adaptation an neue Lebensumstände zu unterstützen. Wenn
es einer Familie gelingt, mit den Belastungen umzugehen und sich Schlüsselprozesse
der Resilienz nutzbar zu machen, kann sie gestärkt daraus hervorgehen.
Die Familie ist also ein bedeutsamer Schutzfaktor, zugleich kann sie in bestimmten
Lebensumständen aber auch einen bedeutsamen Belastungsfaktor für die Entwicklung
von Kindern darstellen. Dieser Zusammenhang impliziert, dass familientherapeutischen und familienorientierten Interventionen sowohl in der psychotherapeutischen
oder psychiatrischen Behandlung von Kindern als auch im beraterischen Kontext, wie
z. B. in der Erziehungsberatung, eine zentrale Bedeutung zukommt.
Familienresilienz und Familientherapie werden im vorliegenden Themenheft unter
verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Geschwisterbeziehungen wurden als Thema
in der Familientherapie lange Zeit vernachlässigt. Schepper, Herrmann, Gude und
Möller (2016) stellen in ihrem Beitrag einen Familienberatungsansatz vor, in dem die
Geschwister von Familien mit einem chronisch kranken oder behinderten Kind im
Fokus stehen. Ziel der Kurzzeitintervention ist es, das Risiko für negative Gesundheitsfolgen dieser häufig immer noch „übersehenen“ Kinder zu reduzieren. Als „Architekten der Familie“ (Virginia Satir) sind die Eltern für das emotionale Familienklima in einem besonderen Maße verantwortlich. Wie unter anderem die BELLA-Studie
gezeigt hat, stellt das emotionale Familienklima einen zentralen Schutzfaktor für die
kindliche Entwicklung dar. In dem Beitrag von Hantel-Quitmann und Weidtmann
(2016) werden diese Zusammenhänge behandelt. Die mentalisierungsbasierte Familientherapie (MBF-T) wird als ein wirksamer Ansatz vorgestellt, den Zusammenhang
zwischen Familienklima und elterlicher Paarbeziehung gezielt zu bearbeiten. Die Fa-
4
Editorial
milienbögen (FB) werden seit Jahren sowohl im klinischen Setting zur Familiendiagnostik als auch in der Forschung eingesetzt. Sie basieren auf einem Prozessmodell für
Familie, das erklären kann, wie eine Familie funktioniert. In dem Beitrag von Sidor
und Cierpka (2016) wird eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens (FB-K)
mit 14 Items vorgestellt, die eine anwendungsökonomische Einschätzung der Familienfunktionalität ermöglicht. Leyendecker und Agache (2016) stellen in ihrem Beitrag
eine Studie zur familiären Resilienz in türkischstämmigen Familien mit Vätern der
ersten und zweiten Zuwanderergeneration vor. Untersucht wurde, ob es ein Zusammenhang zwischen väterlichem Engagement im familiären Alltag und dem Wohlbefinden der Kinder gibt.
Albert Lenz
Hantel-Quitmann, W., Weidtmann, K. (2016). Familienklima, elterliche Paarbeziehung und
kindliche Symptombildung – Mentalisierungsbasierte Familientherapie bei kindlichem
Kopfschmerz. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 65, 22-39.
Lenz, A. (2014). Kinder psychisch kranker Eltern (2., vollst. überarb. u. erw. Aufl.). Göttingen:
Hogrefe.
Leyendecker, B., Agache, A. (2016). Engagement türkischstämmiger Väter im Familien- und
Erziehungsalltag fördert das subjektive Wohlbefinden von Kindern. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 65, 57-74.
Petzold, M. (2002). Definition der Familie aus psychologischer Sicht. In B. Rollet, H. Werneck
(Hrsg.), Klinische Entwicklungspsychologie der Familie (S. 22-31). Göttingen: Hogrefe.
Ravens-Sieberer, U., Wille, N., Bettge, S., Erhart, M. (2007). Psychische Gesundheit von Kindern
und Jugendlichen. Ergebnisse aus der Bella-Studie im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey.
Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 50, 871-878.
Schepper, F., Herrmann, J., Gude, M., Möller. B. (2016). Geschwister chronisch kranker und
behinderter Kinder im Fokus – Ein familienorientiertes Beratungskonzept. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 65, 5-21.
Sidor, A., Cierpka, M. (2016). Der Familienbogen (FB-K) – eine Kurzversion des Allgemeinen
Familienbogens, seine Reliabilität und Validität. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 65, 40-56.
Walsh, F. (2003). Family resilience: A framework for clinical practice. Family Process, 42, 1-18.
Welter-Enderlin, R., Hildenbrand, B. (Hrsg.) (2006). Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg: Carl-Auer.
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ORIGINALARBEITEN
Geschwister chronisch kranker und behinderter Kinder im
Fokus – ein familienorientiertes Beratungskonzept
Florian Schepper, Jessy Herrmann, Marlies Gude und Birgit Möller
Summary
Focus on Siblings of Children with Chronic Illness or Disability – A Family Oriented Counselling
Program
In the psychosocial support of families with a chronically ill or disabled child siblings are
increasingly addressed as a target group for prevention and rehabilitation projects intending
to reduce the risk for adverse health consequences. The following article presents a childfocused approach to family counselling as a short-term intervention. Ten flexibly applicable
counselling core points covering commonly reported problems of affected siblings and their
families are available – including the communication about the disease within the family or
the expression of the sibling’s feelings and needs. For this purpose an approach in specific
counselling sessions has been determined which is used similarly by adept child and youth
psychotherapists. The counselling approach is founded theoretically. Furthermore, the counselling approach provides guidance for the structured approach in the diagnosis of potential
difficulties, the choice of core points and setting, the closure of counseling sessions as well as
the recommendation of additional programs.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 5-21
Keywords
siblings – family – short-term counseling – adaptation – disease/illness
Zusammenfassung
Geschwister in Familien mit einem chronisch kranken oder behinderten Kind werden in der
psychosozialen Versorgung zunehmend als Zielgruppe von Präventions- und Rehabilitationsangeboten adressiert, mit der Intention, das Risiko für negative Gesundheitsfolgen dieser „übersehenen“ Kinder zu reduzieren. Vorgestellt wird ein kind-zentrierter Familienberatungsansatz
in Form einer Kurzzeitintervention. Diese ist in verschiedenen, institutionellen Kontexten anwendbar. Dabei stehen zehn flexibel einsetzbare Beratungsschwerpunkte (Foki) zu häufigen
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 5 – 21 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
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F. Schepper et al.
Problemstellungen von betroffenen Geschwisterkindern und ihren Familien im Zentrum, welche beispielsweise die Kommunikation über die Erkrankung innerhalb der Familie oder den
Ausdruck von Gefühlen und Bedürfnissen des Geschwisterkindes fokussieren. Ein dezidiertes
Vorgehen in Beratungseinheiten wird skizziert, welches auf der Praxis erfahrener Kinder- und
Jugendpsychotherapeuten basiert. Der Beratungsansatz ist theoretisch fundiert und bietet eine
Anleitung zum strukturierten Vorgehen in der Problemdiagnostik, Fokus- und Settingwahl,
dem Abschluss der Beratungsgespräche sowie der Vermittlung weiterer Angebote.
Schlagwörter
Geschwister – Familie – Kurzzeitberatung – Adaption – Erkrankung
1
Hintergrund
Ist ein Kind von einer chronischen Erkrankung oder Behinderung betroffen, so hat
der Anpassungsprozess an die Erkrankung meist starke Auswirkungen auf die gesamte
Familie und stellt ein Risikofaktor für die psychische Gesundheit von Geschwisterkindern dar. Das erkrankte Kind steht im Zentrum der familiären Aufmerksamkeit und
hat womöglich medizinischen Behandlungen und ihre Folgen zu bewältigen. Eltern
trösten, pflegen und umsorgen das erkrankte Kind. Häufig sind sie von eigenen Emotionen belastet und gleichzeitig mit mannigfachen organisatorischen Anforderungen
konfrontiert. Auch Geschwister müssen einen adäquaten Umgang mit der emotionalen Belastung und den Veränderungen des familiären Alltags finden, doch ihre Bedürfnisse geraten leicht aus dem Blick von Eltern und professionellen Helfern.
Die spezielle Lebens- und Familiensituation von Geschwisterkindern chronisch
kran­ker1 Kinder kann Auswirkungen auf deren psychische und physische Gesundheit
haben. Übersichtsarbeiten zeigen, dass in der Mehrzahl der Studien moderate Unterschiede in problematischem Verhalten zwischen Kindern mit chronisch kranken
Geschwistern und Kindern mit gesunden Geschwistern zu finden sind (Rossiter u.
Sharpe, 2001; Sharpe u. Rossiter, 2002; Vermaes, van Susante, van Bakel, 2012). Alderfer, Long und Kollegen (2010) zeigen in ihrer Übersichtsarbeit, dass viele Geschwisterkinder über chronische Sorgen und anhaltende Traurigkeit berichten. Zudem sehen
diese sich Gefühlen wie Angst, Verlust, Trauer, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Unsicherheit,
Eifersucht, Ärger und Schuld ausgesetzt. Weiterhin weisen Studien darauf hin, dass
ein erhöhtes Risiko für somatische Probleme wie Enuresis, Störungen des Appetits,
Schlafprobleme oder Kopfschmerzen (McKeever, 1983; Williams, 1997) sowie soziale
(z. B. Abnahme von Kontakten, Isolation; Williams, 1997) und schulische Probleme
(z. B. Leistungsabfall; Barlow u. Ellard, 2006) besteht. Es gibt allerdings auch eine Viel1 Für den vorliegenden Artikel ist im Sinne der besseren Lesbarkeit unter dem Begriff chronische
Erkrankung sowohl Behinderung als auch chronische Erkrankung zu verstehen.
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Ein familienorientiertes Beratungskonzept 7
zahl positiver Folgen, die sich mit der chronischen Erkrankung eines Geschwisters
entwickeln können. Aufgrund ihrer besonderen Rolle in der Familie und für das erkrankte Kind können Geschwister persönliche Ressourcen entwickeln und festigen.
Beispielsweise wird das Selbstvertrauen der gesunden Geschwister erhöht, wenn sie
für ihre Hilfe bei der Pflege des erkrankten Kindes Anerkennung und Wertschätzung
erhalten (Schmid, Spießl, Cording, 2005). Wissenschaftliche Studien zeigen, dass sie
einen höheren Reifegrad, eine größere Unabhängigkeit, Verantwortungsbewusstsein
(Alderfer, Stanley, Noll, 2010; Barlow u. Ellard, 2006) sowie eine höhere Sozialkompetenz im Vergleich zu Gleichaltrigen (Williams, 1997) aufweisen.
Wie ein Geschwisterkind die meist als belastend erlebte Situation bewältigt, hängt
maßgeblich davon ab, wie sich die Gesamtfamilie an die Erkrankung und ihre Auswirkungen anpassen kann. Dies entspricht der Perspektive einer Familienmedizin, welche die Familie als nach innen differenziertes System wahrnimmt, deren Mitglieder
ständig in Wechselwirkung miteinander stehen und das gleichsam in eine soziale
Umwelt eingebettet ist (Kröger, Hendrischke, Mc Daniel, 2000). Der hier vorgestellte
Ansatz überführt dies in ein strukturiertes Beratungsvorgehen, bei welchem die verschiedenen Subsysteme der Familie durch flexibel gestaltbare Settings angesprochen
und in ihren Ressourcen gestärkt werden. Das Beratungskonzept ist dabei gefördert
von der Stiftung Familienbande und angelehnt an das bereits erfolgreich in der Praxis
eingesetzte und multizentrisch evaluierte COSIP-Beratungskonzept, welches Kinder
krebskranker Eltern fokussiert (Romer, Bergelt, Möller, 2014).
2
Theoretische Grundlagen
2.1 Prävalenz chronischer Erkrankungen
Nach den Ergebnissen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) des
Robert Koch Instituts leiden circa 12,5 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland an einer chronischen somatischen Erkrankung2 (Kamtsiuris, Atzpodien, Ellert,
Schlack, Schlaud, 2007), bei immerhin 21,9 % werden Hinweise für psychische Gesundheitsstörungen3 festgestellt und bei 14 % der Kinder und Jugendlichen ist ein
2 Die am häufigsten auftretenden Arten chronischer somatischer Erkrankungen bei Kindern unter
15 Jahren sind obstruktive Bronchitis mit 13,3 %, Neurodermitis (13,1 %), Allergien (Heuschnupfen: 10,5 %), und Skoliose (5,2 %) (Kamtsiuris et al., 2007). Seltener treten Asthma bronchiale (4,7
%), Herzkrankheiten (2,8 %), Anämie (2,4 %), Schilddrüsenkrankheiten (1,6 %), Epilepsie (0,9 %)
sowie Diabetes mellitus (0,1 %) auf (ebd.). Gemäß Wehmeier und Barth (2011) treten Körperbehinderungen mit einer Häufigkeit von 1,7 bis 3,2 % im Kindes- und Jugendalter auf. Sehr viel seltener werden Taubheit (0,07-0,9 %), Blindheit (0,03-0,1 %), Hämophilie (0,08 %), Mukoviszidose
(0,02-0,05 %) oder Leukämie (0,01 %) diagnostiziert.
3 Dabei treten vor allem Ängste (10,0 %), Störungen des Sozialverhaltens (7,6 %) und Depressionen
(5,4 %) auf (Ravens-Sieberer, Wille, Bettge, Erhart, 2007).
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F. Schepper et al.
besonderer Versorgungsaufwand notwendig (Scheidt-Nave, Ellert, Thyen, Schlaud,
2007). Die psychosozialen Belastungen, die sich für Patient und Familie ergeben, lassen sich dabei in der diagnoseübergreifenden Typologie von Rolland (2005) erfassen,
in der hinsichtlich des Krankheitsbeginns (akut oder graduell), ihres Verlaufs (progredient, konstant, rezidivierend), ihres Ausgangs (Lebenserwartung) und dem Grad der
Beeinträchtigung von physischen, kognitiven, psychischen oder emotionalen Funktionen unterschieden wird. Auch unterschiedliche Krankheitsphasen sind bezüglich
ihrer speziellen Anforderungen zu beachten (z. B. Diagnosestellung).
2.2 Entwicklungspsychologischer Referenzrahmen
Entscheidend für die psychosoziale Anpassung von Geschwistern chronisch kranker Kinder ist deren sorgfältige und konstante kognitive Orientierung sowohl zur
Erkrankung bzw. zum Tod eines Kindes als auch zur Verfügbarkeit der Eltern. Dabei ist der entwicklungspsychologische Referenzrahmen kindlicher Krankheitsauffassungen und Todeskonzepte zu beachten. Besondere Aufmerksamkeit verdienen
sensible Entwicklungsphasen und -aufgaben, in denen Kinder beispielsweise intensive Trennungsängste verspüren können (Kleinkindalter), Verschuldungsphantasien
oder andere magische Vorstellungen zur Verursachung von Erkrankungen/Versterben entwickeln können (Vorschulalter) oder in ihren Autonomiebestrebungen und
Ablösetendenzen gehemmt sind (Pubertät).
2.3 Erkrankung im familiären Kontext
Für Familien ergeben sich – je nach psychosozialer Belastung durch die Erkrankung
– verschiedene Anforderungen. Zunächst befinden sie sich in einem umfassenden
kognitiven und emotionalen Verarbeitungsprozess. Es geht darum, die medizinischen Zusammenhänge zu verstehen sowie sich Wissen über die Erkrankung und
die Behandlungsmethoden anzueignen. Die durch die Diagnose der Erkrankung
ausgelösten Gefühle wie Hilflosigkeit, Angst, Verzweiflung und Scham müssen reguliert werden. Das Eingehen auf die besonderen Bedürfnisse des erkrankten Kindes verändert familiäre Rollen und das Familienklima zum Teil gravierend (SeiffgeKrenke, 2013), wobei nicht selten die Erkrankung zum Hauptthema der familiären
Kommunikation wird. Hinzu kommen tägliche Pflege- und Versorgungsaufgaben
und möglicherweise Krankenhausaufenthalte, die zeitliche und organisatorische
Ansprüche stellen (z. B. die Frage nach der Betreuung von Geschwistern). Teilweise
schränken Eltern in diesem Zuge ihre Berufstätigkeit vorübergehend ein oder geben
sie gänzlich auf. Die daraus resultierenden finanziellen Belastungen müssen ebenso
getragen werden, wie die Kosten durch den Kauf bestimmter Medikamente oder
den häufigen Transport zum Arzt bzw. in die Klinik. Trotz eines im internationalen
Vergleich hohen Standards sozialstaatlicher Gesundheitsleistungen in Deutschland
ergeben sich durch die Behandlung einer chronischen Erkrankung zum Teil als er-
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Ein familienorientiertes Beratungskonzept 9
heblich empfundene finanzielle Belastungen für betroffene Familien (Ruhe, Wagner,
Schmidt, Zernikow, 2013). Außerdem ergeben sich aufgrund dieser Folgen der Erkrankung häufig Änderungen der familiären Zukunftsentwürfe.
Wie diesen Anforderungen begegnet werden kann, hängt von den Ressourcen des
familiären Systems ab, welche gleichsam als „Kraftquelle zur Gesundheit“ (Retzlaff,
2010, S. 85) betrachtet werden können. Dabei spielen neben individuellen Persönlichkeitseigenschaften einzelner Familienmitglieder das Familienleben prägende interne
Strukturen eine große Rolle, welche angesichts der Belastungen besonders stark hervortreten (Theiling, v. Schlippe, Lob-Corzilius, 2000). Vor allem ein positives emotionales Klima und ein starkes Gefühl der gegenseitigen Verbundenheit (Kohäsion) innerhalb der Familie unterstützten die adäquate Bewältigung aller Familienmitglieder
(Alderfer, Long et al., 2010; Williams et al., 2010). Aber auch die Kommunikationsund Problemlösefähigkeit innerhalb der Familie sowie die Flexibilität in der familiären
Organisation und Rollenverteilung sind von Relevanz (Giallo u. Gavidia-Payne, 2006;
Williams, 1997). Ebenso die Qualität der Paarbeziehung und das elterliche Kompetenzerleben als Erziehungsperson haben Einfluss auf die Adaption der Familie, insbesondere der Kinder (ebd.). Nicht zuletzt sind die familiäre Krankheitshistorie, die
Unterstützung aus dem sozialen Umfeld und die sozioökonomische Lage der Familie
im Adaptionsprozess bedeutsam (Retzlaff, 2010).
2.4 Das Geschwisterkind im Adaptionsprozess
Für das Geschwisterkind bilden die krankheitsbezogene Aufklärung und die kontinuierliche familiäre Kommunikation über die Erkrankung und ihre Auswirkungen
einen wichtigen Teil der Bewältigung der Situation (Noeker u. Petermann, 1998),
denn sie nehmen sehr häufig regen Anteil an der Erkrankung eines Kindes in der
Familie und den darauf folgenden familiären Veränderungen. Emotionen und Copingstrategien ihrer Bezugspersonen werden oft intensiv wahrgenommen und sie
orientieren sich häufig an diesen in ihrem eigenen Verhalten und ihrer Bewältigung.
Auffallend ist, dass Geschwister eher zu internalisierenden Problemen neigen als zu
externalisierenden. Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass Geschwister
Emotionen und Gefühle zurückhalten sowie ihre Probleme und Nöte weniger offen
zeigen, um ihre belasteten Eltern nicht zusätzlich zu besorgen (Houtzager, Grootenhuis, Hoekstra-Weebers, Last, 2005). Besonders die mannigfachen Veränderungen
des familiären Alltags betreffen Geschwister, allem voran die verminderten elterlichen Ressourcen wie Zeit, Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung, die beim
erkrankten Kind gebunden sind. Geschwister müssen aber auch mit einer veränderten familiären Kommunikation umgehen, bei welcher die Erkrankung im Zentrum steht. Ebenso Rollenveränderungen innerhalb der Familie (z. B. ein Elternteil
unterbricht die Erwerbstätigkeit und übernimmt die Pflege des erkrankten Kindes),
Notwendigkeit von Rücksichtnahme gegenüber dem erkrankten Kind (z. B. die gesamte Familie stellt ihre Ernährung um) und die Anpassung von bisher erprobten
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F. Schepper et al.
Routinen (z. B. Freizeitaktivitäten der Familie finden nicht mehr gemeinsam statt)
sind zu bewältigen.
Diese Veränderungen führen häufig zu ambivalenten Gefühlen der Geschwisterkinder gegenüber dem erkrankten Kind und den Eltern (Seiffge-Krenke, 2001). Einerseits empfinden Geschwister oft Angst und Sorge um das erkrankte Kind und möchten sich innerhalb der Familie einbringen, dem erkrankten Kind beistehen und ihre
Eltern unterstützen. Andererseits ruft die geringere Beachtung und Zurückstellung
der Bedürfnisse von Geschwistern auch Gefühle wie Neid, Eifersucht oder Wut hervor, welche nicht selten unterdrückt werden (Bank u. Kahn, 1989; Klagsbrun, 1993;
McKeever, 1983). Teilweise übernehmen Geschwister (je nach Rollenkonstellation innerhalb der Familie) erweiterte Pflegeaufgaben und Verantwortung in bedenklichem
Ausmaß (Parentifizierung), manchmal identifizieren sie sich übermäßig stark mit
dem erkranken Geschwister, sodass eigene Entwicklungsziele hinten angestellt werden (Haberthür, 2005). Dies betrifft beispielsweise Autonomiebestrebungen von Geschwistern in der Phase der Pubertät, welche gehemmt sind.
2.5 Von der Theorie zur Praxis
Die zum Teil massiven krankheitsbedingten Veränderungen innerhalb der Familie
können dazu führen, dass Halt gebende Strukturen oder stärkende Ressourcen zeitweilig nur noch gering oder gar nicht mehr verfügbar sind. Das hier vorgestellte Beratungskonzept zielt darauf, Problembereiche zu identifizieren und entsprechende
inner- und außerfamiliäre Ressourcen zu stärken, um die Adaption der Familie an
die Erkrankung möglichst günstig zu gestalten. Zielstellungen können dabei sein:
Auf der Ebene der Familie: ein positives Familienklima, ein hohes Kohärenzgefühl,
eine offene Kommunikation, eine den Bedürfnissen aller Familienmitglieder entsprechende flexible Rollenverteilung, Mobilisierung von sozialen Unterstützungssystemen
außerhalb der Kernfamilie.
Auf der Ebene der Eltern: eine gute psychische Gesundheit, partnerschaftliche Zufriedenheit, emotionale Verfügbarkeit und Zuwendung allen Kindern gegenüber.
Auf der Ebene der Kinder: Kognitive Orientierung über die Krankheit, die Behandlung und die weitere Entwicklung, Anwendung aktiver Bewältigungsmechanismen,
Erkennen und Ausleben eigener Bedürfnisse, Integration ambivalenter Gefühle.
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Interventionskonzept
3.1 Grundzüge
Der Ansatz stellt eine Kurzzeitberatung mit niedrigschwelligem Zugang und einer breiten Anwendbarkeit in vielseitigen institutionellen Kontexten dar. Die Beratung ist präventiv ausgerichtet und verfolgt das Ziel der Ressourcenförderung auf verschiedenen
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Ein familienorientiertes Beratungskonzept�����
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Systemebenen. Im Blick sind zudem systemische Wechselwirkungen innerhalb der Subsysteme der Familie. Der Entwicklungsstand des Kindes wird stets mit einbezogen.
Der Beratungsansatz4 lässt sich in drei Phasen gliedern: die Diagnostische Phase, die
Erstgespräche mit Eltern und Geschwisterkind(ern) beinhaltet, die flexible Interventionsphase, bei welcher die Bearbeitung von ein bis zwei Beratungsfoki im Zentrum
steht und die Abschlussphase mitsamt Verweis auf weiterführende Angebote.
Diagnostische Phase:
Erstgespräch(e)
mit Eltern
Flexible Interventionphase:
Festlegung der
Interventionsstrategie
Erstgespräch mit
Geschwisterkind(ern)
Gespräch mit
Kind
Eltern
Familie
Abschluss:
Abschlussgespräch
oder
flexible
Nachsorgephase
ein bis zwei Themenschwerpunkte (Foki)
nach Bedarf drei bis
acht Sitzungen
Abbildung 1: Ablauf der Beratung
3.2 Diagnostik
In den diagnostischen Erstgesprächen wird zunächst eine vertrauensvolle Beziehung
zwischen Berater und Klienten hergestellt. Gleichzeitig sind umfassende Informationen zur familiären Situation zusammenzutragen, teilweise können die Erstgespräche
bereits Interventionscharakter haben. Im Erstgespräch mit den Eltern sollten aktuelle
Belastungen und Ressourcen des Familiensystems eingeschätzt und die damit eng in
Verbindung stehende Situation des gesunden Geschwisterkindes aus Elternperspektive eruiert werden. Dafür eignen sich folgende Themenbereiche, welche angelehnt sind
an die familiendiagnostischen Fenster nach Romer und Haagen (2007):
• Erkrankung/Versorgungsaufwand
• elterliches Coping
• familiäre Alltagsorganisation/soziale Unterstützung
• elterliches Erziehungsverhalten/elterliche Paarbeziehung
• familiäre Kohäsion/Mehrgenerationenperspektive
4 Das Konzept wird in Buchform Anfang 2016 bei Vandenhoeck und Ruprecht erscheinen (Auto-
ren: Möller, Gude, Herrmann, Schepper).
12
F. Schepper et al.
• kindliche Bewältigung (Geschwisterkind: Informationen über die Erkrankung,
Umgang mit elterlicher Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme gegenüber dem erkrankten Kind, Äußerung „schwieriger Gefühle“, Soziales Umfeld und persönliche
Ressourcen).
Zu jedem der diagnostischen Fenster werden mögliche Fragen vorgeschlagen. Diese
sind dabei nicht „starr abzuarbeiten“, sondern dienen der Orientierung in einem
sich entwickelndem Gespräch, in dem die Fokussetzung der Eltern berücksichtigt
werden sollte (Romer u. Haagen, 2007). Ein Leitfaden für beide Gespräche ist im
Praxishandbuch bereitgestellt (Möller et al., in Vorbereitung).
Einzelgespräche mit Geschwisterkindern werden in Absprache mit beiden Elternteilen in der Regel ab einem Alter von drei Jahren durchgeführt (Romer u. Haagen, 2007).
Zentral beim Erstgespräch ist eine geschützte Atmosphäre, in der das Kind altersgerecht
mit spiel- und gesprächstherapeutischen Techniken angesprochen wird. In diesem Rahmen soll es dem Geschwisterkind möglich sein, eigene Ansichten, Gedanken und Gefühle zur Erkrankung und dem aktuellen familiären Geschehen auszudrücken. Neben
der Öffnung eines „tabu-freien Raumes“ werden behutsame Anregungen gegeben, die
Kommunikation innerhalb der Familie zu fördern. Mögliche Themenbereiche sind:
• Krankheitsverständnis
• Umgang mit verminderter elterlicher Aufmerksamkeit
• Kommunikation von Ängsten und Sorgen
• Geschwisterbeziehung
• Bewältigungsstrategien und soziale Unterstützung
• Ressourcen und Zukunftsperspektiven
3.3 Intervention
Die Interventionsstrategie basiert auf dem Konzept der Fokaltherapie von Balint,
Ornstein und Balint (1973), deren fokussiertes Vorgehen die Bearbeitung und Lösungssuche für die drängendsten Probleme der Klienten in der Adaption an die Erkrankung zum Ziel hat. Auf Grundlage der Erstgespräche werden diese jeweils für
die Gesamtfamilie, die Eltern und Geschwisterkind(er) identifiziert. Bereitgestellte
Vorlagen geben eine Hilfestellung, um herauszuarbeiten, wodurch die Familienmitglieder beispielsweise am meisten gehemmt sind bzw. psychisch belastet scheinen.
Entsprechend der Problemstellung werden ein bis zwei vorrangige Ziele identifiziert
bzw. Beratungsfoki herausgegriffen.5 Zudem ist ein passendes Setting zu wählen, wo5 Die Fokussierung auf zwei Problembereiche lässt dabei möglicherweise positive Beratungsthemen
außen vor. Es mag daher in manchen Situationen durchaus legitim sein, von dem Problemfokus
abzuweichen und sich hauptsächlich auf die Verstärkung von positiven Bewältigungsimpulsen der
Klienten zu konzentrieren. Dies kann beispielsweise in massiv akuten Krisen angezeigt sein, wenn
keine „Kraft“ zur Problembewältigung verfügbar ist.
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bei sowohl die professionelle Entscheidung aufgrund festgelegter Kriterien als auch
der Wunsch der Klienten ausschlaggebend sind. Zu den folgenden Beratungsfoki ist
ein ausführliches Vorgehen einschließlich methodischen Hinweisen skizziert:
Förderung der offenen Kommunikation über die Erkrankung (Setting F, E, GK):6 Eine
offene familiäre Kommunikation über die chronische Erkrankung gilt als ein wesentlicher protektiver Faktor im Anpassungsprozess eines Kindes (Visser et al., 2004) und
der gesamten Familie. Bei schweren, lebensbedrohlichen Erkrankungen fällt es Eltern
jedoch oft schwer, vor allem jüngere Kinder zu informieren und über Ursachen, Behandlungsmethoden und Prognosen aufzuklären. Dabei sollten zuerst zugrundeliegende Ängste und Unsicherheiten sowie der elterliche Umgang mit der Erkrankung
mit den Eltern thematisiert werden, da sich diese entscheidend auf die Möglichkeiten
der Kommunikation innerhalb der Familie auswirken. Mittels Psychoedukation und
Rollenspiele werden die Eltern unterstützt, ein dem jeweiligen Entwicklungsstand des
Kindes berücksichtigenden dauerhaften Dialog herzustellen und zu gestalten.
Unterstützung des kindlichen Copings (Setting GK): Im Fokus stehen die kindlichen
Bewältigungsbemühungen vor dem Hintergrund des jeweiligen lebensgeschichtlichen
Narrativs des Geschwisterkindes. Aus diesem können bisherige Strategien im Umgang
mit kritischen Lebenssituationen entnommen und in Form förderlicher Problemlösestrategien auf die aktuelle Situation übertragen werden.
Unterstützung der kindlichen Ausdrucksmöglichkeiten (Setting GK): Häufig empfinden Geschwisterkinder eigene Gefühle als unangemessen, vor allem wenn sie den Eltern oder dem erkrankten Kind gegenüber ambivalent sind. Diese Form der vermeintlichen Rücksichtnahme kann jedoch zu einer schuldhaften Verarbeitung der Situation
und damit zu erhöhtem psychischen Druck führen. Die differenzierte Wahrnehmung
der Gefühle sowie ihre Legitimierung sind deshalb wichtiger Bestandteil adaptiver Bewältigungsbemühungen.
Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenzen und des elterlichen Copings (Setting
E): Bei der chronischen Erkrankung eines Kindes sind Eltern mannigfachen Belastungen ausgesetzt. Vor allem bei Verhaltensauffälligkeiten der Geschwisterkinder
empfinden sie häufig Schuldgefühle, da sie für diese weniger (emotional) verfügbar
sind. Neben Wegen des Umgangs mit dieser speziellen Situation sind auch allgemeine
Hinweise aufgezeigt, welche Eltern in ihrer Erziehungskompetenz stärken können.
Unterstützung der Eltern als Paar (Setting E): Die Paarbeziehung kann die wichtigste Quelle sozialer Unterstützung für Eltern sein (Bodenmann, 2008) und damit
das Familiensystem in seiner Anpassung an die Herausforderungen einer chronischen
Erkrankung im Kindesalter entscheidend stärken. Die Beziehung wird gleichsam auf
eine harte Probe gestellt und im Fall negativer Paardynamiken kann sie auch zur Belastung im Copingprozess werden (ebd.). Es wird aufgezeigt, wie die partnerschaftliche
Zufriedenheit angeregt und das gemeinschaftliche Coping gefördert werden können.
6 Im Folgenden: F (Familie), E (Eltern), GK (Geschwisterkind)
14
F. Schepper et al.
Förderung funktionaler familiärer Strukturen und Rollen (Setting F, E, GK): Funktionale familiäre Strukturen bieten den einzelnen Familienmitgliedern sowohl familiären
Zusammenhalt und emotionale Zuwendung als auch individuelle Autonomie, einen
flexiblen Umgang mit divergenten Bedürfnissen und einen stabilen Orientierungsrahmen für das alltägliche Handeln. Der Fokus gibt Ansatzpunkte, diese Thematiken
in verschiedenen Settings aufzugreifen. Gesondert wird auf die damit eng im Zusammenhang stehende familiäre Rollenverteilung eingegangen, vor allem auf die mögliche Überforderung oder Parentifizierung von Geschwisterkindern.
Hilfen aus dem sozialen Umfeld/sozialstaatliche Hilfen (Setting F, E, GK): Im Rahmen der Beratung gilt es die soziale Unterstützung der Kernfamilie als wesentliche
Ressource der Anpassung an die Erkrankung zu aktivieren. Es werden Wege gezeigt,
mögliche Hemmnisse der Inanspruchnahme von Hilfe abzubauen. Gleichsam werden
die verschiedenen zur Verfügung stehenden Quellen der Unterstützung besprochen:
das persönliche Umfeld, die Institutionen der psychosozialen Versorgung und sozialstaatliche Hilfen.
Geschwisterbezogener Umgang mit akuten Krankheitsphasen (Setting F, E, GK): Akute
Krankheitssituationen werden von Betroffenen und Angehörigen immer wieder als Belastungsspitzen beschrieben. Dabei kann es hilfreich sein, diese im Vorfeld zu antizipieren und Möglichkeiten der Pufferung von Stress abzuklären. Dies betrifft vor allem die
Organisation im Notfall wie die Betreuung und Unterbringung von Geschwisterkindern.
Aber auch die gezielte Krankheitsaufklärung sowie die Vorbereitung von Geschwistern
auf möglicherweise belastende Besuche im Krankenhaus sind damit gemeint.
Familien in besonderen Lebenssituationen (Setting F, E): Die psychosoziale Beratung
sollte die spezielle Lebenssituationen bestimmter Familien oder gesellschaftlicher
Gruppen im Blick haben, erfordert die Hilfestellung für Ein-Eltern-Familien, Familien
mit Migrationshintergrund und mehrfach belasteten Familien doch ein spezifisches
Hintergrundwissen. Hier sind wichtige Informationen zusammengetragen und ein
auf die jeweilige Zielgruppe abgestimmtes Vorgehen skizziert.
Umgang mit Tod und Unterstützung der Trauerbewältigung (Setting F, E, GK): Die
Trauerbewältigung stellt besondere Anforderungen an die gesamte Familie und muss
vor allem bezogen auf Kinder in einem entwicklungsbezogenen Kontext betrachtet werden. Es werden der Umgang mit Trauer sowie Möglichkeiten der Begleitung vorgestellt.
3.4 Abschluss und Ausblick
Abschluss einer Beratung sollte möglichst das bilanzierende und alle Familienmitglieder integrierende Familiengespräch sein, in welchem Perspektiven zusammengetragen werden (vgl. Romer et al., 2014). Die Familienmitglieder sollten dabei
deutlich wahrnehmen, welche Veränderungen in der Bewältigung für die gesamte
Kernfamilie – unter besonderer Berücksichtigung des Geschwisterkindes – erreicht
wurden. Die Bewältigung der Krankheitssituation innerhalb der Familie zu fördern
heißt, die Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder im Kontext der Erkrankung
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herauszustellen und zueinander in Beziehung zu setzen sowie herauszuarbeiten,
welche Möglichkeiten es gibt, mit dieser Unterschiedlichkeit umzugehen, sie anzuerkennen und positiv zu nutzen. Gleichsam ist damit ein Beitrag zur Stabilität
des gesamten Familiensystems geleistet, welche die individuelle Bewältigung der Lebenssituation fördert. Diese kann transparent gemacht werden, indem festgehalten
wird, wie sich die Familie (in der Rückschau) selbst erlebt, welche Konnotation sie
dem Narrativ über die familiäre Krankheitsgeschichte gibt und welche Neuinterpretation ihrer Geschichte sie im Zuge der Beratung erarbeiten konnte. Herauszustellen
sind also die Antworten, die die Familie auf die Frage gefunden hat, wie sie auch
leidvolle Lebensumstände akzeptieren kann und stimmig in ein Gesamtkonzept des
eigenen Lebens zu integrieren in der Lage ist.
Abschließend sollte eingeschätzt werden, welche Art der weiteren Unterstützung für
die Familie bzw. das Geschwisterkind notwendig ist. Der Hinweis, dass die Beratung zu
einem späteren Zeitpunkt erneut in Anspruch genommen werden kann, hat eine beruhigende Funktion und ermöglicht ein etwaigen Veränderungen durch Krankheitsverläufe angemessenes sequentielles bzw. in Krisenzeiten punktuell unterstützendes Vorgehen. Auch können ergänzende niedrigschwellige Angebote für Geschwister vermittelt
werden. In unterschiedlichen institutionellen Kontexten haben sich Präventions- sowie
Interventionsangebote für Geschwisterkinder etabliert.7 Die Bandbreite reicht von pädagogischen Angeboten zur Stärkung individueller Ressourcen und Kompetenzen des
einzelnen Geschwisterkindes bis hin zu Rehabilitationsangeboten für die gesamte Familie. Zeigen sich jedoch aufgrund von psychischen Störungen oder stark dysfunktionalen
Familienstrukturen schwerwiegende Problematiken, ist der Verweis an ein geeignetes
familien- bzw. psychotherapeutisches Setting zu empfehlen.
4
Fallvignette „Franz“
Bei dem 13-jährigen Tobias M. wird eine akute lymphoblastische Leukämie (ALL)
diagnostiziert. Im medizinischen Aufklärungsgespräch werden der Patient und seine Eltern über die Erkrankung und die sich anschließende Kombinationschemotherapie aufgeklärt. Aufgrund verschiedener medizinischer Parameter erscheint die
Prognose günstig, jedoch ist die Behandlung von Tobias mit langen Krankenhausaufenthalten sowie möglichen Nebenwirkungen verbunden. Tobias Bruder Franz
ist zehn Jahre alt. Circa sechs Wochen nach Diagnosestellung nehmen seine Eltern
Kontakt zum psychosozialen Dienst der Klinik auf. Sein Vater erfuhr davon, dass
sich Franz in der Schule „seltsam“ verhält, häufiger abwesend ist und sich nicht
mehr wie gewohnt ins Klassenkollektiv einbringt.
Im diagnostischen Erstgespräch mit den Eltern wird die Belastung des Vaters deutlich,
der weiterhin seiner Beschäftigung nachgeht und in der familiären Krisensituation die
7 Zur Übersicht der Angebote siehe: http://stiftung-familienbande.de/angebote-fuer-geschwister.html
16
F. Schepper et al.
Hauptbezugsperson von Franz ist. Während sich Frau M. bereits kurz nach Diagnose
des Sohnes in psychosoziale Begleitung begeben hat, hält Herr M. seinen Sohn und sich
möglichst fern vom Krankheitsgeschehen mit der Intention, Franz nicht zusätzlich zu
belasten. Der unterschiedliche Bewältigungsstil der Eltern wird an dieser Stelle deutlich:
während Frau M. vielfache Informationen zur Erkrankung einholt, versucht Herr M. so
wenig wie möglich darüber zu erfahren. Um nicht in Konflikt zu geraten, hat sich das
Paar hinsichtlich der Informationspolitik gegenüber seinen Kindern aufgeteilt: Frau M.
informiert das erkrankte Kind, Herr M. das Geschwisterkind. Beide Partner versuchen,
sich an die Regeln der Informationspolitik des jeweilig anderen zu halten – was bereits
im Erstgespräch zu Konflikten und vor allem gegenseitigen Vorwürfen führt. Es kann
eruiert werden, dass Herrn M. die Krebserkrankung und das darauf folgende Versterben
des eigenen Vaters noch höchst präsent sind und er deshalb beschlossen hat, die Leukämie nicht namentlich zu nennen, sondern zu umschreiben. Er erklärt seinem jüngsten
Sohn, dass dessen Bruder eine „Grippe im Blut“ hat und schildert diese als Aneinanderreihung ungefährlicher Einzelerkrankungen. Darüber hinaus konfrontiert er ihn nicht
mit der wahrscheinlichen Dauer der Behandlung, sondern informiert ihn lediglich über
kürzere Krankheits- und Behandlungsabschnitte.
Bei der Exploration der Erlebniswelt des Geschwisterkindes im Erstgespräch zeigt
sich, dass Franz weniger aufgrund der Erkrankung des Bruders besorgt ist als vielmehr
darunter leidet, dass sein Vater oft nicht zugänglich ist: „Mir geht es gut“, so Franz,
„aber mein Papa, der ist oft traurig und dann gar nicht richtig da.“ Als er darüber
spricht, fängt Franz an zu weinen. In der Schule habe er manchmal ein ganz anderes
Problem: dort fühle er sich zunehmend außen vor, weil er an bestimmten Freizeitaktivitäten nicht mehr teilnehmen kann. Er will seinen Vater nicht noch zusätzlich damit
belasten, ihn z. B. zum Sport zu fahren. Daheim ist er in der letzten Zeit oft allein.
Wenn er dann in der Schule hört, was die anderen Kinder mit ihren Familien am
Nachmittag oder Wochenende unternehmen, ist er oft traurig. Auf die Frage, welche
Ideen er dazu habe, dass es seinem Vater schlecht gehe, kann Franz nur schwer antworten. Die Erkrankung des Bruders lehnt er als möglichen Grund ab, denn diese ist
ja bald überstanden und nicht mehr als eine „Grippe im Blut“.
In der diagnostischen Phase werden vor allem zwei Beratungsfoki deutlich: Zum einen die innerfamiliäre Kommunikation bezüglich der Erkrankung und zum anderen die
Unterstützung des kindlichen Copings (z. B. bei Freizeitaktivitäten und dem Gefühl des
Alleinseins). Der Fokus Unterstützung der Eltern als Paar erscheint zwar ebenso angezeigt, die partnerschaftliche Zufriedenheit und gegenseitige Unterstützung kann jedoch
durch die Arbeit an der familiären Kommunikation und die gegenseitige Wertschätzung
der unterschiedlichen Bewältigungsstrategien entscheidend gefördert werden.
In der Interventionsphase folgen zunächst zwei Gespräche mit den Eltern, in welchen es um die verschiedenen positiven Absichten der elterlichen Informationspolitik geht und diese zum einen gegenseitig wertgeschätzt und zum anderen in ihrer
Unterschiedlichkeit akzeptiert werden können. Als gemeinsamer Beschluss wird die
Regelung der einseitigen Informationsweitergabe aufgehoben und besprochen, wie
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mit den unterschiedlichen Kommunikationsstilen aus kindlicher Perspektive umgegangen werden kann. Als metaphorischer Anker wird mit den Eltern erörtert, dass
bereits in den vielen Jahren zuvor auch bei Mutter und Vater in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Regeln galten – dies also keine fremde Realität für die Kinder
darstellen wird. Zudem wird das Ansprechen emotionaler Inhalte thematisiert und
das Bedürfnis von Franz in den Mittelpunkt gerückt, zu erfahren, warum sein Vater
so traurig wirkt.
In den beiden darauf folgenden Gesprächen erarbeitet der Berater mit Franz Möglichkeiten der Bewältigung von Einsamkeit. In der kreativen künstlerischen Auseinandersetzung (s. Abb. 2 und 3) entwickelt Franz mehrere Bewältigungsmöglichkeiten:
er kann mit Freunden telefonieren oder diese zu sich nach Hause einladen. Wenn er
allein in der Küche etwas isst, möchte er demnächst das Fenster zum Hof öffnen, um
andere Menschen zu hören und so das Gefühl zu haben, weniger allein zu sein. Ebenso kann er bereits bei Ankunft zu Hause an der eigenen Haustüre klingeln, um kurz
das Gefühl zu haben, es ist jemand zu Hause, der ihn erwartet.
Abbildung 2: Geräusche von Außen
Im anschließenden Gespräch zwischen Franz und seinem Vater werden die Erkrankung des Bruders und die Befindlichkeit des Vaters thematisiert. Zum Erstaunen
des Vaters äußert Franz, dass er bereits weiß, dass sein Bruder Krebs hat, aber einen
anderen Krebs als sein Opa. Sein Bruder hat es ihm vor kurzem gesagt und auch,
dass er noch mindestens fünf Monate im Krankenhaus bleiben muss. Als Franz in
diesem Moment zu weinen beginnt, weint auch der Vater. Beide umarmen sich. Sie
beschließen, gemeinsam Tobias besuchen zu gehen.
18
F. Schepper et al.
Abbildung 3: Freunde
Im abschließenden Familiengespräch wird das Thema soziale Unterstützung angesprochen, denn die Familie möchte Wege finden, Franz wieder mehr Freizeitaktivitäten zu ermöglichen. Überraschend äußert Herr M., dass er nun mehr Zeit zur
Verfügung hat und seinen Sohn mittwochs und freitags zum Fußball fahren kann.
Er berichtet von dem positiven Gespräch mit seinem Chef, welcher sehr verständnisvoll auf die Schilderung der aktuellen Familiensituation von Herrn M. reagiert
hat und anbot, dass er auch ohne finanzielle Einbußen für die nächsten Wochen
früher von der Arbeit nach Hause gehen kann. Sein Chef sagte ihm, dass sei kein
Thema und er habe die Freiheiten, die er benötige. Herr M. berichtet, dass es nicht
leicht für ihn war, derart Persönliches auf der Arbeit zu erzählen, er sich jedoch sehr
erleichtert gefühlt hat. Diese Perspektive war bisher gar nicht thematisiert worden
und kam erst zum Abschluss des Prozesses heraus: Herr M. hatte die Erkrankung
des Sohnes nicht einmal seinen Kollegen gegenüber erwähnt. Der Berater kann außerdem ein erlebnispädagogisches Angebot für Geschwister krebskranker Kinder
vermitteln, bei dem sich Franz in regelmäßigen Abständen mit anderen betroffenen
Geschwisterkindern treffen und austauschen kann.
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Fazit für die Praxis
Eine zukunftsweisende Familienmedizin hat die medizinische Fachwelt weiter
dafür zu sensibilisieren, dass bei einer chronischen Erkrankung im Kindesalter
nicht nur die Sicht des Patienten, sondern die der gesamten Familie einzubeziehen
ist. Die Erlebnisperspektive der Eltern ist bei Diagnosestellung, Behandlung und
Nachsorge ebenso mitzudenken wie die der Geschwisterkinder, wobei Letztere
leicht aus dem Blick ihrer Eltern und der professionellen Helfer geraten. In der
psychosozialen Versorgung werden Geschwister zunehmend als Zielgruppe für
Präventions- und Rehabilitationsangebote adressiert, da sie als Risikogruppe für
negative Gesundheitsfolgen erkannt wurden. Das vorliegende Konzept ergänzt
diese Angebote um eine Kurzzeitintervention als Basisberatung, welche die Ressourcen des Geschwisterkindes in seinem familiensystemischen Kontext stärkt
und das Gesamtsystem Familie in der Anpassung an eine chronische Erkrankung
unterstützt. Das Konzept ist dabei breit einsetzbar und kann in unterschiedlichen
institutionellen Kontexten zur Anwendung kommen.
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Korrespondenzanschrift: Dr. Birgit Möller, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
-psychosomatik und -psychotherapie, Universitätsklinikum Münster, Schmeddingstraße
50, 48149 Münster; E-Mail: [email protected]
Florian Schepper und Jessy Herrmann, Abteilung für Pädiatrische Onkologie, Hämatologie und Hämostaseologie des Universitätsklinikums Leipzig; Marlies Gude, Arbeitsbereich Arbeits- und Organisationspsychologie der Universität Hamburg; Birgit Möller, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am
Universitätsklinikum Münster (UKM)
Familienklima, elterliche Paarbeziehung und kindliche
Symptombildung – Mentalisierungsbasierte Familientherapie
bei kindlichem Kopfschmerz
Wolfgang Hantel-Quitmann und Katja Weidtmann
Summary
Family Climate, Parental Partner Relationships and Symptom Formation in Children – Mentalisation-Based Family Therapy for Childhood Headache
The emotional family climate is considered both an effective risk and protective factor for
child development. Factors such as negative experiences parents made during their childhood
or adolescence, which can reoccur as intergenerational transmission, a low partnership quality and a high level of conflict seem to be particularly relevant for the quality of the emotional
family climate. Consequently, the relationship between partners, as the core relation within
families, is particularly important for the family climate and subsequently for the development of the child. For this reason, problems in parent relationships should receive special
attention in family therapeutic interventions. Mentalisation-based family therapy (MBF-T)
offers promising approaches in this context. The key principles of mentalisation are introduced and the links between family and mentalisation are presented, followed by information
on the history, objectives and the procedures of MBF-T. A case study of a family therapy, in
which a child suffers from chronic headache, illustrates the connection and interrelation between family climate, family conflicts and the parental relationship, and it will further show
the importance of mentalisation-based elements for therapeutic treatments.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 22-39
Keywords
emotional family climate – emotional bonds – intergenerational transmission – partner
conflicts – mentalisation
Zusammenfassung
Das emotionale Familienklima gilt gleichzeitig als wesentlicher Risiko- und Schutzfaktor für
die kindliche Entwicklung. Für die Beschaffenheit des emotionalen Familienklimas haben
sich die Einflussgrößen schlechte Erfahrungen in der Kindheit und Jugend der Eltern, die als
intergenerationale Transmission wiederkehren können, eine geringe Partnerschaftsqualität
sowie eine hohe Konflikthaftigkeit in der elterlichen Partnerschaft als relevant erwiesen. Der
Paarbeziehung als Herzstück der Familie kommt damit für das Familienklima und folglich
auch für die kindliche Entwicklung eine große Bedeutung zu. Dementsprechend sollten bei
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 22 – 39 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
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Mentalisierungsbasierte Familientherapie bei kindlichem Kopfschmerz 23
familientherapeutischen Interventionen Probleme der elterlichen Paarbeziehung besonders
berücksichtigt werden. Vielversprechende Ansätze bietet hier die mentalisierungsbasierte
Familientherapie (MBF-T). Nach allgemeinen theoretischen Grundlagen zum Mentalisieren
werden die Zusammenhänge von Familie und Mentalisieren dargestellt. Es folgen Informationen zur Geschichte, zu den Zielen und zum Vorgehen der MBF-T. Ein Fallbeispiel einer
Familientherapie bei einem chronischen kindlichen Kopfschmerz illustriert den Zusammenhang zwischen Familienklima, familiären Konflikten und der elterlichen Paarbeziehung sowie
die Berücksichtigung mentalisierungsbasierter Elemente beim therapeutischen Vorgehen.
Schlagwörter
emotionales Familienklima – Bindung – intergenerationale Transmission – Paarkonflikte –
Mentalisieren
1
Tim
In meiner familientherapeutischen Praxis (Hantel-Quitmann) stellt sich ein Elternpaar mit den Kindern Tim (11 Jahre) und Ida (8 Jahre) vor. Die Familie kommt
auf Anraten von Tims behandelnden Ärzten. Dieser leidet seit etwa einem Jahr an
chronischen Kopfschmerzen, die mehrmals pro Woche von heftigen Schmerzattacken begleitet werden. Organisch sind alle Ursachen ausgeschlossen und die Mediziner lehnen eine noch stärkere Medikation ab. Der Vater hält die Schmerzen für
Simulation seines Sohnes und sieht darin dessen Versuche, sich dem Leistungsdruck
am Gymnasium zu entziehen. Seine Frau, der er Überbehütung vorwirft, erklärt
sich Tims Kopfschmerz hingegen mit den dauerhaften Streitigkeiten zwischen sich
und ihrem Mann. Bereits im Erstgespräch zeigen sich gravierende Paarkonflikte,
die nach Auskunft der Eltern bereits seit Jahren bestehen und zuhause heftig, wenn
auch möglichst nicht vor den Kindern, ausgetragen werden. Die Kopfschmerzen
von Tim werden in diesem Zusammenhang nicht nur als mögliche Folge der elterlichen Streitigkeiten genannt. Aus Sicht des Vaters setzt die Mutter diese bei den
Auseinandersetzungen auch gezielt gegen ihn ein, unter anderem um Druck auf ihn
auszuüben, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen und den Sohn gegen ihn aufzuhetzen. Die folgenden Gespräche mit der gesamten Familie, aber auch mit Einzelnen
und Subsystemen, verdeutlichen die hohe Konflikthaftigkeit in Tims Familie, insbesondere bei dem Elternpaar. Tim beschreibt verschiedene Einschränkungen durch
seine Kopfschmerzen, z. B. bei Schlaf oder Konzentration, durch die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern ausgelöstes Gedankenkreisen sowie intensive negative Gefühle wie Angst, Trauer und Hilflosigkeit. Er und seine Schwester wachsen auf
in einem emotionalen Familienklima, das von Ärger, Wut und Zorn, gegenseitigen
Abwertungen und Demütigungen sowie von starken wiederkehrenden Konflikten
gekennzeichnet ist.
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W. Hantel-Quitmann, K. Weidtmann
Familienklima
Die Bedeutung des emotionalen Familienklimas als zentraler Risiko- und Schutzfaktor für die kindliche Entwicklung wurde wiederholt festgestellt, unter anderem in
der BELLA-Studie, dem Modul zur psychischen Gesundheit und Lebensqualität des
Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS): „[...] Insgesamt zeigen 21,9 % aller Kinder und Jugendlichen Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. Als spezifische
psychische Auffälligkeiten treten Ängste bei 10 %, Störungen des Sozialverhaltens bei
7,6 % und Depressionen bei 5,4 % der Kinder und Jugendlichen auf. Unter den untersuchten Risikofaktoren erweisen sich vor allem ein ungünstiges Familienklima sowie
ein niedriger sozioökonomischer Status als bedeutsam“ (Ravens-Sieberer, Wille, Erhart, 2007, S. 873). Gleichzeitig gilt ein positives Familienklima als ein wesentlicher
Schutzfaktor für die psychische Gesundheit und für das Wohlbefinden der Kinder in
einer Familie (u. a. Stojsic, 2003; Wong, 2012).
Jeder weiß, was mit Familienklima gemeint ist, bis er gebeten wird, es zu definieren.
Es gibt Ansätze der Definition und Operationalisierung sowie Messinstrumente (u. a.
Moos, 1974; Schneewind, Beckmann, Hecht-Jackl, 1985), doch fehlen bei Studien mit
Aussagen zum Familienklima oft entsprechende Hintergrundinformationen. Vielleicht
hilft bei einem ersten Klärungsversuch eine Anfrage bei der geografischen Klimatologie: „Das geografische Klima ist die für einen Ort, eine Landschaft oder einen größeren Raum typische Zusammenfassung der erdnahen und die Erdoberfläche beeinflussenden atmosphärischen Zustände und Witterungsvorgänge während eines längeren
Zeitraumes in charakteristischer Verteilung der häufigsten, mittleren und extremen
Werte“ (Blüthgen in Faust, 1968, S. 41). In Anlehnung an diese Definition könnte man
das Familienklima als die für jede einzelne Familie typische Zusammenfassung der die
Beziehungen beeinflussenden Stimmungen und atmosphärischen Zustände während
eines längeren Zeitraums in charakteristischer Verteilung der häufigsten, mittleren
und extremen Emotionen bezeichnen (Hantel-Quitmann, 2015). Vereinfacht gesagt:
Ein Familienklima besteht aus einer einzigartigen Mischung positiver und negativer
Gefühle in den Familienbeziehungen in einem bestimmten Zeitraum. Stimmungen
und Gefühle, die individuell empfunden und bewertet werden. Dabei erscheint ein
Grundgefühl in der elterlichen Paarbeziehung bedeutsam: wenn es positiv ist, können
auch negative Stimmungen ertragen werden, wenn es negativ geworden ist, kann es zu
Dauerkonflikten kommen. Zudem ist es möglich, dass sich das Familienklima maskiert – vor allem bei Krankheiten oder Konflikten kann schamhaft verborgen werden,
was z. B. nicht gezeigt oder gefühlt werden darf. Auch deshalb erweist sich eine empirische Überprüfung als schwierig (ebd.).1
1 In Hantel-Quitmann (2015) findet sich eine Aufstellung von Grundformen des emotionalen Fa-
milienklimas: die in Orientierung an den Basisemotionen entwickelten Formen liebevoll, traurig,
ängstlich, ärgerlich, scham- und schuldhaft, neidisch und eifersüchtig sowie die durch die Familiendynamik geprägten Formen ambivalent, gefühlsarm, konflikthaft und konfus. Diese Kategorisierung
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2.1 Beziehungen und Emotionen
Für das Verständnis des Familienklimas ist das Erschließen der Gefühle der Beteiligten von zentraler Bedeutung, insbesondere der Partner. Diese Gefühle können z.
B. ein ängstliches, trauriges oder wütendes Familienklima schaffen, das in den Beziehungen eine Eigendynamik entfaltet und sich auf die Entwicklungen der Familie
und ihrer Mitglieder auswirkt (Hantel-Quitmann, 2015). Emotionen sind ein soziales Geschehen, sie werden durch soziale Situationen ausgelöst, breiten sich in Beziehungen aus und können auch nur unter Berücksichtigung dieser wieder aufgelöst
werden (Otto, Euler, Mandl, 2000). Somit können die gleichen sozialen Situationen
unterschiedliche Gefühle auslösen. Emotionen sind nicht nur allgemein sozial und
kulturell geprägt (u. a. Banse, 2000), sondern konkret beziehungsabhängig (Illouz,
2006). Dies gilt in besonderem Maße für Paar- und Familienbeziehungen: Wenn das
Grundgefühl in einer Partnerschaft stimmt, kann Kritik positiv aufgenommen und
verarbeitet werden; wenn die Eltern-Kind-Beziehung von liebevoller Sorge geprägt
ist, wird ein Verbot nicht als Willkür verstanden (Hantel-Quitmann, 2015). Gefühle
sind also untrennbar mit Beziehungen verbunden. Auch bei Kindern ist ein Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Beziehungsqualität zu den Eltern und
der Bewertung des Familienklimas nachgewiesen worden (Schneewind u. Ruppert,
1998). Kinder werden in einem besonderen Familienklima groß, das ihre Entwicklungen und ihr Seelenleben prägen. Dabei sind sie keine passiven Teilnehmer, sondern aktive Mitgestalter ihrer Familienbeziehungen und damit des Familienklimas.
Insbesondere bei einem negativen Familienklima unternehmen sie vielfältige Versuche, dies zu ändern (Hantel-Quitmann, 2013).
Aus familienpsychologischer Sicht stellt sich die Frage, welche Faktoren zu einem
guten oder schlechten Familienklima beitragen und wie dieses sich auf die psychische
Entwicklung der Familienmitglieder wirkt. Die BELLA-Studie versucht, dies am Beispiel psychisch auffälliger Kinder zu klären. Hier zeigte sich, dass diese Kinder deutlich häufiger aus Familien kommen, in denen die Erziehenden ihre eigene Kindheit als
nicht harmonisch empfunden haben beziehungsweise aus konfliktbelasteten Familien
oder aus Familien, in denen die Erziehenden eine unglückliche Partnerschaft führen
(Ravens-Sieberer et al., 2007). Dabei ist davon auszugehen, dass sich diese Faktoren
gegenseitig verstärken können. Daraus entstehen drei Fragen zum Familienklima:
Welche Bedeutung hat die Kindheit für die spätere Gestaltung eines Familienklimas?
Welche Rolle spielen partnerschaftliche Konflikte? Welche Zusammenhänge bestehen
zwischen Familienklima und einer glücklichen beziehungsweise unglücklichen Partnerschaft? Erst nach der Beantwortung der Fragen lässt sich die Bedeutung des Familienklimas als Schutz- und Risikofaktor für die kindliche Entwicklung einschätzen.
ist idealtypisch, in der Realität bestehen komplexe Mischformen, die sich im Verlauf familiärer Entwicklungen verändern können (ebd.).
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W. Hantel-Quitmann, K. Weidtmann
2.2 Intergenerationale Transmission
Die intergenerationale Transmission von Beziehungserfahrungen ist unbestritten
(u. a. Belsky, 1981; Klütsch u. Reich, 2012; Schneewind, 2001; Schulte u. Petermann,
2010; Uslucan u. Fuhrer, 2009). Man weiß also um die Existenz des Phänomens.
Dieses lässt sich empirisch jedoch schwer überprüfen und in all seinen Wirkungen
untersuchen (Walper, Thönissen, Wendt, Schaer, 2010). Kinder lernen in ihren Familien unter anderem, wie Männer und Frauen, Väter und Mütter, Geschwister und
Eltern sind und integrieren diese Beziehungserfahrungen in mentalen Repräsentationen über das Selbst und die Bezugsperson in Arbeitsmodellen (Bowlby, 1973, nach
Hazan u. Shaver, 2004) – zunächst in einem frühen, vorsprachlichen, emotionalen
und dann in einem späteren, sprachlichen, rationalen Arbeitsmodell. Das frühe Arbeitsmodell ist eher unbewusst und wird insbesondere unter Stress aktiviert, so dass
Menschen gerade in Momenten größter Not auf ein unter Umständen wenig hilfreiches Arbeitsmodell zurückzugreifen (Grossmann u. Grossmann, 2014). So wird
aber verständlich, warum von besonderem Stress betroffene Personen wenig kompetent erscheinen, z. B. ängstlich, kindisch oder scheinbar kopflos agieren. Transmission früher Beziehungserfahrungen zu späteren Handlungsmustern erfolgt in
zwei Varianten: horizontal, indem sich Aspekte der elterlichen Paarbeziehung in
der eigenen Partnerschaft wiederfinden, und vertikal, indem Aspekte der frühen
Eltern-Kind-Beziehung in der eigenen Elternschaft repliziert werden (Schneewind,
2001). Wenn sich diese Beziehungserfahrungen als hilfreich für die Gestaltung der
späteren Beziehungen erweisen, werden gute Erfahrungen wiederholt und negative
vermieden. Wenn die frühen Erfahrungen konfliktgeladen oder gar pathologisch
waren oder sie sich als dysfunktional erweisen, werden sie als negative Vorlagen abgelehnt oder in einen Korrekturmodus gebracht. So kann die Erfahrung entstehen,
dass das Gegenteil von etwas Schlechtem nichts Gutes werden muss. Es ist ein Wiederholungszwang möglich, bei dem versucht wird, alte Erfahrungen zu korrigieren,
neue Lösungen für alte Konflikte zu finden (Klütsch u. Reich, 2012). Das Dilemma
besteht darin, dass eine gelungene Rekonstruktion alter Konflikte und Probleme
auch die alten Gefühle von Hilflosigkeit reproduziert. Neue Kompetenzen können
jedoch nur entstehen, wenn der qualitative Sprung gelingt: Das reife Ich muss dem
kindlichen beistehen, der erwachsene Persönlichkeitsanteil muss dem kindlichen
helfen – oder der kindliche sucht sich einen Partner, der das Dilemma kennt und das
Versprechen auf Lösung oder Heilung mitbringt. Wesentlich für das Familienklima
ist, dass mit der Wiederholung alter Muster auch alte Gefühle reaktiviert werden und
nicht nur eine strukturelle, sondern vor allem eine emotionale Transmission eintritt.
Als Beziehungspartner werden vorzugsweise Menschen ausgesucht, die im Sinne
emotionaler Gegenübertragung die gleichen Gefühle auslösen wie Mitglieder der
Kernfamilie (Hantel-Quitmann, 2015). Auf Basis der intergenerationalen Transmission wird verständlich, warum alte Familienkonflikte in aktuellen Partnerschaften
aktiviert werden und wie sich deren besondere emotionale Ladung begründet.
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2.3 Konflikte und Familienklima
Wie beeinflussen Konflikte das Familienklima? Zunächst einmal sind Konflikte vollkommen normal, weil es in Familien immer begrenzte Ressourcen und unterschiedliche Interessen gibt. Zudem können persönliche Entwicklungen mit Konflikten
verbunden sein (Seiffge-Krenke u. Irmer, 2004). Dies betrifft sowohl die individuelle
Reifungsentwicklung der einzelnen Familienmitglieder an ihren unterschiedlichen
Entwicklungspunkten und -themen, die der partnerschaftlichen und elterlichen Beziehung, als auch die Entwicklungen und Veränderungen der Familienbeziehungen
in den Familienentwicklungszyklen (Garcia-Ruiz, Rodrigo, Hernandez-Cabrera,
Maiquez, Dekovic, 2013; Metzger, Reinhard, Wettach, 2015). Forschungsergebnisse
zeigen, dass nicht die Existenz von Konflikten an sich bedeutsam ist für die Beschaffenheit des Familienklimas und für die entsprechenden Folgen für die Mitglieder
des Familiensystems, also insbesondere für die Kinder. Vielmehr werden die Auswirkungen von Konflikten auf verschiedene Aspekte der kindlichen Entwicklung,
z. B. psychische Gesundheit, Sozialanpassung oder Verhaltensstörungen, moderiert
durch Dimensionen des elterlichen Verhaltens, insbesondere durch den Erziehungsstil und das Bewältigungsverhalten in Alltagskonflikten mit dem Partner. Nur ein
positives Klima sowohl in der Paar- als auch in der Eltern-Kind-Beziehung ermöglicht es den Eltern, für ihre Kinder emotional verfügbar zu sein (Reichle, Franiek,
Dette-Hagenmeyer, 2010). Zudem zeigt sich, dass eine Verwicklung der Kinder in
elterliche Konflikte bei diesen zu Anpassungsproblemen führen können, z. B. zu internalen und externalen Auffälligkeiten, die einerseits unmittelbar das Familienklima und andererseits die kindliche Entwicklung längerfristig beeinträchtigen können
(Jouriles, Rosenfield, Mcdonald, Mueller, 2014). Bezüglich möglicherweise schädigender Effekte auf die kindliche Entwicklung stellt sich daher nicht die Frage, ob es
in einer Familie Konflikte gibt, sondern danach, welche Konflikte im Vordergrund
stehen, wie diese gelöst werden und welche emotionale Ladung sie haben. Konflikten auf Ebene der elterlichen Paarbeziehung kommt in diesem Zusammenhang
eine besondere Bedeutung zu (Branje, van Doorn, van Der Valk, Meeus, 2009).
2.4 Elterliche Paarbeziehung und Familienklima
Zwischen Familienklima, elterlicher Paarbeziehung und dem Wohlergehen aller in der
Familie, insbesondere dem der Kinder, besteht ein komplexer Zusammenhang (Fosco
u. Grych, 2007). Um die Bedeutung der Familie verstehen zu können, muss man die
Bedeutung der Partnerschaft verstanden haben, da sie die Keimzelle der Familie bildet
und wesentliche Einflussfaktoren für die kindliche Entwicklung direkt und indirekt
konstituiert (Bodenmann, 2013). Das menschliche Interesse an einer gelingenden
Paarbeziehung scheint trivial, ist angesichts vieler weitreichender Implikationen jedoch bedeutsam. Ausführlich dargestellt sind diese unter anderem in Baumeister und
Leary (1995) sowie in Reis, Collins und Berscheid (2000). Ein zentraler Aspekt die-
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W. Hantel-Quitmann, K. Weidtmann
ser Untersuchungen besteht in dem elementaren Bedürfnis nach Verbundenheit und
Zugehörigkeit – eine dauerhafte, befriedigende Paarbeziehung bietet eine optimale
Möglichkeit, dieses Bedürfnis zu befriedigen (Dinkel, 2006). Die Paarbeziehung prägt
das Familienklima maßgeblich, definiert Werte, Einstellungen und Verhaltenskodizes
und lebt Kindern durch Modelllernen den familiären und dyadischen Alltag vor (Bodenmann, 2013). Eine feste, stabile und glückliche Partnerschaft erweist sich als einer
der besten Prädiktoren für Lebenszufriedenheit, Glück, Wohlbefinden und Gesundheit. Umgekehrt ist eine unglückliche Paarbeziehung ein Risikofaktor für das Auftreten einer Vielzahl negativer Folgen. Auf personaler Ebene sind hier vor allem Effekte
auf die Gesundheit2 untersucht, aber auch zu kurz- und langfristigen Auswirkungen
auf die Kinder, z. B. in Bezug auf Gesundheit, psychische Auffälligkeiten und Verhaltensstörungen, das eigene Trennungsrisiko oder die Wahrnehmung der eigenen
Paarbeziehung, liegen Ergebnisse vor (u. a. Lux u. Hude, 2015; Schermerhorn, Chow,
Cummings, 2010; Zemp u. Bodenmann, 2015).
Eine Zusammenfassung der Resultate der Paar-Forschung im Hinblick auf das Familienklima ergibt folgendes Bild: Art, Schwere und Häufigkeit der Konflikte können sich negativ auf die Partnerschaftszufriedenheit auswirken, wenn das Paar diese
Konflikte als destruktiv erlebt. Wenn ein Paar allerdings Konflikte gemeinsam konstruktiv bewältigt (dyadisches Coping), entwickelt sich ein Teamgeist, der positiv auf
die Zufriedenheit mit der Partnerschaft, Selbstwirksamkeitsgefühl und Stabilität wirkt
(Nussbeck, Hilpert, Bodenmann, 2012; Weiß u. Wagner, 2010). Demgegenüber belastet Stress die Partnerschaft, indem er das Wir-Gefühl des Paares schädigt und die
partnerschaftliche Kommunikation erschwert (Bodenmann, 2003). Dies kann sowohl
die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich in die Gedanken und Gefühle des anderen
hineinzuversetzen, als auch der konstruktive Umgang miteinander, insbesondere in
Konfliktsituationen, beeinträchtigen.
Die bisherigen Ausführungen veranschaulichen die reziproken Zusammenhänge
zwischen Familienklima, Konflikten und Merkmalen der elterlichen Paarbeziehung.
2 Auf den komplexen Zusammenhang von Paarbeziehung und (psychischer) Gesundheit kann nicht
gebührend eingegangen werden. Erwähnt werden soll jedoch das Phänomen „we-disease“. Diesem liegen das systemisch-transaktionale Stressmodell und das Konzept des dyadischen Copings eines Paares
bei Belastungen von Bodenmann (2000) zu Grunde. Hier ist der Fokus stärker handlungsorientiert als
bei innerpsychischem Coping und es werden unterschiedliche Formen des dyadischen Copings unterschieden (ebd.). Im Falle der Belastung durch die Erkrankung eines Partners wird diese vom Paar als gemeinsames Problem wahrgenommen und die Bewältigung vereint angegangen. Das heißt nicht, dass es
zu einer Heilung im medizinischen Sinne kommt, aber dass die Partnerschaftszufriedenheit größer und
die Krankheitsbewältigung besser ist. Gut untersucht ist das Phänomen bei Depressionen (Bodenmann,
2013). „[...] Es zeigt sich, dass Partnerschaftsprobleme sowohl als Vorläufer psychischer Störungen als
auch als Begleitsymptome auftreten, in jedem Fall jedoch in die Betrachtung der Störung und ihre Behandlung einbezogen werden sollten“ (ebd., S. 69). Ist die Partnerschaftsqualität negativ, formt sie ein
schlechtes bis destruktives Familienklima, das persönliche Entwicklungen hemmen und zu Störungen
und Krankheiten führen kann (Hantel-Quitmann, 2015).
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Bezüglich des Schwerpunktes dieses Themenheftes stellt sich nun die Frage, wo und
wie sich therapeutisch ansetzen lässt, um das Familienklima nachhaltig zu verbessern,
damit es als Schutz- und nicht als Risikofaktor auf die kindliche Entwicklung wirken
kann. Ein stringenter Schluss der Überlegungen ist eine Fokussierung auf die elterliche
Paarbeziehung hinsichtlich einer Verbesserung des gegenseitigen Verstehens, insbesondere der Gefühle und Gedanken des Anderen. Gerade für die Verfolgung dieses
Ziels ist der Ansatz der Mentalisierungsbasierten Familientherapie geeignet und bietet
einen ganzen Kanon konkreter Interventionen an.
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Mentalisierungsbasierte Familientherapie (MBF-T)
3.1 Mentalisieren
Unter dem Vorgang des Mentalisierens werden in der Gegenwart stattfindende Aktivitäten zum Verstehen mentaler Zustände und ihrer Zusammenhänge mit Gefühlen und
Verhaltensweisen bei sich selbst und bei anderen Personen verstanden (Fonagy, Steele,
Moran, Steele, Higgit, 1991). „Wir sehen uns von außen und andere von innen“ (Asen
u. Fonagy, 2014, S. 234). Mit dieser Fertigkeit ist eine Haltung verbunden, die unter anderem geprägt ist von Offenheit, Respekt und Neugierde anderen Menschen gegenüber
sowie vom Bewusstsein der Begrenztheit des eigenen Wissens (Asen u. Fonagy, 2010).
Voraussetzung dafür sind die Fähigkeiten zum Erspüren, Lesen und Interpretieren mentaler Zustände anderer sowie zum Erfassen und wirksamen Mitteilen der eigenen inneren Lage. Dieser Vorgang wird als entscheidender Aspekt natürlicher Resilienz und als
Schutzfaktor gegenüber psychosozialen Widrigkeiten sowie als relevant für die Emotionsregulation verstanden. Eine ganz herausragende Bedeutung erhält das Mentalisieren
als Grundlage der Fähigkeit, Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. […] „Es
bildet die Basis des expliziten oder impliziten Gefühls, psychisch mit anderen verbunden
zu sein, sie zu kennen, von ihnen geliebt, umsorgt und verstanden zu werden. […] Somit
betrifft jedes Mentalisieren menschliche Beziehungen“ (Fearon et al., 2009, S. 287).
3.2 Mentalisieren und Familie
Der Familie kommt im Zusammenhang mit dem Mentalisieren ein ganz zentraler
Stellenwert zu. Dabei wird zunächst einmal Bezug zur Bindungstheorie hergestellt,
da sich metakognitive Funktionen und damit die Mentalisierungsfähigkeiten eines
Kindes im Kontext von Bindungsbeziehungen entwickeln (u. a. Safier, 2003). Gestörte Bindungsbeziehungen können bei der Entwicklung der komplexen metakognitiven Prozesse zu Schwachstellen führen und bei den betroffenen Kindern entsprechende Defizite verursachen (Fonagy et al., 2013). Hierbei ergeben sich eine
bidirektionale Beziehung und ein zirkulärer Prozess, in dem sich beide Komplexe
wechselseitig positiv oder negativ verstärken können.
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W. Hantel-Quitmann, K. Weidtmann
Darüber hinaus kommt bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen Familie und
Mentalisieren die systemische Sichtweise zum Tragen, da die Familie als System bestimmte Komponenten bereitstellt, die für eine gesunde Entwicklung des Mentalisierens
erforderlich sind, unter anderem Verstehen bestimmter Gefühle und Gedanken (Asen
u. Fonagy, 2014). „Ein Kind, das besser verstanden wird, wird seine Eltern besser verstehen. Die daraus resultierenden Interaktionen werden von den Eltern leichter verstanden,
was wiederum die Mentalisierungsfähigkeiten des Kindes verbessert. […] Die Entwicklung der Fähigkeiten des Kindes kann durch seine Beziehungen zu den Bindungspersonen und durch die Beziehungen, die es zwischen den Familienmitgliedern beobachtet,
unterstützt oder behindert werden“ (ebd., 2014, S. 235-236). Downing bezeichnet dies
als „Einfluss der Diskurspraxis einer jeden Familie“ (ebd., 2010, S. 199). Die Familie als
intermentaler Raum und die Familienbeziehungen sind im Zusammenhang mit der
Mentalisierung damit von elementarer Bedeutung (Petzold, 2010).
Da es sich beim Mentalisieren wie beschrieben um einen komplexen kognitiven
Vorgang handelt und die entsprechenden Fähigkeiten sich im Laufe der menschlichen
Entwicklung zunehmend verfeinern (Asen u. Fonagy, 2012), kommt den Erwachsenen in einer Familie, also insbesondere den Eltern, eine besondere Verantwortung zu,
da sie diesbezüglich mehr leisten können (sollten).
In Bezug auf das elterliche Mentalisieren, dem im Rahmen familientherapeutischer Interventionen ein hoher Stellenwert zukommt, wird betont, dass es sich
aus verschiedenen, recht heterogenen Aspekten zusammensetzt (Downing, 2010).
Unterschieden wird zwischen allgemeinen und momentanen Repräsentationen.
Die erstgenannten betreffen Dimensionen des inneren Arbeitsmodells der jeweiligen Eltern-Kind-Beziehung (Bowlby, 1975), also unter anderem die Art des elterlichen Denkens über sich selbst, über den Charakter oder die Persönlichkeit
des Kindes sowie über die Beziehung zu eben diesem Kind im Allgemeinen (Downing, 2010). Demgegenüber ergeben sich die elterlichen momentanen Repräsentationen in spezifischen Interaktionen über unmittelbare Interpretationen des
Kindes, der eigenen Person und der Besonderheiten des Austauschs. Hierbei wird
eine weitere Differenzierung vorgenommen: während das folgernde/inferentielle
Mentalisieren nüchternes Denken über eine andere Person, in diesem Fall also das
Kind, beschreibt und sich ein Elternteil aus dem ihm zur Verfügung stehenden Informationen über das Kind z. B. dessen Verhalten erklärt, beruht das simulierende
Mentalisieren auf einem imaginativen Sprung. Dabei versetzt sich das Elternteil in
die Situation des Kindes und stellt sich vor, das Gleiche zu tun, auf dieselbe Situation zu reagieren etc. und auf diese Weise bei sich selbst abzulesen, wie das Kind
denkt, fühlt etc. Zwischen den allgemeinen und momentanen Repräsentationen
wird ein gegenseitiger Einfluss angenommen und in der Praxis wird es auch zu
Mischformen zwischen folgerndem/inferentiellem und simulierendem Mentalisieren kommen. Die Komplexität dieser Vorgänge elterlichen Mentalisierens ist
jedoch bedeutsam und vor allem bei familientherapeutischen Maßnahmen angemessen zu berücksichtigen (ebd.).
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3.3 Entstehung und Ziele der MBF-T
Die MBF-T hat sich aus der mentalisierungsbasierten Einzelpsychotherapie entwickelt, zu der ermutigende Evaluationsergebnisse vorliegen (Bateman u. Fonagy,
2001). Dies gilt sowohl für spezifische Störungsbilder, vor allem Persönlichkeitsund Traumafolgestörungen, als auch für den erweiterten Einsatz des Ansatzes im
Gruppen-Setting im (teil-)stationären und ambulanten Bereich (u. a. Bolm, 2008a,
b, 2009; Schultz-Venrath, 2011; Staehle, 2009; Wöller, 2010). Die MBF-T wird als
eigenständiges Verfahren und gleichzeitig als Ergänzung anderer therapeutischer, z.
B. systemischer, psychodynamischer und analytischer Ansätze betrachtet (Asen u.
Fonagy, 2012; Potthoff u. Moini-Afchari, 2012; Schultz-Venrath, 2008).
Grundannahmen der MBF-T sind, dass Schwierigkeiten beim Mentalisieren einen
tiefgreifenden Einfluss auf die Fähigkeit einer Familie haben, erfolgreich zu funktionieren (Asen u. Fonagy, 2014) und dass Veränderungen von familiären Problematiken
ohne mentalisierende Interaktionen wahrscheinlich nicht erreicht werden können
(Asen u. Fonagy, 2010). In einer Familie können Schwierigkeiten beim Mentalisieren
in verschiedenen Formen und Schweregraden, zu unterschiedlichen Zeiten und unter
spezifischen Umständen auftreten. Meist liegt den Mentalisierungsproblemen familieninterner oder auch -externer Stress zu Grunde, der bei Einzelnen oder beim gesamten Familiensystem die Fähigkeit beeinträchtigt, über die Gedanken und Gefühle der
anderen nachzudenken, unter anderem bei einer konflikthaften oder entfremdeten
elterlichen Paarbeziehung, wenn ein Familienmitglied seinen psychischen Zustand
verbirgt, bei psychischen Problemen oder Traumatisierungen (Asen u. Fonagy, 2012,
2014; Klütsch u. Reich, 2012).
Das Hauptziel der MBF-T besteht darin, die Perspektive Einzelner für die Familie
sichtbar, um ihr Verhalten für die anderen besser verstehbar zu machen. Dabei steht
zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung des Verfahrens nicht die Behandlung
spezifischer Symptome im Vordergrund, sondern das Angebot von Werkzeugen, um
bei der Familie durch erfolgreiches Mentalisieren Selbstheilungsprozesse einzuleiten
(Asen u. Fonagy, 2010). Im Einzelnen zielt die MBF-T darauf,
• Interaktionskreisläufe, die bisher auf der Ausübung von Druck und Zwang beruhten, unter Berücksichtigung innerer Zustände der Familienmitglieder in Gespräche
zum momentanen Geschehen überzuleiten, um Vertrauen aufzubauen und die
Bindungen zu stärken,
• die Eltern zur Unterstützung ihrer Kinder bei der Entwicklung des Mentalisierens
zu befähigen,
• Mentalisieren, Kommunizieren und Problemlösen in für die Familie problematischen Bereichen zu üben sowie
• Aktivitäten und familieninterne und -externe Kontexte herzustellen, die mentalisierende Kommunikationsfähigkeiten und wechselseitiges Problemlösen stärken
(ebd., S. 240).
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3.4 Vorgehen der MBF-T
Die Grundidee der Interventionen bei der MBF-T besteht auch wie bei der mentalisierungsbasierten Therapie mit Einzelnen und Gruppen darin, erfolgreiches
Mentalisieren dadurch zu verstärken, dass es erkannt, validiert und entwickelt wird
(Allen, Fonagy, Batemann, 2008). Der Hauptfokus in der Therapie liegt auf den Gedanken und Gefühlen jedes Familienmitglieds und auf den Beziehungen zwischen
ihnen. Zeigen sich bei Mitgliedern der Familie Schwierigkeiten beim Mentalisieren,
wird ein Perspektivwechsel eingeleitet und mit der Stärkung der Mentalisierungsfähigkeiten ein Wandel der interpersonalen Wahrnehmungen und Interaktionen
angestrebt (Asen u. Fonagy, 2010). Dies erfolgt insbesondere durch orientierende
Fragen, mit deren Hilfe eine gemeinsame Sprache über Affekte entwickelt wird.
Der Therapeut fungiert dabei auch als Modell für effektives Mentalisieren, indem er
Schilderungen der Familie über wichtige Ereignisse immer wieder unterbricht und
um Klärung und Reflexion bittet, um den interpersonalen und emotionalen Kontext
dieser Ereignisse ausreichend zu durchleuchten (ebd.).
Zur Orientierung bei der Beobachtung von Familieninteraktionen mit den ihnen
zugrunde liegenden Gefühlen und Gedanken sowie bei der Entwicklung mentalisierungsgestützter Interventionen beschreiben Asen und Fonagy die „Fünf-SchritteSchleife“ als rekursiven Prozess (ebd., 2010):
1. Interpunktieren: Verbalisierung der Beobachtung einer aktuellen Familieninteraktion
2. Überprüfen:
Feedback der Familie zur Beobachtung des Therapeuten
3. Mentalisieren:
orientierende Fragen des Therapeuten als Ausdruck von Neugierde
am Innenleben eines Familienmitglieds zur Auslösung eines „emotionalen Brainstormings“ bei der gesamten Familie
4. Generalisieren:
Übertragung des Besprochenen auf andere Situationen und Kontexte
5. Revidieren: rückblickende Evaluation des Prozesses und der Ergebnisse durch die
Familie
Bei Schritt 3, der Mentalisierung des Augenblicks, können verschiedene Techniken
zum Einsatz kommen, darunter z. B. Abkühlen (demonstratives Stoppen einer Wortäußerung durch den Therapeuten bei akuten, sehr starken Emotionen), Zeitrahmen
(abwechselndes Berichten und Zuhören unter strengen zeitlichen Vorgaben), Markierung (Finden von Begrifflichkeiten oder Phrasen zur Kennzeichnung von für die Familie relevanten Interaktionssequenzen für einen erleichterten Transfer in den Alltag),
Suche nach Positivem (Aufspüren und Verstärken effektiven Mentalisierens) (Asen u.
Fonagy, 2010). Weitere Beispiele für mentalisierungsfördernde Aktivitäten finden sich
unter anderem in Asen u. Fonagy (2014) sowie im MBF-T Manual (Tiddly Manuals,
o. J.). Anhand des eingangs geschilderten Fallbeispiels von Tims Familie sollen nun
einige Aspekte der MBF-T in der Anwendung veranschaulicht werden.
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3.5 MBF-T mit Tims Familie
Bezugnehmend auf den mentalisierungsbasierten Ansatz bestanden die Hauptziele
der Intervention bei Tims Familie in
1. einer Unterbrechung der etablierten negativen Interaktionskreisläufe, vor allem
hinsichtlich der elterlichen Auseinandersetzungen mit Beschuldigungen, Demütigungen etc., da hier ein direkter Zusammenhang mit der kindlichen Kopfschmerzsymptomatik auszumachen war,
2. der Befähigung der Eltern zum Mentalisieren und
3. im Üben des Mentalisierens, Kommunizierens und Problemlösens vor allem auf
Ebene der Eltern.
Nach einem ersten gemeinsamen Elterngespräch, bei dem sich die Massivität der
Beziehungskonflikte lautstark äußerte, wurde mit der Familie in wechselnden Settings gearbeitet. Dabei wurde immer wieder eine Perspektivübernahme angestrebt,
um das gegenseitige Mentalisieren zu fördern, denn der durch die wiederkehrenden
Auseinandersetzungen ausgelöste Stress auf Ebene der Eltern hatte die entsprechenden Fähigkeiten deutlich reduziert. Damit waren auch die Möglichkeiten für
die Kinder zum Erlernen des Mentalisierens stark eingeschränkt. So kam es zu Gesprächen mit der Mutter, dem Vater, Tim und seiner Schwester sowie in den Konstellationen Mutter-Tochter und Vater-Sohn, in denen Gedanken und Gefühle der
jeweils abwesenden Familienmitglieder thematisiert wurden.
Gemeinsame Sitzungen mit den Eltern wurden wiederholt für Schuldvorwürfe und
Anklagen genutzt, ein Mentalisieren über die Gedanken und Gefühle der anderen in
der Familie war anfangs sehr schwierig. Es wurde überaus deutlich, wie verständlich
der chronische Kopfschmerz bei Tim war, angesichts der Situation, als Kind den massiven Aggressionen zwischen den Eltern hilflos ausgeliefert zu sein und den Druck
nicht loswerden zu können. Die Eltern wurden immer wieder angeleitet, sich in hochkonflikthaften Momenten in Tim hineinzuversetzen, seine Ängste und Hilflosigkeit
zu verstehen, seine Wut und seinen inneren Druck nachzuvollziehen und zu überlegen, wie eine Entlastung für ihn aussehen könnte. Insbesondere für den Vater war dies
eine große Herausforderung, so zeigten sich bei ihm in Bezug auf seinen Sohn negativ
ausgeprägte allgemeine und momentane Repräsentationen: „Tim war schon immer
ein Drückeberger, jetzt versucht er es mit Kopfschmerzen.“
Zunächst wurde mit den Eltern abwechselnd einzeln und gemeinsam gearbeitet. Allein dieses Vorgehen führte bei Tim schon zu einem Gefühl der Entlastung und seine
Kopfschmerzen besserten sich. Parallel erfolgten eng an seiner Symptomatik Einzelsitzungen mit ihm im Sinne einer Psychoedukation. Er führte ein Kopfschmerz-Tagebuch und gab dem Kopfschmerz einen Namen. Wir haben die Bedingungen versucht
zu verstehen, die mit einem Ansteigen oder Abklingen seines Kopfschmerzes assoziiert waren. Zentral waren dabei stets die rituellen elterlichen Streitigkeiten am Abend,
wenn die Kinder im Bett waren und nach Einschätzung der Eltern davon nichts mit-
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bekamen. Tim hörte nach eigenen Angaben jedoch alles, steckte seinen Kopf zwischen
die Kissen, der Kopfschmerz kam und wurde immer stärker, er schlief irgendwann ein
und hatte am Morgen so starke Schmerzen, dass er nicht zur Schule gehen konnte.
Den Eltern wurden zunächst gemeinsame abendliche Spaziergänge mit dem Hund
empfohlen (Unterbrechung der Interaktionsabläufe). Eine Rückkehr ins Haus sollte
erst nach einer „Abkühlungsphase“ erfolgen. Dies haben nicht nur die Kinder, sondern auch sie selbst zunehmend als Entlastung empfunden (Stressabbau).
In biografischen Einzelgesprächen mit dem Vater wurden zwei Aspekte besonders
deutlich, die sein Verständnis für seinen Sohn förderten: Er hatte als Kind ebenfalls
unter heftigem, lautstarken Streit seiner Eltern gelitten und das zentrale Streitthema
war, wie in seiner heutigen Familie auch, das Geld. Hier finden sich im Sinne einer
intergenerationalen Transmission die Aspekte einer unglücklichen Kindheit und einer
hohen innerfamiliären Konflikthaftigkeit wieder.
In Einzelgesprächen mit Tims Mutter zeigte sich, dass sie sich bereits lange von ihrem Mann emotional entfernt hatte. Er war einfacher Arbeiter, sie hatte eine akademische Ausbildung und daher kulturelle und intellektuelle Ansprüche an ihre Paarbeziehung, die er seit Jahren nicht mehr befriedigen konnte. Ein Mentalisieren über
seine Gedanken und Gefühle war zwar für sie gut möglich, allerdings erlebte sie dies
mittlerweile als Kränkung („Er ist so schlicht und dumm, er bringt mich einfach nicht
weiter.“). In den Konflikten ließ sie ihn seine intellektuelle Unterlegenheit in gezielten
Äußerungen spüren („Du Dumpfbacke!“). Durch Interpunktieren und die Aufforderung zur Überprüfung wurde ihr ein Verstehen dieser Dynamik möglich. Mentalisierend wurde ihr im Rollentausch klar, dass sie durch diese Kränkung ihres Mannes
nur die eigene Kränkung abwehrte und sie konnte ihr Verhalten durch Revidieren
zunehmend reflektieren und in akuten Streitsituationen modifizieren.
Die Bilanz der Paarbeziehung war aus Sicht beider Partner seit Jahren eindeutig
negativ: chronische eskalierende Konflikte um Geld, Anschaffungen und Tim, die in
Rechthaberei endeten, keine gemeinsamen positiven Paarzeiten, seit Jahren quantitativ und qualitativ reduzierte Sexualität mit kurzen Außenbeziehungen auf beiden
Seiten, die zu weiteren Vorwürfen führten, kein gemeinsames Stressmanagement im
Sinne eines dyadischen Copings, sondern ausschließliche Abwertungen und Demütigungen des Anderen.
Eine Trennung wurde in den Auseinandersetzungen bislang von beiden Partnern
als Drohung formuliert und wäre gleichzeitig als Niederlage erlebt worden: aus Trennungsängsten bei ihr, aus finanziellen Aspekten bei ihm. Ein bilanzierendes und antizipierendes Mentalisieren der Trennungsfolgen für ihre eigenen Entwicklungen,
für ihre Elternbeziehung und insbesondere für die Kinder führte zu einem anderen,
positiveren Bild einer Trennung. Da die Konflikte immer wieder eskalierten, wurde
eine strukturierte Trennung (räumliche Trennung auf Zeit) angeregt, weil alle Familienmitglieder erschöpft waren von den ehelichen Konflikten, vor allem Tim. Dies
wurde als entlastend erlebt und gleichzeitig waren bei allen mit der Stressreduktion
Verbesserungen der Fähigkeiten zum Mentalisieren zu beobachten (Vater: „Mir ist
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Mentalisierungsbasierte Familientherapie bei kindlichem Kopfschmerz�����
35
klar geworden, wie es Tim geht.“). Den Eltern gelang es nach der Trennung – beide
lebten 1,5 km voneinander entfernt –, sich um den Anderen zu sorgen und sich gegenseitig zu unterstützen. Ein Wiedervorstellungsgespräch in der Praxis nach etwa
einem Jahr verlief beinahe harmonisch und Tims Leiden war auf gelegentlich leichte
Kopfschmerzen zurückgegangen. Das negative, aggressiv aufgeladene emotionale Familienklima, unter dem er so gelitten hatte, war durch die Trennung aufgelöst worden.
Die MBF-T hatte zunächst den Eltern geholfen, sich selbst zu verstehen (mich von außen zu betrachten), dann die Kinder und letztlich den Partner (die anderen von innen
zu betrachten). Die von der MBF-T angestrebte Selbstheilung der Familie bestand in
diesem Fall in der Befähigung der Eltern zur Entscheidung für eine Trennung – die
Therapie hatte die erforderlichen Instrumente dazu bereitgestellt, die diesen Prozess
und die Entscheidung erst ermöglichten.
4
Das Familienklima als Schutz- oder Risikofaktor
Ein für die Entwicklungen der Einzelnen und der Familie förderliches Familienklima entsteht, wenn eine Atmosphäre von Akzeptanz, Liebe, Zuwendung und Sorge
besteht, die allen ein grundlegendes Gefühl der Wertschätzung durch die anderen
Familienmitglieder und der emotionalen Geborgenheit in der Familie vermittelt.
Konstitutiv für ein positives Familienklima sind Liebesgefühle in der Partnerschaft,
eine gemeinsam gelingende Konfliktlösung, weitgehende Übereinstimmung zwischen den Eltern in wesentlichen Fragen der Erziehung und eine empathische Haltung in den Eltern-Kind-Beziehungen.
Aus Sicht der Kinder sind insbesondere die Folgen eines negativen emotionalen Familienklimas bedeutsam, aber auch die Frage nach den möglichen Selbstwirksamkeitserfahrungen oder den kompensatorischen Beziehungen. Wenn es den Erwachsenen
gelingt, ein positives emotionales Familienklima herzustellen und aufrechtzuerhalten,
dann werden die Kinder dies auch verinnerlichen und eine psychische Widerstandskraft ausbilden können, die drei Dimensionen hat: eine starke, gesunde Entwicklung
der Persönlichkeit trotz negativer Einflüsse, die Herausbildung funktionaler Bewältigungsstrategien, die auch bei stressigen Erfahrungen, kritischen Lebensereignissen
oder gar Traumata wirken, und eine emotionale Kompetenz, die die Kinder dazu befähigt, die Gefühle anderer zu verstehen (Mentalisierung) und ihre eigenen Gefühle
zu erkennen und zu regulieren (emotionale Selbstregulation).
5
Ausblick
Die Zusammenhänge zwischen Paardynamik, Kindesentwicklung und emotionalem
Familienklima sollten künftig noch genauer erforscht werden. Dies betrifft z. B. die
Auswirkungen unterschiedlicher Konflikte auf die Zufriedenheit in der Paarbezie-
36
W. Hantel-Quitmann, K. Weidtmann
hung, die Folgen dieser Paardynamik auf die Funktionsfähigkeit als Eltern und die
Entwicklungen der Kinder oder auch die Frage, welche Emotionen entscheidend für
die Herausbildung und Entwicklung eines positiven oder negativen Familienklimas
sind. Denn es sind immer die einzigartigen Mischungen von positiven und negativen
Gefühlen, die ein Familienklima formen. Die mentalisierungsbasierte Familientherapie erscheint insofern hoffnungsvoll, als sie am gegenseitigen Verstehen ansetzt: Alle
Beteiligten des Systems – und dabei insbesondere die für die Gestaltung des Familienklimas so wichtigen Eltern, können durch die MBF-T in ihren Mentalisierungsfähigkeiten gestärkt und damit zu einem Wandel der interpersonalen Wahrnehmungen
und Interaktionen befähigt werden. Der damit einhergehende Perspektivwechsel
schafft die Grundlage für eine positive Veränderung des emotionalen Familienklimas
und damit für einen Schutzfaktor für die kindliche Entwicklung.
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Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Alexanderstraße 1, 20099 Hamburg;
E-Mail: [email protected]
Wolfgang Hantel-Quitmann und Katja Weidtmann, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW)
Der Familienbogen (FB-K) – eine Kurzversion des Allgemeinen
Familienbogens, seine Reliabilität und Validität1
Anna Sidor und Manfred Cierpka2
Summary
The Family Questionnaire (FB-K) – A Short Version of the General Family Questionnaire and its
Reliability and Validity
A standardized assessment of a family system plays a crucial role in family therapy research and
diagnostic, as well as in a family therapy itself. A 14-item short version of the General Family
Questionnaire (FB-K) was designed to get a tool for assessing family functionality that is low
time-consuming. Method: The short version was developed by factor analysis from the long
version FA-A. The quality criteria of the family questionnaire were verified in a control sample
of 208 high-risk families four months after the birth of their child. The new family questionnaire
demonstrates a very good reliability and a satisfactory 8-months-stability. The concurrent validity with the FACES scale “cohesion“ is assured. Regarding the construct validity a positive correlation to the feeling of coherence was found. The family questionnaire shows a negative correlation to the maternal postnatal depressive symptoms, the degree of maternal stress burden, the
dysfunctionality of the mother-child-relationship and impaired bonding. The values taken from
a norm sample with infants are higher by trend and in the sample with children under 18 do not
deviate from the values of the risk sample. FB-K covers two aspects of family functioning, the
bond between family members and their willingness to communicate. The internal consistency
of FB-K is excellent, the criterion and the construct validity are good.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 40-56
Keywords
family diagnostics – family cohesion – reliability – validity – risk sample
Zusammenfassung
Die standarisierte Einschätzung einer Familie als System hat eine große Bedeutung für die
familientherapeutische Forschung und Diagnostik. Eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens (FB-K) mit 14 Items wurde für die anwendungsökonomische Einschätzung
der Familienfunktionalität konstruiert. Die Kurzversion wurde faktorenanalytisch aus einer
1 Die Studie wurde finanziert durch das Nationale Zentrum Frühe Hilfen im Rahmen des Aktionspro-
gramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ des BMFSFJ.
2 Die Autoren geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 40 – 56 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
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FB-K – eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens�����
41
Langversion (FB-A) entwickelt. Die Gütekriterien des Familienbogens wurden in einer Stichprobe von 208 risikobelasteten Familien vier Monate nach der Geburt ihres Kindes überprüft.
Der neue Familienbogen weist eine sehr gute Reliabilität und eine zufriedenstellende 8-Monats-Stabilität auf. Die konkurrente Validität mit der FACES Skala „Kohäsion“ ist gesichert.
Bezüglich der Konstruktvalidität wurde ein positiver Zusammenhang mit dem Kohärenzgefühl gefunden. Der Familienbogen weist einen negativen Zusammenhang mit mütterlicher
postpartaler depressiver Symptomatik, mütterlicher Stressbelastung, Dysfunktionalität der
Mutter-Kind-Beziehung und mit „impaired bonding“ auf. Die Werte aus einer normalen
Stichprobe mit Säuglingen fallen tendenziell höher aus, mit Kindern unter 18 Jahren weichen
sie von den Werten aus der Risikostichprobe nicht signifikant ab. Die Kurzversion FB-K beinhaltet zwei zentrale Aspekte der Familienfunktionalität: die emotionale Verbundenheit der
Familienmitglieder und ihre Kommunikationsbereitschaft. Die interne Konsistenz des FB-K
ist exzellent, die Kriteriumvalidität und die Konstruktvalidität sind gut.
Schlagwörter
Familiendiagnostik – Familienkohärenz – Reliabilität – Validität – Risiko-Stichprobe
1
Hintergrund
1.1 Funktionalität der Familie
Die Einschätzung einer Familie als System hat eine große Bedeutung für die familientherapeutische Forschung und Diagnostik, vor allem in der Paarberatung und
-therapie. In der Familiendiagnostik werden sowohl Fremdeinschätzungsmethoden
wie Beobachtung als auch standardisierte Fragebögen zur Selbsteinschätzung verwendet. Im deutschsprachigen Raum stehen einige standardisierte Instrumente zur Verfügung, unter anderem der Familienbogen (Cierpka u. Frevert, 1994), der Fragebogen
zur Partnerschaftsdiagnostik (FPD; Hahlweg, 1996) oder die deutsche Form des Marital Satisfaction Inventory EPF (Klann, Hahlweg, Limbird, Snyder, 2006).
Die vorliegende Untersuchung hat zum Ziel, eine anwendungsökonomischere und in
der Praxis einfacher handhabbare Kurzversion des 38 Items umfassenden Allgemeinen
Familienbogens von Cierpka und Frevert (1994) zu erstellen. Dieses Instrument lehnt
sich an ein theoretisches „dimensionales Modell“ der Funktionalität einer Familie an.
Beschrieben werden dabei die Stärken und Schwächen einer Familie in verschiedenen
Dimensionen, die für das Funktionieren des Systems zentral sind. Die unterschiedlichen
Ausprägungen der Dimensionen führen zu einem Profil, mit dem jede Familie beschrieben werden kann. Zur Identifizierung der zentralen Dimensionen, die die Organisation
der Familie ermöglichen, und ihrer Funktionen wird zunächst nach den Aufgaben der
Familie gefragt (Benning Hoven, Cierpka, Thomas, 2008).
Die Alltagsbewältigung. Die basalen Aufgaben beinhalten die materielle Versorgung
(z. B. Essen), den Schutz, die Gesundheit des Kindes etc. Die Familie verschafft dem
42
A. Sidor, M. Cierpka
Kind in der Regel den Kontext für die somatische Integrität (nature) und die emotionale Einbettung (nurture).
Die Entwicklung des Einzelnen bei Aufrechterhaltung des Ganzen. Mit Erikson (2003)
geht man heute von einer lebenslangen Entwicklung des Individuums aus. Ganz überwiegend ist es die Aufgabe der Familie, dem Kind die angemessenen Bedingungen für
die notwendigen Reifungsschritte und eine adäquate psychische Entwicklung zur Verfügung zu stellen. Günstige psychologische Entwicklungs- und Wachstumsprozesse
im Kindsalter tragen in erheblichem Maße zur psychischen Stabilität des Erwachsenen bei (Cierpka, Frey, Scholtes, Köhler, 2012). „Funktionale“ Familien erfüllen dann
ihre „Funktion“, wenn sie ihre Entwicklungsaufgaben erfüllen.
Ein intimes Zusammenleben der Familienmitglieder. Familien sind durch das Miteinander von Generationen charakterisiert. Das Zusammenleben von – in der Regel
– Eltern und Kindern, ist idealerweise ein intimes, jedoch die Integrität des Einzelnen
respektierendes Miteinander. Keine andere Lebensform erlaubt so viel Sicherheit, Affekttoleranz und Regressionsmöglichkeiten (Benning et al., 2008).
1.2 Ein Prozessmodell der Familienentwicklung
Vor dem Hintergrund unterschiedlicher familientheoretischer Vorstellungen wurden
verschiedene Modelle entwickelt, die den Prozess der Familienentwicklung abzubilden
und dessen Funktionalität zu bewerten versuchen (Thomas, 2008). Unsere Untersuchungen basieren auf dem Familienmodell von Steinhauer, Santa-Barbara und Skinner
(1984) (deutsche Version Cierpka, 1989). Dieses Familienmodell operationalisiert in
sieben Dimensionen, wie sich eine Familie organisiert und wie damit die Entwicklung
der Einzelnen gewährleistet wird, ohne die Aufrechterhaltung der Familie zu gefährden. Eine erfolgreiche Aufgabenerfüllung erfordert demnach die Differenzierung von
Rollen in einer Familie und die entsprechende Bereitschaft der Familienmitglieder, die
ihnen zugeteilten Rollen zu übernehmen. Für die Verständigung über Rollenzuweisungen und -übernahmen ist eine möglichst effektive Kommunikation notwendig. Die
Intensität der Gefühle, die Emotionalität, kann die Kommunikation entweder stören
oder erleichtern und zur erfolgreichen Rollenerfüllung beitragen. Das emotionale Interesse der einzelnen Familienmitglieder aneinander ist in der Dimension affektive Beziehungsaufnahme enthalten. Als Kontrolle wird der Prozess bezeichnet, mit dem sich
die einzelnen Familienmitglieder untereinander beeinflussen. Die Familienmitglieder
sollten fähig sein, bestimmte Funktionen zuverlässig aufrechtzuerhalten, andere in
eher flexibler Weise zu verändern. Die gesellschaftlich vermittelten Werte und Normen
werden von der Familie übernommen und gehen in alle diese Dimensionen ein.
1.3 Familienbögen
Die „Familienbögen“ (Cierpka u. Frevert, 1994) sind ein theoriegebundenes Fragebogeninventar, das auf den Dimensionen des unter 1.2 geschilderten Familienmodells
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FB-K – eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens�����
43
basiert. Die oben genannten Dimensionen des Prozessmodells wurden als sieben Skalen für den Fragebogen operationalisiert. Die „Familienbögen“ bestehen in der ursprünglichen Fassung (1994) aus drei Fragebögen, die die Familie auf drei Ebenen
erfassen: Wie erlebt der/die Einzelne seine Familie (a: der Allgemeine Familienbogen,
FB-A), bestimmte Zweierbeziehungen (b: der Zweierbeziehungsbogen, FB-Z) und
sich selbst (c: der Selbstbeurteilungsbogen, FB-S) in der Familie. Die Familienbögen
werden den beiden Partnern und den Kindern ab dem Jugendalter vorgelegt.
Der zur Konstruktion der hier vorgestellten Kurzversion der Familienbögen (FB-K)
verwendete Allgemeine Familienbogen (FB-A) ist ein Selbstbeurteilungsinstrument,
mit dem die Stärken und die Schwächen einer Familie eingeschätzt werden. Der FB-A
besteht aus sieben Skalen, die den Dimensionen des Familienmodells von Steinhauer
et al. (1984) entsprechen: „Aufgabenerfüllung“ (α = .66), „Rollenverhalten“ (α = .75),
„Kommunikation“ (α = .53), „Emotionalität“ (α = .56), „Affektive Beziehungsaufnahme“ (α = .63), „Kontrolle“ (α = .51) und „Werte und Normen“ (α = .46). Die jeweiligen
Familienmitglieder können diese sieben Dimensionen mittels insgesamt 40 Items auf
einer vierstufigen Skala von „stimmt genau“ bis „stimmt überhaupt nicht“ beurteilen.
Der Allgemeine Familienbogen erlaubt mittels T-Wert-Normierung Vergleiche der
erhobenen Skalenwerte mit denen einer Normstichprobe. Skalen T-Werte unter 50
zeigen die Stärken der Familie an, während hohe Werte von über 60 auf dysfunktionale Bereiche der Familie hinweisen.
1.4 Fragestellung
Der Allgemeine Familienbogen besteht aus sieben Skalen, deren Reliabilität von
gut („Rollenverhalten“) bis zu nicht mehr zufriedenstellend („Werte und Normen“)
schwankt. Der Familienbogen ist sehr ausführlich und für den Einsatz in großen Studien wenig ökonomisch. Die vorliegende Untersuchung hat zum Ziel, eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens zu erstellen, die anwendungsökonomischer
ist und sich durch eine höhere interne Konsistenz als die Langversion auszeichnet.
Die neu konstruierte Kurzversion wird auf ihre Reliabilität und Validität überprüft.
Zur Überprüfung der Validität wird eine Risikostichprobe mit Kindern bald nach
der Geburt verwendet. Es wird eine Reihe von Variablen in die Analysen einbezogen, die die Funktionalität der Familie, die allgemeine Belastung der Familie, die
mütterliche Stressbelastung sowie die mütterliche Einschätzung der Beziehung zum
neugeborenen Kind erfassen. Es werden stark ausgeprägte Zusammenhänge des neu
konstruierten Familienbogens mit einem sehr ähnlichen, validen Konstrukt, dem der
familiären Bindung/Kohäsion (Olson, 1985), erwartet, im Sinne einer konkurrenten
Kriteriumvalidität. Bezüglich der Konstruktvalidität werden negative Korrelationen
zwischen dem neuen Familienbogen und der mütterlichen und familiären Stressbelastung, der Ausprägung der elterlichen depressiven Symptomatik, der gestörten Mutter-Kind-Beziehung und dem problematischem Bonding an den Säugling im Sinne
der „mütterlichen Konstellation“ (Stern, 2006) erwartet. Des Weiteren wird von der
44
A. Sidor, M. Cierpka
Reorganisation der Identität nach der Geburt des Kindes ausgegangen (Cierpka et al.,
2012) und in diesem Zusammenhang wird der Bezug des neuen Familienbogens zum
Kohärenzgefühl der jungen Mütter überprüft.
2
Methoden
2.1 Forschungsdesign
Die Hauptuntersuchung wurde im Rahmen der wissenschaftlichen Begleituntersuchungen zur Wirksamkeit des Frühe-Hilfen-Projekts „Keiner fällt durchs Netz“
(KfdN) für risikobelastete Familien im ersten Lebensjahr ihres Kindes durchgeführt. Die Untersuchung war als quasi-experimentelle Longitudinalstudie konzipiert (Sidor, Kunz, Eickhorst, Cierpka, 2013). Die Daten der für die aktuelle Studie
relevanten Messzeitpunkte wurden zu t1, 19.1 Wochen nach der Geburt des Kindes
(M = 19.09, SD = 3.21, Spannbreite 10-26), und zu t3 im Kindsalter von 12 Monaten:
(M = 12.46, SD = 0.71, Spannbreite 11-16) erhoben.
2.2 Stichproben
Voruntersuchung (Stichprobe A). In einer Voruntersuchung sollten die Items für die
Kurzversion aus der Langfassung FB-A gewonnen werden. Zu diesem Zweck wurde
eine Stichprobe von n = 66 Müttern von Kinder und Jugendlichen genutzt, die sich
in ambulanter psychodynamischer Kurzzeitpsychotherapie an der Psychiatrischen
Universitätsklinik Heidelberg befanden (Kronmüller, Steffini, Geiser-Elze, 2009). Das
Durchschnittsalter der Kinder lag bei 10.04 Jahren (SD = 2.98), 51.9 % der Patienten
waren weiblich und 48.1 % männlich. Bei 51.9 % der Kinder wurde eine internalisierte
Störung diagnostiziert, bei 9.2 % eine externalisierte Störung und bei 38.9 % eine gemischte Form (internalisiert und externalisiert). Die durchschnittliche Störungsdauer
betrug 2.9 Jahre (SD = 2.4). Die Mütter der Patienten waren im Durchschnitt 40.7 Jahre (SD = 5.81) alt. 34 (63 %) der Kinder lebten mit beiden Eltern zusammen, während
20 Kinder (37 %) geschiedene oder getrennt lebende Eltern hatten.
Hauptuntersuchung (Stichprobe B). Die Hauptuntersuchung diente der psychometrischen Überprüfung der Kurzversion des FB-A. Eine hierfür benutzte Stichprobe von
208 Risiko-Familien nach der Geburt eines Kindes setzt sich zum Einen aus n = 109
Müttern zusammen, die sich in einer Partnerschaft befinden (Alleinerziehende wurden
aus den Berechnungen ausgeschlossen) und die an einem Interventionsprojekt für belastete Familien „Keiner fällt durchs Netz (KfdN)“ (IG) teilnahmen (Cierpka, 2009). Dazu
kommen n = 99 ebenfalls belastete Mütter der Kontrollgruppe (KG), die an der Begleitforschung von KfdN (Sidor et al., 2013) beteiligt waren (vgl. Abschnitt 2.1). Das Durchschnittsalter der Mütter betrug M = 26.22 Jahre (SD = 6.84). In die Analysen wurden
auch vorliegende Daten der Väter einbezogen (n = 98, Alter M = 28.40, SD = 8.31). Alle
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FB-K – eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens�����
45
diese Familien sind durch psychosoziale Risiken wie Armut (Einkommen unter 1.000 €
pro Haushalt, IG: 69.7 %, KG: 35 %), Mangel an sozialer/familiärer Unterstützung (IG:
33.1 %, KG: 27,8 %), Überforderung der Mutter (IG: 63.3 %, KG: 50 %), psychische
Störungen der Mutter (IG:37.2 %, KG: 31.2 %) oder Minderjährigkeit der Mütter (IG:
18.7 %, KG: 6,2 %) belastet. Die Charakteristika der Stichprobe der Mütter (ganze KfdNStichprobe, inklusive der Alleinerziehenden) sind in der Tabelle 1 beschrieben.
Tabelle 1: Soziodemografische Daten der KfdN-Stichprobe (Stichprobe B), Mütter
Familienstand (N = 233)*
verheiratet
alleinerziehend
ledig. Partnerschaft mit dem Kindesvater
ledig. ein neuer Partner
Schulbildung (N = 227)*
ohne Abschluss
Hauptschule
Realschule
Fachhochschulreife
Abitur
Hochschule
Monatseinkommen pro Haushalt (N = 223)*
< 1000 Euro
1000-1500 Euro
1500-2000 Euro
> 2000 Euro
n
n%
68
53
103
9
29.2
22.7
44.2
3.9
38
94
62
8
15
10
16.7
41.4
27.3
3.5
6.6
4.4
119
53
29
22
53.4
23.8
13.0
9.9
*Die Varianz der N-Werte geht auf unterschiedliche Rücklaufquoten zurück
Repräsentative Stichprobe (C). Im Rahmen einer Paneluntersuchung wurde eine
repräsentative Befragung der deutschsprachigen Wohnbevölkerung durchgeführt
(USUMA Markt und Sozialforschung Institut, 2014). Insgesamt wurden Daten von
N = 2527 Personen erhoben. Dabei handelte es sich um eine Flächenstichprobe, die
das gesamte bewohnte Gebiet der BRD umfasste. Die Stichprobe basierte auf der
Gemeindegliederung und den intrakommunalen Gebietsgliederungen der Bundesrepublik, die mit kommunalstatistischen Daten hinterlegt sind. In die Berechnungen
wurden nur die Personen einbezogen, die in einer Partnerschaft lebten und ein Kind
im Alter unter 18 Jahren hatten (Mütter n = 256, Väter n = 189).
Die Charakteristika der repräsentativen (Teil-)Stichprobe der Mütter sind in Tabelle
2 beschrieben. Das Durchschnittsalter der Mütter betrug M = 37.66 Jahre (SD = 7.57).
Das Durchschnittsalter der Väter lag bei 40.24 Jahren (SD = 8.46).
46
A. Sidor, M. Cierpka
Tabelle 2: Soziodemografische Daten der repräsentativen Stichprobe (Stichprobe C. Mütter mit
Kindern im Alter unter 18 J.) (N = 256)
n
Familienstand
verheiratet zusammen lebend
verheiratet getrennt lebend
ledig
geschieden
verwitwet
Schulbildung
ohne Abschluss
Hauptschule
Realschule
Fachhochschulreife
Abitur
Hochschule
Monatseinkommen pro Haushalt
<1000 Euro
1000-1250 Euro
1250-2500 Euro
>2500 Euro
Fehlende Angaben
n%
215
2
29
8
2
84
0.8
11.3
3.1
0.8
6
61
115
17
25
32
2.4
23.8
44.9
6.7
9.8
12.5
0
1
92
157
6
0
0.4
35.9
61.3
2.3
2.3 Vorgehensweise
Hauptuntersuchung. Bei der Stichprobenrekrutierung wurden Geburtskliniken, Jugendämter, Schwangerschaftsberatungsstellen, Hebammenpraxen, Einrichtungen
der Familienhilfe, Jobcenter und ähnliche Institutionen kontaktiert.
Die teilnehmenden Mütter wurden von geschulten studentischen Mitarbeiterinnen
aufgesucht und über die Studie und die Datenschutzvorgaben informiert. Lagen in der
anschließend durchgeführten Heidelberger Belastungsskala (siehe: 2.4 Instrumente) alle
Voraussetzungen für eine Teilnahme (Belastung > 20) sowie ausreichende Sprachkenntnisse vor, wurden die Mütter zum ersten Messzeitpunkt t1 (Alter des Kindes 19.1 Wochen) kontaktiert.
Die Selbstauskunftsbögen (s. 2.4 Instrumente) wurden den Familien einige Wochen
vor diesem Termin zugeschickt und zu t1 eingesammelt. Im Kindsalter von einem
Jahr nahmen die studentischen Mitarbeiterinnen erneut Kontakt mit den Familien
auf, um einen Termin für den dritten Messzeitpunkt zu vereinbaren, welcher analog
zu t1 durchgeführt wurde. Die Studie wurde durch die Ethikkommission des Universitätsklinikums Heidelberg bewilligt. Die Studienteilnahme erfolgte auf freiwilliger
Basis. Die Kontroll- und Interventionsfamilien erhielten zum ersten Messzeitpunkt
eine Aufwandsentschädigung von 50 Euro.
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FB-K – eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens�����
47
Repräsentative Stichprobe. Die Stichprobenauswahl erfolgte nach dem Random-RouteVerfahren. Flächen wurden zunächst regional geschichtet nach Kreisen und BIK-Typen,
so dass sie insgesamt auf rund 1500 Regionalschichten aufgeteilt wurden. Anschließend
wurden 128 sogenannte Netze proportional zur Verteilung der Privathaushalte gezogen
– bestehend aus 210 Auswahlflächen in den alten Bundesländern und 48 in den neuen
Bundesländern. Innerhalb jeder regionalen Fläche wurde eine Startadresse – genannt
Sample-Point – und eine Schrittweite für die Zufallsauswahl der Haushalte vorgegeben.
Bei 258 Sample-Points wurden insgesamt 4.386 Haushalte in allen deutschen Bundesländern für die Befragung ausgewählt. In der Stichprobe wurde neben den soziodemografischen Variablen die Kurzversion des Familienbogens erhoben.
2.4 Instrumente
Alle Instrumente wurden in der Hauptuntersuchung (Stichprobe B Mütter) zum ersten Messzeitpunkt (Kindsalter 19.1 Wochen) eingesetzt.
Zur Erfassung der familiären Kohäsion wurden die „Family Adaptability and Cohesion Evaluation Scales III“ (FACES III, Olson, 1985, deutsche Übersetzung Thomas u.
Cierpka, unveröffentlichtes Manuskript) eingesetzt. Die FACES sind ein Selbstbeurteilungsinstrument für die Familienmitglieder. Dieses Instrument erfasst, neben der als
emotionale Bindung zwischen den Familienmitgliedern definierten familiären Kohäsion, die Anpassungsfähigkeit des Familiensystems, also die Fähigkeit des Familiensystems zur Veränderung angesichts neuer Anforderungen. Der Fragebogen besteht aus
20 Items, die Antwortkategorien reichen von „fast nie” bis „fast immer“. Die FACES III
(deutsche Version) weisen eine gute interne Konsistenz auf. Für die Skala „Kohäsion“
beträgt α = .87 und für „Adaptabilität“ α = .73.
Zur Erfassung der mütterlichen Belastung wurde die Kurzform der deutschen Version des standardisierten Elternfragebogens „Parental Stress Index“ (PSI-SF; Abidin, 1995) verwendet. Diese Kurzform besteht aus 36 Items, deren Antwortmodus
auf einer fünfstufigen Skala von „trifft sehr zu“ bis „trifft gar nicht zu“ reicht. Der
Fragebogen ist in drei Subskalen untergliedert, die Skala „Parental Distress“ (Elterliche Belastung) (α = .87), die Skala „Dysfunctional Parent-Child-Interaction“
(Dysfunktionale Eltern-Kind-Interaktion) (α = .80) und die Skala „Difficult Child“
(Schwieriges Kind) (α = .85).
Die „Edinburgh Postnatal Depression Scale“ (EPDS; Cox, Holden, Sargovsky, 1987)
wird als Screeninginstrument für postpartale depressive Zustände eingesetzt, die über
den sogenannten „Baby-Blues“ (subdepressive Stimmungslage, die in den ersten Wochen nach der Geburt wieder abklingt) hinausgehen. Es handelt sich um ein 10-ItemInstrument, bei dem ein maximaler Wert von 30 erreicht werden kann. Werte im Bereich von 10-12 stehen für eine mittlere Ausprägung einer depressiven Symptomatik.
Der Cut-off-Wert des Instrumentes für eine klinisch relevante depressive Störung liegt
bei 13 Punkten. Die interne Konsistenz mit α = .87 ist gut, die prädikative Validität gilt
laut den Autoren als gesichert.
48
A. Sidor, M. Cierpka
Der „Postpartum Bonding Questionnaire“ (PBQ; Brockington et al., 2001) wurde
dazu verwendet, das Ausmaß der Störung der Mutter-Kind-Beziehung nach der Geburt zu erfassen. Die Skala besteht aus 25 Items. Der Antwortmodus reicht auf einer
fünfstufigen Skala von „immer“ bis „nie“. Der PBQ umfasst folgende vier Faktoren:
„Impaired Bonding” (α = .78), „Rejection and Anger“ (α = .68), „Anxiety about Care“
(α = .34) und „Risk of Abuse“ (α = .20). In der deutschen Version (Reck et al., 2006) erbrachte eine Faktorenanalyse nur einen Faktor „Impaired Bonding“ (24 % der Varianz
erklärt) mit einer internen Konsistenz von α = .85. Für die Auswertung der Daten in
der vorliegenden Studie wird deshalb lediglich der Hauptfaktor „Impaired Bonding“
herangezogen. Werte bei einem Cut-off > 12 werden als hoch betrachtet. Laut den
Autoren ist die prädiktive Validität der Skala gewährleistet.
Zur Erfassung des Kohärenzgefühls wurde eine Kurzversion der „Sense-of-Coherence-Scale“ SOC (Antonovsky, 1987), die SOC-L9 (deutsche Version Schumacher,
Wilz, Gunzelmann, Brähler, 2000) ausgewählt, die anhand von neun siebenstufigen
Items das Kohärenzgefühl als generelle Einstellung gegenüber der Welt erfasst. Die
Kohärenzskala enthält die Aspekte „Verstehbarkeit“, „Handhabbarkeit“ und „Sinnhaftigkeit“. Die interne Konsistenz der SOC-L9 kann als sehr gut eingestuft werden (α =
.87). Die Konstruktvalidität und die Eindimensionalität der SOC-L9 wurden faktorenanalytisch gesichert. Durch den Generalfaktor werden 49.9 % der Gesamtvarianz
erklärt. Die Korrelation der SOC-L9 mit der Langfassung der SOC-Skala mit 29 Items
(SOC-29) beträgt r = .94.
Die allgemeine Risikobelastung der Familien wurde mithilfe der „Heidelberger Belastungsskala“ (HBS) erhoben (Sidor, Eickhorst, Stasch, Cierpka, 2012). Die HBS erfasst
die Belastung einer Familie in folgenden vier Bereichen: Belastung auf Seiten des Kindes, Belastung der Eltern/familiäre Belastung, soziale Belastung und materielle Belastung. Die Werte liegen in den Bereichen 0-20 (keine oder nur eine geringe Belastung),
21-40 (leichte bis mittlere Belastung), 41-60 (die Belastungsfaktoren überwiegen im
Vergleich zu unbelasteten Bereichen deutlich), 61-80 (hohe Belastung) und 81-100
(extrem hohe Belastung). Die HBS weist eine exzellente Interraterreliabilität innerhalb
einer homogenen Berufsgruppe (Psychologie-Studierende) auf (ICC = .92). Bezüglich
der Konstruktvalidität wurden schwache signifikante Zusammenhänge sowohl mit
mütterlicher Feinfühligkeit als auch tendenziell mit mütterlicher Stressbelastung gefunden. Bezüglich der Vorhersagevalidität war bei einer hohen Belastung in der HBS
das Risiko einer Inobhutnahme des Kindes im ersten Lebensjahr um das 4,5-Fache
erhöht (Sidor et al., 2012).
2.5 Statistische Methoden
Voruntersuchung (Stichprobe A). Zur Konstruktion der Kurzversion des Fragebogens wurde eine Faktorenanalyse durchgeführt (Hauptachsenanalayse, Extraktionskriterium zur Bestimmung der Anzahl der Faktoren: Eigenwert > 1 / Scree-plot).
Zur Bestimmung der Ladungen der Items auf die extrahierten Faktoren wurde eine
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FB-K – eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens�����
49
Varimaxrotation durchgeführt. Die mittlere Itemschwierigkeit wurde berechnet.
Zur Einschätzung der Reliabilität der Kurzversion des Familienbogens wurde als
Maß der internen Konsistenz Cronbachs α verwendet, die Trennschärfen der Items
wurden überprüft.
Hauptuntersuchung (Stichprobe B). Zur Bestätigung der einfaktoriellen Struktur des
Fragebogens wurde eine konfirmatorische Faktorenanalyse mit der Eingabe des einen
Faktors durchgeführt. Die Trennschärfen der Items und die Reliabilität (Cronbachs
α) des FB-K wurden erneut berechnet. Zur Überprüfung der Konstruktvalidität der
Kurzversion des Familienbogens mit dem SOC, EPDS, PBQ und PSI wurden bivariate Korrelationskoeffizienten nach Pearson berechnet. Zur Berechnung der kriteriumbezogenen (konkurrenten) Validität mit den FACES-Skalen wurden bivariate
Korrelationskoeffizienten nach Pearson verwendet. Die Unterschiede zwischen den
Einschätzungen der Mütter und der Väter wurden mittels t-Test (gepaarte Stichproben, beidseitig) getestet. Zusammenhänge zwischen dem Familienbogen und den soziodemografischen Variablen wurden varianzanalytisch überprüft.
In der repräsentativen Stichprobe C wurde die Reliabilität (Cronbachs α) des FB-K
erneut berechnet. Zur Überprüfung der Repräsentativität der Ergebnisse wurden die
Mittelwerte der belasteten KfdN-Stichprobe und der normativen Stichprobe C mittels t-Tests (beidseitig) verglichen. Für die Berechnungen wurde ein Signifikanzniveau von .050 festgelegt. Die statistische Auswertung der Daten wurde mithilfe des
Statistikprogramms SPSS für Windows, Version 22.0 durchgeführt. Die variierenden
Probandenzahlen bei den vorgestellten Variablen sind auf unterschiedliche Rücklaufquoten zurückzuführen.
3
Ergebnisse
3.1 Konstruktion der Kurzversion des Familienbogens – Voruntersuchung
(Stichprobe A)
In die Faktorenanalyse wurden 28 Items des Allgemeinen Familienbogens FB-A (n = 66)
in eine exploratorische unrotierte Hauptkomponentenanalyse einbezogen. Für die Entscheidung, welche Anzahl der Faktoren extrahiert werden soll, wurde der Eigenwerteverlauf anhand des Scree-plots herangezogen. Es wurde eine Komponente (Eigenwert >
1) extrahiert, die 14 Items beinhaltete und 34.6 % der Gesamtvarianz erklärte. Mit der
14-Item-Lösung wurde nochmals eine Varimaxrotation durchgeführt. Die einfaktorielle
Lösung erklärte dann 48 % der Gesamtvarianz. Die Spannbreite der Ladungen lag zwischen .56 und .82 (s. Tab. 3).
Die nach einer Faktorenanalyse entstandene eindimensionale Skala besteht aus 14
Items, die sich aus den Items der Skalen „Affektive Beziehungsaufnahme“, „Aufgabenerfüllung“, „Kontrolle“, „Kommunikation“ und „Emotionalität“ zusammensetzt.
Sie erfasst inhaltlich vor allem solche Aspekte der Familienfunktionalität wie Kohä-
50
A. Sidor, M. Cierpka
sion, Kommunikationsbereitschaft und emotionale Offenheit der Familienmitglieder.
Höhere Werte weisen auf höhere Ausprägungen der Familienfunktionalität hin.
Die eindimensionale Skala zeigt eine sehr gute interne Konsistenz (Cronbachs α =
.91). Alle Items weisen eine wünschenswerte, mittlere Itemschwierigkeit auf. Die ItemTrennschärfen sind als gut bis sehr gut zu bezeichnen (Werte zwischen .49 und .77,
s. Tab. 3). 12 Items haben Ladungen über .60. Damit ist diese Faktorenstruktur nach
Guadognoli und Velicer (1988 ) gut interpretierbar.
Tabelle 3: Faktorenanalyse, Komponentenmatrix (Ladungen) und Item-Skala-Korrelationen
(Trennschärfen) (Stichprobe A: Voruntersuchung, B: KfdN-Stichprobe Mütter)
Kurzversion
(FB-K)
Langversion
(FB-A)
Ladung
Item 1
Item 2
Item 3
Item 4
Item 5
Item 6
Item 7
Item 8
Item 9
Item 10
Item 11
Item 12
Item 13
Item 14
Item 36 „Affektive Beziehungsaufnahme“
Item 26 „Affektive Beziehungsaufnahme“
Item 17 „Kontrolle“
Item 21 „Aufgabenerfüllung“
Item 34 „Emotionalität“ umgepolt
Item 27 „Kontrolle“
Item 24 „Emotionalität“
Item 13 „Kommunikation“
Item 31 „Aufgabenerfüllung“
Item 1 „Aufgabenerfüllung“ umgepolt
Item 6 „Affektive Beziehungsaufnahme“
Item 16 „Affektive Beziehungsaufnahme“ umgepolt
Item 23 „Kommunikation“ umgepolt
Item 4 „Emotionalität“ umgepolt
A
.82
.79
.75
.73
.72
.72
.70
.70
.66
.66
.63 .
.62
.59
.56
B
.73
.65
.65
.68
.55
.65
.70
.71
.76
.74
.63
.70
.78
.73
Trennschärfe
A
.77
.73
.68
.68
.66
.67
.64
.64
.60
.59
.57
.56
.52
.49
B
.67
.59
.59
.62
.49
.60
.64
.65
.71
.68
.57
.63
.72
.67
3.2 Hauptuntersuchung (KfdN-Stichprobe B)
Faktorielle Validität. In der KfdN-Stichprobe der Mütter (n = 208) wurde eine Faktorenanalyse mit der festgelegten Zahl der Faktoren (1) durchgeführt. Die einfaktorielle Lösung erklärte, ähnlich wie in der Voruntersuchung, 48% der Gesamtvarianz.
Die Spannbreite der Ladungen lag zwischen .55 und .78 (s. Tab. 3).
Deskriptive Statistiken des FB-K. Die Einschätzung der Items der Kurzversion durch
die Mütter (n = 208) ergab einen Mittelwert von 2.38 (SD = 0.57, Spannbreite 0.573.00). Der Median lag bei 2.50. Die Verteilung der FB-A Kurzversionswerte in der
Stichprobe der Mütter weicht von der Normalverteilung ab (Kolmogorov-SmirnovTest, p < .001).
Eine Einschätzung der Väter (n = 98) erbrachte einen Mittelwert von 2.47 (SD =
0.47, Spannbreite 0.93-3.00, Median = 2.59.) Die Verteilung der FB-A Kurzversionswerte in der Stichprobe der Väter weicht ebenfalls von der Normalverteilung ab
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FB-K – eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens�����
51
(Kolmogorov-Smirnov-Test, p = .021). Der Vergleich zwischen den Einschätzungen
der Mütter und denen der Väter zeigte im t-Test keine Signifikanz (t = -0.79, df =
92, p = .430).
Zusammenhänge zwischen dem Familienbogen und den soziodemografischen
Variablen in der Risikostichprobe. Familienstatus: Eine ANOVA erbrachte einen
hochsignifikanten F-Wert (F = 4.95, p = .008). Verheiratete Mütter erzielten in der
Risikostichprobe die höchsten Werte (M = 2.53, SD = 0.46). Die Mittelwerte der ledigen Mütter, die in einer Partnerschaft mit dem Kindsvater lebten, lagen bei M = 2.27
(SD = 0.61). Die niedrigsten Werte erzielten die ledigen Mütter mit einem neuen
Partner (M = 2.18, SD = 0.76). Der post-hoc-Test (Bonferroni) erbrachte einen signifikanten Unterscheid zwischen der Kategorie „verheiratet“ und den beiden anderen Partnerschaftsformen (p = .010). Es wurden keine Mittelwertunterschiede
in Abhängigkeit vom Schulabschluss (F = 0.55, p = .770), dem Einkommen (F =
0.08, p = .970) oder dem Alter der Mütter (F = 0.13, p = .750) gefunden. Es gab
keine Mittelwertunterscheide in Abhängigkeit vom Geschlecht des Kindes (t =
-1.43, p = .154).
3.3 Reliabilität und Validität des FB-K
Reliabilität. Die interne Konsistenz betrug in der A und der B Stichprobe α = .91. In
der repräsentativen Stichprobe der in einer Partnerschaft Lebenden mit Kinder unter
18 Jahren (n = 256 Mütter und n = 189 Väter) wurde ebenfalls Cronbachs α = .91
erzielt. In der Stichprobe C der in einer Partnerschaft lebenden Personen (n = 1360)
wurde das gleiche α = .91 erzielt.
Stabilität. Im Zeitraum von acht Monaten (KfdN-Studie, Stichprobe B, Messzeitpunkte t1 und t3; Sidor et al., 2013) betrug die Stabilität in der Stichprobe der Mütter
r = .56; p = .001 (n = 150). Die ANOVA mit Messwiederholung und Gruppenzugehörigkeit als Zwischensubjektfaktor erbrachte keinen signifikanten Interaktionseffekt
und keine Signifikanz für den Haupteffekt der Zeit.
Kriteriumbezogene (konkurrente) Validität. Der Familienbogen korrelierte hochsignifikant mit der FACES-Skala Kohäsion (r = .79; p = .001, n = 165). Der Korrelationskoeffizient mit der FACES-Skala Adaptabilität fällt ebenfalls hochsignifikant, aber
niedriger aus (r = .39; p = .001, n = 140).
Konstruktvalidität. Zwischen dem FB-K und der SOC-Skala ergab sich ein hochsignifikanter positiver Zusammenhang (r = .63, p = .001, n = 165). FB-K wies einen
hochsignifikanten negativen Zusammenhang mit der EPDS auf (r = -.54; p = .001;
n = 168). Der Familienbogen korrelierte außerdem hochsignifikant negativ mit den
PSI-Skalen „Parental Distress“ (r = -.51, p = .001, n = 179), „Dysfunctional Parentchild Interaction (r = -.37, p = .001, n = 171) und „Difficult Child“ (r = -.27, p =
.001, n = 160). Der Familienbogen und die PBQ Skala „Impaired Bonding“ standen
ebenfalls in einem hochsignifikant negativen Zusammenhang (r = -.43; p = .001;
n = 165).
52
A. Sidor, M. Cierpka
3.4 Vergleich des FB-K in der Risikostichprobe B mit der repräsentativen
Stichprobe C
In die Analyse wurden die in einer Partnerschaft lebenden Frauen mit einem Kind
unter einem Jahr aus einer normativen Stichprobe einbezogen (n = 29). Der Mittelwert betrug 2.33 (SD = 0.61, Spannbreite 0.93-3.00). Der Median lag bei 2.50. Der
Vergleich zwischen der repräsentativen Stichprobe und der Risikostichprobe zeigte
im t-Test keine Signifikanz (t = -0.434, df = 87.7, p = .660). Die Stichprobe der Väter
war mit n = 12 zu gering für eine separate Analyse.
Wenn in der normativen Stichprobe alle in einer Partnerschaft lebenden Mütter mit
einem Kind/mehreren Kindern unter 18 Jahren (n = 256) berücksichtigt wurden, so
betrug der Mittelwert M = 2.47 (SD = .46) und fiel tendenziell höher aus als der Wert
in der Risikostichprobe mit Kindern unter einem Jahr (T =-1.816, df = 432, p = .070).
Der Mittelwert der in einer Partnerschaft lebenden Väter aus der normativen Stichprobe
mit einem Kind/mehreren Kindern unter 18 Jahren (n = 188) lag bei 2.38 (SD = 0.52) und
unterschied sich weder vom Mittelwert der Mütter in der repräsentativen Stichprobe noch
von dem der Väter in der Risikostichprobe (alle t-Werte nicht signifikant). Die Verteilung
des FB-K in der repräsentativen Stichprobe in einer Partnerschaft lebender Personen (n =
1435) wich von der Normalverteilung ab (Kolmogorov-Smirnov-Test, p < .001).
4
Diskussion
Das Ziel der vorgestellten Studie war, eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens –
den Familienbogen FB-K – zu erarbeiten und auf seine psychometrischen Eigenschaften
hin zu untersuchen. Die Kurzversion wurde in einer Voruntersuchung faktorenanalytisch
aus der langen Version des Allgemeinen Familienbogens gebildet. Die neue Skala wurde
aus den einzelnen Items der im Folgenden aufgezählten Dimensionen gewonnen:
• „Affektive Beziehungsaufnahme“ (Verbundenheit, gegenseitiges Vertrauen),
• „Emotionalität“ (gegenseitiges Mitteilen der Gefühle),
• „Aufgabenerfüllung“ (konstruktiver Umgang mit den Problemen),
• „Kontrolle“ (aktive Bewältigung der Konflikte) sowie
• „Kommunikation“ (Klären der Probleme).
Die Kurzversion FB-K beinhaltet zusammenfassend zwei zentrale Aspekte der Familienfunktionalität, nämlich die Verbundenheit und emotionale Offenheit der Familienmitglieder sowie deren Kommunikationsbereitschaft (die Bereitschaft, Konflikte
konstruktiv auszutragen). Diese auf den ersten Blick heterogenen Aspekte der Familienfunktionalität bilden zusammen einen Generalfaktor, der eine hohe interne Konsistenz aufweist. Die Items von zwei Dimensionen des Allgemeinen Familienbogens
wurden faktorenanalytisch ausgeschlossen: das „Rollenverhalten“ (sich einigen über
die Rollen in der Familie) und „Werte und Normen“ (der Familienmitglieder).
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FB-K – eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens�����
53
Der FB-K wurde in einer Studie mit risikobelasteten Familien im ersten Lebensjahr des
Kindes auf seine psychometrischen Eigenschaften überprüft. Er weist eine exzellente Reliabilität auf. Die Acht-Monats-Stabilität ist zufriedenstellend, liegt aber unter einem für
die Test-Retest-Reliabilität angestrebten Wert von mindestens .70. Dieses Ergebnis weist
auf eine Kontinuität/Stabilität der Einschätzung der Familienfunktionalität im ersten Lebensjahr nach der Geburt des Kindes hin, kann aber auch als ein Hinweis auf eine mangelnde Veränderungssensitivität des neukonstruierten Instruments interpretiert werden.
Es ist davon auszugehen, dass eine Inhaltsvalidität des Familienbogens vorliegt. Die
faktorielle Validität ist gewährleistet. Die Inhaltsvalidität wurde durch die zufriedenstellende Konstrukt- und Kriteriumvalidität untermauert.
Die kriteriumbezogene (konkurrente) Validität mit der FACES-Skala „Kohäsion“
liegt vor. Dieses Ergebnis spricht für eine sehr hohe inhaltliche Überlappung der beiden Skalen: Eine ausgeprägte emotionale Bindung der Familie (Kohäsion) hängt stark
mit ihrer emotionalen Verbundenheit und Kommunikationsbereitschaft zusammen.
Der Zusammenhang zwischen dem neuen Familienbogen und der FACES-Skala „Adaptabilität“ ist hingegen weniger stark ausgeprägt.
Bezüglich der Konstruktvalidität weist der neue Familienbogen einen stark ausgeprägten Zusammenhang mit dem Kohärenzgefühl auf, demgemäß das Leben grundsätzlich als sinnhaft und die Herausforderungen des Lebens als handhabbar erlebt werden. Dieses Ergebnis liefert zwar kein Erklärungsmodell für diese starke Assoziation,
es ist aber anzunehmen, dass sich eine stark ausgeprägte familiäre Zugehörigkeit und
ein Gefühl der Sinnhaftigkeit des Lebens gegenseitig bedingen. Einige Forschungsergebnisse weisen z. B. auf eine bessere und anhaltende Gesundheit der Menschen hin, die
in einer stabilen und erfüllten Partnerschaft leben (z. B. Sroufe, 1997). Umgekehrt ist es
allerdings auch denkbar, dass Menschen mit einem stark ausgeprägten Kohärenzgefühl
eine positive Einstellung zum Leben haben und eher bereit sind, Schwierigkeiten in der
Partnerschaft konstruktiv zu lösen und ihre Partnerschaft positiver zu gestalten.
Erwartungsgemäß fiel der Zusammenhang zwischen dem Familienbogen und der
postnatalen depressiven Symptomatik negativ aus. Eheliche Zufriedenheit der Mutter gilt
als einer der stärksten inversen Prädiktoren für die mütterliche depressive Symptomatik
(Grube, 2005). Partner können durch ihre emotionale und instrumentelle Unterstützung
die Ausprägungen einer mütterlichen postpartalen Depression positiv beeinflussen. In
dieser Studie wurde zwar keine eheliche Zufriedenheit erfasst, es ist aber zu vermuten,
dass der neue Familienbogen mit diesem Konstrukt zusammenhängt. Es ist anzumerken,
dass das allgemeine Kohärenzgefühl und die postpartale depressive Symptomatik stark
negativ korrelierten, was auch durch eine andere Studie in der KfdN-Stichprobe untermauert wurde, in der eine postpartale depressive Symptomatik durch ein niedrig ausgeprägtes Kohärenzgefühl vorhergesagt wurde (Kunz, Sidor, Eickhorst, Cierpka, 2012).
Die Variablen, die eng mit einem negativen Erleben der Mutterschaft oder der MutterKind-Beziehung assoziiert sind, stehen in einem hoch signifikanten Zusammenhang mit
dem Familienbogen. Schwierigkeiten bei der Beziehungsaufnahme zum Kind (Bonding)
weisen eine negative Korrelation auf, ähnlich wie das Erleben des Kindes als ein „schwie-
54
A. Sidor, M. Cierpka
riges Kind“. Die mütterliche Stressbelastung und die von den Müttern eingeschätzte Dysfunktionalität der Mutter-Kind-Beziehung stehen in einem umgekehrten Zusammenhang mit den Ergebnissen des Familienbogens. Eine psychische Veränderung der Mutter
nach der Geburt ihres Kindes, die sogenannte „Mutterschaftskonstellation“ (Stern, 2006),
bezieht sich unter anderem auf die Bereiche der Aufnahme einer emotionalen Beziehung
zum Kind, der Reorganisation der eigenen Identität und der Reorganisation der Partnerschaft (Cierpka et al., 2012). Unsere Ergebnisse eines Zusammenhangs zwischen niedrigen Ausprägungen der Familienfunktionalität und einem negativen Selbsterleben der
jungen Mütter (hohe Stressbelastung, depressive Symptomatik, schwierige Beziehungsaufnahme zum Kind) untermauern empirisch das Stern’sche Konzept der Mutterschaftskonstellation. Auch hier ist die Richtung der Beeinflussung unklar, es kann eher von sich
gegenseitig bedingenden Merkmalen des Familienerlebens ausgegangen werden.
Die Aufgabe des Übergangs vom Paar zur Familie oder von der Familie zu einer Familie mit einem weiteren Kind stellt eine Herausforderung für jedes Elternpaar dar. Viele
Studien beschreiben in diesem Kontext ein Absinken der Partnerschaftszufriedenheit im
ersten Lebensjahr eines Kindes (z. B. Faves, Frascarolo, Fivas-Depeursinge, 2004). In unserer Studie fanden wir allerdings keine bedeutsame Veränderung in den Ausprägungen
des Familienbogens zwischen dem 4. und dem 12. Lebensmonat des Kindes, die Einschätzung der Familienfunktionalität war hier stabil. Allerdings wurde in unserer Studie
die Partnerschaftszufriedenheit auch nicht explizit erfasst, dafür aber andere Aspekte des
Familienlebens. Möglicherweise ist der FB-K nicht genügend veränderungssensibel, was
– ebenso wie die Frage nach einem Zusammenhang zwischen dem Familienbogen und
der Partnerschaftszufriedenheit – Thema zukünftiger Untersuchungen sein sollte.
Die mit dem Erleben der frühen Mutterschaft verbundenen Variablen wie Bonding
oder elterliche Stressbelastung zeigen einen geringeren Zusammenhang mit dem Familienbogen als das allgemeine Kohärenzgefühl. Dies könnte dafür sprechen, dass das Erleben
der Familienfunktionalität in einem breiteren Kontext der kohärenten Lebenseinstellung
verankert ist und stärker sinnstiftend ist als „nur“ das aktuelle Erleben der Mutterschaft
nach der Geburt eines Kindes.
Methodologische Einschränkungen. Bei der Hauptstudie handelt es sich vor allem um
eine Risikostichprobe im ersten Jahr nach der Geburt. Zur Bildung der Kurzversion wurde
ebenfalls eine anfallende klinische Stichprobe aus Müttern von Kindern mit psychischen
Störungen verwendet. Somit muss berücksichtigt werden, dass die Belastung des Familiensystems einen Einfluss auf die Auswahl der Items für die Kurzversion ausgeübt hat.
Damit ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf andere, nicht belastete Stichproben
und auf andere Phasen einer Familie mit Kind (Kindergarten-, Grundschulalter, Adoleszenz der Kinder) eingeschränkt. Dies gebietet Vorsicht bei der Interpretation der Ergebnisse. Im Vergleich zu einer kleinen Stichprobe aus der Normalpopulation (29 Mütter mit
Kindern unter einem Jahr) fielen die Werte in unserer risikobelasteten Stichprobe nicht
signifikant, aber tendenziell niedriger aus, was als schwacher Hinweis auf die Sensitivität
des Familienbogens interpretiert werden kann. Für die weitere Forschung sollte die Sensitivität der Kurzversion in einer größeren normativen Stichprobe überprüft werden.
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FB-K – eine Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens�����
55
Fazit für die Praxis
Die Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens, FB-K, wurde für eine anwendungsökonomische Einschätzung der Familienfunktionalität konzipiert und auf
ihre psychometrischen Eigenschaften hin untersucht. Die neue, anwendungsökonomischere Kurzversion des Allgemeinen Familienbogens kann für die Einschätzung der Funktionalität einer Familie sowohl in der Diagnostik als auch
in der Forschung eingesetzt werden. Die Gütekriterien sind gesichert. Der FB-K
weist eine sehr gute Reliabilität und eine zufriedenstellende Acht-Monats-Stabilität im Jahr nach der Geburt des Kindes auf. Die Validität des Familienbogens
ist gegeben. Die bis jetzt vorliegenden Werte aus einer normalen Stichprobe mit
Säuglingen fallen tendenziell höher aus als beim Allgemeinen Familienbogen
(Langfassung), mit Kindern unter 18 Jahren weichen sie von den Werten aus der
Risikostichprobe nicht signifikant ab.
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Korrespondenzanschrift: Anna Sidor, Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Universitätsklinikum Heidelberg, Bergheimer Str. 54,
69115 Heidelberg; E-Mail: [email protected]
Anna Sidor und Manfred Cierpka, Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Universitätsklinikum Heidelberg
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Engagement türkischstämmiger Väter im Familien- und
Erziehungsalltag fördert das subjektive Wohlbefinden von
Kindern
Birgit Leyendecker und Alexandru Agache1
Summary
Involvement of Turkish Immigrant Fathers Elevates Children’s Well-Being
This study examined paternal involvement in parenting, the association between parents’ perception of mutual support, and the relation to their children’s well-being before (t1) and after
the transition to first grade (t2). Participants were first and second generation immigrant
families from Turkey (n = 134). In addition, German families (n = 45) were included for the
comparison of paternal involvement. The percentage of highly involved fathers was higher
in the German sub-sample (54 %) than in the Turkish sub-sample (38 %), but we found no
influence of parents’ education, household income, employment status, or children’s gender.
First generation fathers were more likely to be highly involved than second generation fathers.
Analyses of the longitudinal data revealed that mothers with highly involved fathers were
more likely to report higher marital support. This pattern was less clear for fathers. Children
with highly involved fathers reported significantly higher well-being at t1. For t2, a moderator analysis revealed a positive effect on children’s well-being only for those fathers who were
both highly involved and reported the highest fathering self-efficacy. Among other variables,
we controlled for children’s well-being at t1, their health status, fathers’ work hours and mothers’ marital satisfaction.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65/2016, 57-74
Keywords
paternal involvement – Turkish immigrant families – child well-being – marital satisfaction –
fathering self-efficacy
Zusammenfassung
In einer Studie mit türkischstämmigen Familien (n = 134) mit Vätern der ersten und zweiten
Zuwanderergeneration wurde untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen väterlichem
Engagement im Familien- und Erziehungsalltag und dem Wohlbefinden der Kinder vor (t1)
1 Wir danken den Kindern und ihren Eltern für die Beteiligung an dem Projekt SIMCUR und wir
danken NORFACE (Grant #292) für die Förderung der Studie.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 57 – 74 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
58
B. Leyendecker, A. Agache
und nach dem Eintritt in die Grundschule (t2) gibt. Für die Messung des Engagements wurde
auch eine deutsche Vergleichsstichprobe (n = 45) herangezogen. Die Prozentzahl der hoch
involvierten Väter war höher in der deutschen (54 %) als in der türkischstämmigen Stichprobe (38 %). Väter der ersten Zuwanderergeneration waren engagierter als Väter der zweiten
Generation. Wir fanden keine weiteren bedeutsamen Zusammenhänge zwischen väterlichem
Engagement und soziodemografischen Variablen. Längsschnittanalysen über die zwei Messzeitpunkte zeigten, dass türkischstämmige Mütter mit engagierten Partnern sich durch diese auch mehr unterstützt fühlen; bei den Vätern waren keine signifikanten Unterschiede
erkennbar. Das Wohlbefinden der Kinder war zu t1 signifikant höher, wenn ihre Väter hoch
involviert waren. Eine Moderatoranalyse zeigte einen positiven Effekt auf das Wohlbefinden
der Kinder auch zu t2, jedoch nur bei denjenigen Vätern, die hohe Werte beim väterlichen
Engagement in der Kinderbetreuung erzielten und die gleichzeitig auch mit ihrer Erziehungskompetenz zu t1 sehr zufrieden waren. Kontrollvariablen zu t1 waren unter anderem Wohlbefinden, Gesundheit der Kinder, Arbeitsstunden der Väter und Zufriedenheit der Mütter
mit ihren Partnern.
Schlagwörter
väterliches Engagement – türkische zugewanderte Familien – Wohlbefinden von Kindern – eheliche Zufriedenheit – väterliche Selbstwirksamkeitsüberzeugungen
1
Hintergrund
So unterschiedlich die Definitionen von Resilienz auch sind – Einigkeit besteht darin, dass die Ressourcen, die einem Individuum zur Verfügung stehen, einen wichtigen protektiven Faktor darstellen und helfen können, mit schwerwiegenden Herausforderungen und belastenden Situationen umzugehen. Resilienz kann als ein
Prozess oder ein Muster positiver Adaptation und Entwicklung trotz schwerwiegender Bedrohungen definiert werden und erfordert, wie Masten und Obradovic
(2006) betonen, nichts Ungewöhnliches, Seltenes oder sehr Spezielles – vielmehr ist
entscheidend, dass resiliente Kinder und Familien über ausreichende Ressourcen
und adaptive Systeme verfügen. Eine große Bedrohung für Kinder und deren Familien stellt die Beeinträchtigung dieser adaptiven Systeme dar. Schon in der Kauai
Studie von Emmy Werner (Überblick in Werner u. Smith, 2001), die zwischen 1955
und 1995 durchgeführt wurde, zeigte sich, dass neben Eigenschaften der Kinder –
wie ihrem Temperament oder ihrer Motivation – vor allem der Kontext, in dem sie
lebten, entscheidend war. Hierzu gehörten die „Community“ und die Familie. Die
„Community“ umfasste den Zusammenhalt im Stadtteil und die Verfügbarkeit von
Ressourcen (Unterstützungsprogramme, Familienbildungsstätten, Eltern-KindKurse, ansprechbare Sozialarbeiter). In der Familie waren enge Beziehungen zu Eltern oder anderen Bezugspersonen sowie die Anwesenheit eines Vaters besonders
bedeutsam.
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Engagement türkischstämmiger Väter�����
59
Die freiwillige Immigration einer Familie stellt, anders als die erzwungene Immigration auf Grund von Krieg, Vertreibung oder Umweltkatastrophen, keine schwerwiegende Bedrohung dar. Jedoch ist auch eine geplante, freiwillige Migration mit besonderen Risiken und Herausforderungen behaftet und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass
die Familie oder einzelne Mitglieder mit stressvollen Situationen konfrontiert werden.
Faktoren wie eine andere Muttersprache, eine Aus- und Schulbildung der Eltern, die
vielleicht nicht anerkannt oder wenig nützlich ist, und vor allem die Adaptation an eine
fremde Kultur tragen zu dieser erhöhten Herausforderung bei. Gleichzeitig fallen bei
fast allen Familien die vertrauten Unterstützungssysteme durch Nachbarn, Freunde und
Verwandte weg, sodass wichtige Ressourcen nicht mehr zur Verfügung stehen. In einer
Situation, in der Ressourcen von außen wegfallen, bekommen der Zusammenhalt und
die gegenseitige Unterstützung innerhalb einer Familie einen besonders hohen Stellenwert. Rumbaut (1997) schreibt hierzu, dass die gemeinsam durchlebten Widrigkeiten
des Migrations- und Adaptationsprozesses häufig dazu führen, dass sich eine Familie
enger zusammenschließt, gegenseitig unterstützt und so die Grundlagen für oft bemerkenswerte Leistungen und Erfolge in dem neuen Land gelegt werden.
Deutschland, das sich lange Zeit als ein Land der Emigration verstanden hat, ist mittlerweile ein begehrtes Land für Immigration geworden. Türkischstämmige Familien
gehören nicht nur zur größten, sondern gleichzeitig auch zu einer der ältesten Migrantengruppen in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2011). Heirat stellt fortwährend
eine der wenigen legalen Möglichkeiten dar, um aus der Türkei nach Deutschland zu
migrieren. Da in Deutschland lebende Nachkommen türkischer Eltern einen Partner oder eine Partnerin aus der Türkei bevorzugen, besteht die Mehrzahl der resultierenden Ehen aus einem Partner, der hier aufgewachsen ist und einem anderen Partner,
der in der Türkei aufgewachsen und erst im Rahmen der Familienzusammenführung
nach Deutschland gekommen ist. Dies bedeutet für die Familien, dass ein Elternteil in
Deutschland sozialisiert wurde, mit der Kultur und der deutschen Sprache vertraut ist
und somit einen Akkulturationsvorsprung hat vor dem anderen, in der Türkei aufgewachsenen Elternteil. Eine aktuelle Studie fand jedoch, dass diese Akkulturationsdifferenzen zwischen den Eltern nicht unbedingt kritisch sind, sondern im Gegenteil sogar
Stress zwischen den Partnern reduzieren können (Spiegler, Leyendecker, Kohl, 2015).
Väter können in einer Familie sehr unterschiedliche Funktionen haben – als Ernährer einer Familie, als moralische Instanz, Ehemann und Partner, Betreuer der Kinder,
Beschützer und anderes mehr (Lamb, 2010). Diese Funktionen variieren je nach historischem, gesellschaftlichem und kulturellem Kontext sowie in Abhängigkeit vieler
anderer Faktoren wie den finanziellen Ressourcen einer Familie und dem Zeitbudget,
das den Eltern zur Verfügung steht. Lamb (2010) warnt davor, die Rollen von Vätern
zu stereotypisieren und eindimensional darzustellen. Unbestritten ist jedoch, dass Väter
eine wichtige Rolle für die Entwicklung ihrer Kinder spielen, sowohl direkt durch die
Betreuung und Erziehung der Kinder als auch indirekt durch die Unterstützung ihrer
Partnerin und der Familie. Für die direkte Unterstützung spielt die Aufgabenteilung zwischen den Eltern eine nicht zu unterschätzende Rolle. Während die Mehrheit deutscher
60
B. Leyendecker, A. Agache
Paare vor dem Übergang zur Elternschaft eine weitgehend egalitäre Aufgabenteilung im
Hinblick auf Erwerbstätigkeit, Hausarbeit und Freizeitgestaltung haben, findet danach
– wie Dette-Hagemeyer und Reichle (2011, S. 21) beschreiben – eine „schleichende Traditionalisierung“ statt. Davon unbenommen hat jedoch das väterliche Engagement bei
der anfallenden Hausarbeit und der Betreuung der Kinder einen positiven Einfluss auf
das Wohlbefinden beider Partner. Für die indirekte Unterstützung spielen die Qualität
der Beziehung und die partnerschaftlichen Konflikte die entscheidenden Einflussgrößen
(Gloger-Tippelt, 2011). Dies betrifft sowohl die Beziehung zwischen den Eltern als auch
die Beziehung zu den Kindern. Ungelöste Konflikte der Eltern und Spannungen wirken
sich auf elterliche Kompetenzen aus, beeinflussen das Wohlbefinden der Kinder negativ,
während eine aktive Rolle des Vaters positive Auswirkungen sowohl auf die Zufriedenheit
und das Wohlbefinden beider Partner (Agache, Leyendecker, Schäfermeier, Schölmerich,
2014) als auch auf die Entwicklung und auf das Wohlbefinden von Kindern (Pleck, 2010)
hat. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass väterliche Selbstwirksamkeitsüberzeugungen einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden in Eltern-Kind Dyaden haben
(Bandura, Caprara, Barbaranelli, Regalia, Scabini, 2011). Die wenigen Studien zu elterlichem Engagement, Kompetenz und Selbstwirksamkeit zeigten, dass Väter, die davon
überzeugt sind, mit ihren Kindern gut umgehen zu können und davon ausgehen, dass ihr
Einsatz sich lohnt, auch engagierter sind (Jakobs u. Kelley, 2006; Kwok u. Li, 2015).
Forschung zu Vätern ist nach wie vor ein Randgebiet und Forschung zu Vätern mit
Migrationshintergrund ist noch viel seltener. Etwa ein Drittel aller Kinder in Deutschland hat einen Vater, der mit einer anderen Muttersprache als Deutsch aufgewachsen ist.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit zwei Elternteilen aufwächst, ist in Familien
mit Migrationshintergrund größer als in deutschen Familien (Statistisches Bundesamt,
2011) und deswegen können sie potenziell in besonderem Maße eine Ressource für den
Familienalltag darstellen. Da Großeltern in Familien mit Migrationshintergrund weniger verfügbar sind, kommt der aktiven Beteiligung der Väter noch einmal eine besondere Bedeutung zu. Jedoch wissen wir nach wie vor wenig über die Aktivitäten von Vätern
aus Familien mit Migrationshintergrund und ob sich väterliches Engagement positiv auf
die Beziehung der Partner untereinander und auf die Entwicklung und das Wohlbefinden der Kinder auswirkt (Strier u. Roer-Strier, 2010). Hinzu kommt, dass viele Familien
mit Migrationshintergrund aus Ländern kommen, in denen die Familie zwar einen sehr
hohen Stellenwert hat, die Erziehung junger Kinder aber weitgehend den Müttern überlassen wird (Suarez-Orozco u. Suarez-Orozco, 2001). Sie stehen dann vor der Aufgabe,
im Bereich der Kindererziehung – genau wie in vielen anderen Bereichen des Alltagslebens – eine Balance zwischen der Herkunftskultur und der Aufnahmekultur zu finden
und sich gleichzeitig an die Familiensituation, in der das Netzwerk der unterstützenden
älteren Generation fehlt, zu adaptieren (Leyendecker, 2011). Die Orientierung an dem
hohen Stellenwert der Familie kann Väter stabilisieren und ihr Engagement für die Familie auch unter erschwerten Bedingungen fördern (Cabrera, Shannon, La Taillade,
2009; Taylor u. Behnke, 2005). Deshalb ist zu vermuten, dass ein Festhalten an traditionellen Rollenbildern und vor allem eine geringe Beteiligung der Väter im Familien- und
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Engagement türkischstämmiger Väter�����
61
Erziehungsalltag in vielen Familien mit Migrationshintergrund an den Bedürfnissen
aller Mitglieder vorbeigeht und sogar potenziell zu Konflikten führen kann (Costigan
u. Dokis, 2006). Gleichzeitig weist allerdings Forschung aus der Türkei darauf hin, dass
eine traditionelle Rollenverteilung aufbricht, und dass Väter dort zunehmend aktiv in
der Betreuung ihrer Kinder involviert sind. Vor allem bei türkischen Vätern mit höherer
Bildung und einem guten Einkommen war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie viel
und gern mit ihren Kindern spielen (Ivrendi u. Isikoglu, 2010), und dass sie sich bei
deren Betreuung engagieren (Celik, 2008; Ozgun u. Honig, 2005).
2
Fragestellungen
Die Daten, auf die wir uns in diesem Artikel beziehen, entstammen einer größeren
Längsschnittstudie mit Kindern, ihren Mütter und Väter aus Familien ohne Migrationshintergrund sowie aus Familien, die aus der Türkei zugewandert sind (nähere Angaben zur Studie s. Abschnitt 3). Mit dieser Studie möchten wir folgenden
Fragestellungen nachgehen: (1) Gibt es in den türkischstämmigen Familien einen
Zusammenhang zwischen dem generationalen Status der Väter und/oder mit ihrer
Bildung und ihrem Engagement bei der Betreuung ihrer Kinder? Hier vermuten wir,
dass – entsprechend den in der Türkei durchgeführten Studien – die Wahrscheinlichkeit, dass ein Vater sich engagiert, mit seinem Bildungsgrad ansteigt. Die Frage
nach dem generationalen Status ist eher explorativ, da es hierzu unseres Wissens bislang keine Studien gibt. (2) Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem väterlichen
Engagement und der Zufriedenheit der Väter und der Mütter mit ihrem jeweiligen
Partner? Hier ist zu vermuten, dass Mütter, deren Partner sich mehr engagieren,
über größere eheliche Zufriedenheit berichten. (3) Gibt es einen Zusammenhang
zwischen väterlichem Engagement und dem Wohlbefinden der Kinder zu beiden
Zeitpunkten? Hier ist zu vermuten, dass Kinder mit engagierten Vätern über höheres Wohlbefinden berichten. (4) Ist die Wirkung des väterlichen Engagements in
der Kinderbetreuung auf das Wohlergehen der Kinder abhängig von der Einschätzung der eigenen Erziehungskompetenz? Entsprechend der Literatur (Übersicht
in Montigny u. Lacharité, 2005) definieren wir väterliche Selbstwirksamkeit als die
Selbsteinschätzung der Väter, dass sie ihre Erziehungskompetenzen erfolgreich ausführen können. Hierzu erwarten wir, dass der positive Effekt des väterlichen Engagements auf das Wohlbefinden ihrer Kinder besonders verstärkt dann auftritt, wenn
die Väter gleichzeitig ihr Erziehungsverhalten als besonders gut einschätzen.
3
Methoden
In der vorliegenden Untersuchung wurden Daten der ersten zwei Messzeitpunkte von
134 türkischstämmigen Vorschulkindern und ihren Eltern analysiert, die im Rahmen
62
B. Leyendecker, A. Agache
eines umfangreicheren Kohorten-Sequenz-Designs des SIMCUR-Projektes (Social
Integration of Migrant Children – Uncovering Family and School Factors Promoting
Resilience) zum Übergang in der Grundschule beobachtet wurden. Für einen Teil der
vorliegenden Analysen wurden ebenfalls SIMCUR-Daten einer Vergleichsstichprobe von 45 Eltern von Vorschulkindern ohne Migrationshintergrund herangezogen (s.
Beschreibung zur Herleitung der Variable zum väterlichen Engagement). Die Stichprobenrekrutierung erfolgte im Ruhrgebiet nach Anzeigekampagnen und Telefonkontaktierung. Der erste Erhebungszeitpunkt war jeweils im ersten Halbjahr 2010 (43 %) und
2011 (57 %). Etwa jeweils ein Jahr später (also in den Jahren 2011 bzw. 2012) fand die
zweite Erhebung statt. Die Familien erhielten 25 Euro pro Teilnahme. Die Datenerhebung erfolgte meist durch Hausbesuche von geschulten bilingualen Interviewern (< 10
% der Interviews wurden wahlweise an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt).
Die analysierte Stichprobe umfasst nur Kinder mit Eltern, die zusammen leben (99 %
in einer Ehe). Wir bezeichnen den mit der Mutter zusammenlebenden Partner, also den
sozialen Vater, als Vater. Die Daten zu den soziodemografischen Merkmalen wurden in
Interviews mit den Müttern erhoben, die anderen Daten mit Fragebögen. Die Interviewund Fragebogendaten wurden wahlweise auf Deutsch oder Türkisch erhoben.
3.1 Stichprobenbeschreibung
In der türkischstämmigen Stichprobe waren die befragten Jungen und Mädchen
(53 %) etwa gleich verteilt, das Alter der Kinder lag im Durchschnitt zum ersten
Erhebungszeitpunkt bei 5.74 Jahren (SD = 0.46) und 71 % hatten keine weiteren Geschwister. Eine fast identische Verteilung war auch in der Vergleichsstichprobe ohne
Migrationshintergrund zu finden, jedoch zeigten sich Unterschiede hinsichtlich der
sozioökonomischen Variablen. So war nach der ISCED-Klassifikation (Schneider,
2008) der höchste Bildungsstand der türkischstämmigen Väter mehrheitlich mit
68 % der sekundären Bildung zuzuordnen, während das nur bei 46.7 % der Väter
ohne Migrationshintergrund der Fall war. Das monatliche Haushalts-Nettoäquivalenzeinkommen (neue OECD Skala; Haagenars, de Vos, Zaidi, 1994) lag in der
Migrationsstichprobe bei etwa 915,70 Euro (SD = 377,48), in der Stichprobe ohne
Migrationshintergrund bei etwa 1501,96 Euro (SD = 626,92).
3.2 Erhebungsinstrumente
Elterliche Aufteilung der Kinderbetreuungsaufgaben und väterliches Engagement zu t1.
Sowohl die Mütter als auch die Väter schätzten zu t1 anhand von jeweils acht Items zu
unterschiedlichen Betreuungsaktivitäten (z. B. Frühstück vorbereiten, Abholen vom
Kindergarten usw., Übersicht in Abb. 1) anhand einer 5-stufigen Skala, inwieweit sie
die jeweilige Aufgabe alleine erledigen oder sich mit dem Partner teilen (0 = fast immer
von mir erledigt, 1 = meistens von mir, 2 = zu gleichen Anteilen von mir und meinem
Partner erledigt, 3 = öfters von meinem Partner als von mir, 4 = fast immer von meinem
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Abbildung 1: Item-Profile der Clusters zum väterlichem Engagement (Mittelwerte). Anmerkung: V = Vaterbefragung, M = Mutterbefragung.
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Engagement türkischstämmiger Väter�����
63
64
B. Leyendecker, A. Agache
Partner). Zusätzlich wurde noch eine 6. Kategorie zu „von anderen betreut“ erhoben, die
wegen Interpretationsschwierigkeiten als fehlender Wert kodiert wurde. Während bei
den Mütterauskünften die Anzahl der fehlenden Werte sehr gering war (< 5 %), betrug sie bei den Vätern circa 40 %. Eine Inspektion der fehlenden Werte unterstützte
die Annahme eines zufälligen Missing-Musters (Little‘s MCAR - Test: χ2 = 361.241,
df = 375, p = .686), sodass diese Items mit der SPSS-Maximum-Likelihood-Prozedur
imputiert werden konnten (EM-Imputation für die Gesamtstichprobe von türkischen
und deutschen Fällen). In der EM-Imputation wurden auch die Variablen zur väterlichen
Bildung, zum generationalen Status sowie die Subskalen zu väterlichen Erziehungskompetenzen (s. unten) als Kovariaten einbezogen. Da es sich um ein neu entwickeltes Instrument handelte, wurde eine exploratorische Faktorenanalyse durchgeführt, die keine
eindeutige Lösung hervorbrachte (2- Faktorenlösung mit 80 % Querladungen). Darauffolgend wurde eine Clusteranalyse mit der SPSS-Prozedur Two-Step Cluster angewandt,
die in einer 3-Cluster-Lösung resultierte. Anhand der Profil-Item Analyse aus Abbildung
1 konnten wir folgende Cluster sinnvoll interpretieren: 1. Cluster des geringen väterlichen
Engagements (Mutter ist fast ausschließlich für die Kinderbetreuung verantwortlich), 2.
Mittleres Engagement, und 3. Hohes Engagement (vergleichsweise weitgehende egalitäre
Aufgabenteilung). Separate 16 ANOVAs für alle Items zeigten, dass durchgehend der
Cluster-Faktor signifikant (p < .05) Varianz in den Items erklärte. In der türkischstämmigen Stichprobe waren die Familien etwa gleichmäßig auf alle drei Cluster verteilt, in
der deutschen Stichprobe waren mehr im 2. und 3. Cluster (türkischstämmige Stichprobe: Cluster 1 = 28.4 %, Cluster 2 = 33.6 %; deutsche Stichprobe: Cluster 1: 11.6 %, Cluster
2: 34.9 %). Wegen der geringen Fallzahl der deutschen haben wir diese in den nachfolgenden multivariaten Analysen nicht als Vergleichsstichprobe berücksichtigt.
Selbsteinschätzung der väterlichen Erziehungskompetenzen. Die väterliche Selbstwirksamkeit wurde zum ersten Erhebungszeitpunkt mit einer übersetzten und adaptierten
Version der Father Involvement Inventory-Skala (Hawkins et al., 2002) gemessen. Die
Väter wurden gefragt, wie gut sie in den letzten zwölf Monate ihre Aufgabe als Vater
in mehreren Erziehungsbereichen anhand von 16 Items (auf einer Skala) von 1- „sehr
schlecht“ bis 4.- „sehr gut“ einschätzen (Beispielitems: „Sich Zeit dafür nehmen, mit
Ihren Kindern zu reden, wenn sie etwas auf dem Herzen haben“; „Ihre Kinder dazu
ermutigen, ihre Aufgaben im Haushalt zu erledigen“). Da für diese Skala nur Werte von
n = 78 Väter vorlagen, wurden die fehlenden Angaben ebenfalls mit den oben beschriebenen EM-Verfahren imputiert. Die Reliabilität der Skala war gut (Cronbachs α = .77),
sodass ein Skalenmittelwert über alle Items berechnet wurde.
Wahrgenommene Unterstützung in der Partnerschaft. Zu beiden Erhebungszeitpunkten haben beide Elternteile anhand von zwei Items selbst eingeschätzt, inwieweit
sie sich von dem Partner in der Beziehung unterstützt fühlen und ob sie sich um ihre
Beziehung sorgen (Zustimmung auf einer 3-stufigen Antwortskala; Koot, 1997). Möglicherweise wegen der Kürze des Instruments lagen die Werte für das Cronbachs α nur
zwischen .46 und .52. Eine konfirmatorische Faktorenanalyse (korrelierte Faktoren
spezifiziert für alle Skalen der Studie; getrennt für jedes Elternteil und Erhebungs-
ipabo_66.249.66.39
���������������������������������������
Engagement türkischstämmiger Väter�����
65
zeitpunkt) zeigte jedoch durchgehend gute Indikatorenreliabilitäten (signifikante Ladungen für diese zwei Items zwischen .43 und .85) und einen exzellenten Model Fit.
Folglich wurden Summenscores gebildet.
Das subjektive Wohlbefinden und der Gesundheitszustand der Kinder wurden zu beiden Zeitpunkten anhand von vier Items aus zwei Subskalen des KINDL-Fragebogens
(Ravens-Sieberer u. Bullinger, 2000) erhoben. Ihr Wohlbefinden schätzten die Kinder 3-stufig (1 = nie, 3 = oft) anhand eines Items zur Häufigkeit des Lachens und
Spaß habens in der letzten Woche und eines Items zur erlebten Langweile ein. Bei
den Items zum Gesundheitszustand gaben die Kinder an, ob sie sich „krank gefühlt
haben“ und ob sie „Kopfweh oder Bauchweh“ hatten. Das Item zur „Langweile“ und
die Items zu den Krankheiten wurden invers umgepolt. Anschließend wurden jeweils
zwei Summenwerte gebildet, die gemäß des KINDL-Manuals auf eine standardisierte
Skalierung von 0 bis 100 transformiert wurden (100 = maximales Wohlbefinden bzw.
Gesundheitszustand). Die Cronbachs Alphas für die Gesamt-KINDL-Skala waren akzeptabel: αt1 = .67 und αt2 = .62. Der Gesundheitszustand der Kinder wird als Kontrollvariable in den multivariaten Analysen eingesetzt.
Für die Erfassung der väterlichen Bildung wurde nach der ISCED-Klassifikation eine
dichotome Variable mit den Ausprägungen: 0 = maximal Abschlüsse im sekundären
Bildungsbereich und 1 = postsekundäre Bildung (FH/Universität oder hochspezialisierte Berufsausbildungen) gebildet. Zusätzlich wurde die wöchentliche Arbeitszeit der
Väter in Stunden erhoben. Für die Unterscheidung des generationalen Migrationsstatus
der Väter wurde eine dichotome Variable gebildet: 1. Generation (mit 13 Jahren oder
später eingewandert), 2. Generation (in Deutschland aufgewachsen).
3.3 Statistische Datenanalyse
Die Daten wurden mit IBM SPSS 22 und R (Wickham, 2009) analysiert. Um zu prüfen, wie das väterliche Engagement mit dem Wohlbefinden der Kinder, dem generationalen Status und den restlichen Kontrollvariablen zusammenhängt, wurden
bivariate Korrelationen berechnet. Als nächstes wurden die Längsschnitteffekte der
Cluster auf das subjektive Wohlbefinden der Kinder und die Zufriedenheit mit der
Partnerschaftsbeziehung berechnet. Hierzu wurden Mehrebenenanalysen mit der
SPSS „Mixed-Model“-Prozedur mit vertikaler Datenstruktur angewandt (jeder Fall
zweimal pro Messzeitpunkt). Dieses Verfahren hat den Vorteil gegenüber der klassischen ANOVA mit Messwiederholungen, dass sowohl unterschiedliche Varianzen
in den Messungen als auch die Korrelationen der Residuen von t1 zu t2 in den Schätzungen kontrolliert werden können. Zudem ist der Umgang mit fehlenden Werten
in den „Mixed-Models“ effizienter (wenn für einen Fall ein fehlender Wert zu t2 vorkommt, aber nicht zu t1, dann wird der Fall in der Analyse behalten). Letztendlich
wurde die Moderatorhypothese getestet, dass sich das väterliche Engagement (zentraler Prädiktor) nur dann auf das kindliche Wohlbefinden positiv auswirkt, wenn
die Väter ihre Erziehungskompetenz höher einschätzten (Moderatorvariable). Hierzu
66
B. Leyendecker, A. Agache
wurden separat OLS-Regressionen zur Vorhersage des Wohlbefindens zu t1 und t2
mit dem SPSS-PROCESS-Macro (Hayes, 2013) durchgeführt. Konkret wurde eine Regressionsgleichung mit zwei Dummy-Variablen für die Clustervariable des väterlichen
Engagements (Referenzkategorie = 1. Cluster des geringen Engagements) und jeweils
zwei Interaktionsterme dieser Dummy-Variablen mit der väterlichen Selbstwirksamkeitsvariable (Erziehungskompetenzskala) als Prädiktoren geschätzt. Wir sehen die
Moderationshypothese als unterstützt, wenn einer der Interaktionsterme statistisch
signifikant (p < .05) wird. Die Interpretation der Analyse erfolgt über eine post-hoc
„Simple-Slope-Analyse“ der bedingten Regressionsgeraden. Additive Effekte der Kontrollvariablen werden in der Moderationsanalyse berücksichtigt.
4
Ergebnisse
4.1 Korrelate des väterlichen Engagements und des kindlichen Wohlbefindens
Tabelle 1 (folgende Seite) enthält die bivariaten Zusammenhänge für alle Variablen
der Studie. Interessanterweise war die deutliche Mehrheit (64 %) der besonders
engagierten Väter (3. Cluster) der 1. Migrationsgeneration zuzuordnen (Spearman r = -.20, p = 0.029), wohingegen es keinen Zusammenhang mit dem generationalen Status der Mütter gab. Es gab einen schwachen positiven Zusammenhang
zwischen Engagement und Selbsteinschätzung der Erziehungskompetenz und eine
signifikant negative Korrelation mit den wöchentlichen Arbeitsstunden der Väter.
Weiterhin zeigten sich keine Zusammenhänge des väterlichen Engagements mit
dem Geschlecht, dem Kindesalter in Monaten und der Anzahl an Geschwistern.
Das väterliche Engagement korrelierte positiv mit dem kindlichen Wohlbefinden zu
t1. Ein fast identisches Muster zeigte sich in den positiven Korrelationen mit dem
Gesundheitszustand des Kindes. Die relativ niedrige Korrelation für Wohlbefinden
zwischen t1 und t2 deutet auf eine geringe Stabilität im Längsschnitt und somit auf
eine hohe Variabilität der individuellen Verläufe im Wohlbefinden hin.
4.2 Längsschnitteffekte auf das Wohlbefinden und auf Unterstützung in der
Partnerschaft
Die Kinder mit engagierten Vätern berichten im Längsschnitt über ein vergleichsweise höheres Wohlbefinden (Tab. 2). Die Kinder aus dem 2. Cluster erzielten höhere Werte beim Wohlbefinden, unterschieden sich aber nicht signifikant von den
Kindern mit den am wenigsten engagierten Vätern. Obwohl es eine leichte Zunahme über die Zeit und über alle Cluster hinweg gibt, sind auch die Standardfehler
der Messwiederholung (feste Effekte) relativ groß, sodass sich die möglicherweise
vorliegenden Unterschiede von t1 zu t2 hier nicht zeigen konnten. Eine Interaktion
zwischen Cluster- und Zeitfaktor war ebenfalls und anders als erwartet nicht signi-
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1
.17
1
2
3
4
.16† -.09 -.11
1
.03 -.17
6
.13
.07
7
8
9
10
-.20* -.02 -.21* .12
.01 -.05 .08 .07
11
.11
.00
1
-.06
-.23
.05
.13
-.04
12
.24*
.02
14
.13
.03
.03 -.16
.06 -.17
-.01 .01
.07 .04
-.04 -.13
13
.19*
.11
.10
-.28†
.15†
.12
.00
15
.24**
.06
.23†
-.11
.02
-.06
.03
16
.03
-.03
-.05 .07 .04
.01
-.14 -.10 .14
.01
1 -.01 -.17† -.23* -.08 -.02 -.08 -.02
1
.06
-.03
.14 .05
.02
.12
.02
.12
1
.89*** .17† .15
1
.00 .12 -.07 .17†
1 .18† .31*** .10
1
.04
.05
1
.06
1
-.05 -.10
.10 .08 -.11 .02 -.21†
-.05
.16
.13 -.03 .24† .13 -.23†
1 .43*** .14 -.01 .04 .08 .04
1
.22* -.03 .09 -.11 .10
1
.12 .13 -.01 .02
5
.16†
.16†
Anmerkungen: †p < .10, *p < .05, ** p < .01, *** p < .0 01. Die Fallzahlen für die Korrelationen mit den Variablen zur „Wahrgenommene Unterstützung in
der Partnerschaft“ aus Sicht der Väter variierten zwischen n = 46 (niedrigstes n zu t2) und n = 77 (t1). Für die restlichen Korrelationen variierte das n
zwischen 102 und 134.
Wahrgenommene Unterstützung in der Partnerschaft
3. … zu t1 (Väter)
4. … zu t2 (Väter)
5. … zu t1 (Mütter)
6. … zu t2 (Mütter)
7. Generationaler Status der Väter (0 = 1. Generation)
8. Bildung der Väter (0 = primäre/ sekundäre nach
ISCED)
9. Wöchentliche Arbeitsstunden der Väter zu t1
10. Anzahl der Geschwister (Kind)
11. Kindesalter in Monaten (t1)
12. Kindesalter in Monaten (t2)
13. Wohlbefinden der Kinder (t1)
14. Wohlbefinden der Kinder (t2)
15. Gesundheitszustand der Kinder (t1)
16. Gesundheitszustand der Kinder (t2)
1. Väterliches Engagement (Clusters)
2. Väterliche Erziehungskompetenz
Tabelle 1: Bivariate Spearman- und punktbiseriale Korrelationen
���������������������������������������
Engagement türkischstämmiger Väter�����
67
68
B. Leyendecker, A. Agache
fikant. Die Längsschnitteffekte auf die Variable der Unterstützung in der Partnerschaft waren nur für die Mütter und nicht für die Väter bedeutsam (Tab. 2): Frauen
mit sehr involvierten Partnern waren besonders zufrieden mit ihrer Beziehung und
fühlten sich – anders als die Frauen aus den anderen beiden Clustern – gut unterstützt in der Partnerschaft.
Insgesamt deuten die Ergebnisse der Mehrebenenanalyse darauf hin, dass das väterliche Engagement keinen moderierenden Effekt auf die Zunahme von t1 und t2 in
kindlichem Wohlbefinden und die mütterliche Zufriedenheit in der Ehe hat. Allerdings berichten Kinder und Mütter aus dem Familiencluster mit den engagiertesten
Vätern systematisch höhere Werte in den genannten Variablen. Zudem unterstützen
diese Analysen die Erwartung, dass es interindividuelle Unterschiede im Wohlbefinden nach dem Schuleintritt gibt, die nicht allein durch das Ausmaß des vorschulischen
Wohlbefindens oder das väterliche Engagement erklärt werden können.
Tabelle 2: Geschätzte Mittelwerte (Standardfehler) und feste Effekte der Mehrebenenanalyse mit Messwiederholungen (adjustiert für Alter und Gesundheitszustand der Kinder)
Wohlbefinden der
Kinder zu t1
Wohlbefinden der
Kinder zu t2
Wahrgenommene
Unterstützung in der
Partnerschaft
... zu t1 (Mütter)
... zu t2 (Mütter)
... zu t1 (Väter)
... zu t2 (Väter)
1
M
(SE)
Cluster
2
M
(SE)
3
M
(SE)
65.12
(3.61)
69.82
(3.60)
70.36
(3.36)
75.06
(3.53)
75.25
(3.26)
79.94
(3.17)
4.72
(0.15)
4.62
(0.15)
5.55
(0.17)
5.41
(0.17)
5.23
(0.15)
5.13
(0.15)
5.07
(0.16)
4.93
(0.18)
5.08
(0.14)
4.98
(0.14)
5.32
(0.14)
5.17
(0.14)
Tests der Haupt­
effekte (F-Werte)
MW-Unterschiede
(unstand. Koeffizienten)
Engagement- Zeit Cluster Cluster t1 vs. t2
Clusters
1 vs. 3 2 vs. 3
2.77†
2.32 -10.12*
-4.89
-4.70
3.43*
0.91
-0.37*
0.14
0.10
2.58†
0.83
0.23
-0.24
.15
Anmerkungen: †p < .10, *p < .05; Kinder: nt1 = 119, nt2 = 116; Mütter: nt1 = 130, nt2 = 108; Väter: nt1 = 79,
nt2 = 57
4.3 Moderatoranalyse
Die Ergebnisse der Moderatoranalysen sind in Tabelle 3 dargestellt. Bei der endgültigen Auswahl der Kontrollvariablen berücksichtigten wir neben theoretischen
Kriterien auch die signifikanten Zusammenhänge, die bivariat und im Längsschnitt
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Engagement türkischstämmiger Väter�����
69
festgestellt wurden. So wurden beispielsweise Kindvariablen, die nicht mit dem
Wohlbefinden und dem väterlichen Engagement korrelierten (z. B. Geschlecht, Anzahl der Geschwister), nicht in die Analysen einbezogen. Ebenfalls konnten wegen
der relativ geringen Teilnahme der Väter im Längsschnitt die Väterauskünfte zu t2
nicht berücksichtigt werden. Für die Vorhersage des Wohlbefindens zum Zeitpunkt
t1 fanden wir keinen signifikanten Interaktionseffekt. In den additiven Regressionsanalysen zeigten sich jedoch positive und signifikante Haupteffekte (p < .05) für
die zwei Engagement-Dummy-Variablen; diese Effekte reduzierten sich allerdings
nach dem Einfügen der Kontrollvariablen. So zeigten nur die Kinder mit den engagiertesten Vätern (Cluster 3) etwa 11.7 Punkte mehr im Wohlbefinden (p = .063) im
Vergleich zu den Kindern mit den am wenigsten engagierten Vätern. Der Gesundheitszustand der Kinder hatte einen positiven Effekt, andere signifikante Effekte der
Kontrollvariablen wurden hier nicht gefunden.
Tabelle 3: Effekte väterlichen Engagements und selbsteingeschätzter Erziehungskompetenz auf das
subjektive Wohlbefinden der Kinder
„Hohes“ väterliches Engagement (Cluster 3)
„Mittleres“ väterliches Engagement (Cluster 2)
Selbsteingeschätzte Erziehungskompetenz der Väter
Cluster 3 x Erziehungskompetenz der Väter
Cluster 2 x Erziehungskompetenz der Väter
Generationaler Status der Väter
Wöchentliche Arbeitsstunden der Väter
Bildung der Väter
Von Mütter wahrgenommene Unterstützung in der
Partnerschaft zu t1
Kindesalter (t1)
Gesundheitszustand der Kinder zu t1
Gesundheitszustand der Kinder zu t2
Subjektives WohlbeSubjektives Wohl­
finden der Kinder zu befinden der Kinder
t1 (n = 109)
zu t2 (n = 97)
b
S.E.
p
b
S.E.
p
9.30 6.06 .127 7.336 7.63 .340
11.74 6.26 .063 -2.378 6.70 .723
2.10 9.28 .747
4.65 10.86 .670
56.89 26.65 .036
5.39 27.90 .847
.40
4.80 .932
2.35 5.62 .677
.02
.118 .836 -0.14 0.14 .309
-4.90 4.98 .328 -5.55 5.86 .347
2.87
4.88
3.46
-
2.42
5.14
1.07
-
.237
.345
.002
-
0.42
15.65
0.36
1.00
2.90
6.29
1.28
1.25
.886
.015
.779
.426
Anmerkungen: b = unstandardisierte Regressionskoeffizienten; S.E. = Standardfehler. Die Variable zur
Erziehungskompetenz der Väter ist mittelwertzentriert. Dummy-Variable für Kindesalter zu t1: 0 =
5-Jährige, 1 = 6-Jährige. Die dargestellten Koeffizienten für Modell zu t1 beziehen sich auf ein rein additives Modell. Nicht dargestellte Interaktionseffekte für t1: Cluster 3 x Erziehungskompetenz: b = 32.098,
p = 0.152; Cluster 2 x Erziehungskompetenz der Väter: b = 18.54, p = 0.398
Für die Vorhersage des Wohlbefindens nach Schuleintritt findet sich ein signifikanter Interaktionseffekt für das 3. Cluster der engagiertesten Väter der mit 4.6 %
zum gesamten Anteil der erklärten Varianz beiträgt [F(1, 80) = 4.56, p = .035]. In Abbildung 2 werden für jeden Cluster getrennt die geschätzten Regressionsgeraden
70
B. Leyendecker, A. Agache
für den Effekt der väterlichen Selbsteinschätzung des eigenen Erziehungsverhaltens
dargestellt. Es zeigt sich eine signifikante graduale Zunahme im Wohlbefinden bei
zunehmender Erziehungskompetenz nur in den Familien mit den engagiertesten
Vätern (b = 37.48, p = . 037); die anderen zwei Regressionsgeraden sind statistisch
nicht signifikant. Dies bedeutet, dass das Engagement der Väter sich nur dann auf
das Wohlbefinden ihrer Kinder zu t2 positiv auswirkt, wenn sie ihr Erziehungsverhalten überdurchschnittlich gut bewerten. Darüber hinaus zeigte sich, dass die etwas später eingeschulten Kinder (Anfang des 6. Lebensjahres zu t1) im Vergleich
zu den etwas früher eingeschulten (Ende des 5. Lebensjahres zu t1) etwa 15 Punkte
höher im Wohlbefinden zu t2 liegen.
Abbildung 2: Bedingte Effekte väterlichen Engagements und Erziehungskompetenz auf das Wohlbefinden der Kinder zu t2
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Engagement türkischstämmiger Väter�����
71
5
Diskussion
Wie beeinflusst das väterliche Engagement die Zufriedenheit ihrer Familienmitglieder und hat dieses Engagement einen Einfluss auf das Wohlbefinden der Kinder?
Wie beeinflusst das väterliche Engagement das Wohlbefinden der Kinder und die
eheliche Zufriedenheit der Mütter? Anders als in Studien, die in der Türkei durchgeführt wurden, fanden wir in unserer Studie keinen Zusammenhang zwischen dem
Bildungshintergrund oder dem Einkommen der Väter und ihrem Engagement. Jedoch fanden wir, dass in der Türkei geborene Väter vergleichsweise engagierter bei
der Betreuung und Erziehung der Kinder mitwirkten als solche, die in Deutschland
geboren wurden. In allen Familien zeigte sich, dass sich das Engagement der Väter
positiv auf das Wohlbefinden der Kinder auswirkte, insbesondere dann, wenn die
Väter mit ihrer eigenen Erziehungskompetenz zufrieden waren. Mütter berichteten ebenfalls über eine höhere eheliche Zufriedenheit, wenn ihre Partner sich mehr
beteiligten. Die Zusammenhänge zwischen dem Engagement der Väter und dem
Wohlbefinden der Kinder sowie der ehelichen Zufriedenheit der Mütter bestätigen die Ergebnisse von anderen Studien mit Familien ohne Migrationshintergrund
(Überblick in Pleck, 2010). Überraschend ist jedoch, dass wir umgekehrt kein klares
Muster bei der Frage fanden, ob eine Unterstützung durch die Mütter im Familienund Erziehungsalltag auch dazu führt, dass sich die Väter besser unterstützt fühlen.
Dies steht im Widerspruch zu anderen Studien und wirft die Frage auf, ob vielleicht engagierte Väter sich mehr Unterstützung durch ihre Partnerinnen wünschen
oder ob umgekehrt wenig engagierte Väter vielleicht zufrieden sind, mit der Unterstützung durch ihre Partnerin, da diese ja die Aufgaben übernimmt. Eine weitere
Differenzierung war mit dieser Stichprobe nicht möglich, kann jedoch vielleicht in
zukünftigen Erhebungen mit größeren Stichproben erforscht werden.
Was sind die Stärken und Schwächen der Studie? Stärken der Studie liegen darin,
dass wir erstens eine Zuwanderergruppe untersucht haben, die gemessen an ihrem
Bevölkerungsanteil bislang in der Forschung vernachlässigt wurde, und zweitens sowohl Kinder und Mütter als auch Väter einbezogen haben. Oft werden Daten von
Vätern entweder gar nicht oder nur über die Mütter erhoben. Unsere Studie zeigt,
dass väterliches Engagement im Familien- und Erziehungsalltag nicht nur die eheliche
Zufriedenheit der Mütter positiv beeinflusst, sondern auch die der Kinder; letzteres
trifft vor allem dann zu, wenn die Väter auch mit ihrer eigenen Erziehungskompetenz
zufrieden sind. Ein weiteres wesentliches Ergebnis ist, dass Väter, die mindestens bis
zum Jugendalter in der Türkei gewohnt haben, vergleichsweise engagierter sind als
hier aufgewachsene Väter. Dies weist aber gleichzeitig auch auf eine Begrenzung der
Studie hin. Eine mögliche Erklärung könnte wie folgt lauten: In der Türkei sozialisierte
Väter würden sich auch in einer „modernen“ Türkei stärker in der Kindeserziehung
engagieren. Hingegen wurde die in Deutschland aufgewachsene, türkischstämmige
Vätergeneration von Eltern erzogen, die noch an den Rollenbildern aus ihrer eigenen
Kindheit festgehalten haben. Letzteres würde der Theorie von Greenfield und Suzuki
72
B. Leyendecker, A. Agache
(2000) entsprechen, der zufolge nach der Migration die Werte und Normen häufig
versteinern und sich kaum verändern, während sich in den Herkunftsländern – wie in
allen anderen Ländern auch – Normen und Werte im Laufe der Zeit verändern. Um
dies zu überprüfen, wäre es interessant gewesen zu erfragen, wie Väter ihre Rolle in
der Familie sehen und inwieweit diese mit der Rolle, die ihre eigenen Väter ausgefüllt
haben, übereinstimmt. Dies wäre auch für ein Verständnis der komplexen Dynamik
des Migrationsprozesses von Relevanz.
Mindestens zwei weitere Ergebnisse der Studie müssen mit Vorsicht interpretiert
werden. Ein Aspekt ist unser Befund, dass wir keine Unterschiede im Engagement
der Väter bei Jungen und Mädchen gefunden haben. Dies steht beispielsweise im Widerspruch zu einer anderen, qualitativen Studie von Westphal (2000), die herausfand,
dass Väter mehr Verantwortung bei der Erziehung der Jungen als der Mädchen übernehmen. In unserer Studie war bei der Befragung zwar allen Beteiligten klar, welches
ihrer Kinder an der Studie teilnahm und zudem hatten 71 % keine Geschwister, jedoch
haben wir ganz allgemein danach gefragt, welche Erziehungsaufgaben sich die Eltern
teilen, ohne dass diese Fragen sich speziell auf das Zielkind alleine bezogen. Hätten wir
die Fragen auf das spezifische Kind bezogen und keinen Unterschied zwischen dem
väterlichen Engagement bei Jungen und bei Mädchen gefunden, wäre dieses Ergebnis
leichter zu interpretieren gewesen. Für zukünftige Studien wäre es deshalb interessant,
zwischen dem parentalen Engagement bei dem Zielkind und dem parentalen Engagement bei allen Kindern einer Familie zu unterscheiden. Diese Begrenzung gilt in
ähnlicher Weise auch für den Zusammenhang zwischen dem väterlichen Engagement
in der Kinderbetreuung und dem Ausmaß, wie hoch Väter ihre eigene Erziehungskompetenz einschätzten.
Fazit für die Praxis
Kinder aus türkischstämmigen Familien profitieren von engagierten Vätern. Diese stellen eine wichtige Ressource für ihre Kinder dar, und diese Ressource sollte
gerade in einer Situation wie der Zuwanderung, die auch noch in der zweiten
Generation erhöhte Anforderungen an alle Familienmitglieder stellt, unbedingt
gestützt werden. Studien zu Resilienz zeigen übereinstimmend, dass Väter (oder
Ersatzväter) eine wichtige Rolle in Zeiten besonderer Herausforderungen zukommt. In zugewanderten Familien ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher als
in deutschen Familien, dass Kinder in Zwei-Eltern-Familien aufwachsen. Deswegen sollten Programme, die zum Ziel haben, Familien mit Migrationshintergrund zu fördern, nicht nur die Mütter, sondern auch die Väter besonders in den
Fokus nehmen und allen Beteiligten vermitteln, welche wichtige Rolle sie für das
Wohlbefinden ihrer Kinder und ihrer Familie insgesamt einnehmen.
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Engagement türkischstämmiger Väter�����
73
Literatur
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Korrespondenzanschrift: Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Psychologie, GAFO 04/611, 44780 Bochum; E-Mail: [email protected]
Birgit Leyendecker, Ruhr-Universität Bochum und MSH Medical School Hamburg; Alexandru Agache,
Ruhr-Universität Bochum
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AUTOREN UND AUTORINNEN
Alexandru Agache, Studium der Soziologie-Politologie in Jassy, Rumänien. Seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an der Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Psychologie, Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie.
Manfred Cierpka, Prof. Dr. med., Arzt für Psychiatrie, Arzt für Psychotherapeutische Medizin,
Psychoanalytiker, Familientherapeut (BVPPF). Ärztlicher Direktor des Instituts für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Universitätsklinikum Heidelberg.
Marlies Gude, B.A., B.Sc., seit 2011 Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Arbeits- und Organisationspsychologie der Universität Hamburg, 2012-2015 Mitarbeiterin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am UKE.
Wolfgang Hantel-Quitmann, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Paar- und Familientherapeut, Professuren für Klinische und Familienpsychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Hamburg (HAW).
Jessy Herrmann, Dipl.-Soz., Wissenschaftliche Mitarbeiterin der selbständigen Abteilung für Pädiatrische Onkologie, Hämatologie und Hämostaseologie des Universitätsklinikums Leipzig, Freie
Mitarbeit im Verein Elternhilfe für krebskranke Kinder Leipzig e.V.
Birgit Leyendecker, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Ruhr Universität Bochum und
an der MSH Medical School Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Frühe Kindheit in zugewanderten Familien, Wohlergehen von Kindern, Resilienz und positive Entwicklung.
Birgit Möller, Dr. phil., Dipl.-Psych., Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Münster (UKM), Leiterin der Sprechstunden und Arbeitsgruppen „Kinder und Jugendliche
mit Problemen der geschlechtlichen Entwicklung“ sowie „Kinder krebskranker Eltern“ .
Florian Schepper, Dr. phil, Dipl.-Psych., Stationäre psychosoziale Versorgung und Projektleiter
psychosoziale Forschung der selbstständigen Abteilung für Pädiatrische Onkologie, Hämatologie
und Hämostaseologie des Universitätsklinikums Leipzig.
Anna Sidor, Dr. phil., Dipl.-Psych., Leitung der Begleitforschung zum Projekt „Keiner fällt durchs Netz“,
Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie an der Universitätsklinikum Heidelberg; Ambulanz für Frühkindliche Regulationsstörungen am SPZ Frankfurt Mitte.
Katja Weidtmann, Dr. phil., Dipl.-Psych., Systemische Paar- und Familientherapeutin, wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Studiengängen „Angewandte Familienwissenschaften“ und „Bildung und Erziehung in der Kindheit“ an der HAW Hamburg.
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 75 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2016
BUCHBESPRECHUNGEN
Esser, W., Hasselhorn, M., Schneider, W. (Hrsg.) (2015). Diagnostik im Vorschulalter.
Tests und Trends – Band 13. Göttingen: Hogrefe, 182 Seiten, 34,95 €.
Schulisches Lernen baut auf eine Reihe von Vorläuferfertigkeiten auf, die zum Zeitpunkt der Einschulung vorhanden sein sollten und deren Fehlen als Lernrisiko eingeschätzt wird. Daher ist es von praktischer Relevanz, Vorläuferfertigkeiten frühzeitig diagnostisch abzuklären und im Bedarfsfall im letzten Jahr des Kita-Besuchs
gezielt zu fördern.
Dieser Band aus der Buchreihe Tests und Trends enthält zehn Beiträge, die sich mit
der Diagnostik von Vorläuferfertigkeiten befassen. Sie liefern mehr oder weniger differenzierte Überblicke über den Stand der Theoriebildung im jeweiligen Bereich und
die verfügbaren diagnostischen Instrumente. Die meisten verbinden dies mit der Vorankündigung und Beschreibung von Testverfahren, die die Autoren – allesamt Hochschulangehörige – zu den jeweiligen Entwicklungsaspekten derzeit selbst entwickeln.
Neben gängigen Vorläuferfertigkeiten wie phonologische Bewusstheit, mathematische
Basiskompetenzen, Sprachstand und Motorik wird eine Reihe weiterer Paradigmen beschrieben, die in diesem Kontext bisher kaum Beachtung gefunden haben. Es handelt
sich dabei um Handpräferenz, Fingergnosie (d. h. die Fähigkeit, „die eigenen Finger voreinander zu unterscheiden, zu benennen und nach Aufforderung vorzuzeigen“ S. 93),
frühe Erfahrungen mit Schrift („Erzähl- und Lesekompetenz“, z. B. das Wissen, dass von
links nach rechts geschrieben wird), sowie die spontane Tendenz von Kindern, Objekte
in ihrer Umgebung zu zählen („spontane Fokussierung auf Anzahligkeit“). Ein weiteres
Kapitel widmet sich der nonverbalen Intelligenz. Im Anhang schließlich findet sich ein
Beitrag, der auf Testleiterfehler eingeht und testtheoretische Anforderungen formuliert,
die Testverfahren erfüllen sollten, um zuverlässige Ergebnisse zu liefern. Dazu werden
aus dem breiten Spektrum bekannter Qualitätskriterien zwei Aspekte, nämlich Stichprobengröße und Stichprobenauswahl herausgegriffen, die in anderen Publikationen im
Allgemeinen weniger Beachtung finden.
Die Zusammenstellung der Beiträge trägt dem Reihentitel weitgehend Rechnung und
vermittelt in ihrer Gesamtheit den Eindruck, dass sich das Konzept der Vorläuferfertigkeiten, die vor der Einschulung überprüft und gegebenenfalls auch gefördert werden
sollten, zunehmend ausdifferenziert. Dem wäre entgegenzuhalten, dass im Kita-Alltag
die begrenzten zeitlichen und personellen Ressourcen weder eine Überprüfung aller Aspekte – die Durchführungszeiten der hier angekündigten Verfahren betragen jeweils 20
bis 30 Minuten – noch das Anbieten entsprechend differenzierter Förderprogramme zulassen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn als Folge davon in Zukunft wieder vermehrt
Screeningverfahren oder unspezifische Prädiktoren des Schulerfolgs wie Intelligenzund globale Entwicklungstests vermehrt nachgefragt würden. Die fachliche Qualität der
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 76 – 77 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
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Buchbesprechungen 77
Kapitel dieses Bandes fällt sehr unterschiedlich aus und vermag nicht durchgehend zu
überzeugen. Dies betrifft insbesondere den Beitrag zum Sprachentwicklungsstand.
Dieter Irblich, Auel
Die folgenden Neuerscheinungen können zur Besprechung bei der Redaktion
angefordert werden:
–– Amador, X. F. (2015). Lass mich – mir fehlt nichts! Ins Gespräch kommen mit psychisch Kranken. Stuttgart: Thieme, 312 Seiten, 19,99 €.
–– Amador, X. F. (2015). Streitgespräche auflösen. Wie Sie gemeinsam zum Ziel kommen. Stuttgart: Thieme, 320 Seiten, 19,99 €.
–– Broda, M., Dinger-Broda, A. (2015). Wegweiser Psychotherapie. Wie sie wirkt, wem sie hilft,
wann sie schadet. Stuttgart: Thieme, 288 Seiten, 19,99 €.
–– Bründl, P., Scheidt, C. E. (Hrsg.) (2015). Spätadoleszenz: Identitätsprozess und kultureller Wandel. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, 248 Seiten, 29,90 €.
–– Hillmer, J.-M., Rothmann, K. (2015). Musikalisches Konzentrationstraining (Musiko mit
Pepe). Ein Manual zur Behandlung von Kindern (5-10 Jahre) mit ADHS. Stuttgart: Kohlhammer, 104 Seiten, 54,- €.
–– Malti, T., Perren, S. (Hrsg.) (2016). Soziale Kompetenz bei Kindern und Jugendlichen. Entwicklungsprozesse und Fördermöglichkeiten (2., überarb. u. erw. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer, 300 Seiten, 36,- €.
–– Plab, K. (2016). Psychoanalytische Psychosomatik – eine moderne Konzeption in Theorie und
Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 222 Seiten, 29,99 €.
–– Rönnau-Böse, M., Fröhlich-Gildhoff, K. (2015). Resilienz und Resilienzförderung über die Lebenspanne. Stuttgart: Kohlhammer, 230 Seiten, 32,99 €.
–– Roesler, C. (2015). Psychosoziale Arbeit mit Familien. Stuttgart: Kohlhammer, 207 Seiten,
29,99 €.
–– Rudnick, C. S. (2015). »Leistet nichts. Zu schwach. Nicht einsatzfähig.« Hintergründe zu den
Gräbern ausländischer Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg. Husum: Verlagsgruppe Husum, 144 Seiten, 9,95 €.
–– Sydow, K. v. (2015). Systemische Therapie. München: Reinhardt, 220 Seiten, 24,90 €.
–– Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit (2015). Screenkids – (auf)gefangen im Netz? Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel, 280 Seiten, 29,90 €.
TAGUNGSKALENDER
12.02.2016 in Essen:
Beginn der Seminarreihe Hypno-Systemisches Arbeiten in Beratung und Therapie
Auskunft: ifs, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560,
E-Mail: [email protected], Internet: www.ifs-essen.de
24.-28.2.2016 in Berlin:
29. Kongress für Klinische Psychologie, Psychotherapie und Beratung. The Dark Side of the
Moon. Krisen, Traumata ... - verlorene Sicherheit zurückgewinnen
Auskunft: DGVT, Postfach 1343, 72003 Tübingen; Tel.: 070-71943494, Fax: 070-71943435,
E-Mail: [email protected], Internet: www.dgvt.de
3.-5.3.2016 in Leipzig:
6. Kinderanalytisches Symposium: Sprache in der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern
und Adoleszenten
zusammen mit der gleichzeitig stattfindenden
21. Jahrestagung der Gesellschaft für Seelische Gesundheit in der frühen Kindheit (GAIMH):
Wege ins Leben, Lebenswege
Auskunft: E-Mail: [email protected], Internet: www.kinderanalyse-tagung.org
oder www.gaimh.org
4./5.3.2016 in München:
Münchner Symposion Frühförderung 2016: Kultur pur! Bedeutung kultureller Aspekte für
das System Interdisziplinäre Frühförderung
Auskunft: Arbeitsstelle Frühförderung Bayern, Pädagogische Abteilung, Frau Agnes Winzker,
Seidlstraße 18 a, 80335 München; Fax: 089-545898-29, E-Mail an: [email protected]
5./6.3.2016 in Bremen:
66. Kindertherapietage
Auskunft: Eva Todisco, Zentrum für Klinische Psychologie der Universität Bremen, Grazer
Straße 6, 28359 Bremen; Tel.: 0421-218-68603, Fax: 0421-218-68629,
E-Mail: [email protected], Internet: www.zrf.uni-bremen.de
11./12.3.2016 in Wien/Österreich:
8. Wiener Fortbildungstagung: Essstörungen und assoziierte Krankheitsbilder
Auskunft: Internet: www.ess-stoerung.eu/index-Dateien/Page13064.htm
Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 65: 78 – 80 (2016), ISSN: 0032-7034 (print), 2196-8225 (online)
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Tagungskalender 79
19.04.2016 in Essen:
Beginn der Seminarreihe Marte Meo Therapiekurs
Auskunft: ifs – Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560,
E-Mail: [email protected], Intenet: www.ifs-essen.de
25./26.04.2016 und 02./03.05.2016 in Essen:
EFT – Emotionsfokussierte Therapie und EFFT – Emotionsfokussierte Paar- und Familientherapie
Auskunft: ifs – Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560,
E-Mail: [email protected], Intenet: www.ifs-essen.de
08./09.03.2016 in Essen:
Komplexe und dissoziative Traumafolgestörungen
Auskunft: ifs – Institut für Systemische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung, Bochumer Str. 50, 45276 Essen; Tel.: 0201-8486560,
E-Mail: [email protected], Intenet: www.ifs-essen.de
10./11.6.2016 in Köln:
Forum Frühe Kindheit 2016: Lernen und Bildung in den ersten Lebensjahren
Auskunft: Gerda Rüsche & Lisa Frings, Universität Siegen, Adolf-Reichwein-Str. 2,
57068 Siegen; Tel.: 0271- 740 4014, Fax : 0271-740 4095, E-Mail: FFK@uni-siegen.
de, Internet: www.forum-fruehe-kindheit.de
11.6.2016 in Aachen:
5. Aachener Symposion für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter.
Jugend und Familie in Zeiten des Umbruchs
Auskunft: Stiftung KJPP, Lütticher Str. 512 a, 52074 Aachen; Tel.: 0241-73960,
Fax: 0241-79419, E-Mail: [email protected], Internet: www.stiftung-kjpp.de
11.-15.7.2016 in Salzburg/Österreich:
65. Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg. ZEIT
Auskunft: Internet: www.bildungskirche.at/Werktagung
10./11.09.2016 in Bremen:
67. Kindertherapietage
Auskunft: Eva Todisco, Zentrum für Klinische Psychologie der Universität Bremen,
Grazer Straße 6, 28359 Bremen; Tel.: 0421-218-68603, Fax: 0421-218-68629,
E-Mail: [email protected], Internet: www.zrf.uni-bremen.de
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Tagungskalender
20.-22.10.2016 in Alpbach/Österreich:
24. Internationale Wissenschaftliche Tagung. Kongress Essstörungen 2016
Auskunft: Netzwerk Essstörungen, Templstrasse 22, A-6020 Innsbruck, Österreich;
Tel.: +43-512-57 60 26, Fax: +43-512-58 36 54, E-Mail: [email protected],
Internet: www.netzwerk-essstoerungen.at
Aus dem Inhalt des nächsten Heftes
V. Brezinka: Computerspiele in der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen –
K. Brüggemann: Symptombelastung und die Rolle von Freundschaften bei Kindern
in einer Erziehungsberatungsstelle aus Elternsicht – A. Lanfranchi: Zuweisung von
Kindern mit Schulproblemen zu sonderpädagogischen Maßnahmen
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Erfolgreich beraten
mit kultureller Sensibilität
Saied Pirmoradi
Interkulturelle Familientherapie
und -beratung
NEU
Eine systemische Perspektive
Mit einem Vorwort von Jochen Schweitzer.
2012. 248 Seiten, mit 9 Abb. und 1 Tab., kartoniert
€ 30,– D
ISBN 978-3-525-40174-3
Sachsse, Herbold (Hrsg.)
eBook: € 23,99 D
ISBN 978-3-647-40174-4
Ätiologie, Psychologie und Behandlung
von selbstverletzendem Verhalten
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
www.v-r.de
• Neurobiologische, psychodynamische und
lerntheoretische Konzepte zur Ätiologie
des selbstverletzenden Verhaltens
• Pharmakologische und psychotherapeutische Behandlungsansätze bei
Borderline-Patientinnen und Kindern
und Jugendlichen
• Psychodynamische und verhaltenstherapeutische Sichtweisen in einem Buch
Irrtum und Preisänderungen vorbehalten.
»Dem Autor kann nur gedankt werden, dass
er so umfassend und systematisch das Thema
aufgegriffen hat.« socialnet.de (Dr. Georg Singe)
»Mein Resümee: ein sehr differenziertes,
behutsames, genaues und freundliches Buch,
das sich mit Respekt und Klugheit einem sehr
komplexen Thema widmet.«
Familiendynamik (Susanne Altmeyer)
»Die breite und fundierte Darstellung der
zur Thematik gehörenden Aspekte macht
das Buch zu einer Bereicherung der bisher
vorhandenen systemischen Literatur zum
Thema interkulturelle Beratung.«
Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung
(Cornelia Tsirigotis)
Selbst-Verletzung
Durch die Aufnahme der Diagnose „Nichtsuizidales Selbstverletzungs-Verhalten“
(NSSV) als Forschungsdiagnose in das
DSM-5 ist das Interesse an der Symptomatik neu erwacht.
2015. Ca. 200 Seiten, 6 Abb., 5 Tab., kart.
Ca. € 29,99 (D) / € 30,90 (A)
ISBN 978-3-7945-3136-3
www.schattauer.de
Überarbeitung und Aktualisierung des erfolgreichen Lehrbuchs zur MarteMeo-Methode
Peter Bünder / Annegret SirringhausBünder / Angela Helfer
Lehrbuch der
MarteMeo-Methode
Entwicklungsförderung mit Videounterstützung
Mit einem Vorwort von Arist von Schlippe.
4. Auflage 2015. 504 Seiten, mit 33 Abb. und 17 Tab.
sowie einer DVD und Online-Material, gebunden
€ 50,– D
ISBN 978-3-525-40468-3
eBook: € 39,99 D
ISBN 978-3-647-40468-4
Die MarteMeo-Beratung ist ein innovatives Interventionsmodell, das in allen
psychosozialen Feldern einsetzbar ist, um eine gelingende Kommunikation
zu fördern und Entwicklungs- und Lernprozesse zu unterstützen.
Marte Meo bedeutet »aus eigener Kraft« und ist eine von Maria Aarts entwickelte Beratungsmethode. Szenen aus dem Familienalltag werden gefilmt,
ausgewertet und gemeinsam mit den Akteuren besprochen. Auf der Suche
nach gelingenden Momenten der Kommunikation lernen Eltern, ihre Kinder
besser zu verstehen und zu unterstützen. Dieses umfassende und nun in
aktueller Überarbeitung vorliegende Lehrbuch widmet sich der Theorie und
den Einsatzfeldern von MarteMeo, geht auf MarteMeo in Ausbildung, Weiterbildung, Supervision und Wissenschaft ein und vermittelt außerdem die
Grundlagen der Videotechnik.
www.v-r.de
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
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Die Anwendung des Mentalisierungskonzepts
in der Sozialen Arbeit
Holger Kirsch (Hg.)
Das Mentalisierungskonzept
in der Sozialen Arbeit
2014. 177 Seiten, kartoniert
€ 25,– D
ISBN 978-3-525-40221-4
eBook: € 19,99
ISBN 978-3-647-40221-5
Die Fähigkeit zu mentalisieren gilt als wichtiger Aspekt psychischer Gesundheit
und fördert die Gestaltung gelingender Beziehungen. Daher ist die Anwendung der
Erkenntnisse Fonagys für Sozialarbeiter und -pädagogen vielversprechend.
Wer Gedanken, Gefühle, Absichten, also die innere psychische Welt, bei sich und
bei anderen erkennen kann, hat gelernt zu mentalisieren. Diese bis ins Jugendalter
sich entwickelnde Fähigkeit gibt sowohl dem eigenen Verhalten als auch dem anderer einen Sinn. Dieses Buch möchte das Mentalisierungskonzept für die Soziale
Arbeit fruchtbar machen. Neben den theoretischen Grundlagen werden Praxisprojekte aus der Erziehungsberatung, Sozialpsychiatrie und Behindertenhilfe vorgestellt. Mentalisierungsfördernde Interventionen werden von den Adressaten wie
von den Professionellen gut angenommen und als hilfreich erlebt.
Beiträge von Tanja Kalbfuss, Linda Kaufmann, Holger Kirsch, Alexa Köhler-Offierski,
Aydın Polat, Olga Ruf, Swantje Urbanek, Irina Wiens, Sabrina Zimmer.
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
www.v-r.de
Gedeihen trotz widriger Umstände
Kinder- und Jugendlichentherapie bei Carl-Auer
273 Seiten, Kt, 5. Aufl. 2016
€ (D) 29,95/€ (A) 30,80
ISBN 978-3-89670-511-2
154 Seiten, Kt, 2. Aufl. 2015
€ (D) 19,95/€ (A) 20,60
ISBN 978-3-89670-682-9
245 Seiten, 37 Abb., Kt, 2010
€ (D) 27,95/€ (A) 28,80
ISBN 978-3-89670-744-4
120 Seiten, Kt, 2013
€ (D) 14,95/€ (A) 15,40
ISBN 978-3-8497-0004-1
351 Seiten, Kt, 2. Aufl. 2009
€ (D) 29,95/€ (A) 30,80
ISBN 978-3-89670-538-9
ca. 288 Seiten, Kt, 2016
ca. € (D) 34,95/€ (A) 36,–
ISBN 978-3-8497-0114-7
Carl-Auer Verlag • www.carl-auer. de
Auf www.carl-auer.de bestellt, deutschlandweit portofrei geliefert!
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Kultursensitiv beraten? So gehts!
Jörn Borke / Eva-Maria Schiller /
Angelika Schöllhorn / Joscha Kärtner
Kultur – Entwicklung –
Beratung
Kultursensitive Therapie und Beratung für
Familien mit Säuglingen und Kleinkindern
Mit einem Vorwort von Ute Ziegenhain.
2015. 245 Seiten, mit 7 Abb. und 4 Tab.,
kartoniert
€ 30,– D
ISBN 978-3-525-40252-8
eBook: € 23,99 D
ISBN 978-3-647-40252-9
Das Buch stellt die Grundzüge einer kultursensitiven beraterischen Arbeit mit
Eltern von Säuglingen und Kleinkindern dar. Es beschreibt eine angemessene Beratungshaltung und kulturell angepasste Interventionen.
Ein Säugling schreit ununterbrochen. Wie reagieren die Eltern? Reagieren sie überall auf der Welt gleich? In Deutschland, in China, in Italien? Je nach kulturellem
Hintergrund gehen Menschen von unterschiedlichen Erziehungsmodellen aus.
Welche praktischen Herausforderungen sich für die Beratungsarbeit aus dieser
Erkenntnis der kulturvergleichenden Säuglings- und Kleinkindforschung ergeben,
stellt das Buch systematisch dar. Dabei werden neben einer angemessenen Beratungshaltung auch kulturell angepasste Interventionen besprochen.
Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht
www.v-r.de