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SI 09-2_innen.indd - Psychiatrie Verlag
Sozialpsychiatrische
Informationen
2/2009
39. Jahrgang
Suizid als Nachahmung? U. Gonther
Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie R. Schernus
Die Forderung tagesklinischer Arbeit
C. Maier
Ressourcenerhaltung durch Supervision H. C. Eichert
Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer
Behandlung bei Menschen mit Psychosen W. Dillo, A. Baumgarten, S. Steinmüller
Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ)
als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie E. Salzmann
Kinder schizophrener Mütter – ein Rückblick auf 14 Jahre
Gruppenarbeit und ein Einblick in die Netzwerkarbeit im
Landkreis Oberspreewald-Lausitz U. Bürgermeister, A. Jost, S. Fliegner
Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke
im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover H. Elgeti
Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen A. Meißner
Professor Autenrieth erhält einen Verweis des Königs A. Veltin
Psychiatrie-Verlag
Inhalt
Editorial
1
Suizid als Nachahmung?
Nirvana – Smells Like Teenspirit
Leben und Tod des
Rockstars Kurt Cobain
Uwe Gonther
2
Salutogenese als
Chance für die Praxis
von Beratung und Therapie
Renate Schernus
6
Die Forderung
tagesklinischer Arbeit
Christian Maier
12
Ressourcenerhaltung
durch Supervision
Hans-Christoph Eichert
17
Systemische Ansätze
im Geflecht von ambulanter
und stationärer Behandlung
bei Menschen mit Psychosen
Wolfgang Dillo, Anke Baumgarten
und Susanne Steinmüller
24
Kinder schizophrener
Mütter – ein Rückblick
auf 14 Jahre Gruppenarbeit
und ein Einblick in die
Netzwerkarbeit im Landkreis
Oberspreewald-Lausitz
Ute Bürgermeister, Annemarie Jost
und Sarah Fliegner
33
Datengestützte Planung
und Evaluation von Hilfen
für psychisch Kranke im
Sozialpsychiatrischen Verbund
der Region Hannover
Hermann Elgeti
36
Frühberentung für
den Homo sapiens
dringend empfohlen
Andreas Meißner
40
Professor Autenrieth
erhält einen Verweis
des Königs
Alexander Veltin
46
Leserbrief
49
Buchbesprechungen
Das Zukunftskonzept
Integrativer Gesundheitszentren
(IGZ) als Grundlage
bio-psycho-sozialer
Prävention und Therapie
Weizsäcker V von (2008) Warum wird man krank?
Ein Lesebuch
Eckhart Salzmann
28
Schmitt T (2008) Das soziale Gehirn.
Eine Einführung in die Neurobiologie für psychosoziale Berufe
Bernhard Helmut Schmincke
49
Michael Eink
50
Termine
52
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
1
Editorial
Das Jahr 2009 droht ein Jahr der Wirtschaftskrise zu werden.
Selbst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.3.09) war
in einem Beitrag des österreichischen Schriftstellers Franz
Schuh zu lesen:
»Zyklen von Boom und Crash, von Größenwahn und Panik
gehören eben zum Betriebssystem des Kapitalismus.« Auch
wenn der Beitrag den Titel trug »Jetzt endet das Glück des kleinen Mannes« wurde deutlich, dass mehr auf dem Spiel steht
als das Glück. Es drohen nicht nur in der sogenannten Dritten
Welt, sondern auch bei uns Arbeitslosigkeit und Armut. Seit
es psychiatrische Versorgungsstrukturen gibt, spiegelt deren
Qualität aber nicht nur humanitäre Gesinnung einer Gesellschaft, sondern auch meist unmittelbar deren wirtschaftliche
Lage wider. Im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise 1928
verschärften sich sozial-darwinistische Positionen und nicht
nur von den Nationalsozialisten wurde immer wieder die Frage diskutiert, wie viel finanzielle Mittel für chronisch psychisch
Kranke und Behinderte denn in der damaligen Terminologie
für »nutzlose Existenzen« verschwendet werden sollten. Nicht
zufällig häuften sich Anfang der 30er-Jahre Publikationen zu
den Einsparmöglichkeiten in der psychiatrischen Versorgung.
»Kann die Versorgung der Geisteskranken billiger gestaltet
werden und wie?« (Bratz E., 1932). Einsparvorschläge durch
Schaffung »pflegerloser Abteilungen« (Knap K., 1934) wurden
von Fachgesellschaften prämiert.
Es fällt auf, dass gerade heute in sozialpsychiatrischen Gefilden die Diskussion um die Finanzierung der psychiatrischen
Versorgung oft zulasten von Inhalten breiten Raum einnimmt.
Natürlich geht es hier in erster Linie um Bemühungen, psychiatrische Versorgungsstrukturen durch Finanzierungsanreize
zu verbessern. Aber trotz mancher Fehlentwicklungen sollte
nicht übersehen werden, dass sich die Qualität der psychiatrischen Versorgung in Deutschland heute auf einem Niveau
bewegt, das es seit Bestehen des Faches noch nicht gegeben
hat. Auch in Zeiten der Krisen sollten wir daher alles daran
setzen, dass die Mittel, die heute in diesen »Systemen« für die
Versorgung psychisch kranker und behinderter Menschen zur
Verfügung stehen, erhalten bleiben. Wir hoffen, dass in den
nächsten Heften des Infos Raum bleibt für die Auseinandersetzung mit dieser Thematik.
Das vorliegende Heft sollte eigentlich dem Themenschwerpunkt »Suizidalität und suizidales Verhalten« gewidmet sein.
Da lediglich der Beitrag von Uwe Gonther zeitgerecht vorlag, der mit seinem Beitrag über den Rockstar Kurt Cobain
das psychiatrische Paradigma von der Ansteckungsgefahr des
Suizids, den »Werther-Effekt«, mit einer Reihe interessanter
Beobachtungen und Überlegungen infrage stellt, nutzen wir
die Gelegenheit in einem Mischheft einen bunten Strauß von
uns zugesandten Manuskripten an unsere Leser weiterzureichen. Einen eher unbeabsichtigten Schwerpunkt bildet dabei
das Thema Salutogenese, mit der Frage, warum ein Mensch
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
gesund bleibt und was wir möglicherweise dazu beitragen
können. Die salutogenetische Thematik wird durch Renate
Schernus eröffnet. Sie zeichnet die Bemühungen des Soziologen Antonovsky nach, Gesundheit zu entmystifizieren und
herauszufinden, welche menschlichen Möglichkeiten erforderlich sind, um trotz schwerster erlittener Traumata dieses
Leben doch erstaunlich gut zu bewältigen. Von entscheidender Bedeutung scheint dabei, ähnlich wie im Recovery-Konzept, Sinn und Bedeutung im eigenen Leben zu finden.
Christian Maier berichtet von seinen langjährigen Erfahrungen als Supervisor tagesklinischer Arbeit. Er skizziert, wie
sich bei den Mitarbeitern der Tagesklinik durch die Auseinandersetzung mit den Patienten gesellschaftliche Spannungen widerspiegeln und im Umgang miteinander niederschlagen. Je intensiver die Kontakte und die Identifikation mit den
Konflikten der Patienten, umso wichtiger sei das behutsame
wechselseitige Eingehen der Mitarbeiter untereinander und
eine sozusagen salutogenetische Grundhaltung. Diesem
Ressourcenerhalt durch Supervision ist auch der Beitrag
von Hans-Christoph Eichert gewidmet, der mithilfe eines
Fragebogenverfahrens Arbeitszufriedenheit und Gesundheitsindikatoren an zwei Messzeitpunkten im Abstand von zehn
Monaten miteinander verglichen hat, um Zusammenhänge
zwischen diesen Variablen sowie Ressourcen und Selbstwirksamkeit zu ermitteln. Hoffnungen auf Verbesserungen der
wahrgenommenen Ressourcen in der Supervisionsgruppe
konnten nicht bestätigt werden. Es konnte aber immerhin
gezeigt werden, dass es in einigen Ressourcenbereichen nicht
zu einer Verschlechterung wie in der Nicht-Supervisionsgruppe kam.
Von den Erfahrungen aus der ambulanten Behandlung von
Patienten mit chronisch-schizophrenen Verläufen, die im
Rahmen der psychiatrischen Poliklinik der Medizinischen
Hochschule in Hannover mit einem systemischen Ansatz betreut wurden, handelt der Beitrag von Wolfgang Dillo et al.
Auch diesen Autoren geht es um die Mobilisierung salutogenetischer Faktoren, die in der systemischen Arbeit nicht als
Technik, sondern als Haltung, die von Wertschätzung, aber
auch Humor geprägt sei, zum Ausdruck komme.
Das Bemühen um ein »selbstbestimmtes Wohlergehen im
Sinne einer Salutogenese« steht im Mittelpunkt von Überlegungen von Eckehard Salzmann, dem es darum geht, das
viel zitierte biopsychosoziale Modell des Menschen ernst zu
nehmen. Er schlägt dazu die Schaffung integrativer Gesundheitszentren vor, die neben den interdisziplinären Aspekten
auch präventive Ansätze mit psychosozialem Schwerpunkt
gewährleisten sollten.
Interessante Einblicke in die Sichtweise von betroffenen Kindern schizophrener Mütter gibt ein Beitrag von Ute Bürgermeister et al., die im Landkreis Oberspreewald Lausitz auf
eine 14-jährige Gruppen- und Netzwerkarbeit zurückblicken
2
Editorial
können Die Autorinnen skizzieren ein Gruppenkonzept für
die Kinder schizophrener Mütter und plädieren nachdrücklich
für eine Weiterentwicklung der Hilfen und eine verbesserte
Vernetzung von Sozialpsychiatrie und Jugendhilfe.
Die Bedeutung datengeschützter Planung und Evaluation von
Hilfen für psychisch Kranke beschreibt Hermann Elgeti im
Blick auf sein 20-jähriges Engagement in der Region Hannover. Nur mit einer sorgfältigen, datengestützten Planung
und Evaluation sei einerseits ein Missbrauch von Ressourcen
von Patienten oder Therapeuten vermeidbar und andererseits
ein Minimum an Fortschritt, trotz wachsender Tendenzen
zur Rationalisierung und Rationierung von Hilfeleistungen,
möglich. Neben der Bereitschaft, die eigene Arbeit selbstbewusst und selbstkritisch auf den Prüfstand zu stellen und
gegenüber den Psychiatrieerfahrenen und ihren Angehörigen,
den Kostenträgern und der Politik transparent und nachvollziehbar zu machen, plädiert er für eine große Koalition
der Beteiligten auf Augenhöhe zur Sicherung der finanziellen
Rahmenbedingungen für eine ethisch verantwortbare Gemeindepsychiatrie.
Als erfahrener Rentengutachter plädiert Andreas Meißner für
eine Frühberentung des Homo sapiens. Das Gutachten wirft
Zweifel auf, ob der Homo sapiens grundsätzlich dazu in der
Lage ist, die gewaltigen vor ihm liegenden Herausforderungen der ökologischen Krise zu bewältigen. Nach sorgfältiger Beschreibung der Störung und Mängel fällt es ihm zwar
schwer, sich auf eine psychiatrische Diagnose festzulegen, der
Homo sapiens wird aber für erwerbsunfähig gehalten. Trotz
seiner eingeschränkten Einsichts-, Kritik- und Urteilsfähigkeit
»mit starken Abwehrmechanismen und fraglich wahnhaften
Symptomen« wäre zwar eine rechtliche Betreuung indiziert,
allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, wer diese Betreuung übernehmen könnte.
Den königlichen Abschluss der Beiträge in diesem Info bilden
von Alexander Veltin zusammengestellte psychiatriehistorische Dokumente, die ein eindrucksvolles Bild von der Versorgungssituation psychisch kranker Menschen zu Beginn
des 19. Jahrhunderts widerspiegeln, als sich langsam die Nervenheilkunde als medizinische Disziplin etablierte. Es zeigt
sich, dass sich auch damals »Narren und Verwirrte« keiner
großen Beliebtheit erfreuten und dass ein gesellschaftlicher
Auftrag, hier einer des Königs, notwendig wurde, um die
Behandlung eines schwierigen Kranken zu gewährleisten.
Aber bereits damals wurde deutlich, dass eine angemessene
Fürsorge ohne ökonomische Voraussetzungen nicht anders
als heute nur schwer umsetzbar ist.
Für die Redaktion
Helmut Haselbeck
Suizid als Nachahmung?
Nirvana – Smells Like Teenspirit
Leben und Tod des
Rockstars Kurt Cobain
Uwe Gonther
Das Problem der Nachahmung von Vorbildern durch Suizidenten ist
allgemein klinisch bekannt und scheint bei einzelnen »copycat«-Suiziden ebenso wie bei Suizidwellen eine große Bedeutung zu haben.
Die genauere Untersuchung des Werther-Effektes wirft einige interessante Fragen auf, unter anderem nach welchen literarischen oder
Prominenten-Suiziden tatsächlich statistisch ein Ansteigen von Nachahmungstaten zu verzeichnen war. Was hat dies mit der öffentlichen
Darstellung, aber auch mit den von einer solchen Person transportierten Werten zu tun? Die Betrachtung der Biografie des Rockstars
Kurt Cobain, seines Suizids und dessen Folgen kann im Hinblick auf
psychiatrische Suizidprävention zum Nachdenken anregen und helfen,
das Treffen eines angemessenen Tons beim Sprechen über Suizidalität
zu erleichtern.
Einleitung
Der sog. Werther-Effekt, der auf die Wirkung von Goethes
Roman »Die Leiden des jungen Werthers« (1774) rekurriert,
ist bis vor Kurzem in der psychiatrischen Fachliteratur weitgehend einhellig als Faktum akzeptiert worden (Schmidtke &
Häfner 1998, Ziegler & Hegerl 2002). Der Begriff hat Eingang
in die Sprache der Feuilletons gefunden und die Vorstellung
einer besonderen Ansteckungsgefahr durch Prominentensuizide wurde die Basis für die internationalen Empfehlungen
von Experten für den Umgang der Medien mit dem Thema
Suizidalität (siehe zum Beispiel: Preventing Suicide – World
Health Organisation 2008). Die Ansteckungsgefahr von Suizidalität, insbesondere diejenige von Prominentensuiziden
scheint also bestens belegt und kulturübergreifend wirksam
zu sein (Cheng 2008). Dennoch gibt es Befunde, die sich nur
schwer in dieses ansonsten stimmige Bild einfügen lassen,
wie z. B. die sinkenden Suizidzahlen in der zeitlichen Folge des Suizids von Kurt Cobain (Martin 1997, Jobes 1996,
Ystgaard 1997).
Doch auch der Werther-Effekt selbst ist hinsichtlich seiner
historischen Wurzeln umstritten (Steinberg 2007, Andree
2006). Manches spricht dafür, dass es zwar einzelne Nachahmungen in verschiedenen Ländern Europas gegeben hat,
dass aber von einer statistisch relevanten Suizidwelle in der
Folge des Romans unter Berücksichtigung der existierenden historischen Daten zu Todesursachen nicht gesprochen
werden kann.
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Auswirkungen des Todes von Kurt Cobain zu verstehen und dieses
Verständnis für den psychiatrischen Alltag und für Initiativen
zur Suizidprävention zu nutzen.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Gonther: Suizid als Nachahmung?
Wer war Kurt D. Cobain?
Kurt Donald Cobain wurde 27 Jahre alt. Er starb 1994 durch
Suizid. Man fand den Leichnam drei Tage nach Eintritt des
Todes im Zimmer über der Garage seines Wohnhauses in
Seattle, USA. Cobain hatte sich durch den Mund in den
Kopf geschossen. Wie es dazu gekommen ist und was darauf
folgte, soll nun dargestellt werden. (Angaben zur Biografie
nach C. R. Cross: »Heavier than Heaven«, Hyperion publisher,
USA, 2001.)
Der Junge wurde 1967 in Aberdeen in der Nähe von Seattle
geboren, wuchs die ersten Jahre bei seinen Eltern auf, wie es
heißt, zum Teil im Wohnwagen, dabei waren der Vater, ein
Automechaniker und die Mutter als Kassiererin noch nicht
einmal am untersten Ende der amerikanischen Gesellschaft
angesiedelt. Die Eltern ließen sich scheiden als Kurt sieben
Jahre alt war, worunter er nach vielfältigen eigenen Bekundungen und zum Teil auch dargelegt in seinen Liedtexten, Zeit
seines Lebens stark gelitten hat. Er fiel in der Schule auf als unruhig, zappelig, nervös und unkonzentriert. ADHS (Aufmerksam-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) wurde diagnostiziert
und eine Behandlung mit Methylphenidat früh begonnen.
Über die Jahre seiner Entwicklung wurde das Medikament
mehrfach ab- und wieder angesetzt. Bereits früh zeigten sich
bei dem Jungen besondere kreative Fähigkeiten und eine Neigung zum Einzelgängertum. Im Alter von 14 Jahren erhielt er
eine Gitarre geschenkt, auf der er sich selbst das Musizieren
beibrachte. Nach eigenen Angaben war er zunächst BeatlesFan und später ein Bewunderer englischer Punkmusik. Kurt
Cobain fühlte sich zu Randgruppen und Außenseitern in der
Schule hingezogen, verbündete sich mit denjenigen, die von
den Meinungsführern als schwul oder behindert beschimpft
wurden und wurde selbst häufig verprügelt. Gleichwohl soll
er bei den Mädchen in der Schule ausgesprochen beliebt gewesen sein. Er gründete mehrere eigene Bands, reiste einigen
Gruppen hinterher und brach kurz vor dem Abschluss die
Schule ab. Während dieser Phase war er zeitweise obdachlos und hatte ein intensives religiöses Erweckungserlebnis.
Gemeinsam mit zwei Jugendfreunden baute er die Gruppe Nirvana auf und wurde Anfang der 90er-Jahre mit dem
zweiten Album »Nevermind« praktisch über Nacht zum weltweit gefeierten Superstar einer neuen Musikrichtung, welche
Grunge genannt wird. Sie ist gekennzeichnet durch die rauen
Punkrockklänge, welche häufig kontrastieren mit hübschen,
fast lieblichen Melodien und verziert sind mit außerordentlich
gefühlsbetonten Texten. Diese Texte wurden nicht, wie sonst
üblich, in Booklets festgehalten, sondern häufig während der
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Konzerte variiert und wurden nur im Zusammenhang mit der
Musik mündlich original überliefert.
Die Jugendlichen der sogenannten »Generation X« in den
USA und innerhalb weniger Monate weltweit fühlten sich von
der schonungslosen Offenheit in diesen Liedern unmittelbar
angesprochen. Cobain machte insbesondere vor der Äußerung
negativer Gefühle und ambivalenter Regungen keinen Halt.
Es gab für ihn keine Tabuthemen. In einigen Liedern ist explizit von Suizid und auch von psychiatrischer Behandlung
die Rede. Gleichwohl spricht aus seinen Texten, ebenso wie
aus seinen später veröffentlichten Tagebüchern eine christliche, menschenfreundliche, emanzipatorische, demokratische
Grundhaltung. Das Lied »Smells like Teen Spirit« wurde zur
Hymne der »Lost-Generation«, also derjenigen Jugendlichen,
die nach dem Ende des Kalten Krieges keinen Anteil am
Boom der globalisierten Finanzmärkte und der wachsenden
Computerindustrie hatten. Bezüglich des Liedtextes gibt es
ein verbreitetes Missverständnis, denn das Lied handelte ursprünglich von einem bei Teenagern beliebten Deo-Roller
namens »Teen Spirit« und nicht etwa von dem Spirit, also
dem Geist dieser Jugendlichen. Der Musik-Videoclip zu dem
Song sah allerdings aus wie ein Aufruf zur Revolution an
amerikanischen Schulen.
Kurt Cobain wurde vielfach psychiatrisch behandelt, wie bereits
erwähnt schon in der Kindheit, später diagnostizierten Psychiater ein Borderline-Syndrom und bipolare Störung. Auch die
Bezeichnung Schizophrenie wurde versucht u. a. im Zusammenhang mit seinen Liedtexten. Sicher ist, dass er über viele
Jahre opiatabhängig war, was er selbst mehrfach mündlich und
schriftlich bestätigte. Er litt unter chronischen Magenbeschwerden und konsumierte außer Heroin alle für ihn erreichbaren
Drogen und kontinuierlich große Mengen Alkohol. Seit seiner
Kindheit begleitete ihn ein imaginärer Freund, den er »Boddah« nannte und an den er z. B. auch seinen heute im Internet
einsehbaren Abschiedsbrief richtete.
Cobain heiratete die einige Jahre ältere Courtney Love, ihrerseits Sängerin in einer Frauenpunkband. Wenig später
gebar sie eine Tochter, zu deren Geburt sich Kurt Cobain
vornahm, einfach nur noch treu sorgender Familienvater
und vor allem abstinent zu sein, was nicht gelang. (Das
Mädchen mit Namen Frances Bean Cobain feierte 2008
anlässlich ihres 16. Geburtstages eine sog. Suizidparty, auf
der angeblich ein Wettstreit stattfand, wer sich am besten tot
stellen könnte.) Kurt Cobain konnte trotz mehrfacher Klinikaufenthalte nicht ohne Drogen leben. Wiederholt brach
er Behandlungen ab. Im Frühjahr 1994 beendete er vorzeitig
eine geplante Welttournee in Italien, verließ anschließend die
kurzfristig besuchte Entgiftungseinrichtung in den USA, wurde dann für mehrere Tage nicht mehr gesehen und schließlich
tot in Seattle aufgefunden. In dem Zimmer fand sich ein Brief,
in seiner Fangemeinde bekannt unter der Bezeichnung »the
note«, in welchem er sich von Frau und Kind und den Fans
verabschiedet. Bis heute sind viele Fans der Meinung, dass es
sich bei diesem Brief nicht um einen Suizidabschiedsbrief han-
3
4
Gonther: Suizid als Nachahmung?
dele, da an keiner Stelle darin vom Tod die Rede sei, sondern
nur von Abschied. Es halten sich in diversen Fan-Foren und
Büchern Verschwörungstheorien über einen Mord an dem
Sänger. Bekannt ist, dass er trotz seiner pazifistischen Gesinnung Zeit seines Lebens ein regelrechter Gunfanatic, also
übertriebener Schusswaffenliebhaber war. So besaß er eine
große Sammlung von Pistolen und Gewehren und hat auch
schon Jahre vor seinem Tod für Fotos mit Waffen im Mund
oder an die Schläfe gehalten posiert. Bereits als 14-jähriger
Schüler soll er gesagt haben, dass er zunächst Superstar werden wolle, um sich dann auf dem Höhepunkt seines Ruhmes
zu suizidieren. Auch präsentierte er in der Schule einen Videofilm unter dem Titel »Kurt Cobain commits bloody suicide«.
Der Junge hatte persönliche Suizid-Vorbilder, nämlich einen
Großvater und einen Onkel, die sich getötet hatten, worüber
jedoch in der Familie nicht gesprochen wurde.
Als sein Tod 1994 bekannt wurde, versammelten sich spontan 7000 Jugendliche in Seattle und hielten mit Kerzen und
Liedern eine mehrere Tage und Nächte dauernde Totenwache. Die Polizei begleitete die Veranstaltung aufmerksam.
Psychologisch und sozialarbeiterisch geschulte Kräfte kamen
zum Einsatz. Über Lautsprecher wurde die wütende Reaktion der Witwe Courtney Love auf den Tod ihres Mannes
den Fans vorgespielt. Der Text dieser Rede ist seitdem im
Internet präsent und viel gelesen. Weltweit gab es ein riesengroßes Medieninteresse an den Vorgängen in Seattle und in
Nirvana-Fankreisen andernorts. In den Jahren nach seinem
Tod wurde die Verehrung für Kurt Cobain zunächst nicht
weniger, sondern wuchs an, sodass er sich noch mehr als zehn
Jahre später auf der Liste der am besten verdienenden Toten
sehr weit oben befand.
Cobain = Anti-Werther-Effekt?
Allgemein wurde nun eine Suizidwelle erwartet, wie es sie
besonders eindrucksvoll nach dem Selbstmord von Marilyn Monroe aber auch nach anderen Fällen gegeben hatte
(Stack 2003). Hinzu kam, dass die Anhängerschaft von Nirvana als äußerst labil und gestört angesehen wurde. Rund
um Seattle, in den übrigen USA und Kanada, außerdem in
Skandinavien und Australien wurden in der Folgezeit von Suizidforschern mit differenzierten Methoden die Entwicklung
der Suizidraten und diejenige der Todesarten beobachtet.
Tatsächlich gab es wenige Tage nach Cobains Tod einen
sog. »Copycat-Suicide« in Seattle, also eine Imitation dieses
Suizids bis hin zur nachgemachten Kleidung. Dies erinnerte
an die Fälle von Werther-Fieber mit Tragen der Werther
Kluft und Nachahmungssuizid. Es war jedoch 1994 in Seattle
ein Einzelfall, ähnlich wie auch der Werther-Effekt als die
dramatische Wirkung auf Einzelne, nicht so sehr als statistisch relevantes Phänomen gesehen werden kann. Statistisch
gab es bei den Untersuchungen zu den Suizidzahlen nach
dem Tod von Kurt Cobain weder einen unmittelbaren noch
einen verschobenen Anstieg, insbesondere beachtete man
die Auswirkungen auf Jugendliche und junge Männer. Der
Amerikaner D. A. Jobes, der Australier G. Martin und M.
Ystgaard aus Norwegen konnten eindrucksvoll nachweisen,
dass es zu einem Rückgang der Suizidzahlen, insbesondere
bei den für kritisch erachteten Bevölkerungsgruppen kam.
Sie führten hypothetische Erklärungen an, so etwa, dass es
der Polizei und den Kriseninterventionskräften in Seattle sehr
früh gelungen sei und die Medien gut mitgespielt hätten, die
künstlerischen Errungenschaften Cobains zu würdigen und
gleichzeitig die Suizidhandlung nicht zu glorifizieren, sondern
vielmehr unter Zuhilfenahme der wütenden Äußerungen der
Witwe das Verhalten als negativ darzustellen.
Ein Werther/Cobain-Effekt im Sinne einer vermehrten offenen und kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema
könnte gerade das Gegenteil einer Nachahmungswelle hervorgerufen haben. So gesehen handelt es sich dabei vor allem
um einen neu verstandenen präventiven Effekt, der nicht
vergessen lassen darf, dass dennoch einzelne Menschen in
suizidaler Verfassung durch Identifikation mit dem berühmten Suizidenten sich selbst einen Todesstoß verpassen. Im
Gegensatz zu Werther/Cobain steht die vernebelnde, beschönigende »Schneewittchen« ähnliche Darstellung des Todes
von Marilyn Monroe, die offenbar mehr Nachahmungen
hervorrief.
Suizid als Selbst-Opfer
In aktuellen kulturwissenschaftlichen Arbeiten von Cameron
2005 und Kaswell 2007 wird untersucht, inwieweit die Suizidhandlung Cobains so etwas wie einen Stellvertretersuizid
darstellen könnte. Dies würde bedeuten, dass der Betreffende
nicht als Vorbild wahrgenommen wurde, sondern als jemand,
der sich an der Stelle der anderen getötet, in diesem Sinne
für sie geopfert hätte. Nebenbei wird dargestellt, dass der in
der Folgezeit anwachsende wirtschaftliche Erfolg der Gruppe
ohne diesen Suizid sich wahrscheinlich so nicht weiterentwickelt hätte. Letzteres ließe sich interpretieren als ein im
ökonomischen Sinne sich für die anderen der Gruppe und
seine Familie opfern. Derartige Vorstellungen über Suizid
erscheinen aus heutiger Sicht schräg, waren jedoch in der
Frühzeit des Christentums durchaus gebräuchlich und sind
auch in anderen Religionen bekannt. Im Christentum änderte
sich die Einstellung der Kirche zum Suizid erst grundlegend,
als es zur Staatsreligion geworden war und in der Folge das
Sich-Töten als ein Verbrechen und nicht mehr als möglicher
Dienst an der Gemeinschaft betrachtet wurde. Diese Einstellung hielt sich in der katholischen Kirche bis ins 20. Jahrhundert und wurde teilweise von den Rechtsauffassungen der
Nationalstaaten übernommen.
Als weiterer womöglich sinnvoller und hilfreicher Effekt des
Todes von Kurt Cobain sei erwähnt, dass sich eine seiner
Cousinen, Beverly Cobain, eine gelernte Psychiatrie-Krankenschwester, seit Kurts Suizid besonders in Suizid-Präventions-Programmen in amerikanischen Schulen engagiert, mit
großer Medienaufmerksamkeit.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Gonther: Suizid als Nachahmung?
Praktische psychiatrische Konsequenzen
Was lässt sich aus dieser Geschichte für die praktische psychiatrische Arbeit lernen?
Wie wir hier sehen, kann für den Umgang mit den Medien
nicht die einfache Regel gelten, möglichst gar nicht von Suiziden zu berichten. Da es höchst unwahrscheinlich ist, dass
es sich bei der Senkung der Suizidraten in Folge des Todes
von Kurt Cobain um einen Zufall handelt, muss es eine Erklärung geben. Die oben angedeutete These, dass es sich um
ein Selbstopfer für die anderen gehandelt haben könnte, lässt
sich nicht beweisen. Die Interventionen der Ordnungskräfte
waren höchstwahrscheinlich geschickt und können sich auch
über das damals aufkommende Internet in Fan-Kreisen recht
gut verbreitet haben. Es erscheint allerdings sehr unwahrscheinlich, dass z. B. die Senkung der Suizidrate in Australien
von den sinnvollen Polizei- und Medienaktionen in Seattle
direkt beeinflusst werden konnte. Vielmehr sollte ins Blickfeld genommen werden, wie sehr die heftige Reaktion von
Courtney Love, die vielen Fans womöglich aus dem Herzen
sprach, in dem sie Aggressionen auf den Suizidenten in bis
dahin unbekannter offener Weise äußerte, sich entsprechend
bremsend auf Nachahmer auswirkte. Gleichzeitig bot sie sich
selbst als Aggressionsprojektionsfläche für die verletzten Fans
an. Aus dieser Sichtweise erklären sich auch die nach wie vor
kursierenden Mord- und Verschwörungstheorien, welche im
Wesentlichen alle darauf hinauslaufen, dass Courtney Love
gemeinsam mit der CIA diesen Anschlag geschickt als Selbstmord getarnt hätte.
Eine weitere Erklärung könnte darin bestehen, dass die Musik
und Texte Kurt Cobains gerade seinen als labil betrachteten
Anhängern derartig unmittelbar nahekamen, dass sie dadurch
vor Suizidnachahmungen geschützt wurden und dies insbesondere unter der aktuellen Belastung durch den Suizid ihres
Idols. Bildlich gesprochen hat er ihnen die Heilmethode oder
auch das Gegengift, bzw. eine Art Impfung bereits vorab geliefert, vermittels seiner Kunst. Wenn auch Kurt Cobain bei
Jugendlichen heute weiterhin hoch im Kurs steht und man
auf manch einer psychiatrischen Station auf ihn als Poster
und seine Stimme aus dem iPod trifft, so gibt es mittlerweile
im Musikgeschäft ganz andere und im Sinne von Gewaltverherrlichung weitaus stärker beunruhigende Phänomene,
die zunehmend in Mode kommen. Verglichen damit wirkt
Nirvanas »Teen Spirit« altmodisch wie Veilchenduft.
Für den Umgang der Medien mit dem Thema Suizid und
für die Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Medien in
dieser Frage lässt sich aus der Kurt-Cobain-Story manches
lernen, was aus psychotherapeutischer Sicht gar nicht sonderlich überrascht:
1. Es ist richtig, auch unangenehme Themen anzusprechen,
d. h., auch Suizidgedanken zu thematisieren. Allein dadurch
bringt man niemanden um.
2. Es ist noch wichtiger, überhaupt negative und ambivalente
Emotionen verbalisieren zu können, um sich zumindest etwas
von ihnen distanzieren zu können.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
3. Im Zusammenhang mit Suiziden und insbesondere mit
Prominentensuiziden geht es um heftige Aggressionen, auch
aufseiten der Hinterbliebenen, in diesem Falle auch der Fans.
Dafür sollte Raum in der öffentlichen Darstellung und der
Diskussion sein.
4. Im Falle des weltweit beachteten Suizids von Kurt Cobain
scheint es gelungen zu sein, einerseits die Art des Todes nicht
zu heroisieren und andererseits seine künstlerische Leistung
getrennt davon zu würdigen. (Gerade Letzteres wird von
manchen psychiatrischen Kollegen in Deutschland, die sich
öffentlich zu Kurt Cobain äußern, leider versäumt.)
5. Die vom Nachahmungssuizid gefährdeten, psychisch instabilen Leute, meistens sind dies Jugendliche, sind keine Masse
von Lemmingen, die man so oder so in den Tod lenken oder
retten könnte. Vielmehr geht es für die Handelnden aus Medien- und Gesundheitsberufen, die individuelle Gemütsverfassung der Betroffenen und Hilfe Suchenden ernst zu nehmen.
Dazu kann die Auseinandersetzung mit der Musik und den
Texten von Nirvana auch für die Gesundheitsprofis hilfreich
sein, um die eventuell Gefährdeten besser zu verstehen.
Ob dies dann weitergedacht auch bedeutet, dass es nottut,
sich in unserer Zeit mit Menschen verachtend klingender
Rap-Lyrik und neuen Medien wie Ego-Shooter-Spielen oder
auch Suizidforen im Internet auseinanderzusetzen, fällt mir
theoretisch leicht zu bejahen, praktisch konnte ich mich dazu
allerdings noch nicht durchringen.
Literatur
ANDREE M (2007) Wenn Texte töten. Fink, München
CHENG TA (2007) The influence of media reporting of the suicide
of the celebrity on suicide rates: A population based study – International journal of epidemiology, Vol. 36
CAMERON S (2005) Artist suicide as a public good – Archives of
suicide research, Vol. 9
JOBES DA (1996) The Kurt Cobain suicide crisis – Suicide and lifethreatening behaviour, Vol. 26
KASWELL A (2007) The economic art of suicide – Annals of improbable research, Vol. 13
MARTIN G (1997) Did the Death of Kurt Cobain Influence young
suicides in Australia – Archives of suicide research, Vol. 3
STACK S (2003) Media coverrage as a risk factor in suicide – Journal
of epidemiology and community health, 57
SCHMIDTKE A, HÄFNER A (1986) Die Vermittlung von Selbstmordmotivation – Selbstmordhandlung durch fiktive Modelle, Nervenarzt 57
STEINBERG H (2007) Der Werther-Effekt: Zum historischen Umfeld
eines Eponyms – Vortrag beim DGPPN Kongress
YSTGAARD M (1997) Suicide among young people – is it contagious? – Norwegian Journal of Suicidology, no. 3
ZIEGLER W, HEGERL U (2002) Der Werther-Effekt. Nervenarzt 73
Anschrift des Verfassers
Dr. Uwe Gonther, Klinikum Bremen Ost
Züricherstr. 40, 28325 Bremen
[email protected]
5
6
Salutogenese als
Chance für die Praxis
von Beratung und Therapie1
Renate Schernus
»Glattes Eis,
Ein Paradeis
Für den, der gut zu tanzen weiß.«
Friedrich Nietzsche 1885
Pathogenese, das ist bekanntlich die Lehre von den ursächlichen Bedingungen der Entstehung von Krankheiten. Der
Begriff setzt sich zusammen aus dem griechischen Wörtern
Pathos für Krankheit und Genesis für Entstehung. Danach ist
ein Mensch entweder krank oder gesund. Die pathogenetische Frage nach den Verursachungen von Krankheiten ist
äußerst wichtig. Wir alle wollen wissen, was hat mich/sie/ihn
krank gemacht. Was ist die Ursache dieses Übels? Liegt es an
Bakterien, Viren, funktionellen Störungen, Genen, sozialen
Umständen oder woran auch immer? Hätten Ärzte so nicht
gefragt, wären unter anderem die Erreger der Grippe, der
Syphilis und die Bedeutung der Hygiene für die Entstehung
von Krankheiten unentdeckt geblieben. Aber auch komplexe
psychotherapeutische Theorien wie die Psychoanalyse, die
Verhaltenstherapie oder sogar die Familientherapie verdanken
sich der Frage nach der Ursache von Störungen. Mit solchen
Theorien haben sich viele von uns bereits ausreichend befasst
und sie fruchtbar in ihrer Alltagspraxis angewandt. Warum
also jetzt noch über ein weiteres Fremdwort nachdenken – Salutogenese, die Lehre von der Entstehung der Gesundheit?
(Griech.: Salus = Heil)
Im Allgemeinen können wir doch wohl davon ausgehen, dass
jeder weg von der Krankheit und hin zur Gesundheit will,
und wer in Gesundheitsberufen tätig ist, will das natürlich
auch für seine Patienten oder Klienten. Ist es nicht gleich, von
welcher Seite man in den Fluss springt? Vielleicht ist es gleich,
von welcher Seite man springt, wenn man aber hineinspringt
oder gar fällt, dann ist es nicht gleich, ob man schwimmen
kann oder nicht. Das Bild eines reißenden Flusses stammt
übrigens von dem Erfinder des Begriffs Salutogenese, Aron
Antonovsky. Nach Antonovsky würde ein pathogenetisch ausgerichteter Therapeut versuchen, den mit Stromschnellen
und Strudeln Kämpfenden vor dem Ertrinken zu retten, ein
Therapeut hingegen, der der Blickrichtung der Salutogenese
verpflichtet ist, würde vor allem versuchen, den Menschen
das Schwimmen beizubringen. Denn nach Antonovsky gleicht
das Leben einem Fluss, in dem wir alle schwimmen, umgeben
von allen möglichen unvorhersehbaren und unvermeidlichen
Gefährdungen.
Schon an diesem Bild lässt sich erkennen, dass die Blickrichtung der Salutogenese die der Pathogenese nicht überflüssig
macht. Einem akut vom Ertrinken Bedrohten werde ich nicht
zurufen: »Jetzt lernen Sie erst mal schwimmen!« Nachdem er
jedoch gerettet wurde, kann ich ihm diesen Vorschlag sinnvoller Weise machen. Falls er bereits ein wenig schwimmen
kann, ließe sich mit ihm auch über Möglichkeiten, seine
Schwimmtechnik zu verbessern, reden.
Die Frage nach den Ursachen von Krankheiten oder Störungen, so wichtig sie bleibt, verführt häufig zu einseitigen
oder auch schädlichen Antworten. Zum Beispiel kann ein
Arzt dabei stehenbleiben, ein Mensch habe deshalb Diabetes
bekommen, weil er zu viel Süßes gegessen und sich zu wenig
bewegt habe. Die Verordnungen, die sich nur darauf beziehen,
werden aber wenig helfen, wenn nicht berücksichtigt wird,
welche Geschichte, zum Beispiel von Armut, Arbeitslosigkeit
und empfundener Sinnlosigkeit, dahintersteht. Oder: Ein Arzt
diagnostiziert bei einer Patientin eine Depression, hält dies für
eine fest umrissene Krankheit, verursacht durch eine Stoffwechselstörung des Gehirns und verordnet Antidepressiva.
Dass die Frau ein chronisches Schlafdefizit hat, da sie morgens
um halb fünf aufsteht, Zeitungen austrägt, hinterher putzen
geht, um Mann und Kinder zu ernähren, von ihrem Ehegatten
terrorisiert wird und außerdem noch eine pflegebedürftige
Mutter betreut, kommt bei diesem Verursachungsmodell
nicht in den Blick.
Oder: Eine alte Frau beschuldigt zunehmend häufig ihre
Hausgenossen, dass sie ihr allerlei stehlen: Knöpfe, Sicherheitsnadeln, Taschentücher und Ähnliches. Sie wird immer
misstrauischer und zieht sich zurück. Die Diagnose des Psychiaters ist schnell bei der Hand: »Paranoide« d. h. »wahnhafte
Entwicklung«. Genaues Hinsehen macht deutlich, dass die
Dame vergisst, wie bei alten Menschen häufig, wo sie was
hinlegt. Sie ist eine stolze Natur, sie weiß nicht und will nicht
wissen, dass eine der Unbillen, die im Strom des Lebens ab
einem bestimmtem Alter aufzutauchen pflegen, die Vergesslichkeit ist. Sie will zunächst einen Sinnzusammenhang, der
uns allen ja leichter fällt, als das Erkennen der eigenen Schwäche, nämlich die Beschuldigung von anderen. Hilfe kann hier
natürlich nicht die Behandlung einer Paranoia bringen, womöglich noch medikamentös, wodurch das Chaos im Kopf der
alten Dame sicher komplett würde, sondern nur das Erkennen
und Akzeptieren der Vergesslichkeit. Dafür braucht die alte
Frau Begleitung und Unterstützung oder im Bild Antonovskys
zu bleiben, dafür braucht sie Schwimmunterricht.
Psychologische Theorien, können natürlich ebenfalls durch
Verabsolutierung von Ursache-Wirkungszusammenhängen zu
groben und schädlichen Einseitigkeiten führen, so zum Beispiel das Konzept der schizophrenogenen Mutter, das in den
Anfangsstadien der Kommunikations- und Familienforschung
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie
entstand. Auch zahllose psychosomatische Theoriebildungen
neigen zu schädlichen zum Teil abstrusen Verabsolutierungen
angeblich psychologisch verursachter Krankheiten, so etwa,
wenn als Ursache der Migräne eine Orgasmusstörung angenommen wird, und die Migräneanfälle als Orgasmus im Kopf
interpretiert werden. Oder wenn verleugnete Feindseligkeit
und Unfähigkeit zu Gefühlsausdruck als Ursache von Krebs
postuliert wird. Angeblich stichhaltige Untersuchungen zu
solch abstrusen Theorien lassen sich immer finden. Susan
Sontag beschreibt in ihrem Buch Krankheit als Metapher wie
abhängig vom Zeitgeist solche mit der suggestiven Aura von
Wissenschaftlichkeit daher kommenden Beschreibungen von
Krankheitsursachen sind.
Die veränderte Blick- und Fragerichtung, die Antonovsky
einnimmt, beruht übrigens nicht auf einem unangefochtenen Optimismus, etwa als typisch amerikanisches »positive
thinking«, nein im Gegenteil. Antonovsky, der jüdischer Abstammung ist, sagt von sich selbst:
»2000 Jahre jüdische Geschichte, die ihren Höhepunkt in
Auschwitz und Treblinka fand, haben bei mir zu einem
tiefen Pessimismus in Bezug auf Menschen geführt. Ich
bin überzeugt, dass wir uns alle im gefährlichen Fluss des
Lebens befinden und niemals sicher am Ufer stehen.« (7)
Das Bild des Flusses ist auch insofern bedeutsam, als Antonovsky nicht der Ansicht ist, man könne die Menschen davor
bewahren, überhaupt in den Fluss zu geraten. Das würde im
Sinne seiner Metapher bedeuten, einem Menschen vor dem
Leben selbst bewahren zu wollen.
Zunächst noch einige kurze Angaben zur Person Aaron Antonovskys. Er wurde 1923 in Brooklyn geboren. 1994 starb er
in Beer-Sheba/Israel. Seine akademische Ausbildung begann
mit einem Studium der Geschichte und Wirtschaft an der
Yale Universität. Während des Zweiten Weltkriegs diente er
aufseiten der Amerikaner. Nach seinem Militärdienst kam
er eher zufällig durch eine Nebenverdiensttätigkeit mit der
Medizinsoziologie und der Stressforschung in Kontakt. Dies
bestimmte seinen weiteren Weg als Medizinsoziologe. Einige
Jahre unterrichtete er am Brooklyn College und wurde ab
1956 zum Leiter der Forschungsabteilung des Anti-Diskriminierungsausschusses des Staates New York berufen. Anschließend war er ein Jahr lang Fulbright Professor für Soziologie
an der Universität Teheran. 1960 wanderte er mit seiner Frau
Helen, einer Entwicklungspsychologin, nach Israel aus. Dort
arbeitete er in Jerusalem am Institut für Sozialmedizin. Unter
anderem hatte er Anteil an dem Aufbau einer gemeindeorientierten medizinischen Fakultät an der Ben-Gurion-Universität
des Negev. (2)
Im Zusammenhang mit Stressforschung standen auch seine
Studien zur Multiplen Sklerose, koronaren Herzkrankheiten
und zur Verarbeitung der Menopause insbesondere bei Frauen, die die KZ der Nazis überlebt hatten. Die Triebfeder seines
Denkens und Forschens war das Fragen. So formulierte er:
»Die Frage ist der Durchbruch. Wichtige Fortschritte
werden mit der Formulierung neuer Fragen erzielt.« (7)
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Es war vor allem das Staunen über das Wunder des Gesundbleibens eines hohen Anteils von Frauen, die die KZ
überlebt hatten, das seine Blickrichtung veränderte und ihn
neue Fragen stellen ließ. Wie war es möglich, dass es viele
dieser Frauen trotz der durchlittenen, unvorstellbaren Qualen geschafft hatten, ihr Leben neu aufzubauen und liebevoll
mit Menschen und konstruktiv mit den Anforderungen des
Lebens umzugehen, d. h. ein weitgehend gesundes Leben zu
führen? Zunächst versuchte Antonovsky eine Antwort, die
noch sehr dem Pathogenese-Konzept vepflichtet war: Menschen, die unter erheblichem Stress erkranken, weisen einen
Mangel an Widerstandsressourcen auf.
Erst allmählich kommt er zu der Anschauung, dass es angemessener ist, nicht von gesund und krank als strikt voneinander unterschiedener Zustände auszugehen, sondern von einem
Kontinuum zwischen gesund und krank. Die Frage lautet
jetzt für ihn: Was ist es, was es den Menschen gelingen lässt,
sich auf diesem Kontinuum mehr in Richtung Gesundheit zu
bewegen? 1979 erscheint sein erstes Buch unter dem Titel
Health, Stress and Coping.
Gesundheit, Anspannung und Bewältigung. Wobei der englische Begriff Stress, der ursprünglich Druck oder Anspannung
bedeutet gänzlich in unseren alltäglichen deutschen Sprachgebrauch übergegangen ist und zu einem Sammelbegriff für
alle möglichen Belastungsfaktoren geworden ist. Der Begriff
Coping wird, zumindest in den Sozialwissenschaften, auch
nicht mehr verdeutscht. Er bezeichnet die Art und Weise, wie
jemand Krankheit oder andere Belastungsfaktoren zu bewältigen versucht. Der Begriff des Coping steht im Zentrum von
Antonovskys Forschungsinteresse. So formuliert er:
»Sollte ich die wichtigste Konsequenz des salutogenetischen Denkens in einem Satz zusammenfassen, so würde
ich sagen: Salutogenetisches Denken eröffnet nicht nur
den Weg, sondern zwingt uns, unsere Energien für die
Formulierung und Weiterentwicklung einer Theorie des
Coping einzusetzen.« (2)
Auch hinsichtlich der Bedeutung von Stress geht es Antonovsky darum, von einer vornehmlich pathogenetischen Sichtweise
wegzukommen. Stressoren seien nicht immer Risikofaktoren,
die reduziert oder vermieden werden sollten. Sie haben zunächst einmal, jenseits jeder Wertung, einen funktionalen
Charakter. Sie mobilisieren Körper und Seele.
Ob ein Stressor gesundheitsfördernd oder gesundheitsschädigend wirkt, hängt von vielerlei Komponenten ab. Zum
Beispiel kann ein hohes Maß an Stressoren bei gleichzeitig
hohem Ausmaß an sozialer Unterstützung gesundheitsfördernd sein.
In der Psychiatrie haben etwa ab den 90er-Jahren unter dem
Titel Psychoedukation Rückfallprophylaxeprogramme für an
Schizophrenie erkrankte Menschen hohe Konjunktur. In ihnen geht es, eigentlich ganz im Sinne Antonovskys, um das
Bemühen, Menschen zu einem besseres Coping zu verhelfen,
etwa indem sie auf die ersten noch unspezifischen Anzeichen
einer neuen Episode zu achten und die Stressoren zu iden-
7
8
Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie
tifizieren lernen, die zu Psychosen führen können. Solche
Programme sind bisweilen nützlich. Jedoch auch sie stehen
in der Gefahr, in eher verdeckter Weise doch wieder überwiegend pathogenetisch orientiert zu sein. So habe ich von
Psychiatrie-Erfahrenen gelernt, dass sie bereits der Begriff der
Psychoedukation stutzig macht. »Bin ich nicht in Ordnung
so wie ich bin, muss ich als erwachsener Mensch erzogen
werden?« Alle diese Programme beruhen auf dem Verletzlichkeits-Stressmodell. Sie sind insofern defizitorientiert als
vor allem die Verletzlichkeit im Blick ist und nicht so sehr die
Stärken und Fähigkeiten. Stress wird in diesen Modellen vor
allem als Risikofaktor begriffen.
Dass Rückfallprophylaxe und das Bestreben, Krankheit auf
Biegen und Brechen zu vermeiden, nicht alles sein können,
drückt der Psychiater Karl Jaspers, der von Kindheit an durch
schwere Bronchiektasien geplagt war, in einer Weise aus,
die Antonovskys Auffassung sehr genau entspricht. Jaspers
schreibt:
»Methodisch absolut zweckmäßige Lebensführung unter
medizinischem Gesichtspunkt war unerlässlich. Aber sie
hätte das Leben selber unerfüllt gelassen. ... Die Berührung mit der Welt forderte das Risiko von Krankheitszuständen. Der Kranke braucht die Freiheit, die medizinische Ordnung zu durchbrechen. Für die Krankheit
zu leben, hebt das Leben selber auf, lässt es in Isolierung
und Erfahrungslosigkeit geraten.« (3)
Antonovsky hält eine eher pessimistische Weltsicht durchaus
für angezeigt. Er meint, die pathogenetische Orientierung
verführe zu der zwar opimistischen, aber wenig realistischen
Einstellung, im Leben könne man Stressoren aus dem Wege
gehen, wenn man sich nur in Acht nehme oder einem psychoedukativen Programm folge. Er hingegen ist der Meinung:
»Die eher pessimistische Salutogenese bringt uns dazu,
uns auf das umfassende Problem der aktiven Adaption an
eine unweigerlich mit Stressoren angefüllte Umgebung
zu konzentrieren.« (2)
Vermutlich würde er sich von dem polnischen Aphoristiker
Jerzey Lec verstanden fühlen, der einmal formulierte: »Ich
bin Optimist. Ich glaube an den erlösenden Einfluss des Pessimismus.«
Was aber ist nun Antonovskys Antwort? Wie zu erwarten,
beruht sie nicht auf der Erforschung von krank machenden
Faktoren, sondern auf der Beschäftigung mit Personen, deren Gemeinsamkeit es ist, dass sie trotz erlittener schwerer
Traumata erstaunlich gut zurechtkommen. Das, was diese
Personen seiner Meinung nach bis zu einem gewissen Grade
alle aufwiesen, war eine Lebenshaltung des Vertrauens und
zwar Vertrauen darauf, dass die Ereignisse des Lebens verstehbar, handhabbar und sinnhaft sind. Eine Grundorientierung,
die das Vertrauen auf Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und
Sinnhaftigkeit dessen, was mir im Leben auch zustoßen mag
beinhaltet, ist das was Antonovsky als Sense of Coherence,
als Kohärenzgefühl, beschreibt. Hierbei misst er der Dimension der Sinn- und Bedeutungshaftigkeit das größte Gewicht
bei und erkennt darin die Ähnlichkeit seiner Gedanken zur
Logotherapie Viktor Frankls. Auch für Frankls Konzeptbildungen spielte übrigens das Konzentrationslager, das er selbst
überlebt hatte, eine entscheidende Rolle für seinen späteren
therapeutischen Ansatz. Bei beiden ist Sinn nicht misszuverstehen als bloß kognitive Erkenntnis. Sinnsuche ist eher
prä-reflexiv zu verstehen und hängt mit dem Bedürfnis nach
Hingabe an sinnvolle Aufgaben, mit dem Bedürfnis gebraucht
zu werden, mit dem Bedürfnis zu lieben und sich selbst vergessen zu können zusammen.
Eine der eindrucksvollsten subjektiven Beschreibungen einer
solchen Grundorientierung findet sich wiederum bei Karl Jaspers. Er erzählt, dass sein Gymnasialdirektor beim Abschied
von der Schule zu ihm gesagt hätte: »Aus Ihnen kann ja nichts
werden, da sie organisch krank sind.« Auch bei Jaspers lässt
sich ein salutogenetischer Perspektivwechsel ausmachen. Ihn
interessiert nicht das Woher der Krankheit, sondern die Frage,
die auch Antonovsky umtreibt:
»Woher (kommt) die Kraft aus dem Versagen doch ständig wieder zu sich zu kommen? Woher, wie war es möglich, der Würdelosigkeit der Situationen, des Eindrucks
auf die Umwelt in schlechten Zeiten und Stunden, des
Sinkens unter das eigene ›Niveau‹ innerlich Herr zu werden? Woher das unreflektierte Vertrauen zu einem ›Sinn‹?
Stets ergriff ich die Gegenwärtigkeit ohne viel erwarten
zu dürfen. Ich lebte für den Augenblick und bezog ihn
doch auf etwas Fernes. ... Ich war für meine Person selten enttäuscht, vielmehr überrascht, was mir von innen
und außen vergönnt war. Der klare Verzicht auf das
wirklich Unmögliche, ließ einen Spielraum, in dem mehr
Chancen lagen, als ich vorher denken konnte.« (3)
Soweit, zur Veranschaulichung des Kohärenzgefühls, Karl
Jaspers.
In den Termini von Antonovsky kann man sagen, dass sich
Jaspers dank seines ausgeprägten Kohärenzgefühls auf dem
Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit weit in Richtung Gesundheit bewegen konnte, obgleich die Symptome
seiner Krankheit ihn Zeit seines Lebens weiter plagten. Jaspers
benennt als Quellen dieser Kraft schlicht den Schutz und die
Geborgenheit, die er als Kind durch seine Eltern erfahren
habe und die Liebe zu seiner Frau.
Was Gesundheit eigentlich sei, hat Antonovsky nie richtig
definiert.
Deutlich wird bei ihm lediglich, dass Gesundheit nicht die
Abwesenheit von Krankheit, Verletzungen und Behinderungen bedeutet, sondern eine Umgangsweise mit alledem; eine
Umgangsweise, die die Wahrung der eigenen Würde beinhaltet. Statt einer Definition von Gesundheit lasse ich in diesem
Sinn die schwer krebskranke Schriftstellerin Maxie Wander
zu Wort kommen. Sie schreibt:
»Es sind keine verlorenen Wochen, es ist mein Leben,
das ich möglichst ehrlich und intensiv zu leben habe. Ich
habe angefangen, meine verschütteten Quellen freizulegen ... einfach das Nächstliegende tun.« (11). ...
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie
»Mir ist, als hätte ich neue Augen mit einem ruhigen,
tieferen, zärtlichen und brennenden Blick! Ich empfinde
mich als einen Menschen, der in keiner Weise bemitleidenswert ist, jedenfalls nicht von den Lahmen und
Blinden.« (11)
An einer anderen Stelle schreibt sie:
»Ich darf ein paar Tage Leben probieren! Jeden Tropfen
Leben werde ich auskosten, ... aber sicherlich hab ich
mehr davon als viele andere Menschen, die nicht wissen,
was Leben eigentlich ist.« (11)
»Was soll ich mit dieser Krankheit machen?«, schreibt sie
in ihrem letzten Brief, bevor sie nach einem langen Leiden
stirbt. Genau diese Frage, so einfach sie sich anhören mag,
ist es, um die es geht. Dies scheint unsere menschliche Möglichkeit zu sein, die Wirklichkeit, so wie sie uns im Fluss des
Lebens begegnet, zuzulassen, auch in ihren verletzenden und
kränkenden Aspekten. Wir können sie als Herausforderung
begreifen und erkennen, dass wir zwar zu weiten Teilen nicht
die äußere Gestalt unseres Geschicks bestimmen können, aber
die Art, wie wir ihm begegnen.
Das salutogenetische Paradigma, so formuliert es die Psychologin Alexa Franke, mache es möglich, den Tod mit einzubeziehen.
»Im pathogenetischen Paradigma geht es um die Beseitigung von Krankheit und Leid, der Tod wird ausgespart.
Im salutogenetischen Modell jedoch wird nicht nur akzeptiert, dass niemand von uns trockenen Fußes am Ufer
des Lebensflusses stehenbleiben kann, sondern auch dass
wir alle im Fluss sind und mit ihm ans Ende kommen.
Der Tod ist damit nicht letztes Versagen von Reparaturmöglichkeiten, sondern Bestandteil des Lebens.« (5)
Es gibt übrigens zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen
zu der Frage, mit welchen als krank geltenden klassischen diagnostischen Kriterien, das Kohärenzgefühl korreliert. Werden
Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl weniger krank?
Korreliert es also mit dem was gemeinhin unter Gesundheit
verstanden wird? Hier zeigte sich nun, dass Personen mit
unterschiedlichen organischen Erkrankungen durchaus kein
niedrigeres Kohärenzgefühl hatten als Gesunde. Ganz andere
Befunde gab es allerdings bei seelischen Erkrankungen.
»In zahlreichen Studien wurde ein enger Zusammenhang
zwischen psychischer Gesundheit respektive Krankheit
und dem SOC (Kohärenzgefühl) festgestellt.« (5)
Nun könnte man an dieser Stelle sagen. Das ist ja banal. Das
wussten wir auch schon vor den ganzen komplizierten Untersuchungen, dass eine seelische Erkrankung den Lebenssinn
verdunkeln, die Sinne verwirren, Kontinuitäten unterbrechen
und das Selbstwertgefühl sowie den Glauben an die eigene
Kraft erheblich unterwandern kann.
Wichtiger als das Feststellen von Korrelationen scheint mir
an Antonovskys Ansatz das Loslassen einer auf Defizite und
Symptome fixierten Haltung. Dies nun ist ganz besonders
wichtig bei seelischen Erkrankungen, denn sie unterliegen
zusätzlich zu ihrer subjektiven Komponente gesellschaftlichen
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Vorurteilen, die Genesung sehr erschweren bis unmöglich
machen können. Susan Sontag formuliert einmal:
»Jede Krankheit, die man als Geheimnis behandelt und
heftig genug fürchtet, wird als im moralischen, wenn
nicht wörtlichen Sinne ansteckend empfunden. ... Schon
dem bloßen Namen solcher Krankheiten wird magische
Macht zugeschrieben.« (9)
Sontag beschreibt dies in Bezug auf Krebs. Ich glaube auf
seelische Erkrankungen zum Beispiel auf den Namen Schizophrenie trifft dies noch mehr zu.
Die konsequente Verfolgung der Frage, was einen Menschen
ein wenig weiter auf dem Kontinuum in Richtung Gesundheit
bewegen kann, ist gerade auf dem von Tabus, Ängsten und
Heilungs-Resignation gekennzeichneten Gebiet der seelischen
Erkrankungen besonders wichtig. Wenn ich Krankheit lediglich als zu bekämpfende Panne ansehe, und sie nicht aus
der Kontinuität einer Lebensgeschichte heraus zu verstehen
suche, werde ich womöglich die Integrität der Person selbst
bekämpfen, anstatt ihr zu helfen, ihre ganz persönlichen, einmaligen Möglichkeiten des Umgangs mit ihrem Schicksal
zu finden.
In der Psychiatrie steht Antonovsky allerdings mit seinen
Impulsen zu einer veränderten Blickrichtung keineswegs
alleine da. Etwa zur gleichen Zeit wie sein Buch Health,
Stress and Coping wurden mehrere große Langzeitstudien
zum Verlauf der Schizophrenie veröffentlicht, die Studien von Manfred Bleuler (1972) und Ciompi und Müller
(19769) sogar etwas früher. Diese Arbeiten haben wesentlich
dazu beigetragen, mit dem Mythos der Unheilbarkeit der
schizophrenen Psychosen aufzuräumen. Aus ihnen ergaben
sich wichtige Hinweise darauf, dass es weder die Diagnosen
noch die Symptome sind, aus denen man die Prognose der
Krankheit vorhersagen kann, sondern in hohem Maße die
sozialen Umstände, die vor der Erkrankung bestanden und/
oder die im Zusammenhang mit der Krankheit entstehen,
dass ferner auch die positiven Erwartungen nahestehender
Personen höher mit einem positiven Ausgang der Erkrankung korreliert sind als die Diagnosen. Spätere Studien zum
Beispiel die von Richard Warner (1998) ergaben unter anderem Hinweise darauf, dass es Zusammenhänge zwischen
Wirtschaftskrisen und schlechten Verlaufsdaten gibt. Alles
das trug dazu bei, sich mehr darauf zu konzentrieren, wie
Gesundheit unterstützt und erhalten werden kann, als darauf, Defizite genau zu katalogisieren und Patienten schlechte
Prognosen zu stellen, die wie selbst erfüllende Prophezeiungen wirken und die Betroffenen entmutigen. Konzepte
des sog. Empowerment (Ermutigung, insbesondere zu den
eigenen Kräften zur Selbsthilfe und zur Selbstbestimmung)
und des sog. Recovery (Heilung, Wiederherstellung) wurden
in der Psychiatrie zu neuen Devisen. Während Antonovsky
mit seinem Salutogenese- Konzept stark auf Forschung ausgerichtet war, sind diese neuen Ansätze für die Psychiatrie
insofern wichtig, als sie mehr auf praktische Anwendung
hin orientiert sind.
9
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Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie
Dass sich etwa seit 1990 immer stärker salutogenetisch orientierte Konzepte im Umgang mit psychisch kranken Menschen Geltung verschaffen, verdankt sich zum großen Teil
der Erstarkung der Selbsthilfebewegungen in der Psychiatrie.
Noch in den 80er-Jahren hätte es kaum jemand für möglich
gehalten, dass Menschen, die an Psychosen oder an Borderline erkrankt waren oder auch die sogenannten Stimmenhörer
sich selbst organisieren, untereinander stützen, Vorträge halten, Bücher schreiben, Fortbildungen auch für Professionelle
durchführen und für ihre Rechte eintreten können. In Bielefeld zum Beispiel bieten Mitglieder des Vereins PsychiatrieErfahrene unter anderem Beratung für ebenfalls Betroffene an
und sie gehen in Schulen, um dort durch Erfahrungsberichte und Informationen an der Überwindung von Vorurteilen
mitzuwirken. Den Prozess, der hinführt zu dem Mut, die
eigenen Möglichkeiten und Gestaltungsspielräume zu nutzen,
bezeichnet man als Empowerment. Gleicherweise bedeutet
Empowerment, auf professionelles Handeln bezogen, die Ermutigung zu eben dieser Haltung. Im Sinne Antonovskys lässt
sich auch sagen, die Betroffenen entdecken Sinn und Bedeutung in ihrem Leben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
verlieren die verwirrende und ängstigende Unverständlichkeit
und erweisen sich als interpretierbar. Krankengeschichten
wandeln sich zu erzählbaren Lebensgeschichten. Das eigene
Befinden ist, zumindest in Grenzen, durch die Betroffenen
selbst beeinflussbar. Die Abhängigkeit von Diagnosen und
Behandlungsvorschlägen von Ärzten und Therapeuten aller
Art wird geringer. Damit wären in etwas anderen Worten
die drei Säulen des Kohärenzgefühls nach Antonovsky beschrieben.
Schaut man sich das Konzept des Recovery, ein ursprünglich in den USA entwickeltes Rehabilitationskonzept, das im
Augenblick in der deutschen Sozialpsychiatrie wie eine Neuentdeckung begrüßt wird, etwas näher an, merkt man sofort
die Verwandschaft zu Antonovsky. Als wesentliche Elemente
des Recoverykonzepts werden z. B. beschrieben:
1. Hoffnung
2. eine positive Identität gewinnen
3. sich von der psychiatrischen Etikettierung lösen
4. Symptome beeinflussen
5. ein Unterstützungssystem aufbauen
6. Sinn und Bedeutung im Leben gewinnen (6)
Sehr schöne Beispiele für eben solche heilsamen und heilenden Prozesse aus dem deutschen Sprachraum finden sich
in dem von der psychiatrie-erfahrenen Autorin Sibylle Prins
herausgegebenen kleinen Buch Vom Glück – Wege aus psychischen Krisen. (8) In diesem beschreiben 26 psychiatrie-erfahrene Menschen, was ihnen ihrer Meinung nach im Laufe
ihres Lebens zu neuen Wendungen, zu neuer Kraft oder zur
Aussöhnung mit bleibenden Schwierigkeiten oder Behinderungen verholfen habe. Bei manchen haben Medikamente
unterstützend gewirkt, bei manchen auch Psychotherapie, bei
den meisten jedoch waren es Ereignisse, die sich im Strom
des Lebens ergaben wie zum Beispiel wichtige menschliche
Begegnungen, Änderungen der Wohnverhältnisse, sportliche Aktivitäten, Engagement in Selbsthilfegruppen, passende
Arbeit oder andere sinnerfüllende soziale oder künstlerische
Tätigkeiten, bisweilen auch religiöse Erfahrungen oder Meditation.
So schreibt zum Beispiel Trudi N.:
»Ich bin ... immer wieder ziemlich fassungslos darüber,
dass mein neues Leben, Er-Leben einem Riesensammelsurium von schicksalhaften Begegnungen zu verdanken
ist, von Glück. ... Dass ich aus dieser ganz furchtbaren
Krise herausgekommen bin, ist wirklich eine Verkettung
von allen möglichen Umständen. Wo aus unglücklichen
Umständen glückliche geworden sind.« (8)
Dass Psychotherapie in diesen Erfahrungsberichten zwar eine
gewisse Rolle, aber keine Hauptrolle spielt, ist in unserem
Zusammenhang insofern interessant, als Antonovsky der
Ansicht war, dass die Stärke des Kohärenzgefühl vor allem
durch »einschneidende, langfristige lebensverändernde Ereignisse« beeinflussbar sei. »Psychotherapie schien ihm weder
langfristig noch einschneidend genug, solche Veränderungen
zu bewirken.« (5)
Noch etwas ist mir wichtig. Ich knüpfe dafür noch einmal bei
Trudi N. an. Sie formuliert:
»Ich hatte einfach viel Glück und ich bin hochgradig
dankbar dafür – das macht auch demütig. Aber ich habe
so viele Menschen gesehen, die davon nicht einen Hauch
hatten, die ein ziemliches Desaster erleben müssen.« (8)
In diesen Sätzen steckt die Frage: Was ist mit denen, deren
Schwimmkünste nicht ausreichen, um im Strom des Lebens
mit den Stromschnellen fertig zu werden? Die in Gegenden
verschlagen werden, in denen ihnen nicht so viel Glück zustößt
wie Trudi N.? Hier scheint eine Gefahr auf, die es bei allen
auf Gesundheit, aktive Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gerichteten Konzepten zu berücksichtigen gilt. Die
Gefahr, dass Selbstverantwortung und Selbstbestimmung zur
Pflicht gemacht werden, dass jeder seines Glückes Schmied
zu sein hat. Dabei wird dann vernachlässigt, dass es nicht nur
darauf ankommen kann, alle Menschen zu Topschwimmern
zu machen, sondern auch erheblich darauf, Flussläufe so zu
gestalten, dass es auch unsportlichen Schwimmern oder solchen, die auf Schwimmwesten angewiesen sind, möglich ist
durchzukommen.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass manche Menschen mit
dem selber Schwimmen so schlechte Erfahrungen gemacht
haben, dass sie auf alles, was optimistisch und hemdsärmelig als ziel- und erfolgsorientiertes Schwimmtraining daher
kommt, allergisch reagieren. Häufig ist es gerade der bewusste Verzicht auf solche Trainingsversuche, der dazu beiträgt,
einem Menschen die Möglichkeit zu geben, von sich aus die
zu ihm passenden Bewegungsformen und für ihn nützlichen
Hilfsmittel zu finden. Wer sich lange aus welchen Gründen
auch immer – als Nichtschwimmer definieren musste, für
den kann es eine Frage der Selbstachtung sein, bei diesem
Thema nicht gleich nachzugeben. Eine Voraussetzung dafür,
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Schernus: Salutogenese als Chance für die Praxis von Beratung und Therapie
andere zum Schwimmen zu ermutigen ist es, selbst mit ins
Wasser zu steigen, um sich über Kälte, Untiefen, gefährliche
Quallen oder was sonst noch so an gefährlichen Lebewesen
im Fluss schwimmt zu orientieren. Wer sich als Schwimmlehrer betätigen will, muss viel Zeit und Geduld mitbringen
und auch akzeptieren können, dass mancher sich mit bloßem
Plantschen im Fluss und viel Herumliegen am Ufer begnügen
möchte. Denn wie schon Immanuel Kant 1783 in einem Brief
an Moses Mendelson feststellte:
»Jeder Mensch hat seine besondere Art gesund zu sein,
an der er ohne Gefahr nichts ändern darf.« (10)
Außerdem ist es für manche Menschen viel besser, wenn sie
nicht im Hauptstrom mitschwimmen müssen, sondern sich
auf verschlungenen Seitenarmen langsam in ihrem ganz eigenen Tempo fortbewegen können. Es ist wichtig, sie darin zu
ermutigen, dass sie auch auf diese, ihre eigene Weise ankommen können und so vielleicht viel mehr von den Schönheiten
der Landschaft mitbekommen.
Auch von einigen gut ausgestatteten Rettungsboten sollten
wir uns meiner Meinung nicht ganz verabschieden.
Nun will ich aber diese Fluss- und Schwimmmetaphern verlassen und etwas ziemlich Banales zum Schluss sagen. Salutogenese, Empowerment, Recovery – solche und ähnliche Worte
klingen sehr Respekt einflößend. Das macht vielleicht nichts,
denn dadurch wird man neugierig und fragt sich, was mag
an Geheimnissen dahinter stecken. Beschäftigt man sich damit, lassen sich gewendete Sichtweisen, neue Anstöße, Ideen,
Handlungsimpulse gewinnen. Irgendwann jedoch entdecken
wir auch, dass das Wichtigste bei alledem etwas ist, das wir
eigentlich immer schon wissen, und das uns dennoch im Alltag, auch und gerade im Alltag der helfenden Berufe, immer
wieder verloren zu gehen droht. Dieses Wichtigste ist die
Erkenntnis, dass das was uns selbst und den Menschen, die
wir lieben, guttut, was wir unseren Verwandten und Freunden
wünschen, dass dies allen Menschen guttut, seien sie nun
körperlich oder psychisch krank. Es lohnt sich, solche Neuentdeckungen des Selbstverständlichen immer wieder als Chance
für die Praxis von Beratung und Therapie zu nutzen.
Allerdings sind wir durch diese sehr allgemeine Erkenntnis
nicht von der Aufmerksamkeit für Differenzen entlastet, für
Unterschiede zwischen meiner Geschichte und deiner Geschichte, zwischen meiner sozialen Herkunft und der deinigen, zwischen meiner Begabung und deiner Begabung, zwischen meinen Gebrechen und deinen Gebrechen, zwischen
meiner Physiologie und deiner Physiologie. Jede Person in
ihrer Besonderheit wahrnehmen können und unseren Umgang von dieser Besonderheit bestimmen lassen – das muss
dazukommen.
Anmerkung
1 Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 29.02.08 beim
Institut für Kirche und Gesellschaft Iserlohn – Haus Villigst
Schwerte
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Literatur
1 AMERING M, SCHMOLKE M (2007) Recovery – Das Ende der
Unheilbarkeit. Bonn
2 ANTONOVSKY A (1997) Salutogenese –Zur Emystifizierung der
Gesundheit. Tübingen, S. 13 ff., 27, 30
3 CERMAK I (1991) Klagelied und Freudenhymne – Begegnungen
mit der Krankheit in Selbstzeugnissen schöpferischer Menschen.
Frankfurt/Berlin, S. 52 ff.
4 FRANKL VE (1994) Logotherapie und Existenzanalyse., München
5 FRANKE A (1997) Zum Stand der konzeptionellen und empirischen Entwicklung des Salutogeneskonzepts. In ANTONOVSKY A
Salutogenese –Zur Emystifizierung der Gesundheit. Tübingen,
S. 181, 182, 190
6 KNUF A (2007) Vom demoralisierenden Pessimismus zum vernünftigen Optimismus – Eine Annäherung an das Recovery-Konzept. www.beratung-und-fortbildung.de
7 LAMPRECHT F, JOHNEN R (Hg.) (1994) Salutogenese – ein neues
Konzept in der Psychosomatik. Frankfurt, S. 63, 64
8 PRINS S (2003) Vom Glück – Wege aus psychischen Krisen. Bonn,
S. 7
9 Sontag, S (1996) Krankheit als Metapher. Frankfurt, S. 7, 8
10 THOMA D (2000) Zweitausend zierliche Zitate. München
11 WANDER M (1981) Leben wär‘ eine prima Alternative – Tagebuchaufzeichnungen und Briefe. Darmstadt, S. 58, 33, 41)
Anschrift der Verfasserin
Renate Schernus
Bohnenbachweg 15
33617 Bielefeld
www.renate-schernus.kultursrver-nrw.de
11
12
Die Forderung
tagesklinischer Arbeit
Christian Maier
Denkt man als Supervisor laut über die eigene Tätigkeit nach,
besteht zunächst das Problem der Diskretion, der beruflichen
Schweigepflicht, in einem Maße, das die diesbezügliche Problematik in einer Einzelpraxis weit übersteigt, hat man nicht
nur Patienten, sondern auch Mitarbeiter und zudem meist
auch noch eine klinische Institution zu schützen. Wie kann
man das lösen? Vielleicht nach Art eines Aufsatzes in guter
psychiatrischer Tradition, heißt: so konsequent am Thema
vorbeischreiben, dass sich kein Leser irgendetwas Konkretes
vorstellen kann, oder auch, das Thema so gezielt verfehlen,
dass gerade noch im Umkehrschluss eine Ahnung von dem
aufkommen könnte, worum es dem Autor geht. Schon lange
hatte ich mir vorgenommen, über die Forderung tagesklinischer Arbeit zu schreiben, ein Vorhaben, das zu verwirklichen
ein rundes Jubiläum einer tagesklinischen Einrichtung, in der
ich Supervisor bin, den Ausschlag gab. Meine Absicht ist es,
etwas über die Belastungen tagesklinischer Arbeit mitzuteilen,
Belastungen persönlicher, emotionaler Art, die keinen Mitarbeiter ausnehmen, weil sie tagesklinischer Arbeit prinzipiell
eigen sind. Die Perspektive aus der dies geschieht, bleibt die
des Supervisors, eine Funktion, in der ich schon in verschiedenen tagesklinischen Einrichtungen tätig war und immer
noch bin.
Ein Supervisor ist eine Person mit einer Ausbildung, die er auf
der Basis eines Berufs in irgendeinem psychosozialen Feld erworben hat und der – von außen kommend – in regelmäßigen
Abständen in eine Einrichtung wie die Tagesklinik kommt,
um dort Supervision anzubieten. Aber was ist Supervision?
Jedenfalls nicht das, wofür ein schizophrener Patient in Bern
es hielt, als ich ihm auf seine Frage hin sagte, wohin wir, das
Team der Station und ich, gerade gingen: »Zur Supervision«, wiederholte er, »ihr habt es gut, ihr häns guat«, sagte
er in breitem Berndütsch, »I wart schon seit Jahra auf eine
Vision, die wirklich super isch!« Ich habe ihm die folgende
trockene Definition erspart: Supervision definiert sich durch
das Dreieck Mitarbeiter, Arbeitsauftrag und Institution und
hat als Aufgabe, das Zusammenwirken dieser drei Faktoren zu untersuchen und aus dem gewonnenen Verständnis
Handlungskonsequenzen zu erarbeiten, die den Patienten,
den Mitarbeitern und der Institution zugutekommen (s. a.
Pühl 1998).
Methoden der Supervision gibt es viele, meine ist die angewandte Psychoanalyse. Was das heißt, will ich demonstrieren
an einer Episode, die ich für den geeigneten Einstieg in mein
Thema ›die Forderung tagesklinischer Arbeit‹ halte. Die Episode fand im ersten Jahr des Bestehens der Tagesklinik statt.
Ich kam wie gewöhnlich eines Mittwochs in den Raum für
das Pflegeteam, ein Zimmer, das auch als Aufenthaltsraum,
Besprechungsraum, Raucherzimmer und Küche genutzt
wurde, ein paar Minuten zu früh, sodass es gerade noch für
einen Kaffee reichte, setzte mich an den Tisch, belangloser
Smalltalk, bis jemand aus dem Team sich an mich wandte, um mir – anscheinend völlig aus dem Zusammenhang
gerissen, hatte man sich untereinander doch noch um anscheinend nebensächliche Belange der Tagesklinik gekümmert – der Mitarbeiter wandte sich also an mich, um mir
einen Witz zu erzählen, was mich sofort hellhörig machte.
Dieses Teammitglied beging eine grobe Unvorsichtigkeit,
hätte er doch wissen müssen, dass ein Psychoanalytiker eine
solche Vorlage nicht ungenutzt lässt. Leider muss ich den
Witz wiedergeben – leider deshalb, weil ich Witze nicht gut
erinnere, ich es dieses Mal aber tun muss, damit der Leser
meine Gedankengänge nachvollziehen kann, mögen sie ihm
auch noch so verschroben vorkommen. Für den Psychoanalytiker ist der Witz deshalb von Interesse, weil sich darüber
Unbewusstes kundtut. Darin ist der Witz ein Verwandter
des Traums. Der unbewusste Gedanke, der nicht wahrgenommen werden darf, also verdrängt wurde, aber weiterhin
nach Bewusstwerdung drängt, kann erst nach entsprechender Verarbeitung in veränderter Form, damit unkenntlich
gemacht, in Gestalt des Witzes wieder auftauchen. Jetzt der
Witz – es lässt sich nicht länger vermeiden, auch wenn mit
der Pointe irgendetwas nicht stimmen kann, wahrscheinlich
habe ich etwas für den Witz Wesentliches vergessen und nur
das mir Wichtige behalten, nur das, was ich zur Interpretation brauchte. Also jetzt wirklich der Witz, den man mir im
Team erzählte: »Jesus hängt am Kreuz und jammert, was
das Zeug hält, wegen der Schmerzen natürlich. Petrus, der
sich gerade umgesehen hatte, ruft ihm hastig zu: ›Jesus, reiß
dich zusammen, Touristen kommen!‹.«
Für einen Psychoanalytiker ist es von Vorteil, wenn er leicht
paranoid veranlagt ist, geht es ihm dann doch leicht von
der Hand, etwas von dem, was andere sagen, auf sich zu
beziehen. Der Tourist ist jemand, der sich etwas Fremdes
anschaut, es aus Neugier und vielleicht sogar zur eigenen
Erbauung besichtigt, eine ganz klare Rollenbeschreibung,
die auf den von außen kommenden Supervisor gemünzt
war. Dann war der Witz folglich als Warnung gemeint – aber
wer sollte gewarnt werden und wovor? Der Warner ist bekannt – im Witz ist es Petrus, in der Raucherstube der Witzerzähler, der Mitarbeiter der Tagesklinik, der dann auch
noch – welch Luxus für die Interpretation – den Vornamen
Peter trug. Warum musste vor dem Supervisor gewarnt werden und worauf bezog sich die Warnung, tja und wer sollte
überhaupt gewarnt werden? Viele Wahlmöglichkeiten ließ
der Witz nicht: es sollte nicht gejammert werden, wegen der
Schmerzen, dem Kreuz, das man täglich zu tragen auf sich
genommen hatte, man wollte das professionelle Bild des
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Maier: Die Forderung tagesklinischer Arbeit
gelassenen Helfers nicht beschädigen. Jesus vertrat also das
gesamte Team der noch jungen Tagesklinik. Die vollständige
Übersetzung der Botschaft des Witzes lautet demnach: ›He
Leute, reißt euch zusammen, lasst euch ja nicht einfallen,
vor dem Supervisor zu jammern, der soll nicht merken, dass
wir auf dem Zahnfleisch gehen.‹
Identifikationen mit einem großen Heiler oder gar unbewusstes messianisches Sendungsbewusstsein sind in der
Psychiatrie nicht selten. Kernberg, der wohl einflussreichste
klinische Psychotherapeut der letzten Jahrzehnte, spricht
nicht von ungefähr vom »heiligen Therapeuten«, der in seinem Beruf das Motto lebt, frei nach Matthäus 12: ›Kommet
alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid‹, und der
darüber immer wieder in Überforderungssituationen landet,
die ihn so aushöhlen, dass er in seiner Haltung irgendwann
schließlich einbricht. Dass passte nun aber eigentlich gar
nicht auf die infrage stehenden Mitarbeiter, ich muss aber
zugeben, dass ich damals dazu neigte, den Witz doch auf
ein überzogen interpretiertes Rollenverständnis als Helfer
zu beziehen, weil mir da meine Erfahrungen, auch aus der
Kenntnis anderer tagesklinischer Einrichtungen, noch nicht
zur Verfügung standen.
Seitdem hat sich mein Verständnis, was die speziellen Anforderungen tagesklinischer Arbeit angeht, gewandelt, ein
Verständnis, zu dem ich einen Hinweis, wenn auch einen
verschlüsselten, bereits in der Witzepisode hätte auffinden
können. Es gibt nämlich eine – so wie ich es heute erst verstehen kann – ganz spezifische Anforderung, die sich auf
die interpersonale Dynamik in einem Team einer Tagesklinik niederschlägt, in einem charakteristischen Phänomen
des Miteinanders. Um diese spezifische Forderung geht es
in meinen Ausführungen, für deren Darstellung ich einen
Umweg über eine Schilderung aus der klinischen Arbeit
benötige, um den Unterschied beider Behandlungsmodelle
herauszuarbeiten.
Ich wähle ein vollklinisches Setting aus, wo eine Behandlung
mit Psychopharmaka keine Rolle spielte, bei der es ein einziges Behandlungsmittel gab – die therapeutische Beziehung,
das menschliche Band zwischen Patient und Betreuern. Dass
die therapeutische Beziehung mit das wesentlichste Medium
einer Behandlung von seelischen Erkrankungen ist, gehört zu
dem Basiswissen zahlloser sozialpsychiatrischer Einrichtungen
und gehört auch zu den grundlegenden Überzeugungen der
tagesklinischen Einrichtungen, in denen ich als Supervisor
tätig war und bin.
Es ist eine der vielen Verrücktheiten in der Psychiatrie, dass
die Grundannahme, die therapeutische Beziehung sei ein
bedeutender Faktor in der psychiatrischen Behandlung, von
den Mitarbeitern, die mit den Patienten unmittelbar arbeiten, vertreten und gelebt wird, während mit zunehmendem
Abstand vom Patientenkontakt diese Erfahrung immer mehr
»vergessen« wird, schlussendlich so gründlich, dass sie als
Wissensstoff in den Lehrbüchern der Psychiatrie kaum noch
auftaucht. Je seltener der Patientenkontakt, umso geringer
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
das Ansehen der therapeutischen Beziehung und umso größer
die Entwertung der direkten Arbeit mit den Patienten. Um
eine spezifische Herausforderung tagesklinischer Arbeit zur
Darstellung zu bringen, wird der Umweg, den ich dem Leser
zumuten werde, doch recht beachtlich sein.
Das klinische Modell, das ich zum Vergleich mit der tagesklinischen Arbeit heranziehe, ist die »Soteria« in Bern,
eine milieutherapeutische Einrichtung, die ich über Jahre
als Oberarzt geleitet habe, ein Modellprojekt, in dem junge Schizophrene allein beziehungstherapeutisch behandelt
wurden, geleitet von dem Gedanken ihres Gründers Luc
Ciompi, der die Behandlung von schizophrenen Patienten
in der Soteria mit dem Eingehen einer Mutter auf ihr aus
einem Albtraum erwachtes und danach immer noch verstörtes Kind verglich. Entgegen der Erwartung der an diesem
Forschungsprojekt Beteiligten erwies es sich nicht als die
schwierigste Aufgabe, die floride Psychose zurückzudrängen, sondern die Wiedereingliederung am sozialen Ort der
Patienten, verbunden mit der Ablösung von der Soteria und
den Betreuern, diese Schritte stellten die höchste Hürde dar.
Ein Beispiel zur Veranschaulichung: eine junge Patientin,
ich nenne sie hier Verena, s’Vreni, wie es auf Berndütsch
heißt, s’Vreni hatte sich nach anfänglichem Sträuben sehr
auf die Beziehung zu den Betreuern eingelassen hatte, und
es fiel ihr dann recht schwer, die entscheidenden Schritte
weg von den Betreuern zu tun, was ihr aber dann doch zusehends gelang, nachdem sie sich eine Ratte zugelegt hatte,
die sie ständig an ihrem Körper trug und die in ihren weiten
Kleidern verschwand und da und dort, am Kragen oder
an den Ärmeln oder auch an anderen Orten, überraschend
auftauchte, ein merkwürdiges Tier, das dazu beitrug, dass
auch wir im Betreuerteam als Erste eine etwas deutlicher
markierte emotionale Distanz zu Vreni einnahmen, allein
schon deshalb, weil sich der eine oder andere vor der Ratte
ekelte. Es war ganz offensichtlich, dass für Vreni die Ratte
eine ähnliche Funktion hatte wie ein Stofftier, beispielsweise
ein Teddy für ein Kind, das sich darüber über das Alleinsein
und die Trennung von der Mutter hinwegtröstet. Objekte,
die eine solche Funktion übernehmen können, nennt man
Übergangsobjekte, eine Bezeichnung, die auf den englischen
Kinderarzt und Psychoanalytiker R. D. Winnicott zurückgeht. Für Vreni war also Omega, so hieß die Ratte, ein solches Übergangsobjekt, das aber dann doch nicht hinreichend
stützend für eine weitergehende Autonomie war, was wir
daran erkannten, dass Vreni die Soteria erst dann verließ,
als sie eine kleine Wohnung fand, die der Soteria schräg
gegenüber lag und von der aus sie ohne Schwierigkeit in unser gemeinsames Esszimmer blicken konnte. Rückblickend
war zu erkennen, dass das Konzept der Soteria aufgegangen
war, psychotische Ängste über eine stützende betreuerische
Begleitung aufzufangen, dass wir aber unterschätzt hatten,
welch große Bedeutung die Betreuer und auch das Haus als
Symbol für die Gemeinschaft gerade dann bekamen, wenn
dieses Konzept tatsächlich funktionierte – der Patient muss-
13
14
Maier: Die Forderung tagesklinischer Arbeit
te sich schließlich wieder aus diesem Beziehungsgeflecht
lösen, als Entwicklungsschritt die Neuauflage einer frühen
lebensgeschichtlichen Erfahrung, die mit großen Ängsten
und schmerzlichen Gefühlen verbunden ist, aber auch mit
der Chance auf eine tief greifende korrigierende emotionale
Erfahrung – Trennung als Aufgabe und Entwicklungsmöglichkeit.
Warum trennt man sich? Schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, die erlebnismäßigen Voraussetzungen einer Trennung
kurz und bündig darzustellen, diese hochkomplexe emotionale
Gemengenlage auf einen Nenner zu bringen, jedoch ist der
Versuch einer verallgemeinernden Darstellung für die Zwecke
dieses Aufsatzes unumgänglich. Am ehesten passt, dass derjenige, der sich trennt, in einer bestimmten Beziehungskonstellation nicht mehr die Zufriedenheit findet (oder nicht mehr
zu finden meint), die er für sich als notwendig erachtet. Oder
auch: man trennt sich, erstens wenn eine Beziehung in ihren
Gesamtbedingungen, ihrer Konstellation oder eine identifizierbare Lebenssituation als unbefriedigend erlebt wird, über
eine geraume Zeit hin, bis schließlich die Hoffnung erlischt,
die wesentlichen Bedingungen könnten sich doch noch zum
Besseren wenden, oder zweitens, man trennt sich dann, wenn
das, was man in einer Beziehung erhält, mit zu viel Schmerz
und dem Auf-sich-Nehmen von Unlust erkauft werden muss.
Trennungswünsche treten also dann auf, wenn man das, was
man in einer Beziehung oder einer Lebenssituation erhofft
hat, nicht mehr zu finden hofft, wenn man realisiert, dass
man einer Täuschung aufgesessen war oder ist, man wird
»ent-täuscht« und die Anerkennung der Enttäuschungen ruft
die Trennungswünsche wach.
Was aber hindert einen, sich zu trennen? Die Angst, man
könnte etwas ganz Wichtiges verlieren, einen nahestehenden
Menschen beispielsweise oder etwas anderes Bedeutsames,
z. B. die soziale Stellung, und wäre dann – in der einen oder
anderen Weise – auf sich alleine gestellt. Trennungsangst war
es auch, die Vreni bedrängte, ihr zu schaffen machte, eine
Angst, die sie auch mittels Omega in Zaum zu halten und
zu bewältigen versuchte, auch darüber, dass sie sich ihrer
Fortschritte immer sicherer wurde, eine Angst, die aber noch
lange Zeit weiterhin so stark war, dass sie den Blickkontakt
mit der Soteria benötigte. Die Fähigkeit, sich zu trennen,
hängt folglich damit zusammen, inwieweit die Angst, alleine zu sein und aus einer bedeutsamen Beziehungserfahrung
ausgeschlossen zu sein, ertragen werden kann.
Dieses Beispiel aus ferner Zeit zeigt, wie sehr sich lebensgeschichtlich frühe Ängste und ehemals kindliche Gefühle auch
in den Beziehungen zu Mitarbeitern einer psychiatrischen
Einrichtung und eben auch zu der Einrichtung als solcher
entfalten – Letzteres gerade dann, wenn die emotionale Abhängigkeit zu einem Menschen als überaus Angst machend
erfahrend wird. Das Haus mit seinen Bewohnern, Betreuer wie Patienten, die gesamte Soteria also, war zu einem
Übergangsobjekt geworden und hatte diese Funktion auch
noch, nachdem Vreni die Einrichtung verlassen hatte. Das
Beziehungsmuster folgt auch hier dem Modell der kindlichen
Entwicklung: Einerseits hatte die Soteria – und das war von
Anfang an Konzept gewesen – eine mütterlich beruhigende
Funktion, andererseits war eine erfolgreiche Behandlung der
schizophrenen Psychosen nur zu erreichen, wenn es gelang,
die Fähigkeiten der Patienten zu verbessern, sich zu trennen, ausgeschlossen zu sein, oder für sich alleine zu sein,
und nicht zuletzt: für sich zu sorgen. Es ging also darum,
Eigenständigkeit auf den unterschiedlichsten seelischen Funktionsebenen zu verbessern. Die Ausbildung dieser psychischen Fähigkeiten ist entwicklungspsychologisch späteren
Phasen der menschlichen Entwicklung zuzurechnen – also
eindeutig später zu orten als das von Ciompi konzipierte
Modell für die Soteria, das darauf beruht, dass der Patient
sich gleichsam in die Arme einer von einem wohlwollenden
Team vertretenen Einrichtung fallen lassen kann und sich
ihr vertrauensvoll überlässt, während aktive Bestrebungen,
die auf Eigenständigkeit abzielen, zurückgestellt werden. Im
Unterschied dazu ist Trennung nur unter der Voraussetzung
möglich, dass sich die intrapsychische Autonomie entfalten
kann, dass es zu einer Abgrenzung und zu einer Abwendung
des Subjekts kommt – entwicklungspsychologisch, in der frühen Kindheit, zu einer Loslösung von der Mutter, später, in
der zweiten entwicklungspsychologischen Chance der Adoleszenz, zu deren Ende hin, zu einer schrittweisen Ablösung
von der Familie, und unter den Bedingungen psychiatrischer
oder auch psychotherapeutischer Behandlungen, zu einer
Abwendung von der Institution.
Aber diese Formen von Trennung, die entwicklungspsychologischen und die therapeutischen, folgen nicht einem
linearen Modell, sondern sie resultieren aus komplexen Vorgängen von Differenzierung, Distanzierung, Wiederannäherung, erneuter Abwendung und so fort, ein zwischen diesen
Bewegungen oszillierender Prozess, der gekennzeichnet ist
durch Ängste, hohe Ambivalenz, Trennungskämpfe, sich
hochschaukelnde Aggressionen bis hin zu schier unerträglicher Feindseligkeit – Eltern mit Erfahrung aus den trotzigen
Autonomiekämpfen kleiner wie adoleszenter Kinder werden
das bestätigen, ebenso Mitarbeiter psychiatrischer Institutionen, und gerade die Mitarbeiter tagesklinischer Einrichtungen, denn dort in der Tagesklinik spielt sich täglich ab,
was Entwicklungspsychologen für die frühe menschliche
Entwicklung beschrieben haben: »Es ist eine zwiespältige
Erfahrung von enormer Tragweite für die Entwicklung, wenn
das Kind beweist, dass es ohne die Mutter und doch nicht
ohne sie zurechtkommt, und die Mutter beweist, dass sie es
allein laufen lassen kann und doch nicht kann.« (Anthony
1971, in Mahler et al. 1975, S. 263)
Für den Patienten einer Tagesklinik besteht dann diese ganz
besondere Situation des Angewiesen-Seins auf eine psychiatrische Institution, verbunden mit dem Anspruch, den größten Teil eines Tages dann doch alleine zu meistern, diese ganz
spezielle Behandlungskonstellation schafft eine höchst schwierige affektive Gemengenlage, in denen Abhängigkeitswün-
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Maier: Die Forderung tagesklinischer Arbeit
sche mit Verlustängsten einerseits mit Ansprüchen, die den
Selbstwert stabilisierende Eigenständigkeit einfordern und
Ängste vor Abhängigkeit und Fremdkontrolle andererseits
derart aufeinanderprallen, dass die daraus ergebende erhöhte
Ambivalenzspannung sich regelhaft Ausdruck verschafft in
untergründigem Ressentiment und Entwertungen den Behandlern gegenüber, gelegentlich sogar in offener Ablehnung
oder auch Feindseligkeit. Konflikte um Abhängigkeit und
Autonomie werden in einem tagesklinischen Setting ständig
aktualisiert, weil sie über den täglichen Wechsel von Annäherung, Sich-Einlassen auf und Vertiefung von Beziehungen – zu Betreuern wie Mitpatienten – sowie Trennung und
Verlassenwerden immer wieder eine entsprechende Bühne
und damit die Gelegenheit zur Neuauflage finden. Inhaltlich
dominieren deshalb in der Supervision Themen um Verlust,
Trennung und Autonomie sowohl bei den Patienten wie in
den Teamgesprächen, und damit natürlich die daraus sich
ergebenden Probleme, denn es liegt auf der Hand: wer Angst
vor Trennung und Verlust hat, dem fällt es schwer, Grenzen
zu ziehen.
Um die ganz speziellen Anforderungen darzustellen, die
sich für die Menschen ergeben, die in einer tagesklinischen
Einrichtung arbeiten, werde ich ein letztes Mal nach Bern
zurückkehren. Dem damaligen Konzept entsprechend lebte
jeder Betreuer jeweils 48 Stunden am Stück mit den Patienten
zusammen in der Soteria. Wenn die Betreuer nach zwei Tagen
Dienst nach Hause gingen, zu Fuß den nicht allzu langen
Weg von der Soteria zum Hauptbahnhof zurücklegten, kam
ihnen nicht selten dieser Weg, die Strecke, die Häuser, ja sogar
die Menschen verändert vor, so als wäre das Bern, in das sie
wieder eintraten, nicht mehr das gleiche wie noch zwei Tage
zuvor. Dieses Erleben von Entfremdung, das sich meist am
Bahnhof verflüchtigte, ist ein psychopathologisches Phänomen, genannt Derealisation, das bekanntermaßen während
einer Psychose auftreten kann und das hier eine wesentliche
Facette der Beziehungsarbeit in der Soteria aufdeckte: die
Betreuer hatten, indem sie sich mit ihrer ganzen Person auf
die psychotischen Patienten eingelassen hatten, tatsächlich,
so wie von Ciompi gefordert, die unerträglichen Gefühlsinhalte, die den Patienten in die Psychose trieben, in sich aufgenommen, gleichsam aufgesogen, und diese psychosenahen
Gefühlserlebnisse tauchten auf, wenn bei einem Betreuer die
Entspannung eintrat, auf dem Weg in die Stadt, was dann
möglich war, weil er die Patienten in der Obhut seiner Kollegen wusste.
Über seelischen Kanäle, die noch auf keiner psychiatrischen
Landkarte eingetragen sind, weiße Flecken unseres Wissens
über die Möglichkeiten menschlicher Seelen zu kommunizieren und sich auszutauschen, verläuft all das, was man in der
Psychiatrie Beziehungsarbeit und darüber hinaus Psychotherapie nennt, alles professionelle Behandlungsmethoden, die
aber nicht ohne Auswirkung auf die Behandler und deren
Gesundheit bleiben. Aus meiner Supervisionstätigkeit mit in
eigener Praxis tätigen Psychiatern, Psychotherapeuten und
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Psychoanalytikern weiß ich, dass nicht wenige der Kollegen
psychosomatisch oder anderweitig seelisch erkranken, und
zwar in einem Kontext, der die Schlussfolgerung nahelegt,
ihre berufliche Tätigkeit, die intensive Arbeit mit den Patienten sei zu einem nicht geringen Anteil daran beteiligt – ein
Sachverhalt, der meines Erachtens zu einer längst fälligen
Diskussion nötigt, die aber in institutionellem Rahmen wegen
versicherungs- und arbeitsrechtlicher Konsequenzen wahrscheinlich noch stärker tabuisiert ist.
Tagesklinik bedeutet für Patienten wie Betreuer tagtägliches
Aufeinanderzugehen und Sich-wieder-Trennen. In dieser Inszenierung von ständig wechselnder Nähe und Distanz liegt
die besondere Forderung, gleicht tagesklinische Arbeit einem
Tanz auf glattem Parkett – mit zahlreichen kritischen Stellen.
Je gefährdeter nämlich die innerseelische Autonomie eines
Patienten ist, je größer seine Angst vor Abhängigkeit, umso
stärker neigt ein solcher Patient dazu, das Abwesende, all das,
was sich außerhalb, oder besser noch fernab der Tagesklinik
befindet, als gut und ideal zu erleben, während Abwertung
und Ressentiment den anwesenden Betreuern vorbehalten
bleiben, eine Modus des Agierens und Erlebens, das Verlust- und Trennungsängste unter Kontrolle zu halten vermag.
Selbst wenn sie nicht auf die Betreuer gerichtet werden, so
touchieren die aus Autonomie-Abhängigkeits- oder Rivalitätskonflikten herrührenden aggressiven Spannungen die
Mitarbeiter. Hinzu kommt der Ärger, der Enttäuschungen,
vermeintlichen oder tatsächlichen, entstammt, die Patienten
in der Tagesklinik erleben. Die größte Enttäuschung ist die,
dass die Patienten in der Tagesklinik, wie in jeder anderen
Therapie auch, nicht das bekommen, was sie dem eigenen
Erleben nach dringend bräuchten – im besten Falle erhalten
sie nämlich nur ein gute Therapie, aber nicht das, was ihnen
das Leben vorenthält oder genommen hat.
Der psychiatrische Mitarbeiter einer Tagesklinik befindet
sich also in einem ständigen Spannungsfeld, in dem die aus
vielfältigen Quellen stammenden Ängste und aggressiven Regungen eine ständige untergründige Strömung bilden, eine
Gegebenheit, die sich im Stil des Umgangs miteinander niederschlägt, was sich auch in der Supervision immer wieder
aufs neue zeigt: als Konsequenz darauf, als Reaktion auf das
aggressive Spannungsfeld, gehen Mitarbeiter einer Tagesklinik besonders vorsichtig miteinander um, versichern sich
ständig ihrer gegenseitigen Loyalität, und das in einem noch
stärkeren Maße, als es sonst schon in psychiatrischen Einrichtungen üblich ist. Mir ist dieser Sachverhalt, der Hintergrund
von Schwierigkeiten, wie beispielsweise untereinander Kritik
zu üben und konsequenterweise auch einmal das Wagnis eines
Konflikts zu riskieren, erst nach mehreren Jahren Erfahrung
an verschiedenen tagesklinischen Einrichtungen aufgegangen. Bis dahin hatte ich mir dieses Phänomen, die fast schon
obligatorische aggressive Hemmung der in der Psychiatrie
Tätigen als Anpassungsvorgang erklärt, als Identifizierung mit
der Rolle des Helfers, und auch über eine Selektion durch die
Wahl des Berufs: nur wer andere Menschen verstehen und
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Maier: Die Forderung tagesklinischer Arbeit
sich in sie einfühlen will, wählt die Psychiatrie, Menschen
also, die das Miteinander dem Konkurrenzkampf vorziehen,
oft schon deshalb, weil es ihnen nicht liegt, die Ellenbogen
einzusetzen, Voraussetzungen, die, was ökonomischen Erfolg
oder Karriere angeht, meist wenig günstig sind. Aber auch
unter den Mitarbeitern in einer psychiatrischen Klinik gibt
es, was die Verarbeitung von Aggressionen betrifft, deutliche
Unterschiede, die sich überspitzt wie folgt formulieren lassen:
Je weiter entfernt ein Mitarbeiter von der direkten psychiatrischen Arbeit ist, je seltener seine Kontakte mit Patienten
sind, umso geringer ist seine Neigung zur Zurückhaltung, was
die äußere Konfliktbereitschaft angeht. In dieser Verteilung
schlägt sich nicht nur ein Selektionsvorgang nieder, sondern
sie ist auch Ausdruck einer der therapeutischen Tätigkeit
immanenten Notwendigkeit: wenn man zwangsläufig, um
beim Patienten Fortschritte zu ermöglichen, dessen Spannungen – zumindest partiell – teilt, so ist es umso wichtiger, dass
man sich im Team untereinander schont und sich nicht zu viel
an emotionalen Belastungen zumutet. Es hat ein paar Jahre
gedauert, bis ich begriffen hatte, wie sehr gerade die tagesklinische Arbeit auf das behutsame wechselseitige Eingehen
ihrer Mitarbeiter angewiesen ist. All das hatte der Erzähler des
Jesus-Touristen-Witzes bereits erkannt, wahrscheinlich ohne
von dieser Kenntnis gewusst zu haben, spricht der Witz doch
vom Leiden, das man auf sich nimmt, letztlich also vom Insich-Aufnehmen der seelischen Anspannungen anderer, eine
Aufgabe, manchmal vielleicht sogar ein Kreuz, das einem die
tagesklinische Arbeit aufbürdet – und wer wollte klagen oder
hätte gar die Zeit dazu?
Selbstverständlich karikiert die Bildersprache des Witzes
die Last der Verantwortung, die damals, kurz nach dem
Start der Tagesklinik, von den Mitarbeitern noch akzentuierter gespürt wurde, war ihnen doch der Vergleich mit
der vollstationären Arbeitsbelastung noch viel präsenter,
damit auch die Erinnerung an ein unbeschwerteres Verlassen
des Arbeitsplatzes, ganz ähnlich den Betreuern der Soteria,
während in der Tagesklinik die Mitarbeiter das Vertrauen
haben müssen, oft mit Sorgen und Bangen vermischt, ob der
Patient am nächsten Tag wieder erscheinen werde, ohne dass
etwas Besorgniserregendes, vielleicht gar noch Schlimmeres,
passierte – man lässt in der Tagesklinik den Patienten nach
Hause gehen, nicht selten im Bewusstsein, dass der Patient
bei Weitem noch nicht die Fähigkeit erworben hat, für sich
alleine zu sein. Die Konstellation des Ausgeschlossenseins
und die damit einhergehenden Gefühlserlebnisse von Hilflosigkeit und Ohnmacht erfassen nun die Mitarbeiter und der
optimale Funktionslevel des Teams vermeidet Überängstlichkeit und Sorglosigkeit, um die Trennungsproblematik
nicht weiter anzufachen, insgesamt ein abgestimmtes seelisches Funktionieren innerhalb eines menschlichen Netzwerks, dessen Basis das Team darstellt, komplexe Vorgänge,
die über Verinnerlichungsprozesse dazu führen, dass ein
Patient nun seinerseits Ausgeschlossensein, Trennung und
Verlust besser ertragen kann.
Wenn ständig von Trennung, Verlust, Ausgeschlossensein
und Autonomie die Rede ist, und von der Fähigkeit, alleine
zu sein, mag man sich fragen, ob hier nicht vielleicht eine
Überbewertung dieser seelischen Erfahrensmodi stattfinde.
Sicher, wenn wir den Blick über unsere westlichen Gesellschaften hinaus richten, beispielsweise auf traditionsgeleitete
Kulturen in Asien und Afrika, die wir aus eurozentristischer
Sicht als primitiver einschätzen, gesellschaftliche Gebilde,
die sich dadurch auszeichnen, dass die Sozialisation dort mit
der Trennungsangst des kleinen Kindes viel stärker arbeitet
oder gleichsam damit spielt, um den Zusammenhalt und das
Gemeinschaftsgefühl zu stärken, was für bäuerliche Gesellschaften durchaus sinnvoll ist, während in den Industriestaaten die Vereinzelung der Individuen deshalb so wichtig
ist, weil die Autonomie des Einzelnen die Voraussetzung für
besser und freier verschiebbare Arbeitskräfte darstellt. Weil
also die industrielle Gesellschaft die autonome Entwicklung
ihrer Mitglieder fordert, kommt den seelischen Prozessen
um Trennung und Verlusten in therapeutischen Bezügen
so große Bedeutung zu, zumal in einer durchschnittlichen
Industriestadt in Deutschland, mit einer Arbeitslosenquote,
die deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt.
Nun muss ich doch nochmals, allerdings ganz kurz nur,
thematisch in die Schweiz zurückgehen: Als ich vor über
30 Jahren meine erste Assistenzarztstelle in Graubünden
antrat, gab es in der gesamten Schweiz etwas über 9000
Arbeitslose, und dementsprechend spielte das Thema Arbeitslosigkeit während der Zeitspanne von 13 Jahren in
der Schweiz so gut wie keine Rolle. Nicht nur die sozialen
Bedingungen waren verschieden, auch die psychiatrischen
Krankheitsbilder haben sich seither verändert – die Schizophrenen waren anders, es gab noch typische Katatonien und
Hebephrenien, und zwar trotz der damals üblichen Hochdosierungsmode der Psychopharmaka, Bulimien waren selten, Borderline-Störung war als Diagnose unbekannt, und
ich wurde in einer Klinikkonferenz zurechtgewiesen, als ich
diesbezügliche diagnostische Überlegungen mit dem damals
gerade erschienenen Buch gleichen Namens von Kernberg
begründete. Damals gab es also die Diagnose nicht, aber es
gab, so glaube ich inzwischen, auch wirklich weniger Borderline-Patienten. Den Ritterschlag der Psychiatrie, die erste
und einzige professionelle Ohrfeige, gab mir eine alte Dame
aus Davos, zu der ich mich hinunterbeugte, nachdem sie
mich begrüßte hatte mit »Ah, der Herr Pfarrer ist auch wieder da!« Allgemein waren sonst aggressive Spannungen, vor
allem solche gegen Mitarbeiter, und Gewalt in den Kliniken
kaum ein Thema.
Wie verschieden sind doch die Probleme der Patienten heutiger Tageskliniken, wie häufig, ja nahezu regelmäßig, haben
diese Patienten Verluste erlitten, Trennungen, und wie oft
spielt dabei doch das Thema Arbeitslosigkeit oder die Angst
davor eine beherrschende Rolle. Sicher haben die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte die Konflikte um
Verlusterfahrungen und Ausgeschlossensein in einem nicht
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
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überschätzbarem Maße erhöht, und deshalb halte ich es nicht
für übertrieben zu behaupten, dass die Tagesklinik und ihre
Mitarbeiter an einer Nahtstelle gesellschaftlicher Spannungen
tätig sind.
Ressourcenerhaltung
durch Supervision
Hans-Christoph Eichert
Literatur
Vor dem Hintergrund eines stress- und ressourcentheoretischen
MAHLER M, PINE F, BERGMAN A (1975) The psychological birth of
Modells wurde im Rahmen einer Studie mit zwei Messzeitpunkten
the human infant. Basis Books, New York.
untersucht, ob bei TeilnehmerInnen von Supervision Verbesserun-
PÜHL H (1998) Team-Supervision. Vandenhoeck & Ruprecht, Göt-
gen bei wahrgenommenen professionellen, sozialen und materiellen
tingen
Ressourcen und deren Nutzbarkeit zu beobachten sind, und ob diese
supervisionsformspezifisch unterschiedlich sind. Darüber hinaus wurde
Anschrift des Verfassers
untersucht, ob Veränderungen bei den wahrgenommenen Ressourcen
Dr. med. Christian Maier
mit Veränderungen bei wahrgenommener Kontrolle und Selbstwirk-
Gerhard-von-Are-Str. 4 – 6
samkeit sowie Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren kor-
53111 Bonn
reliert sind. Die Untersuchung wurde an MitarbeiternInnen (N = 451) in
der stationären Psychiatrie an zwei Messzeitpunkten im Abstand von
zehn Monaten durchgeführt. Während die Zusammenhänge zwischen
Ressourcen, Kontrolle/Selbstwirksamkeit sowie Arbeitszufriedenheitsund Gesundheitsindikatoren weitgehend bestätigt werden konnten,
konnten die meisten Hypothesen, die sich auf Verbesserungen von
wahrgenommenen Ressourcen in den Supervisionsgruppen beziehen, nicht bestätigt werden. Die Untersuchungsergebnisse legen aber
mögliche kompensatorische Effekte nahe. Es konnte gezeigt werden,
dass es in einigen Ressourcenbereichen nur in der Nicht-Supervisionsgruppe zu Verschlechterungen gekommen ist, obwohl sich die
Bewertung der Arbeitsbedingungen in allen Gruppen verschlechterte.
Möglicherweise muss man von verschiedenen »Effektstufen« von
Supervision ausgehen. Demnach sind zunächst kurzfristige Effekte
bei »daily hassels« vorrangig, die langfristig zur Stabilisierung von
Ressourcen beitragen.
Einleitung
Gerade in Zusammenhang mit der zunehmenden Verknappung personeller und finanzieller Ressourcen (vgl. Boessenecker et al. 2000, Eichert 2003 d) kommt Supervision, wie
sie in der ambulanten und stationären Psychiatrie ohnehin
schon seit Jahren ein fast selbstverständlicher Teil der Arbeit
ist, eine zunehmende Bedeutung zu. Mit der Vielzahl ihrer
möglichen Funktionen (emotionale Entlastung, prozessorientierte Beratung, Fortbildungsfunktion, Optimierung von
Kooperationsstrukturen, vgl. Petzold 1998, Holloway 1998)
wächst aber gleichzeitig die Gefahr ihrer Überfrachtung mit
unrealistischen Erwartungen. Bisweilen droht Supervision zu
einem Feigenblatt zu werden, mit dem organisatorischer Mängel kaschiert werden sollen, die eigentlich an anderer Stelle
und durch andere Maßnahmen (Verbesserung der finanziellen
bzw. personellen Situation) behoben werden müssten.
Angesichts der sich verändernden Rahmenbedingungen ergibt sich für die Supervisionspraxis wie auch für die Supervisionsforschung die Notwendigkeit der konzeptuellen Differenzierung und Weiterentwicklung. Nach dem aktuellen
Forschungsstand kann man zwar davon ausgehen, dass Supervision arbeitsfeldübergreifend von den Supervisanden als
hilfreich erlebt wird (vgl. Petzold et al. 2003, Gottfried et al.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
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Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision
2003, Eichert 2005). Kritisch anzumerken ist aber zu weiten
Teilen der bisherigen Supervisionsforschung ihre weitgehende
Theorielosigkeit sowie ihre Fixierung auf die Untersuchung
wahrgenommener Supervisionseffekte im Rahmen einfacher
Querschnittsdesigns. Beides wird der Komplexität des Gegenstandes »Supervision« nicht gerecht.
Vielmehr muss die Frage lauten: Welche Supervisionsart kann
unter welchen Bedingungen in welchen Bereichen zu welchen
Veränderungen oder Effekten beitragen?
Vor dem Hintergrund einer Untersuchung zur Supervision
in der ambulanten Psychiatrie (Eichert 2005) wurde in der
vorliegenden Untersuchung die Frage untersucht, ob unterschiedliche Supervisionsformen zu spezifischen Effekten auf
die wahrgenommenen berufsrelevanten Ressourcen (professionelle, soziale und materielle Ressourcen) beitragen und ob
solche Effekte in Zusammenhang stehen mit Veränderungen
bei Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren. Im
Gegensatz zur Vorläuferuntersuchung sollte diese Frage anhand eines Designs mit mehreren Messzeitpunkten untersucht
werden.
Damit stand nicht die Frage nach wahrgenommenen Veränderungen durch Supervision im Zentrum, sondern die
Frage, ob Veränderungen bei den wahrgenommenen Ressourcen zwischen zwei Messzeitpunkten zu verzeichnen
sind und ob diese supervisionsartspezifisch unterschiedlich
sind.
Stress, Ressourcen und Supervision
Den allgemeinen theoretischen Hintergrund der Untersuchung bilden stress- und ressourcentheoretische Überlegungen (Lazarus 1978, Hobfoll 1988, Antonovsky 1991). Das
transaktionale Stressmodell von Lazarus in seiner revidierten
Form definiert Stress als »jedes Ereignis, in dem innere oder
äußere Anforderungen (oder beide) die Anpassungsfähigkeit
eines Individuums, eines sozialen Systems oder eines organischen Systems beanspruchen oder übersteigen« (Lazarus &
Launier 1981, 226).
Im Rahmen des primary appraisal (nach Schwarzer 2000:
Situationsmodell) wird die Bedeutsamkeit jeder Person-Umwelt-Transaktion überprüft und hinsichtlich der Kategorien
irrelevant, positiv oder stressrelevant eingestuft. Stressrelevante Bewertungen werden weiter differenziert nach den Kategorien Schädigung/Verlust, Bedrohung und Herausforderung.
In Zusammenhang mit der vorliegenden Fragestellung geht
es in erster Linie um Anforderungen und Belastungen aus
der Arbeitssituation.
Das secondary appraisal (nach Schwarzer 2000: Selbstmodell)
dient der Bewertung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten
und der Auswahl einer Bewältigungsstrategie. Das Selbstmodell ist damit eng verbunden mit der Wahrnehmung und Bewertung der zur Verfügung stehenden relevanten Ressourcen.
Ressourcen sind materielle oder mentale eigene oder fremde
Mittel, die einer Person zur Verfügung stehen und die bei der
Bewältigung von Anforderungen eingesetzt werden können.
(Eichert 2005, 288) Ihre Bedeutung ist kontext-, bereichsund erfahrungsspezifisch unterschiedlich.
In dem hier untersuchten Bereich der beruflichen Belastungen bei Beschäftigten in der stationären Psychiatrie sind neben personalen und materiellen insbesondere professionelle
Ressourcen (Fachkompetenz, Feldkompetenz, Sicherheit,
Wahrnehmungsfähigkeit, berufliche Fertigkeiten, Handlungsund Entscheidungsmöglichkeiten, Abgrenzungsfähigkeit und
Einfühlungsvermögen) und soziale Ressourcen (Information,
praktische und emotionale Unterstützung durch Kollegen und
Vorgesetzte) und ihre Nutzbarkeit bedeutsam (vgl. hierzu
Gottfried et al. 2003, Eichert 2005).
Vom Ausmaß der wahrgenommenen Ressourcen und ihrer
Nutzbarkeit ist das Ausmaß der wahrgenommenen Kontrolle
und Selbstwirksamkeit gegenüber Belastungen abhängig, was
sich wiederum über das jeweilige Bewältigungsverhalten auf
Arbeitszufriedenheit und Gesundheit auswirkt: Ein hohes
Maß an Belastungen aus der Arbeitssituation kann bei einem
gleichzeitig geringen Maß an Ressourcen zu Beeinträchtigungen von Arbeitszufriedenheit und Gesundheit beitragen
(siehe Abbildung 1).
Die Grundannahmen des Modells in Bezug auf den Einfluss
von Supervision auf den Stressprozess lauten:
- Supervision kann den Stressprozess durch die Verbesserung
der professionellen, sozialen und materiellen Ressourcen
und ihrer Nutzbarkeit beeinflussen.
- Je nach Supervisionsart können unterschiedliche Ressourcenbereiche beeinflusst werden. Während (Berufs-)Gruppensupervision eher mit Veränderungen der professionellen Ressourcen einhergeht, geht Teamsupervision eher mit
Veränderungen der sozialen Ressourcen einher.
- Verbesserungen der Ressourcen und ihre Nutzbarkeit sind
mit höherer Kontrolle und Selbstwirksamkeit gegenüber
Belastungen aus der Arbeitssituation verbunden.
- Verbesserungen von Kontrolle und Selbstwirksamkeit
gegenüber Belastungen aus der Arbeitssituation sind mit
geringerer Belastetheit höherer Arbeitszufriedenheit und
besserer Gesundheit verbunden.
Untersuchungshypothesen
Vor dem Hintergrund des Modells wurden folgende Hypothesengruppen formuliert, die im Rahmen der Studie untersucht
wurden.
1. Supervisionsteilnehmer schätzen ihre berufsrelevanten
Ressourcen und deren Nutzbarkeit nach zehn Monaten Supervisionsteilnahme besser ein als vorher.
2. Bei Teilnehmern von Gruppensupervision ist die Vortest/
Nachtest-Differenz bei den wahrgenommenen professionellen
Ressourcen und deren Nutzbarkeit größer als bei den wahrgenommenen sozialen Ressourcen und deren Nutzbarkeit.
3. Bei Teilnehmern von Gruppensupervision ist die Vortest/
Nachtest-Differenz bei den wahrgenommenen professionellen
Ressourcen und deren Nutzbarkeit größer als bei Teilnehmern
von Teamsupervision.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision
Abb. 1: Modell der Untersuchung
4. Bei Teilnehmern von Teamsupervision ist die Vortest/Nachtest-Differenz bei den wahrgenommenen sozialen Ressourcen
und deren Nutzbarkeit größer als bei den wahrgenommenen
professionellen Ressourcen und deren Nutzbarkeit.
5. Bei Teilnehmern von Teamsupervision ist die Vortest/
Nachtest-Differenz der wahrgenommenen sozialen Ressourcen und deren Nutzbarkeit größer als bei Teilnehmern von
Gruppensupervision.
6. Veränderungen bei den wahrgenommenen Ressourcen und
deren Nutzbarkeit korrelieren positiv mit Veränderungen der
wahrgenommenen Kontrolle und Selbstwirksamkeit gegenüber beruflichen Belastungen.
7. Veränderungen bei der wahrgenommenen Kontrolle und
Selbstwirksamkeit gegenüber beruflichen Belastungen korrelieren positiv mit Veränderungen bei der Einschätzung der
gesundheitlichen Situation und der Arbeitszufriedenheit.
Untersuchungsmethodik
Die Untersuchung wurde als Fragebogenuntersuchung von
Supervisanden und Mitarbeitern im stationären psychiatrischen Bereich an zwei Messzeitpunkten durchgeführt. Die
erste Befragung wurde von März bis Dezember 2006 durchgeführt, die zweite Befragung folgte nach jeweils zehn Monaten.
Die Datenerhebungsphase war mit dem Rücklauf der letzten
Fragebögen im November 2007 abgeschlossen.
Untersucht wurden drei Gruppen, die zwischen den Messzeitpunkten an Gruppensupervision, Teamsupervision bzw.
nicht an Supervision (Kontrollgruppe) teilnahmen (siehe
Abbildung 2):
Als abhängige Variablen wurden an beiden Messzeitpunkten die wahrgenommene (Nutzbarkeit) professioneller Ressourcen, wahrgenommene (Nutzbarkeit) soziale Ressourcen,
wahrgenommene (Nutzbarkeit) materielle Ressourcen, wahrgenommene Kontrolle, wahrgenommene Selbstwirksamkeit,
Arbeitszufriedenheit, sowie Belastetheits- und Gesundheitsindikatoren erhoben. Zusätzlich wurden Personen- und Ar-
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Abb. 2: Untersuchungsdesign
beitsplatzvariablen sowie die Einschätzung der Arbeitsbedingungen erhoben.
Als Erhebungsinstrument diente ein Fragebogen, der auf
einem von dem Autor für eine Vorläuferuntersuchung im
Bereich der ambulanten Psychiatrie entwickelten Fragebogen
basiert (Eichert 2005) und in den die Beschwerdenliste nach
Zerssen (1976) sowie der Kurzfragebogen zur Arbeitsanalyse
KFZA (Prümper et al. 1995) integriert waren.
Die Untersuchungsstichprobe setzte sich letztlich aus insgesamt 451 Personen aus 17 Einrichtungen und Kliniken in
Deutschland und in der Schweiz zusammen, von denen 147
Personen an beiden Befragungen teilnahmen. 213 Personen
beteiligten sich nur an Befragung 1,91 Personen beteiligten
sich nur an Befragung 2.
Ergebnisse der Untersuchung
Stichprobe – Arbeitssituation – Supervision
Merkmale der Befragten. Die Untersuchungsteilnehmer waren
überwiegend weiblich, das Durchschnittsalter betrug knapp
41 Jahre. Sie kamen zumeist aus medizinischen Berufen i. e. S.,
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wobei die Pflegeberufe mit einem Anteil von über 70 % dominierten. Ein hoher Anteil lebte in festen Partnerschaften,
knapp über 40 % hatten ein oder mehrere Kinder, nur wenige
Probanden waren alleinerziehend. Die meisten Probanden
hatten mittlere bis höhere Schulabschlüsse, bei den Berufsabschlüssen dominierten die Ausbildungsberufe.
Merkmale der Arbeitssituation. Die Teilnehmer der Untersuchung arbeiteten überwiegend in größeren Einrichtungen. Bei
den Arbeitsbereichen wurde die Allgemeine Psychiatrie am
häufigsten genannt, andere Arbeitsbereiche spielten eine kleinere Rolle. Mit durchschnittlich zwölf Jahren war die Dauer
der Betriebszugehörigkeit relativ hoch, was für die Psychiatrie
nicht untypisch ist. Etwa ein Viertel der Probanden waren
leitende Mitarbeiter, die durchschnittliche Teamgröße betrug
zwölf Personen. Wochenstundenanzahl und Überstundenanzahl bewegten sich mit durchschnittlich 36 bzw. 1,3 Stunden
in einem relativ normalen Ausmaß.
Supervisionsmerkmale. Diejenigen, die zwischen beiden Messzeitpunkten an Supervision teilgenommen haben, haben
durchschnittlich an sechs Sitzungen teilgenommen. Meist
dauerte eine Sitzung 90 Minuten, als Sitzungsfrequenz wurde
überwiegend ein monatlicher Anstand genannt, allerdings war
der Anteil derjenigen, die eine geringere Frequenz angaben,
mit über 30 % relativ hoch. Zum Zeitpunkt der Befragung
dauerte der Supervisionsprozess bei mehr als der Hälfte der
Supervisionsteilnehmer bereits länger als ein Jahr an. Von den
Supervisionsthemen bewerteten die Probanden insbesondere
die Themen Arbeit mit Klienten und Zusammenarbeit und
Konflikte im Team als bedeutsam.
über alle Gruppen. Allerdings zeigten sich auch deutliche
Unterschiede zwischen der Nicht-Supervisionsgruppe und
den Supervisionsgruppen: Bei der Nicht-Supervisionsgruppe
kam es in allen Ressourcenbereichen – insbesondere aber in
den Bereichen professionelle Ressourcen, Nutzbarkeit professionelle Ressourcen und Nutzbarkeit soziale Ressourcen – zu
einem Rückgang der Werte vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt, während bei beiden Supervisionsgruppen kaum
Veränderungen zwischen beiden Messzeitpunkten zu verzeichnen waren.
Gibt es Hinweise für supervisionsformspezifische Effekte?
Keine signifikanten Unterschiede erbrachte auch der Vergleich der Skalendifferenzen von professionellen Ressourcen
und sozialen Ressourcen bzw. Nutzbarkeit professioneller
Ressourcen und Nutzbarkeit sozialer Ressourcen innerhalb
jeder Supervisionsgruppe. Lediglich bei dem Item Nutzbarkeit
praktische Unterstützung Vorgesetzte zeigte sich ein Interaktionseffekt: Der Wert in der Teamsupervisionsgruppe stieg
an bei gleichzeitigem Rückgang in der Gruppensupervisionsgruppe.
Zusammenfassend zeigen die folgenden Grafiken die Mittelwerte der Ressourcenskalen der verschiedenen Untersuchungsgruppen im Zeitverlauf:
Hypothesenbezogene Ergebnisse
Bei der hypothesenbezogenen Auswertung wurden die Daten
daraufhin untersucht, ob sich die Ressourcenbewertungen
zwischen beiden Messzeitpunkten verändert haben und ob
Unterschiede zwischen den Untersuchungsgruppen bzw. innerhalb der Untersuchungsgruppen zwischen unterschiedlichen Ressourcenbereichen feststellbar sind. Darüber hinaus
wurden die Daten auf Zusammenhänge zwischen Veränderungen von Ressourcen, Kontrolle/Selbstwirksamkeit sowie
Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren hin untersucht. Außerdem wurden Unterschiede zwischen Veränderungen und wahrgenommenen Veränderungen sowie mögliche Einflüsse von Veränderungen der Arbeitsbedingungen in
den Blick genommen. In die Auswertung wurden nur solche
Personen einbezogen, bei denen für beide Messzeitpunkte
komplette Datensätze vorlagen (N = 126).
Gibt es Hinweise für Supervisionseffekte auf Ressourcen?
In den Auswertungen zeigte sich weder bei den RessourcenSkalen noch bei der Analyse der Einzelitems ein Anstieg der
Ressourcenbewertungen zwischen den Messzeitpunkten. Es
zeigte sich im Gegenteil insgesamt ein signifikanter Rückgang
in den Bereichen professionelle Ressourcen, Nutzbarkeit professionelle Ressourcen und Nutzbarkeit soziale Ressourcen
Abb. 3: Veränderungen professionelle Ressourcen
Abb. 4: Veränderungen Nutzbarkeit professionelle Ressourcen
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Abb. 5: Veränderungen soziale Ressourcen
Abb. 6: Veränderungen Nutzbarkeit soziale Ressourcen
Abb. 7: Veränderungen materielle Ressourcen
Abb. 8: Veränderungen Nutzbarkeit materielle Ressourcen
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Gibt es Zusammenhänge zwischen
Ressourcenveränderungen und Veränderungen
von Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren?
Die korrelationsstatistische Auswertung der Zusammenhänge zwischen den Ressourcendifferenzen einerseits und den
Vortest-Nachtestdifferenzen bei den Items Kontrolle und
Selbstwirksamkeit andererseits erbrachte durchweg signifikant
positive Korrelationen, wenn auch auf niedrigem Niveau. Offensichtlich sind Veränderungen bei den Ressourcen und ihrer
Nutzbarkeit mit Veränderungen bei der wahrgenommenen
Kontrolle und Selbstwirksamkeit einhergegangen.
Auch die Korrelationen zwischen Veränderungen bei Kontrolle
und allen Indikatoren für Arbeitszufriedenheit und Gesundheit
waren durchgängig signifikant. Zwischen Veränderungen der
wahrgenommenen Selbstwirksamkeit und Veränderungen bei
Arbeitszufriedenheit, allg. Gesundheitszustand, Nachgedanken
sowie Veränderungen bei psychosomatischen Beschwerden
zeigten sich ebenfalls signifikante Zusammenhänge. Somit
scheinen Veränderungen bei der Einschätzung von Kontrolle
und Selbstwirksamkeit mit Veränderungen bei den Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren einherzugehen.
Gibt es Unterschiede zwischen wahrgenommenen
Veränderungen und gemessenen Veränderungen?
Bei den in der zweiten Erhebung erfragten wahrgenommenen
Veränderungen von Ressourcen und deren Nutzbarkeit zeigten
sich interessanterweise bei fast allen Items positive Mittelwerte
(also eine wahrgenommene Verbesserung), obwohl bei allen
Items ein Rückgang der gemessenen Bewertung beim zweiten
Messzeitpunkt zu verzeichnen war. Die Korrelationsanalyse
von gemessenen Veränderungen und wahrgenommenen Veränderungen erbrachte zudem überwiegend signifikant positive
Zusammenhänge. Sowohl signifikante Korrelationen zwischen
wahrgenommenen und gemessenen Veränderungen als auch
signifikante Unterschiede zwischen den Mittelwerten zeigten
sich bei den Items Nutzbarkeit Feldkompetenz (RESS04),
Sicherheit (RESS05), berufliche Fertigkeiten (RESS09), Nutzbarkeit berufliche Fertigkeiten (RESS10) und Nutzbarkeit
Abgrenzungsfähigkeit (RESS14) (siehe Abbildung 9):
Offensichtlich besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen Veränderungen bei der Einschätzung von Ressourcen
und wahrgenommenen Veränderungen der Ressourcen, wobei Letztere – insbesondere in Bezug auf die professionellen
Ressourcen und deren Nutzbarkeit – positiver zu sein scheinen
als die gemessenen Veränderungen.
Welche Rolle spielen sich verändernde Arbeitsbedingungen?
Bei den KFZA-Skalen zur Erfassung der Arbeitsbedingungen
zeigte sich, dass über die Zeit hinweg der Wert für quantitative
Anforderungen in allen Gruppen angestiegen ist. Gleichzeitig
sanken die Werte für Handlungsspielraum, Information Mitarbeiter und betriebliche Leistungen zwischen den Messzeitpunkten. Offensichtlich bewerten die Probanden aller Gruppen ihre Arbeitssituation nach zehn Monaten schlechter:
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Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision
Abb. 9: Signifikante Unterschiede und signifikante
Korrelationen wahrgenommene Ressourcenveränderungen
und gemessene Ressourcenveränderungen
Abb. 10: Veränderungen quantitative Anforderungen
Abb. 11: Veränderungen Handlungsspielraum
Zusammenfassend kann man folgende wesentlichen Ergebnisse festhalten:
1. Die auf die Supervision bezogenen Hypothesen konnten
überwiegend nicht bestätigt werden. Es konnten weder allgemein noch supervisionsartspezifisch eine bessere Bewertung
berufsrelevanter Ressourcen und deren Nutzbarkeit nach zehn
Monaten Supervisionsteilnahme festgestellt werden.
2. Die Ressourcenbewertung ging allerdings nur in der NichtSupervisionsgruppe nach zehn Monaten zurück. In den Supervisionsgruppen ist sie dagegen unverändert geblieben.
3. Die Hypothesen bezüglich der angenommenen Zusammenhänge zwischen Veränderungen bei den Ressourcen und
deren Nutzbarkeit und Veränderungen bei wahrgenommener
Kontrolle und Selbstwirksamkeit sowie zwischen Veränderungen bei wahrgenommener Kontrolle und Selbstwirksamkeit
und Veränderungen bei den Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren konnten dagegen überwiegend bestätigt
werden. Veränderungen bei den berufsrelevanten Ressourcen korrelieren positiv mit Veränderungen bei Kontrolle und
Selbstwirksamkeit, die wiederum positiv korreliert sind mit
Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren.
4. Insbesondere im Bereich der professionellen Ressourcen
zeigte sich, dass die wahrgenommenen Veränderungen durchweg signifikant höher waren als die gemessenen Veränderungen der Ressourcenbewertung.
5. In allen Untersuchungsgruppen hat sich die Einschätzung
der Arbeitsbedingungen zwischen beiden Messzeitpunkten
signifikant verschlechtert.
Diskussion der Ergebnisse
Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass sich in den
Supervisionsgruppen die Ressourcenbewertung entgegen der
Erwartung zwischen beiden Messzeitpunkten weder allgemein
noch supervisionsformspezifisch verbessert hat. Die Zusammenhänge zwischen Ressourcen, Kontrolle/Selbstwirksamkeit und Arbeitszufriedenheits- und Gesundheitsindikatoren
konnten zwar bestätigt werden, die Supervision hat demnach
aber keinen Einfluss i. S. einer Verbesserung gehabt.
Dieses Ergebnis steht zunächst im Widerspruch zu den Ergebnissen anderer Untersuchungen, die positive Supervisionseffekte bzw. Supervisionsnutzen in verschiedenen Bereichen gefunden haben (vgl. Gottfried et al. 2003, Eichert
2005). Berücksichtigt man aber die Tatsache, dass auch in
der vorliegenden Untersuchung die wahrgenommenen Ressourcenveränderungen teils deutlich positiver waren als die
Veränderungen der gemessenen Ressourceneinschätzungen
zwischen den Messzeitpunkten, so wird deutlich, dass für
die unterschiedlichen Ergebnisse wohl die unterschiedlichen
Untersuchungsdesigns verantwortlich sind. In Querschnittsstudien, bei denen in der Regel nach wahrgenommenen Veränderungen gefragt wird, wird offensichtlich eine Tendenz
zur »positiven Abweichung« wirksam: Möglicherweise wird
die Wirkung von Supervision überschätzt.
Weiter ist für die Interpretation der Ergebnisse bedeutsam,
dass in der Nicht-Supervisionsgruppe die Werte in allen Ressourcenbereichen vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt zurückgingen, während sich in den beiden Supervisionsgruppen
die Werte kaum oder wenig veränderten. Dies trifft insbesondere auf die Skalen professionelle Ressourcen, Nutzbarkeit
professionelle Ressourcen und Nutzbarkeit soziale Ressourcen
zu. Gleichzeitig zeigte sich in allen Untersuchungsgruppen
eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen (Anstieg der
Quantitativen Arbeitsbelastung, Rückgang des Handlungsspielraums). Dies deutet darauf hin, dass Supervision zwar
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Eichert: Ressourcenerhaltung durch Supervision
nicht mit Ressourcenverbesserungen verbunden ist, aber
trotzdem präventive bzw. kompensatorische Effekte haben
kann. In diesem Sinne hätte sie eine ressourcenerhaltende
Funktion bei sich verschlechternden Arbeitsbedingungen.
Für die Supervisionspraxis bedeuten die Ergebnisse, dass
man möglicherweise von verschiedenen »Effekt-Stufen« von
Supervision ausgehen muss. Positive Supervisionseffekte sind
zunächst weniger im Bereich langfristiger Veränderungen als
vielmehr im kurzfristigen Bereich zu finden, wenn z. B. in einer
Fallbesprechung eine neue Perspektive auf komplexe Problemzusammenhänge eines Patienten eröffnet werden konnte
oder wenn Probleme im Team geklärt werden konnten, die die
Zusammenarbeit massiv behindert haben. Solche gelungenen
Supervisionssitzungen verändern die Arbeitssituation zwar
nicht grundsätzlich, sind aber möglicherweise kurzfristig sehr
entlastend. In gewisser Weise spiegelt sich dies auch in der
Bewertung der Supervisionsthemen wider, denn hier wurden
vor allem die Themenkreise Arbeit mit Klienten und Zusammenarbeit und Konflikte im Team als wichtig bewertet.
Wo aber im Rahmen von langfristiger Supervision die Möglichkeit besteht, solche beruflichen »daily hassles« (i. S. Lazarus & Folkman 1989) regelmäßig zu bearbeiten und zu klären,
scheinen auch langfristige Ressourcen-Effekte möglich zu
sein. Supervision scheint dann eine stabilisierende Funktion
einnehmen zu können, indem sie der Beschädigung professioneller und sozialer Ressourcen durch ungeklärte Probleme
und Konflikte vorbeugt. Vermittelt durch die Zusammenhänge von Ressourcen und Kontrolle/Selbstwirksamkeit könnte
sie dann auch einen positiven Einfluss auf Arbeitszufriedenheit
und gesundheitliches Wohlbefinden haben.
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24
Systemische Ansätze
im Geflecht von ambulanter
und stationärer Behandlung
bei Menschen mit Psychosen
Wolfgang Dillo, Anke Baumgarten und Susanne Steinmüller
Zum Einsatz systemischer Verfahren
in der Psychosentherapie
Beschäftigt man sich mit den verschiedenen Möglichkeiten,
die Schizophrenie zu behandeln auf wissenschaftlicher Ebene,
lässt sich ein Phänomen erkennen, dass offensichtlich das
Denken in unserer derzeitigen Wissenschaftskultur bestimmt.
Es findet sich eine kaum überschaubare Menge an Literatur
zur Pathogenese der Erkrankung, also zur Frage, warum jemand krank wird, aber kaum Literatur zur Salutogenese – also
zur Frage, warum ein Mensch gesund bleibt.
Interessant sind die Arbeiten von Tienari et al., der in Langzeitstudien das Schicksal von adoptierten Kindern untersucht
hat, die aufgrund einer schizophrenen Erkrankung ihrer leiblichen Eltern ein erhöhtes Erkrankungsrisiko aufweisen. Möglicherweise ohne es zu beabsichtigen, macht diese Arbeit sehr
eindrucksvoll Aussagen zu salutogenetischen Faktoren der
Psychose (Tienari et al. 2004). Diese Untersuchung kommt zu
dem Ergebnis, dass »genetisch belastete« Kinder ein erhöhtes
Risiko haben, an einer Schizophrenie zu erkranken in Abhängigkeit davon, ob in der Familie, in der sie aufwachsen, gesunde Strukturen herrschen oder nicht. Mit anderen Worten,
wenn ein Kind mit erkrankten Eltern das Glück hat, in einer
intakten Familie aufzuwachsen, ist das Risiko für das Kind,
krank zu werden, kaum höher als in der Normalbevölkerung.
Hat das Kind aber das Pech, in einer Familie mit gestörten Strukturen aufzuwachsen, ist das Risiko so hoch wie bei
nicht adoptierten Kindern. Hieraus lässt sich also eindeutig
folgern, dass intakte familiäre Strukturen gesundheitserhaltend in Bezug auf die Schizophrenie sind. Zur Beurteilung
der familiären Strukturen wurde eine Skala mit insgesamt
27 Items benutzt, die unter anderem das Konfliktverhalten
innerhalb der Familie, die Intensität von Affekten und die
hierarchischen Strukturen bewertet.
Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, bei der Behandlung
von schizophrenen Patienten eine Atmosphäre zu schaffen, in
der der Patient diese Strukturen im positiven Sinne erfährt. Das
Konzept besteht darin, dass die Behandlung gemeinsam von
einer Therapeutin und einem Therapeuten durchgeführt wird,
sodass der Patient die Möglichkeit hat, sich in der Übertragung
wie in einer Familie zu fühlen. Der Rahmen wird durch den
Patienten mitbestimmt. Es finden sowohl Einzelgespräche als
auch Gespräche mit beiden Therapeuten statt. Der Patient
kann Familienangehörige nach Wunsch in die Therapie mit
einbeziehen. Familiengespräche können ergänzend zu den ambulanten Einzelgesprächen erfolgen; ebenso ist es denkbar,
dass die Gespräche ausschließlich mit allen Beteiligten geführt
werden. Beide Therapeuten sind für den Patienten ansprechbar. Die Praxis zeigt, dass die Patienten die Therapeuten für
»unterschiedliche Zwecke« nutzen.
Ein Patient wendet sich beispielsweise immer an den Therapeuten, wenn er eine Krankschreibung für die Werkstatt
benötigt. Für Probleme in der Werkstatt spricht er jedoch
immer die Therapeutin an. Auch zu beobachten ist, dass
manche Patienten anfangen, zwischen den Therapeuten zu
»spalten«, indem sie sich zum Beispiel bei einem Therapeuten zuverlässig an Absprachen halten, während sie bei dem
anderen Termine unentschuldigt ausfallen lassen, oder bei
einem Konflikt den Therapeuten unterschiedliche, zum Teil
widersprechende Informationen zukommen lassen.
Im Therapiegespräch mit beiden Therapeuten, dem Patienten
und eventuell auch Angehörigen findet das Gespräch nicht nur
zwischen dem Therapeuten und dem Patienten statt. Häufiger
ergeben sich auch Situationen, in denen die Therapeuten
miteinander reden, auch über die Anwesenden, und diese
nur zuhören. Auch wechselnde Koalitionen sind möglich,
so kann der Patient mit einem Therapeuten gemeinsam eine
Meinung gegenüber dem anderen Therapeuten vertreten.
Wichtig ist uns bei all diesen Variationen, dass eine wohlwollende wertschätzende Atmosphäre herrscht. Aggressive
Affekte sind genauso erlaubt wie Freude und Zuneigung und
immer wieder gibt es auch Gelegenheit zu lachen.
Ein weiterer Grund für diese Art des familientherapeutischen
Setting liegt in der Vermutung, dass Psychosen häufig zu einem
Zeitpunkt beginnen, an dem die Betroffenen den Schutz der
Familie verlassen und außerfamiliäre Kontexte an Bedeutung
gewinnen, sei es beruflicher Art, sei es, dass sie auf der Beziehungsebene sexuelle Erfahrung machen oder auch den Umgang
mit Drogen erlernen (Retzer 2004, S. 95). In dem beschriebenen Rahmen ist es den Betroffenen möglich, Sicherheit zu
finden, ohne regressives Verhalten entwickeln zu müssen.
Neben der Behandlung im Therapeutenpaar beruht die Arbeit
auf Grundeinstellungen, wie sie im systemischen Arbeiten zur
Anwendung kommen. Gemeint sind zunächst nicht bestimmte Fragetechniken, sondern eine prinzipielle Einstellung zu
der Erkrankung und dem Therapieziel. Systemisches Arbeiten
ist keine Technik, sondern eine Haltung.
Im Weiteren soll keine Placebo-kontrollierte Studie vorgestellt, sondern der Frage nachgegangen werden, wie sich
systemische Ansätze hilfreich in die bestehende psychiatrische Versorgung integrieren lassen. Wir berichten über die
Erfahrungen aus der ambulanten Behandlung von inzwischen
zehn Patienten mit chronischen schizophrenen Verläufen im
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Dillo, Baumgarten, Steinmüller: Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer Behandlung bei Menschen mit Psychosen
Rahmen unserer psychiatrischen Poliklinik. Anhand von zwei
Falldarstellungen wird die Thematik praxisorientiert illustriert. Zunächst werden jedoch einige Grundhaltungen des
systemisch orientierten Arbeitens skizziert.
Ein wesentliches Element des systemischen Kommunikationsverhaltens ist die Neutralität. Sie lässt sich in drei Bereiche
unterteilen (Retzer 2004, S. 51):
1. Soziale Neutralität: Sich neutral in den Beziehungen zu dem
Patienten und seinen Angehörigen zeigen, keine Parteinahme,
Einladungen zu Koalitionen nicht annehmen (Ausnahme:
Gewaltsituationen!).
2. Konstruktneutralität: Einladungen zur positiven oder negativen Bewertung von Sichtweisen, Erklärungen, Bewertungen,
Lebensentwürfen und Weltbildern nicht annehmen.
3. Veränderungsneutralität: Sich neutral gegenüber dem Problem und der Lösung zeigen. Die Therapeuten sind sowohl
Anwalt der Veränderung als auch der Ambivalenz. Es muss
den Betroffenen ermöglicht werden, ohne Gesichtsverlust
und Scham auf bekannte Verhaltensmuster zurückgreifen
zu können.
Bleibt der Therapeut neutral, wird er nicht zum Mitspieler im
Patientensystem, eröffnet sich die Möglichkeit, wertschätzend
mit den bisher gewählten Lösungsmöglichkeiten umzugehen
(jeder hat gute Gründe für sein Verhalten). Diese Wertschätzung wirkt sich unmittelbar auf die Atmosphäre aus, in der
eine Behandlung stattfindet. Die Neutralität erhöht die Chance, verändernd wirken zu können.
Die Atmosphäre, in der eine Behandlung stattfindet, bestimmt
maßgeblich, ob die Betroffenen von unserer Behandlung profitieren können. Eine wertschätzende Sprache und Wortwahl
ist von besonderer Bedeutung, da sie unter anderem die Leistung des Patienten anerkennt, sich mit seiner Erkrankung zu
arrangieren. Ein Verhalten des Patienten, das einem scheinbaren Fortschritt in der Therapie zuwiderläuft, wird häufig
als Abwehr interpretiert, mit der Folge, dass der Therapeut
diese Abwehr zu durchbrechen versucht. Wertschätzend ist
es möglich, die Abwehr als eine Leistung anzuerkennen, bei
der der Patient intuitiv spürt, dass er sich schützen muss
und hierfür funktionierende Strategien entwickelt hat. Die
neutrale Haltung des Therapeuten lässt den Patienten selbst
entscheiden, ob der Zeitpunkt bereits gekommen ist, zu dem
er auf diesen Schutz verzichten kann, oder nicht.
Neben einer wertschätzenden Sprache sollte die gewählte
Sprache eine Atmosphäre erzeugen, die fest definierte Zustände aufweicht und verflüssigt. Auf die Frage, was der Grund
für einen Behandlungswunsch sei, antworten viele Patienten
spontan: »Ich bin schizophren«, womit sie signalisieren, dass
sie sich mittlerweile mit ihrer Erkrankung identifizieren. Im
Gegenzug lässt sich signalisieren, dass man das Gefühl hat,
das Gegenüber leide zur Zeit noch an Symptomen, wie sie
bei einer Schizophrenie vorkommen oder die Person zeige
schizophrenes Verhalten.
Im Gesundheitswesen ist man es gewohnt, vorwiegend in
Form von Störungsbildern zu denken. Dieses Denken ist sinn-
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voll als Grundlage zur Weiterentwicklung von Forschung und
Therapie (von Schlippe & Schweitzer 2006, S.12). Die systemische Therapie bietet eine andere Sicht auf die Erkrankung,
sie versteht Gesundheitsstörungen als Teil schwieriger Lebenslagen und zwischenmenschlicher Beziehungen. So kann
eine Erkrankung – ein Symptom – als ein Lösungsversuch
eines ansonsten unlösbaren Problems verstanden werden.
Trifft dieses Verständnis beim Patienten auf Resonanz, wird
es ihm möglich, sich der Erkrankung nicht mehr ohnmächtig
gegenüber zu sehen und aktiv anderen Lösungsmöglichkeiten
auf die Spur zu kommen.
Chronisch erkrankte Patienten sind es häufig gewohnt, von
ihrer Krankheit zu erzählen, und wenn sie schon öfter Kontakt mit psychiatrischen Einrichtungen hatten, sind sie oft in
der Lage, eigene Theorien über ihre Erkrankungsursachen
zu entwickeln. Meistens stehen sie aber recht hilflos vor der
Frage, wie dieses Wissen zur Lösung ihres Problems beitragen
könnte. Das Diskutieren eines Problems und dessen Analyse scheint eine Faszination auszulösen, der man nur allzu
leicht verfällt, ohne dass dadurch konstruktive Lösungsansätze entstehen. In der systemischen Behandlung wird daher
konsequent versucht, sich der Analyse der Lösung zuzuwenden und der Problemanalyse nur wenig Raum zu geben (von
Schlippe & Schweitzer 1996, S. 108).
Systeme existieren nicht an sich, sondern sind vor allem eine
Beobachterleistung, das heißt, der Therapeut muss verantwortungsvoll entscheiden, wie eng oder wie weit er schaut.
Jeder Mensch bewegt sich in einem Beziehungsgeflecht sozialer Systeme. Systeme haben ein »Innen« und ein »Außen«
(von Schlippe & Schweitzer 1996, S. 54). Menschen entwickeln innerhalb eines Systems eine innere Ordnung, sodass
das Verhalten von einem inneren Regelsystem geleitet wird.
Handlungen von Systemmitgliedern bedingen sich wechselseitig. In dem Gefüge der Wechselwirkungen hat jede Handlung
auch eine Auswirkung auf das Gesamtsystem und eine Rückwirkung auf den Handelnden selbst. Systemisch betrachtet ist
ein Problem die Folge einer Verkettung von Umständen in
dem Beziehungsgeflecht. Wird beobachtet, das »etwas nicht
in Ordnung ist«, verengt sich die kollektive Aufmerksamkeit
darauf. Ein Problem kann so Inhalt und Mittelpunkt von
Beziehungen werden und auch Schuldzuweisungen zur Folge
haben. In Systemen kann ein Verhalten entstehen, das ein
Problem stabilisiert, sodass keine Lösungen mehr gefunden
werden. Ziel der systemischen Herangehensweise ist, den
Handlungsspielraum der Betroffenen wieder zu erhöhen, etwas Erstarrtes wieder zu verflüssigen.
Führt man Gespräche als Therapeutenpaar, bietet sich eine
weitere systemische Methode an, das sogenannte »Tratschen in Anwesenheit«. Im Beisein der Betroffenen findet
die Kommunikation – wie eingangs erwähnt – nicht nur zwischen Therapeuten und Betroffenen statt, sondern es besteht
auch die Möglichkeit, dass sich die Therapeuten miteinander unterhalten. Davon ausgehend, dass sich die Patienten
viele Gedanken darüber machen, was die Therapeuten über
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Dillo, Baumgarten, Steinmüller: Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer Behandlung bei Menschen mit Psychosen
sie denken, werden sie an deren Gedanken beteiligt. Diese
Transparenz verhilft dem Patienten zu mehr Sicherheit, weil
er darüber informiert wird, wie sein Verhalten vom Gegenüber aufgenommen wird. Hilfreich ist diese Methode auch,
wenn deutlich wird, dass der Patient noch nicht in der Lage
ist, seine eigenen Gefühle auszudrücken. Diese können, als
Hypothese formuliert, zur Sprache gebracht werden, ohne
den Patienten direkt zu konfrontieren. Voraussetzung ist, dass
dies in einer wertschätzenden Sprache geschieht. So wird
es für den Patienten leichter, das Gesagte, das er für sich
passend empfindet, anzunehmen. Genauso gut kann er das
Gehörte ablehnen, ohne deswegen in eine Konfrontation mit
den Therapeuten zu geraten.
Kasuistik 1 (Herr L., 29 Jahre)
Vorgeschichte: Erstmalig wird Herr L. im Alter von 16 Jahren
stationär in die Kinder- und Jugendpsychiatrie wegen einer
akuten psychotischen Symptomatik aufgenommen. Die Behandlung mit verschiedenen Neuroleptika ist zunächst wenig
erfolgreich. Die Entlassung erfolgt nach zwölf Monaten, wobei
zum Entlassungszeitpunkt keine Symptomfreiheit erreicht
ist. In den folgenden Jahren kommt es zu weiteren stationären Aufenthalten. 2005 erkrankt die Mutter schwer und
verstirbt ein halbes Jahr später an der Krebserkrankung. In
diesem Zusammenhang kommt es bei Herrn L. erneut zu
einer schweren Psychose. Nach fast einjährigem Aufenthalt
wird uns der Patient von der Rehabilitationsstation in unserem Haus zugewiesen. Der Patient lebte bis dahin mit seinem
Vater, der sich während der gesamten Zeit intensiv und fürsorglich kümmerte, in einem Haushalt. Herr L. stabilisierte
sich während der stationären Behandlung nur sehr langsam.
Bei Entlassung war er noch erheblich beeinträchtigt von psychotischem Erleben. Zu der empfohlenen Aufnahme in ein
psychiatrisches Wohnheim konnte er sich nicht entschließen,
ließ sich jedoch auf eine Anmeldung in einer Tagesstätte ein
und wurde in den Haushalt des Vaters entlassen. Es bestand
die deutliche Sorge der Station, dass Herr L. bald wieder
stationär aufgenommen werden müsse.
Der Patient nahm zu Beginn engmaschig wöchentliche Einzelgespräche wahr, die eine medikamentöse Behandlung integrieren. Darüber hinaus erfolgten seither zwei- bis dreimal
im Quartal gemeinsame Gespräche mit Sohn und Vater.
Rasch bildete sich die Hypothese ab, dass sich Sohn und Vater
nach dem Tod der Mutter in Beziehungsmustern verhalten
und kommunizieren, in der jede Veränderung von einem sich
unmittelbar auf den anderen auswirken muss. Auch wenn
es den Vater natürlich freute, stellte ein Symptomrückgang
beim Sohn zeitgleich eine Bedrohung für den Vater dar. Je
selbstständiger der Sohn wurde, umso weniger benötigte er
die Unterstützung des Vaters, der sich dadurch wieder mehr
seiner eigenen Trauer um die Ehefrau und den Lücken in seinem Leben stellten musste. Zugleich geriet der Sohn dadurch
in Loyalitätskonflikte. So mag es auch zu verstehen sein, dass
der Vater den Sohn in den ersten Monaten täglich mit dem
Auto zur Tagesstätte fuhr. Der Sohn nahm dies gern an, blieb
u. a. dadurch jedoch in einer unselbstständigen Haltung.
Die neutrale Sicht auf die Erkrankung war für Sohn und
Vater zunächst irritierend. Ihre Erwartungshaltung, dass die
Therapie weiter darauf ausgerichtet sei, den Sohn zu mehr
Selbstständigkeit zu verhelfen und einen Auszug aus dem
elterlichen Haushalt herbeizuführen, erfüllte sich nicht, löste
große Verwirrung aus und führte fast zum Therapieabbruch.
Obwohl der Vater es nicht wünschte, erwartete er dennoch,
dass die Therapeuten darauf aus waren, den Sohn zu einem
Umzug in ein psychiatrisches Wohnheim zu bewegen. In den
folgenden Sitzungen erfolgte dann eine »Auftragsklärung«.
Dass die Behandlung nicht das unmittelbare Ziel hat, die
Psychose zu beseitigen, war für Vater und Sohn zunächst
befremdlich. Es gelang ihnen aber, die Psychose als eine Möglichkeit zu verstehen, mit den Belastungen und der noch nicht
verarbeiteten Trauer umzugehen. Gleichzeitig half Herrn L.
der Gedanke, der Psychose nicht ausgeliefert zu sein, sondern
mitbestimmen zu können, aus seiner inneren Isolation und
stärkte ihn darin, wieder mehr zu sprechen. In der Anfangssituation war Herr L. einsilbig, konnte kaum einen eigenen
Wunsch formulieren und war meist darum bemüht, es seinem
Gegenüber recht zu machen.
Menschen, die an einer Psychose erkranken, sind mit inneren
Prozessen beschäftigt und fallen häufig aus einer vernünftigen Kommunikation heraus. Es wird mehr über sie, als mit
ihnen gesprochen. In der Folge wird auch stellvertretend für
sie gehandelt. Eine Strategie ist auch das Schweigen oder
Verschweigen. Wenn der Patient nicht als Opfer, sondern
als aktiver Mitgestalter dieses Exkommunkationsverfahrens
(Retzer 2004, S. 96) verstanden wird, ist bereits ein erster
Schritt getan, den Prozess aufzuhalten oder rückgängig zu
machen. Ausgiebiges Sprechen mit dem Patienten im Beisein
der Angehörigen, die Beharrlichkeit, ihn nicht zu rasch aus
der Kommunikation zu entlassen und ihn gar zur Kommunikation zu verführen, trägt erheblich zur Wiedereinführung in
die Kommunikation bei. Hilfreich ist es, das Gesagte nicht zu
schnell und einfühlend zu verstehen, sondern ihm respektvoll
zu begegnen, indem auch das Nicht-Verstehen mitgeteilt wird.
Der Vater sprach in Gegenwart des Sohnes meist über ihn
(Exkommunikation), nicht mit ihm. Mit dem zunehmenden
Sprechen erlebte Herr L. sich wieder eigenständiger und übernahm damit mehr Verantwortung für sich selbst. Eine weitere
Möglichkeit, die Wiedereinführung in die Kommunikation zu
begünstigen, ist es, den Patienten zu einer Metakommunikation einzuladen. Indem gefragt wird: »Meinen Sie, wir sind
Ihrem Ziel schon nähergekommen?« oder »Läuft das Gespräch
in eine nützliche Richtung?«, wird der Betroffene Mitgestalter
des Behandlungsprozesses.
Nach eineinhalb Jahren ambulanter Therapie lässt sich ein
kontinuierlicher Aufwärtstrend beobachten. Seit ca. einem
Jahr sind keine wahnhaften Symptome mehr zu erkennen.
Herr L. kann seine wahnhaften Ideen mittlerweile selbst reflektieren und berichtet manchmal, Gedanken zu haben, die
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Dillo, Baumgarten, Steinmüller: Systemische Ansätze im Geflecht von ambulanter und stationärer Behandlung bei Menschen mit Psychosen
»wie früher seien«, wie auch zum Todestag der Mutter. Die
Gedanken verschwanden, als er den Tag aktiv mit seinem
Vater gestaltete. In den Familiengesprächen erhielt der Vater
Raum, sich über eigene Aktivitäten unabhängig vom Sohn
Gedanken zu machen. So erhielt Herr L. die »Erlaubnis«
des Vaters, wieder selbstbestimmter zu werden. Inzwischen
ist er wesentlich aktiver und selbstständiger geworden. Regelmäßig trainiert er nun in einem Tischtennisverein und
nimmt an Punktspielen teil. Zurzeit macht er sich konkrete
und realistische Gedanken über seine berufliche Zukunft. In
den Gesprächen findet er eine zunehmend sicherere Position
gegenüber dem Vater, ohne dabei das innige Verhältnis zu
gefährden. Die Dosis der neuroleptischen Medikation konnte
deutlich reduziert werden.
Kasuistik 2 (Herr A. 29 Jahre)
Familienanamnese: Herr A. ist das dritte von vier Kindern. Er
hat einen Zwillingsbruder. Die Eltern ließen sich nach einer
langjährig konfliktreichen Ehe scheiden, als Herr A. 18 Jahre
alt war. Zu dieser Zeit erkrankte seine jüngere Schwester im
Alter von 16 Jahren an einer schizophrenen Psychose. Herr A.
sagt über sich, er sei ca. mit 18 Jahren in seiner Entwicklung
stehen geblieben und habe nur mit Mühe das Abitur geschafft.
Danach habe er sich vom Leben und dem Erwachsenwerden überfordert gefühlt. Er ging zum Studium in eine andere
Stadt, brach aber nach sechs Semestern ab und kehrte nach
Hannover zurück. Er wohnte im Haus der Großmutter und
begann ein weiteres Studium sowie eine Ausbildung. Beides
brach er ab. Er zog sich sozial zurück und konnte seinen Tag
nicht mehr strukturieren. Zur Mutter bestand kein Kontakt.
Er spielte nachts exzessiv am PC, zeigte sich ansonsten aber
antriebslos und lag später nur noch im Bett.
Von Juli 2006 bis März 2007 wurde er mit kurzer Unterbrechung vollstationär in drei psychiatrischen Kliniken behandelt.
Die Diagnosen reichten von schwerer depressiver Episode über
eine Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und ängstlich-vermeidenden Zügen bis zu einer Schizophrenia simplex. Sowohl
Neuroleptika (Solian) als auch Antidepressiva (Cipralex und
Trevilor) wurden mit nur mäßigem Erfolg eingesetzt.
In der ambulanten Nachsorge erwies sich der Kontakt anfangs
als sehr schwierig. Herr A. nahm kaum Blickkontakt auf,
konnte wenig von sich mitteilen, war hochgradig antriebsarm, hatte keine Ideen zu seiner Zukunft und war mit der
Aussicht, von Sozialhilfe zu leben, zufrieden. Die Neutralität
der Therapeuten bezüglich dieser Vorstellung war für ihn offensichtlich überraschend, aber auch entlastend, insbesondere
deswegen, weil vom Vater, der sich fürsorglich um den Sohn
kümmerte, deutlich der Wunsch vorgetragen wurde, dass
der Sohn einen Beruf erlernen müsse. Wir bildeten vorab
einige Hypothesen: Die Mutter wirkte in allen Schilderungen abwesend, ausgeklammert. Könnte Herr A. junior mit
ihr identifiziert sein, da er über viele Jahre zur Mutter hielt,
während die Geschwister in der Pubertät selbstständig wurden
und die elterliche Beziehung innerlich schon getrennt war?
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Bedeutet Selbstständigkeit nicht Verlassenwerden? Das aktuelle Verhalten von Herrn A. junior wirkte passiv-aggressiv
und ermöglichte ihm so zugleich Abhängigkeit (Versorgung
und Beziehung zum Vater) und Autonomie (Verweigern aller
wohlmeinenden Ratschläge, machtvolle Position). Will er den
Vater strafen für die Trennung? Der Sinn dieses Bindungsmusters könnte in der Lösung eines ansonsten unlösbaren
Loyalitätskonfliktes liegen.
Im ersten Gespräch war zu beobachten, dass Herrn A. senior
sehr an einer Zukunftsperspektive für seinen Sohn lag. Alle
seine Ideen scheiterten aber an der Passivität von Herrn A.
junior. Entspannung brachte die Wertschätzung des Vaters
in seiner großen Sorge um den Sohn und sein Engagement
für dessen Wohlergehen. Das bestehende Muster beschrieben
wir als Machtkampf: Je mehr Druck und gute Ratschläge,
desto mehr Gegendruck in Form von Verweigerung. Der
Preis ist für beide Seiten hoch: Der Vater reibt sich auf, und
der Sohn opfert seine Entwicklungsmöglichkeiten, um nicht
nach Vaters Willen zu agieren, selbst dann nicht, wenn diese
Vorschläge sinnvoll sind.
In der Folge berichtet Herr A. junior, dass er viel aktiver
geworden sei, viel Fahrrad fahre und 10 kg abgenommen
habe. Einige Monate später nahm er Kontakt zu seiner Mutter
auf. Und in den Gesprächen tauchten neben der Abgrenzung
gegenüber den Bewertungen durch die Familie neue Themen
auf: der Wunsch nach Freundschaften und einer Freundin,
zugleich Unzufriedenheit und Langeweile. Letztere wurden
immer wieder gewürdigt als wichtige Voraussetzung für eine
Veränderung.
In einem zweiten Familiengespräch wird durch die Aussage
des Sohnes: »Ich brauche aber Druck!« die Einladung zur
Verstrickung deutlich. Lebhaft wurde das Gespräch, als wir
mit Umdeutungen experimentierten. Mal angenommen, der
Sohn sei nicht krank, sondern einfach ein wenig faul, wie
würde sich der Vater dann verhalten? Wenig später berichtet
Herr A., er habe ein WG-Zimmer gefunden und sein Vater
helfe beim Umzug. Anschließend nimmt er zwei geringfügige
Jobs an. Ein Veränderungsprozess ist offensichtlich in Gang
gekommen, eindrucksvoll sind die Veränderungen besonders
nach den Familiengesprächen. Sie bestätigen die Annahme,
dass die Lösung im System liegt und sich durch Neugier,
Geduld und Humor aufspüren lässt. Und selbst für Nichtveränderung kann es gute Gründe geben.
Schlussbemerkungen
Die Frage, ob und wie sich Systemische Therapie in die psychiatrische Versorgung sinnvoll integrieren lässt, wird durch
die bisher durchweg positiven Erfahrungen aus der Praxis
beantwortet. Begreift man den systemischen Ansatz als Ergänzung zur bestehenden ambulanten und stationären Arbeit,
eröffnen sich neue Aspekte, die insbesondere hilfreich für die
Behandlung von Menschen mit Psychosen sind. Die Erfahrungen zeigen, dass die oben skizzierte systemische Haltung
sehr wohl auch mit anderen Interventionen verknüpfbar ist,
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ohne dass eine der Behandlungsmethoden einen Gesichtsverlust erleiden muss. Auch eine begleitende medikamentöse
Behandlung hat in diesem Rahmen Bestand.
Ein Mehraufwand durch die vordergründig luxuriös erscheinende Arbeit zu zweit ist aus unserer Sicht nicht gegeben.
Veränderungsprozesse werden rascher in Gang gesetzt und
haben mehr Bestand, da sie von den Betroffenen selbst getragen sind. Veränderungen passieren zudem in der Regel nicht
in den Gesprächen, sondern zwischen den Gesprächen. So
liegen die Abstände der Termine bei mindestens vier Wochen,
manchmal auch deutlich länger. Abstände und Häufigkeit von
Familiengesprächen in einer ambulanten Behandlung richten sich selbstverständlich nach dem Einzelfall. Bei manchen
Patienten, wie im ersten dargestellten Fall, ist es sinnvoll, zusätzlich zu Einzelterminen Familiengespräche anzubieten, bei
anderen werden die Gespräche nur gemeinsam geführt, auch
einmalige ergänzende Familiengespräche sind denkbar.
Die Atmosphäre, in der die Gespräche stattfinden, ist neben
der wertschätzenden Stimmung auch von Humor geprägt.
Das Klima wird leichter und Schritte zu Veränderungen damit auch. Darüber hinaus macht die systemische Arbeit zu
zweit viel Freude, was sich den Patienten natürlich deutlich
vermittelt. Zudem ist es ausgesprochen hilfreich, das eigene
Handeln zu überprüfen und sich damit selbst ständig in einer
Entwicklung zu befinden. »Es kann viel Spaß machen, das
Gewusste infrage zu stellen, das kaum Gedachte zum Thema
zu machen.« (von Schlippe & Schweitzer 1996, S. 116)
Literatur
RETZER A (2004) Systemische Familientherapie der Psychosen.
Hogrefe
RETZER A (1996) Familie und Psychose. Urban & Fischer
RETZER A (1996) Die Behandlung psychotischen Verhaltens. CarlAuer-Systeme
SCHLIPPE A VON, SCHWEITZER J (1996) Lehrbuch der systemischen
Therapie und Beratung. Vandenhoeck & Ruprecht
Das Zukunftskonzept
Integrativer Gesundheitszentren
(IGZ) als Grundlage
bio-psycho-sozialer
Prävention und Therapie
Eckhart Salzmann
Vor dem Hintergrund einer fachlichen, exemplarisch an sozialpsychiatrischen Entwicklungen orientierten Standortbestimmung der modernen Medizin wird das Konzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ)
vorgestellt. IGZ sollen nicht nur therapeutisch, sondern auch präventiv
arbeiten und kollegial geleitet werden in Teamarbeit von Spezialisten
für die biologischen, psychischen und sozialen Aspekte der Gesundheit
und der Krankheiten des Menschen. Dessen möglichst selbstbestimmtes
Wohlergehen im Sinne einer Salutogenese – nicht nur seine ökonomisch
oder anders definierte Leistungsfähigkeit – soll im Vordergrund stehen.
Mögliche Konsequenzen des Modells werden diskutiert.
Einführung
»Es reicht nicht, in Festvorträgen und Sonntagsreden von
ganzheitlicher Sichtweise zu sprechen oder von Verlagerung
der Schwerpunkte von der technischen zur Sprechmedizin
durch die Veränderung von Gebührenordnungen oder so
zu tun, als wären die wirklichen Probleme, mit denen wir es
zu tun haben, solche von Kostenexplosion, Rationalisierung
oder Rationierung. Die wirklichen Probleme sind Verständigungsprobleme zwischen Arzt, Patient und Gesellschaft, sind
Auswüchse der Babylonisierung der Medizin (...).«
Der Sozialpsychiater Asmus Finzen hat 2001 diese Worte
geprägt, die Anlass sein sollen, nach den Ursprüngen und vor
allem den Zielen der Entwicklung einer zunehmend ganzheitlich orientierten Medizin im gesamtgesellschaftlichen Kontext
zu fragen.
SCHLIPPE A VON, SCHWEITZER J (2006) Lehrbuch der systemischen
Therapie und Beratung II. Vandenhoeck & Ruprecht
SCHWEITZER J, NICOLAI E, HIRSCHENBERGER N (2005) Wenn Krankenhäuser Stimmen hören. Vandenhoeck & Ruprecht
SIMON FB (2008) Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus. Carl-Auer
SIMON F, RECH-SIMON C (2002) Zirkuläres Fragen. Carl-Auer-Systeme
TINARI P et al. (2004) Genotype-environment interaction. British
Journal of Psychiatry
Anschrift für die Autoren
Dr. Wolfgang Dillo
Medizinische Hochschule Hannover
Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
Historische Entwicklung der Konzepte der Medizin
Die heutige Stellung und Bedeutung der Medizin lässt sich
nur vor dem Hintergrund ihrer rasanten Entwicklung mit Beginn im 19. Jahrhundert aufgrund der damals neuen, bis heute
dominierenden biologisch-naturwissenschaftlichen Methodik
verstehen. Die Behandlung sogenannter körperlicher Krankheiten gelang mithilfe dieser Herangehensweise so gut wie
zuvor mit keiner anderen Methode. Folgerichtig behauptete
Sigmund Freud um die darauffolgende Jahrhundertwende,
auch die Psyche, ihre unbewussten Anteile und deren Störungen von Krankheitswert ebenfalls wissenschaftlich verstehen
und behandeln zu können. Er gab dabei eine quasi-naturwissenschaftliche Exaktheit vor. Zu Recht wurde später diese
damalige Form der Tiefenpsychologie für diesen Etikettenschwindel kritisiert, und es entstand aus der philosophischen
Richtung des Behaviourismus die radikale Gegenbewegung,
die in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts zur Verhaltens-
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Salzmann: Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie
therapie führte, die ursprünglich die nur subjektiv erlebbaren
Inhalte der Psyche mit Skinner als Blackbox ausklammerte,
da sie sich definitionsgemäß der naturwissenschaftlichen,
operationalisierbaren Betrachtung entziehen.
Es ist jedoch, wie an anderer Stelle eingehend dargestellt
(Salzmann 2005), davon auszugehen, dass die menschliche
Psyche sich nicht hinreichend erklären und verstehen lässt,
wenn man sie auf die naturwissenschaftlich verstehbaren Aspekte der Hirnfunktion reduziert. Deren Kenntnis ist zwar
wichtig für das Verständnis sozusagen der Funktionsgrundlagen, aber das subjektive Erleben ist damit nicht wirklich
begreifbar – so wie zum Verständnis eines Bildes die Kenntnis
der zur Entstehung führenden Maltechnik wichtig, aber nicht
ausreichend ist. Analog wäre es nicht sinnvoll, die Psyche
modellhaft entweder nur als biologisch bedingt oder nur als
nicht biologisch bedingt anzusehen. Entsprechend ist der oben
angerissene Methodenstreit auch im Bereich der Psychotherapie dann sinnlos, wenn er zu einseitiger Bevorzugung oder
Ablehnung einer Methode führen würde.
Darüber hinaus lässt sich aber Psychotherapie nicht ohne unzulässige Einseitigkeit begreifen, wenn man neben der biologischen und der psychischen nicht auch die soziale Dimension
des Menschen berücksichtigt. Genauer gesagt: Keine dieser
drei Dimensionen ist wirklich verstehbar ohne die Kenntnis
der anderen, und keine lässt sich zwingend aus den anderen
herleiten. Jede bedarf eigener methodischer Zugangsweisen,
die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern
sich gegenseitig befruchten können. Ein interessantes aktuelles Beispiel hierfür ist die Chaostheorie, die beispielsweise
der Osnabrücker Psychologe Kriz (2004) von den Naturwissenschaften über das Verständnis soziologischer Prozesse auf
die Psychotherapie übertragen hat. Das starre Festhalten am
Denken in biologistischen Gesetzmäßigkeiten, so zeigt er,
führt individuell zur Festigung neurotischer Strukturen und
gesellschaftlich zur Festigung hierarchisch-kontrollierender
Strukturen anstelle einer Selbstorganisation in größtmöglicher
Selbstbestimmung.
Das bio-psycho-soziale Modell des Menschen
Aber zurück zur Grundfrage nach den Dimensionen des
Menschseins: Der Mensch wird spätestens seit Engel (1977)
modellhaft als bio-psycho-soziales Wesen angesehen.
Die soziale Dimension ist, historisch gesehen, sicher noch später in das Bewusstsein der Vertreter der klassischen Medizin
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
gerückt und wird bis heute noch weniger als die psychische
Dimension berücksichtigt.
Diese Überlegungen sollen andererseits nicht bedeuten, dass
es etwa alleinige Aufgabe der Medizin sein könnte, die verschiedenen Dimensionen in der persönlichen Zuwendung
zum Menschen erschöpfend abzudecken. Für jede Dimension muss es Spezialisten geben. Dies darf aber nicht zur
künstlichen Aufteilung des Menschen in seine Anteile führen,
sodass ein ganzheitlicher Zugang nicht mehr möglich ist. Das
zumindest grundlegende Verständnis aller Dimensionen des
Menschseins sollte daher für alle sozialen Berufe Voraussetzung sein.
Praktische Beispiele
Diese Gedanken sollen an einigen Beispielen verdeutlicht
werden.
Es gibt heute keinen Zweifel mehr, dass zahlreiche sogenannte körperliche Krankheiten wesentliche psychische
und soziale Ursachen haben. Selbst die Entwicklung von
malignen Krebserkrankungen sowie von Infektionen wird
über Mechanismen, die Gegenstand der Psychoimmunologie
sind, beeinflusst. Der Effekt sozialer Faktoren auf somatische Krankheiten ist weniger gut belegt, es gibt aber doch
diverse Untersuchungen, die auf diese Zusammenhänge
hinweisen und unter anderem auch den geschlechtsspezifischen Unterschied in der Lebenserwartung zumindest zu
einem gewissen Teil erklären (Luy 2002). Die psychischen
und sozialen Folgen körperlicher Erkrankungen und Behinderungen zu thematisieren, würde den Rahmen dieses
Artikels sprengen.
Die Entstehung psychischer Störungen von Krankheitswert
kann vielfältige Ursachen im Bereich der biologischen Körperfunktionen haben, wie zum Beispiel Depressionen und
Ängste durch Schilddrüsenfehlfunktionen hervorgerufen
werden können.
Besonders interessant sind aber die vielfältigen Wechselwirkungen, mit denen psychische und soziale Dekompensationen
einander bedingen. Hierzu soll ein Fallbeispiel skizziert werden, das an anderer Stelle ausführlich beschrieben ist (Salzmann 2006). Eine junge Frau mit einer leichten geistigen
Behinderung, die wegen einer schizoaffektiven Psychose mit
kombinierter, auch neuroleptischer Dauermedikation behandelt wurde, entwickelte bei unveränderter Therapie scheinbar unvermittelt eine Gangstörung, die sie zu invalidisieren
drohte. Die Gangstörung wurde von der heilpädagogischen
Betreuungsumgebung zurückgeführt auf die Medikation.
Diese Vermutung erwies sich nach ärztlicher Untersuchung
als falsch, die in diesem Fall zu erwartenden extrapyramidalmotorischen Symptome lagen nicht vor. Auch handelte es
sich offenbar nicht um eine manieristische Gangstörung,
wie sie im Rahmen katatoner Psychosen auftreten kann. So
lag die Vermutung einer neurotisch bedingten, psychogenen
Gangstörung nahe, die auch durch das aufmerksamkeitsabhängige Fluktuieren der Störung gestützt wurde. Andere,
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Salzmann: Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie
nicht körperbezogene neurotische Symptome, die bei dieser
Frau erkennbar waren, ließen sich – trotz fremdanamnestischer Hinweise auf eine enge, aber unzuverlässige Mutterbindung – im Übrigen nur schwer psychodynamisch erklären, da
sowohl die Intelligenzminderung als auch die psychotische
Instabilität der Persönlichkeitsstruktur aufdeckende Gespräche erschwerten. Neu oder verstärkt aufgetretene neurotische
Symptome sind aber nur durch einen Reaktualisierungsanlass
erklärbar, der den zugrunde liegenden frühkindlichen Konflikt
erneut symptomhaft werden lässt. Dieser Anlass lag offenbar
in diesem Fall, wie so häufig, im sozialen Bereich. Wenige
Wochen zuvor war die junge Frau ausgeschult worden, eine
Werkstattaufnahme war wegen des Ausmaßes der Behinderungen nicht möglich und ein Platz in der Tagesförderstätte
nicht absehbar. Dieses Problem und seine Bedeutung für
die junge Frau fiel nach Ausschluss der anderen möglichen
Ursachen im interdisziplinären Gespräch auf, und der leitende Sozialarbeiter sagte dieser Frau daraufhin trotz größter organisatorischer Schwierigkeiten eine Aufnahme in der
Tagesförderstätte zu. Zugleich wurden einfache begleitende
Gespräche geführt, in denen die verkörperlichte Angst, ohne
soziale Perspektive nicht mehr alleine durchs Leben gehen zu
können, verbalisiert werden konnte; außerdem gelang es in der
heilpädagogischen Betreuung, der Gangstörung weniger und
den gesunden Ressourcen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Dies sowie die verlässliche soziale Perspektive und zusätzliche
nonverbale, die Kreativität und damit das Selbstwertgefühl
stärkende Therapieverfahren haben noch vor Aufnahme in
die Tagesförderstätte zum vollständigen Verschwinden der
psychogenen, eigentlich »psycho-soziogenen« Gangstörung
geführt, die unter der Tagesförderung und den multidimensionalen Therapieansätzen in den seither vergangenen zwei
Jahren nicht mehr aufgetreten ist, während es in dieser Zeit
zu einer anhaltenden Besserung der gesamten psychischen
Befindlichkeit gekommen ist.
An diesem Beispiel werden verschiedene Aspekte deutlich: soziale Verhältnisse können krank machen – und sie
können gesund machen. Das Verständnis der körperlichen
und psychischen Verhältnisse ist dabei ebenso wichtig. Die
Vulnerabilität, also die Verletzbarkeit, ist individuell unterschiedlich – auch hier spielen nach dem heute allgemein akzeptierten Vulnerabilitäts-Stress-Modell alle drei genannten
Ebenen eine Rolle (Übersicht hierzu bei Bäuml 1994). Die
Gestaltung sozialer Verhältnisse muss die sozialpsychiatrischen Erkenntnisse berücksichtigen. Beispielsweise kann
in der individuellen Konstellation Überforderung ebenso
schädlich sein wie Unterforderung – in diesem Fall war
Werkstattarbeit schädlich, Tagesförderung nützlich, und
es war die äußere Vorgabe einer sozialen Perspektive ebenso
hilfreich wie die Berücksichtigung der erforderlichen individuellen Wünsche und Notwendigkeiten, etwa hinsichtlich verschiedener Abgrenzungshilfen und -möglichkeiten,
welche die Tagesförderstätte im Gegensatz zur Werkstatt
bietet. – Zahlreiche Psychosen und Neurosen werden ohne
das Verständnis der zugrunde liegenden Psychodynamik nur
unvollständig begriffen. Häufig ist ein durch frühkindliche
prägende Konstellationen fixierter innerer Autonomie-/Abhängigkeitskonflikt von Bedeutung. Details hierzu sind in der
bereits zitierten Monografie über Psychotherapie angegeben
(Salzmann 2005). Kurz gesagt, resultiert aus diesem inneren
Konflikt eine oft zum Teil unbewusste, existenzielle Angst
vor Selbstständigkeit, daraus folgt die ebenso unbewusste
Suche abhängiger Bindungen, die aber den schwächenden
Kreislauf der Ambivalenz weiter fixieren. Dieses Verständnis
der Psyche ist Voraussetzung für die wichtige sozialarbeiterische, ja sozialtherapeutische Begleitung der Betroffenen und
die Beziehungsgestaltung. Ziel muss, wie Elisabeth StindlNemec (2001) in Anlehnung an Heinz von Foerster dies
herausgearbeitet hat, die Ermutigung zu Entscheidungen
sein, die möglichst viel Spielraum eröffnen – ohne allerdings
zugleich weder einerseits die Ängste vor der Autonomie zu
ignorieren, noch andererseits die oft nicht sinnvolle und gar
nicht bewusst erlebte eigene Suche abhängiger Sozialstrukturen der Betroffenen auch noch unnötig zu fördern (Salzmann 2005). Nicht ohne Grund hat sich bei Menschen mit
schizophrenen Psychosen in zahlreichen Untersuchungen
gezeigt, dass das Rückfallrisiko ganz erheblich stieg, wenn
viele Emotionen in der sozialen Umgebung der Betroffenen
zum Ausdruck gebracht wurden – und zwar gleichgültig, ob
diese Emotionen kritisch-feindseliger oder positiv-empathischer Natur war (Übersicht bei Eikelmann 1998). Dem
hieraus entwickelten sogenannten Expressed Emotions (EE)Konzept zufolge muss also das soziale Milieu freundlich-distanziert sein und die Entwicklung größtmöglicher äußerer
und vor allem innerer Selbstständigkeit fördern.
Ohne das Verständnis solcher psychosozialer Zusammenhänge jedoch, die hier nur angerissen werden können, werden
weder psycho- noch soziotherapeutische Ansätze auf Dauer
erfolgreich sein. Und Sozialarbeit auf dieser Ebene, so hat es
beispielsweise Andreas Knoll (2000) postuliert, muss Sozialtherapie sein. Zahlreiche weitere, sehr interessante Beispiele
hierzu finden sich in dem Lehrbuch über »Sozialarbeit und
Sozialpädagogik in der Psychiatrie« (2001) von Bosshard,
Ebert und Lazarus.
Im Idealfall, auch das zeigt das hier genannte Beispiel zumindest indirekt, kann durch geeignete Maßnahmen, etwa im
sozialen Bereich, aber bereits die Entstehung einer psychischen, psychosomatischen oder psychosozialen Störung von
Krankheitswert präventiv verhindert werden.
Nicht nur in Deutschland, das durch die fürchterlichen Irrwege der Sozial- und Rassenhygiene des sogenannten Dritten
Reiches besonders belastet ist, auch wenn diese sich der Tradition vor allem der biologischen, weniger der soziologischen
Wissenschaften bedienten, ist dieser Aspekt erst sehr spät
einigermaßen angemessen beachtet worden. 1987 formulierte
Antonovsky sein Konzept der Salutogenese als Gegenstück
zu der in der Medizin bislang im Vordergrund des Interesses
stehenden Pathogenese (deutsche Übersetzung 1997). Der
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Salzmann: Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie
Mensch wird demzufolge modellhaft in einem Kontinuum
mit den zwei Polen krank und gesund gedacht.
Konsequenzen
Aus diesen Überlegungen ergeben sich folgende Konsequenzen:
Sowohl therapeutische als auch präventive, also gesundheitsfördernde Maßnahmen sollten als zusammengehörig begriffen
werden – und dies auf allen Ebenen, also ebenso geltend für
biologische, psychische wie soziale Maßnahmen.
Soweit Spezialisierungen existieren, sind zur Realisierbarkeit
ganzheitlicher Konzepte die Voraussetzungen für kooperative
Teamarbeit zu schaffen. Das bedeutet zunächst eine profunde
Ausbildung, etwa im Studium einer der genannten Spezialrichtungen, in dem auch das Spezialwissen der anderen Richtungen möglichst umfassend vermittelt werden muss. In der
späteren Praxis bedeutet dies, dass sowohl bei den Leistungs-,
also Kostenträgern als auch bei den Leistungserbringern die
organisatorisch-strukturellen scharfen Trennungen zwischen
Prävention, ambulanter und stationärer Krankenbehandlung,
Rehabilitation und Eingliederungshilfe bzw. Maßnahmen zur
sozialen Teilhabe, etwa auch bei Arbeitslosigkeit, aufgehoben werden müssen. Erste Ansätze in diese Richtung sind
beispielsweise in den Sozialpädiatrischen Zentren erkennbar,
in denen die Vergütung nicht nur ärztliche, sondern auch
pädagogische und sozialarbeiterische Leistungen ermöglicht.
In psychiatrischen Kassenarztpraxen ist die Kooperation mit
Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern weiterhin sehr erschwert und zudem die Indikationsstellung unsinnigerweise
einseitig den Ärztinnen und Ärzten zugeordnet. Sozialarbeit
muss als Disziplin nicht nur im Sinne einer Soziotherapie
wirklich anerkannt werden, sondern gerade auch bei der präventiven Gestaltung sozialer Milieus. Warum werden Betriebe
in Deutschland gezwungen, ihre Arbeitsbedingungen unter
arbeitsmedizinischen, aber nicht wirklich unter psychosozialen
Aspekten überprüfen zu lassen? Warum müssen erst in dramatischem Umfang chronische psychische Störungen auftreten,
bis die Idee entsteht, die für Deutschland der Sozialpsychiater
Eikelmann (2005) nach den amerikanischen »Supported Employment«- oder »Individual Placement and Support«-Konzepten adaptiert hat, der zufolge die wechselseitige Anpassung
von Arbeitsmilieu und Arbeitnehmer durch einen persönlichen Job Coach vor Ort verbessert werden soll? Vorerst eine
Utopie, aber im Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen
mit Behinderungen künftig mithilfe des Persönlichen Budgets
realisierbar, das gemäß § 17 SGB IX spätestens ab 2008 gilt.
Allerdings fehlt beim Konzept des Persönlichen Budgets wiederum weitgehend die interprofessionelle psychologische und
psychiatrische Begleitung. Immer noch erfolgt – trotz Vorgabe
eines bereichsübergreifenden Vorgehens – die Trennung der
verschiedenen Fachgebiete.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Integrative Gesundheitszentren (IGZ)
Die Zukunft sollte Zentren gehören, die Integrative Gesundheitszentren (IGZ) genannt werden könnten, die nicht nur
therapeutisch, sondern auch präventiv arbeiten und die kollegial geleitet werden in Teamarbeit von Spezialisten für die
biologischen, psychischen und sozialen Aspekte der Gesundheit und der Krankheiten des Menschen. Dessen möglichst
selbstbestimmtes Wohlergehen – und übrigens nicht nur seine
ökonomisch oder anders definierte Leistungsfähigkeit – sollte
im Vordergrund stehen. Dafür müssen in allen Gesellschaftsbereichen fachkompetent die bio-psycho-sozialen Voraussetzungen geschaffen werden – nach Möglichkeit, bevor es zum
individuellen oder gar kollektiven Verlust des Gleichgewichts
der Dimensionen des Menschseins kommt.
Dieses Konzept ist nicht zu verwechseln mit denen der Integrierten Versorgung gemäß § 140 SGB V oder der Medizinischen Versorgungszentren, die zwar der fachübergreifenden,
aber doch im Wesentlichen nur der ärztlich ausgerichteten und
nur der Krankenversorgung beziehungsweise der Vorbeugung
unmittelbar drohender Krankheiten dienen. Das Konzept
Integrativer Gesundheitszentren mit ganzheitlichem, bio-psycho-sozialem und insbesondere auch umfassend präventivem
Ansatz geht weit darüber hinaus. Es wird insofern möglicherweise an den traditionell starren strukturellen Grenzen der
verschiedenen Organisationsformen im Gesundheitswesen
scheitern. Andererseits sollte das Konzept für sachorientierte
Fachleute eine so große immanente Überzeugungskraft besitzen, dass Veränderungsangebote gerade auch dann akzeptabel
erscheinen sollten, wenn dadurch die Arbeit jedes Einzelnen
in diesem Gesundheitswesen sinnhafter und befriedigender
wird und zugleich die Sicherheit der eigenen Arbeitsverhältnisse durch die erforderlichen Umstrukturierungen nicht über
Gebühr beeinträchtigt wird.
Als Argumente gegen dieses Konzept der IGZ werden weiterhin – wie immer im Gesundheitswesen – die Kosten genannt
werden. Psycho- und Soziotherapie werden vielfach ohnehin
lediglich als Kostenfaktor empfunden, die sekundären Kostenersparnisse durch diese Verfahren oder durch Prävention in
diesen Bereichen sind im Wesentlichen bislang nur indirekt
erfassbar. Besonders wenig ist, wie auch der WHO-Report
über »Psychische Gesundheit und Arbeitsleben« von 2005 feststellt, der Einfluss der psychosozialen Arbeitsbedingungen auf
die psychische Gesundheit untersucht. Andererseits ist etwa
durch neueste Daten der DAK bekannt, dass die Häufigkeit
psychischer Störungen mit konsekutiver Arbeitsunfähigkeit,
die im Übrigen insgesamt abnahm, dramatisch zunimmt: seit
1997 um 70 %. Die Gesamtkosten für durch Stress am Arbeitsplatz verursachte psychische Gesundheitsprobleme und
ihre Folgen belaufen sich nach Angaben von 2002, die in dem
erwähnten WHO-Report zusammengefasst werden, für den
Bereich der Europäischen Union geschätzt auf 265 Milliarden
Euro pro Jahr, das sind 3 – 4 % des Bruttosozialprodukts.
Wenn man dann noch zur Kenntnis nimmt, dass entgegen
allen pauschalen Angaben über eine Kostenexplosion im
31
32
Salzmann: Das Zukunftskonzept Integrativer Gesundheitszentren (IGZ) als Grundlage bio-psycho-sozialer Prävention und Therapie
Gesundheitswesen die Ausgaben für Gesundheit sowohl der
GKV als auch die Gesamtausgaben bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt über beinahe drei Jahrzehnte hinweg konstant
geblieben sind, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundeswirtschaftsministers 2001
festgestellt hat und das Statistische Bundesamt (2005) auch
für die Zeit danach bestätigt, dann wird deutlich, dass Kosten
für psychosoziale Prävention wahrscheinlich weder unangemessen noch fehlinvestiert wären.
Das »Totschlagargument« gegenüber psychosozialen Ansätzen
jedoch ist die Forderung eines sicheren Wirksamkeitsnachweises. Wer sich mit Psychotherapeuten und Sozialarbeitern
unterhält, wird feststellen, dass diese kein wesentliches Bedürfnis nach derartigen wissenschaftlichen Nachweisen verspüren, jedenfalls nicht zur pauschalen Legitimation ihrer
Tätigkeit – und dies nicht, weil sie ihre Arbeit nicht infrage
stellen würden, sondern weil sie deren grundsätzliche Wirksamkeit täglich erleben, sozusagen unmittelbar evidenzbasiert.
Es ist aber das Diktat des, wie dargestellt, übermächtigen
naturwissenschaftlich-medizinischen Denkansatzes, Ursache und Wirkung isolieren und kontrollieren zu wollen. In
komplexen Systemen wie dem der Psyche oder eines sozialen
Miteinanders ist dies eben oft nicht möglich – und trotzdem
macht es Sinn, sich mit solchen Ursachen und Wirkungen,
vor allem auch den Wechselwirkungen zu beschäftigen, sie
mit ihnen angemessenen Methoden zu erforschen und dann
in bestmöglicher, individuell angepasster Form zu nutzen.
Auf diese dringend erforderliche Akzeptanz einer solchen
Methodenvielfalt hat insbesondere der bereits zitierte Asmus
Finzen wiederholt hingewiesen (2001).
DEUTSCHES INSTITUT
FÜR
WIRTSCHAFTSFORSCHUNG (2001) Wirt-
schaftliche Aspekte der Märkte für Gesundheitsdienstleistungen.
DIW, Berlin
EIKELMANN B (1998) Sozialpsychiatrisches Basiswissen: Grundlagen
und Praxis. 2. Auflage. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart
EIKELMANN B (2005) Integration psychisch Kranker. Ziel ist die
Teilnahme am »wirklichen« Leben. Deutsches Ärzteblatt16: A1104A1110
ENGEL GL (1977) The need for a new medical model: A challenge
for biomedicine. Science 196: 129 – 136.
FINZEN A (2001) Sozialpsychiatrie zwischen Medizin und Sozialwissenschaften – Eine Bestandsaufnahme. In: WOLLSCHLÄGER M
Sozialpsychiatrie. Entwicklungen – Kontroversen – Perspektiven.
dgvt-Verlag, Tübingen
KNOLL A (2000) Sozialarbeit in der Psychiatrie. Von der Fürsorge
zur Sozialtherapie. Band 8 der Reihe: BELARDI N (Hg.) Focus Soziale
Arbeit. Leske + Budrich, Opladen
KRIZ J (2004) Lebenswelten im Umbruch – Zwischen Chaos und
Ordnung. Picus Verlag, Wien
LUY M (2002) Warum Frauen länger leben – Erkenntnisse aus einem
Vergleich von Kloster- und Allgemeinbevölkerung. Materialien zur
Bevölkerungswissenschaft 106. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden
SALZMANN E (2005) Psychotherapie – Wege zur inneren Selbständigkeit. Band 7 der Reihe: MAIR H, EIKELMANN B, REKER T (Hg.): Sozialpsychiatrie und Psychosoziale Versorgung. LIT Verlag, Münster
SALZMANN E (2006) Angst- und Zwangsstörungen, Belastungs-,
dissoziative und somatoforme Störungen. In: Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung.
Ein Arbeits- und Praxisbuch. Hrsg. SCHANZE C, Schattauer Verlag,
Stuttgart, im Druck
Zusammenfassung
Aus den hier dargestellten Gründen darf die traditionell einseitig naturwissenschaftliche Denkweise einer veralteten Medizin
nicht dazu führen, dass therapeutische und präventive Ansätze mit psychosozialem Schwerpunkt unterbewertet werden.
Sowohl in die Entwicklung eigener Forschungsansätze und
-methoden als auch in die interdisziplinäre Ausbildung und
insbesondere in die praktische Umsetzung psychosozialer,
salutogenetischer Aspekte im Rahmen Integrativer Gesundheitszentren muss investiert werden. Der ökonomische Erfolg
dieser Maßnahmen wird vielleicht indirekt messbar werden,
aber dies kann paradoxerweise nur gelingen, wenn naturwissenschaftliche und ökonomische Gesetzmäßigkeiten nicht
mehr als allein bestimmende Faktoren des Wohlergehens des
Menschen verstanden werden.
STINDL-NEMEC E (2001) Wieder dabei. Systemische Sozialarbeit
in der gemeindenahen Psychiatrie. Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg
WHO – Europäische Ministerielle WHO-Konferenz Psychische Gesundheit (2005) Psychische Gesundheit und Arbeitsleben. WHO,
Helsinki
Anschrift des Verfassers
Dr. med. Eckhart Salzmann
Rehabilitations- und Präventionszentrum
Bad Bocklet
Frankenstr. 36
97708 Bad Bocklet
Literatur
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Gesundheit. dgvt-Verlag, Tübingen
BÄUML J (1994) Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Ein
Ratgeber für Patienten und Angehörige. Springer-Verlag, Berlin
BOSSARD M, EBERT U, LAZARUS H (2001) Sozialarbeit und Sozialpädagogik in der Psychiatrie. Lehrbuch. Psychiatrie-Verlag, Bonn
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
33
Kinder schizophrener
Mütter – ein Rückblick
auf 14 Jahre Gruppenarbeit
und ein Einblick in die
Netzwerkarbeit im Landkreis
Oberspreewald-Lausitz
Ute Bürgermeister, Annemarie Jost und Sarah Fliegner
Wir hatten an dieser Stelle bereits einmal über das Gruppenkonzept
für Kinder schizophrener Mütter in Senftenberg berichtet (Bürgermeister & Jost 2000) und möchten nun einerseits die Entwicklung
einer jungen Frau darstellen, die viele Jahre an der Gruppenarbeit
teilgenommen hat, und andererseits die Impulse aufzeigen, die aus
der Gruppenarbeit heraus für die Weiterentwicklung der Hilfen und
die bessere Vernetzung zwischen Sozialpsychiatrie und Jugendhilfe
entstanden sind.
Die Sichtweise einer Betroffenen
Zunächst soll Sarah zu Wort kommen:
Mein Name ist Sarah, und als ich 15 Jahre alt war, habe ich
im Gerichtsgebäude in Senftenberg vor meiner Mutter gestanden
und ihr gesagt, dass ich niemals zu ihr ziehen würde, dass sie mit
ihrem Verhalten mein Leben und das meines Bruders zerstört und
sie mich vollkommen verlieren wird, wenn sie uns noch einmal vor
ein Familiengericht zerrt.
Eine eher ungewöhnliche Situation, die mich damals fast um den
Verstand gebracht und innerlich zerrissen hat.
Heute bin ich 18, und mit der Erinnerung an diesen Tag laufen
mir immer noch die Tränen über mein Gesicht.
Wie konnte mir so etwas bloß passieren?
Meine Zensuren waren schon immer sehr gut. Auf Zeugnissen nur
Einsen und Zweien ohne stundenlanges Lernen oder Üben. Für die
älteren Mitschüler hatte ich kein Interesse und mit Freunden keinen
Streit. Wieso stand ausgerechnet ich in diesem Gerichtsgebäude?
Den Hauptgrund stellte wohl meine Mutter dar.
Seit mein kleiner Bruder geboren wurde (ich war zu diesem Zeitpunkt dreieinhalb), ist sie psychisch krank. Das hieß für ihren
Freund – und meinen Wunschvater – Gerd ständige Krankenhausbesuche, neue Einweisungen, Rückfälle, manisch-depressive
sowie schizophrene Anfälle und ständige Angst vor der nächsten
Krise.
Für meinen Bruder und mich bedeutete es viel Zeit bei Oma Ilse,
bei seiner Tagesmutter, im Krankenhaus oder einfach zu Hause
ohne Mutti. Mein Leben war vielleicht etwas anders als das meiner
Mitschüler, aber eigentlich für ein Kind ziemlich normal.
Mit Gerds Tod vor elf Jahren sollte sich allerdings alles schlagartig
ändern.
Bevor ich mich versah, stand meine leicht verwirrte Mutter in
meinem Zimmer und packte meine Sachen. »Wir ziehen um!«
Zu erwähnen wäre vielleicht noch, dass wir bis zu diesem Zeitpunkt
bei Gerds Mutter im oberen Stockwerk gewohnt hatten. Plötzlich
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
fand ich mich in einer 3-Zimmer-Neubauwohnung wieder. Neues
Zimmer, neue Nachbarn, neue Aufgaben und neue Familienangehörige!
Mit einem Alter von sieben Jahren habe ich mir die ganzen Männer
nicht gemerkt, bis auf einen.
Er war öfter da und nach neun Monaten wussten dann auch alle
warum.
Ich bekam ein Schwesterchen – Jennifer – und meine Mutter den
nächsten Einbruch.
Nach wochenlangem, unregelmäßigem Wechsel von Heul- und
Schreikrämpfen, Shopping- und Kneipentouren war es unserem
männlichen Gast zu viel und er verschwand, ohne einen Gedanken
an seine kleine Jennifer zu verschwenden.
Und an mich!
Da stand ich nun mit einem schreienden, kleinen Bündel im Arm,
einem nervenden kleinen Bruder und meiner total verwirrten Mutter.
Heute weiß ich, dass solche Zustände nicht normal sind – mit acht
Jahren wusste ich das allerdings nicht.
Schon damals habe ich ab und zu die Kindergruppe besucht und
kannte Ute Bürgermeister, die mir damals als Einzige einen Rettungsring zuwarf und mit deren Hilfe ich aus diesem Schlamassel
wieder herauskam. Ungefähr ein Jahr später wohnte ich mit meinem Bruder Christopher wieder bei Oma Ilse und meine Mutti
war in psychiatrischer Betreuung, der sie sich damals leider entzog
und für kurze Zeit komplett verschwand, nur um Monate später
von einem Dorf in der Nähe von Magdeburg anzurufen. Sie hatte
jemanden kennengelernt, es ging ihr gut und er kümmerte sich um
sie und brachte sie regelmäßig in eine psychiatrische Klinik.
Neben dem Verlust unserer Mutter hatten mein Bruder und ich
auch den Verlust unserer kleinen Schwester zu verkraften. Sie
war an einem Kindstod gestorben, während ich im Ferienlager
war. Ich glaube diesen Schmerz konnte ich bis heute nicht richtig
verarbeiten aber ich fange nach jahrelangem Verdrängen endlich
an damit zu leben.
Ich glaube meine Mutter hat Jennifer vergessen.
Wir standen nie zusammen an ihrem kleinen Grab.
Vielleicht ist bereits vor zehn Jahren etwas in mir zerbrochen, das
mir mit 15 die Gewissheit geben konnte, nie wieder mit dieser Frau
zusammenleben zu können – sie nur noch »Mutter« zu nennen,
weil sie mir das Leben schenkte. Alles andere in mir hat sie zerstört.
Möglicherweise weil sie nicht anders konnte, weil ihr nicht geholfen
wurde oder weil sie sich nicht helfen lassen wollte.
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Bürgermeister, Jost, Fliegner: Kinder schizophrener Mütter – ein Rückblick auf 14 Jahre Gruppenarbeit und ein Einblick in die Netzwerkarbeit im Landkreis Oberspreewald-Lausitz
Egal warum ich es damals sagte, aber ich wollte sie nie wiedersehen,
wenn sie uns noch einmal vor ein Gericht zerrt – wenn sie meine
Oma noch einmal angreifen würde, meinen Bruder noch einmal
so verstören würde oder uns noch ein einziges Mal mit Gewalt
zwingen würde, zu ihr zu kommen.
In einem halben Jahr werde ich mein Abitur schreiben.
In der Schule bin ich eine von vielen.
Eine ganz normale Schülerin mit guten Zensuren.
Doch eigentlich weiß ich, dass ich nicht normal bin.
Ich lebe bei der Oma meines Halbbruders Christopher.
Ich kenne meinen leiblichen Vater nicht und werde ihm auch nie
begegnen, weil er vor 14 Jahren gestorben ist.
Ich muss meine Halbschwester auf dem Friedhof besuchen und
habe nichts als ein Foto als Erinnerung.
Ich kann anderen zuhören und ihnen bei Problemen beistehen, aber
selbst nicht über meine reden.
Ich bin unfähig, feste Bindungen einzugehen, aus Angst wieder
verlassen zu werden.
Und ich kann nicht über meine Vergangenheit sprechen, ohne in
Tränen auszubrechen.
Ich weiß, dass so etwas nicht normal ist! Und ich weiß, wie weh
es tut, so zu leben!
Aber ich habe gelernt, mich zu lieben und meinen Weg zu gehen.
Ich habe gelernt, dass ich nicht für meine Mutter verantwortlich
bin. Ich habe gelernt, dass ich nicht allein damit bin.
Und ich habe gelernt zu weinen, wenn ich traurig bin und zu
fragen, wenn ich Hilfe brauche.
Es ist nicht leicht, so etwas zu erlernen und zu verstehen. Es dauert
viel Zeit, Kraft, Tränen, Überwindung und extrem viel Unterstützung, die mir Ute und die Gruppe jetzt schon über zehn Jahre
geben.
Mein Lebenslauf ist zwar kein typischer für Kinder psychisch kranker Eltern, aber am Ende fühlen wir uns alle gleich: alleingelassen,
verantwortlich für andere, isoliert, von niemandem verstanden und
dazu verpflichtet, unsere Tränen zu verstecken.
Die seelische Belastung für ein Kind ist unglaublich groß, wenn ein
Elternteil psychisch erkrankt, und Kinder sind nicht in der Lage,
sich selbst zu helfen.
Sie stecken ein, damit alles wieder gut wird.
Damit Mami aufhört zu weinen, damit Papi aufhört zu schreien,
damit die Nachbarn aufhören zu fragen und damit alles wieder
so wird wie früher.
Anmerkungen der Gruppenleiterin
Sarahs Ausführungen machen betroffen. Kinder, die mit wenigstens einem psychisch kranken Elternteil in einem dysfunktionalen Familiensystem leben, übernehmen viele Rollen: zum
Beispiel als Partner, insbesondere wenn der Vater die Familie
verlassen hat, oder als Mutterersatz gegenüber den jüngeren
Geschwistern; sie übernehmen Aufgaben im Haushalt und
verstecken die eigenen Überforderungsgefühle. Das Umfeld
wird nur sehr begrenzt auf ihre Situation aufmerksam.
Sarah ist inzwischen eine junge Frau, wird wie viele andere
Mädchen der Gruppe irgendwann eigene Kinder haben. Die
Gruppenarbeit konnte sie dabei unterstützen herauszufinden,
was sie für ihren eigenen Weg braucht und wie sie sich von
ihrer Mutter abgrenzen und ohne Schuldgefühle ihren eigenen
Weg gehen kann.
Es ist immer wieder ein Balanceakt, das dysfunktionale Familiensystem für die Kinder und Jugendlichen der Gruppe
verständlich zu machen, verdeckte und offene Konflikte anzuschauen und zugleich Ressourcen herauszuarbeiten. Es gilt,
den Mädchen und Jungen die Schwere der Verantwortung
zu nehmen, und ihnen in den Familien die Möglichkeit zu
geben, sich als junge Erwachsene zu verabschieden, dabei
Trauer und Angst zuzulassen, den eigenen Weg zu finden
und Schuldgefühle zu bewältigen.
Nicht selten sind die psychisch kranken Mütter bereits selbst
mit einer psychisch kranken Mutter aufgewachsen. Diese
Mütter hätten sich ebenso in ihrer Kindheit für ihre Gefühle
und Sorgen Ansprechpartner gewünscht.
In der systemischen Arbeit begegnet man immer wieder Eltern,
die ihre Kinder erziehen, die zugleich noch heute die Schwere
der Verantwortung für die psychische Erkrankung ihrer eigenen Mutter auf ihren Schultern tragen und ein ständiges
Gefühlschaos durchleben. Nicht selten erleben sie gleichzeitig
Schwierigkeiten in der Bindung zu ihren Partnern.
Die Arbeit mit der gesamten Familie wurde in den letzten
Jahren durch meine familientherapeutische Ausbildung intensiviert. Hierdurch entstanden weitere Chancen für alle
Beteiligten: die psychisch kranke Mutter, den erwachsenen
Angehörigen und die Kinder als kleine Angehörige, eine Kette
von Schuldgefühlen, Angst, Wut, Hass und Trauer auf allen
Ebenen zu durchbrechen und Ressourcen für jeden Einzelnen
herauszuarbeiten, um so eigene Lösungen zu finden.
Die Weiterentwicklung der Gruppenarbeit
und ihre Ausstrahlung im Netzwerk der Hilfen
Seit nunmehr 14 Jahren werden im Sozialpsychiatrischen
Dienst des Oberspreewald-Lausitzkreises die Kinder als
»kleine Angehörige« ernst genommen und mithilfe eines resilienzstärkenden Gruppenangebotes unterstützt, das einmal
im Monat stattfindet und zeitweilig in zwei Untergruppen für
jüngere Kinder und Jugendliche aufgesplittet wird.
Etwa einmal im Jahr findet eine gemeinsame Fahrt mit Übernachtung in Zelten statt. Das Gruppenangebot für die Kinder
ist vernetzt mit Angehörigengruppen für Erwachsene und
Betroffenengruppen. Bei Bedarf finden zusätzlich Einzel- und
Familiengespräche statt.
Seit Beginn haben 56 Kinder und Jugendliche an dem über
die gesamte Zeitspanne von der gleichen Person – Frau Bürgermeister – geleiteten Gruppenangebot teilgenommen. Von
diesen 56 Kindern haben sich – unseren Erkenntnissen zu Folge – fünf vorübergehend in stationäre und zwei in ambulante
psychiatrische Behandlung begeben. Vier Kinder wurden zeitweilig in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe betreut. In
diesem Zusammenhang ist deutlich geworden, wie wichtig es
ist, die Maßnahmen der Jugendhilfe gut auf die Bedürfnisse
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Bürgermeister, Jost, Fliegner: Kinder schizophrener Mütter – ein Rückblick auf 14 Jahre Gruppenarbeit und ein Einblick in die Netzwerkarbeit im Landkreis Oberspreewald-Lausitz
von Kindern schizophrener Mütter abzustimmen. Zu diesem
Zweck haben wir einerseits spezielle Fortbildungsveranstaltungen in Jugendhilfeeinrichtungen durchgeführt und seit drei
Jahren im Landkreis Oberspreewald-Lausitz einen etwa jährlich stattfindenden Erfahrungsaustausch mit Fachkräften der
Jugendhilfe, Experten aus ambulanten und stationären sozialpsychiatrischen Einrichtungen (Sozialpsychiatrischer Dienst,
niedergelassene Psychiater, Fachkräften aus der psychiatrischen Abteilung und der Kinderstation des Krankenhauses,
Sozialarbeiter komplementärer Dienste), Kostenträgern und
Mitgliedern der Fachhochschule etabliert. Die Teilnahme der
Kostenträger (Jugendhilfe und Eingliederungshilfe) erleichtert
es, für betroffene Familien flexible Lösungen bei der Vernetzung von Eingliederungshilfen für die Mütter und Hilfen zur
Erziehung für die Kinder zu entwickeln. Bewährt hat sich im
Oberspreewald-Lausitz-Kreis – bei guter Zuständigkeitsklärung zwischen den beiden Fachkräften – das ambulant betreute
Wohnen der Mutter über Leistungen der Eingliederungshilfe
in Kombination mit einer Unterstützung der Kinder durch
eine Sozialpädagogische Familienhilfe.
Mit der besseren Abstimmung der Hilfeplanungsprozesse der
Kinder- und Jugendhilfe einerseits und der Eingliederungshilfe andererseits befasst sich derzeit auch das rheinland-pfälzische Projekt »Kinder psychisch kranker Eltern: Prävention
und Kooperation von Jugendhilfe und Erwachsenenpsychiatrie«. In Rheinland-Pfalz geht es – ebenso wie bei uns – u. a.
um die Frage, wie die unterschiedlichen Professionen bei
Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Aufträge zu einem
»gemeinsamen« Fallverständnis von der Familie kommen können und wie man gemeinsam die Hilfen an den Bedürfnissen
der Familie ausrichten kann (Internetquelle 1).
Kinder, die durch lange Krankenhausbehandlungen der
Mutter in einer Heimeinrichtung oder in anderen Familien
untergebracht werden, erleben Trennungssituationen. Wer
kann diesen Kindern bei der Verarbeitung des Verlusterlebens und dem Trauerbedürfnis Unterstützung geben? Um
herauszufinden, welche stabilen Bindungen hier außerhalb
Kernfamilie als Ressource genutzt werden können, kann auch
ein Notfallplan wichtige Hinweise geben (vgl. Homeier 2006,
Beeck 2008 Internetquelle 2).
Wir haben diesbezüglich einen eigenen Notfallpan entwickelt,
der beispielsweise die besonderen Gewohnheiten der Kinder,
ihre wichtigsten Kontaktpersonen, Wünsche bei notwendiger Fremdunterbringung und die Bedeutung ihrer Haustiere
enthält. Inzwischen wurden 32 Notfallpläne mit betroffenen
Familien erstellt. Ein Exemplar befindet sich in der Regel bei
der Kontaktperson und Gruppenleiterin der Kindergruppe
im Sozialpsychiatrischen Dienst, eines bei den Familien zu
Hause und eines – falls gewünscht – bei anderen Helfern.
Bisher wurden fünf Notfallpläne im Jugendamt hinterlegt.
Ziel ist die Selbsthilfe vor der Amtshilfe in den Familien zu
fördern.
Insbesondere bei jüngeren Kindern ist die Aufnahme der Kinder als Begleitkinder bei einem stationären Krankenhausauf-
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
enthalt der Mütter in Betracht zu ziehen. Die nahe gelegene
Asklepios-Fachklinik in Lübben (damals noch Landesklinik
Lübben) hatte 2003 damit begonnen, Mütter und Kinder
gemeinsam aufzunehmen; eine Sozialarbeiterin der Klinik
unterstützt die Mütter mithilfe des Marte-meo-Ansatzes bei
der Beziehungsgestaltung zu ihren Kindern. Bis 2008 konnten
in dieser Klinik – unseren Recherchen zu Folge – 21 Mütter
mit ihren bis 3-jährigen Kindern dort aufgenommen werden,
wobei der Bedarf noch höher liegt. Derzeit gibt es Überlegungen, auch in der Tagesklinik des Klinikums Niederlausitz in
Kooperation mit der Kinderstation oder der Jugendhilfe in
Senftenberg eine gemeinsame Betreuung von Müttern und
ihren kleinen Kindern zu ermöglichen. Hier gibt es immer
wieder Hürden zu überwinden, die dadurch entstehen, dass
unterschiedliche Kostenträger zuständig sind; jedoch hilft das
Klima der Kooperation, das im Arbeitskreis entstanden ist,
manche Hürde zu überspringen.
Das bereits erwähnte rheinland-pfälzische Projekt entwickelt
bezüglich der Krankenhausaufnahme psychisch kranker Eltern
derzeit ein Frageraster zur Sensibilisierung für die Aspekte, die
die Kinder der Patienten betreffen (Internetquelle 1), denn es
ist durchaus nicht selbstverständlich, dass sich das Behandlungsteam einer Klinik in der nötigen Differenziertheit mit
den Folgen für die Kinder auseinandersetzt. Generell spielen
bisher die Kinder der Klienten auch in den Instrumenten der
integrierten Behandlungs- und Rehabilitationsplanung nur
eine sehr marginale Rolle.
Wir möchten mit diesem Artikel Mut machen hinzuschauen,
hinzuhören, zu unterstützen, und dabei Familien mit einem
psychisch kranken Elternteil nicht losgelöst, sondern nur im
Zusammenhang mit allen andern Mitgliedern der Familie
zu betrachten und hierbei Ressourcen im Umfeld gezielt zu
aktivieren.
Literatur
BÜRGERMEISTER U, JOST A (2000) Kinder schizophrener Mütter.
Sozialpsychiatrische Informationen 30 (2) S. 3 – 7
HOMEIER S (2006) Sonnige Traurigtage. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag
Internetquellen: Internetquelle 1: Projektkonzeption »Kinder psychisch kranker Eltern: Prävention und Kooperation von Jugendhilfe
und Erwachsenenpsychiatrie«, Teil 3 des Instituts für Sozialpädagogische Forschung Mainz e. V. in Kooperation mit dem Deutschen
Jugendinstitut in München, http://www.ism-mainz.de/admin/upload/
File/KpkrE_Projektkonzeption%20Phase%203.pdf
Internetquelle 2: Beeck, S: www.netz-und-boden.de
Anschrift für die Verfasserinnen
Prof. Dr. Annemarie Jost
Fachhochschule Lausitz
Lipezker Str. 47
03048 Cottbus
35
36
Datengestützte Planung
und Evaluation von Hilfen
für psychisch Kranke im
Sozialpsychiatrischen Verbund
der Region Hannover
Hermann Elgeti
Sozialpsychiatrisches Handeln heißt
Dialogfähigkeit und Kontextbezug
Die Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke
verkommt zu einer Art von Technokratie, wenn der Gehalt
dessen, was geplant und evaluiert werden soll, in den Hintergrund gerät. Wie könnten der Gehalt und die Grundhaltung
sozialpsychiatrischen Handelns bestimmt werden? Nach meinem Verständnis ist es die Kunst, auf diejenigen zuzugehen
und ihnen auch nachzugehen, die wegen Art und Ausmaß ihrer
psychischen und sozialen Probleme besonders gefährdet sind,
im gesellschaftlichen Abseits zu landen. Dort sieht sie nämlich
sonst keiner mehr, der ihnen helfen könnte oder wollte, und
oft genug sind solche Menschen dann nicht mehr in der Lage,
sich ohne Weiteres helfen zu lassen. Unser widersprüchlicher
Auftrag zwischen Hilfe und Kontrolle sollte uns nicht zurückschrecken lassen vor dem Gedanken an Hilfen und Schutzmaßnahmen gegen den Willen des Betroffenen, trotz der inneren
Zerreißproben, die das bei uns verursacht.
Sozialpsychiatrisches Handeln beinhaltet die Fähigkeit zur
Aufnahme eines respektvollen Dialogs auf fremdem Terrain,
ohne die Vertrautheit der uns gewohnten Umgangsregeln, fern
der herrschenden Normen und Standards. Wir müssen uns
immer wieder auf einen anderen Kontext einstellen, wenn wir
diagnostisch und therapeutisch tätig werden, angemessene
Hilfen planen und diese auf ihre Notwendigkeit, Wirksamkeit
und Wirtschaftlichkeit überprüfen. Um dem einzelnen Hilfsbedürftigen gerecht zu werden, müssen wir einkalkulieren,
dass sein Hilfebedarf abhängig ist von den Besonderheiten
seiner Lebensgeschichte, seiner aktuellen Notlage und seinen
Zukunftserwartungen.
Neben der Fähigkeit zum Dialog mit dem Betroffenen unter
erschwerten Bedingungen müssen wir auch seine Umwelt
in den Blick nehmen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen
dabei seine Angehörigen und Freunde, Nachbarn und Kollegen, ihre kulturelle Einbindung, ihre Hilfsmöglichkeiten
und Toleranzgrenzen. Wichtig sind aber auch die Kontakte
im Netzwerk der professionellen sozialen und medizinischen
Dienste in der Region, an die wir bei entsprechender Indikation weiter vermitteln oder mit denen wir bei komplexem
Hilfebedarf gemeinsam tätig werden wollen. Und nicht zuletzt sollten wir die für psychisch Kranke wichtigen Gesetze kennen, um dort zu beraten und zu unterstützen, wo es
Konflikte geben könnte bei der Leistungsgewährung oder bei
Regelverletzungen.
Die Qualität sozialpsychiatrischer Dienstleistungen hängt also
sehr von ihrem Kontextbezug ab, bei der Aufnahme eines
therapeutischen Dialogs ebenso wie bei der Analyse seines
Lebensumfelds. Daher gilt in der Sozialpsychiatrie auch ein
besonderes Versorgungsprinzip: Dezentralisierung und Integration unserer Hilfen in einem überschaubaren Einzugsgebiet
(sprich: Versorgungssektor) haben Vorrang vor der sonst so
eingängigen Tendenz zur Spezialisierung an einem zentralen
Ort mit den oft langen Anfahrtswegen.
Gemeindepsychiatrie braucht
regionale Koordinationsgremien
Ich habe diese Bemerkungen zur sozialpsychiatrischen Grundhaltung an den Anfang gestellt, weil sie der Bezugspunkt für
unsere Bemühungen in der Region Hannover um eine datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen bildet. Die
Geschichte dieser Bemühungen reicht in das Jahr 1966 zurück, als Karl Peter Kisker den psychiatrischen Lehrstuhl an
der neu gegründeten Medizinischen Hochschule Hannover
(MHH) übernahm. Kisker und auch Erich Wulff als Leiter
der 1974 zusätzlich eingerichteten Abteilung Sozialpsychiatrie stammten aus der phänomenologisch-anthropologischen
Linie der psychiatrischen Wissenschaft und machten sich mit
dieser Grundhaltung an die Reformarbeit.
Die MHH hatte zunächst noch gar keine eigenen Gebäude
für ihre Lehre, Forschung und Krankenversorgung, und so
war man auf die Gastfreundschaft einheimischer Kliniken
angewiesen. Die psychiatrische Arbeit an der MHH begann
auf zwei Stationen in Landeskrankenhaus Wunstorf, bald
darauf wurde eine Poliklinik im Stadtgebiet neu eingerichtet.
1967 wurde der Verein zur Förderung seelisch Behinderter e. V. gegründet, der sofort für die soziale Rehabilitation
chronisch psychisch kranker Patienten ein erstes Wohnheim
eröffnete.
Als Erich Wulff 1974 seinen Dienst antrat, gab es schon dezentrale Beratungsstellen des Sozialpsychiatrischen Dienstes
(SpDi) in jedem Sektor von Stadt und Landkreis Hannover,
zuzüglich einer zentralen Beratungsstelle für psychisch kranke
Kinder und Jugendliche. Die beiden Gesundheitsämter, die
vier Kliniken und weitere gemeindepsychiatrische Dienste im
Großraum trafen sich monatlich zu einem Koordinierungsgespräch, aus dem der jetzige Arbeitskreis Gemeindepsychiatrie hervorging. 1977 verabredete man einvernehmlich die
Einzugsgebiete von Kliniken und Beratungsstellen und legte
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Elgeti: Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover
sie in einem Straßenverzeichnis genau fest. Vieles wurde hier
bereits ausprobiert, als 1975 die Psychiatrie-Enquete mit ihren
Reformempfehlungen veröffentlicht wurde.
1980 übernahm die MHH per Vertrag mit der Stadt Hannover
für ihr Einzugsgebiet die Funktion eines SpDi nach dem Niedersächsischen Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen für
psychisch Kranke von 1978 (NdsPsychKG). Dieses Gesetz
wurde 1997 novelliert, und bei dieser Gelegenheit erhielten
die Kommunen in § 8 NPsychKG die neue Aufgabe, einen
Sozialpsychiatrischen Verbund (SpV) zu gründen, in dem
alle Anbieter von Hilfen für psychisch Kranke zur Mitarbeit
eingeladen sind. Die Einrichtungsträger werden aufgefordert,
dem Verbund neu geplante oder geänderte Hilfsangebote
anzuzeigen.
Die regionale Koordination und Planung der gemeindepsychiatrischen Versorgung in der Stadt und im Landkreis Hannover wurde anlässlich des neuen NPsychKG reorganisiert.
Dazu wurde eine Konzeption erstellt und eine formelle Vereinbarung zwischen den beiden Kommunen getroffen, die
mit der Bildung der Region Hannover im Jahre 2001 von dieser übernommen wurde. Dem gemeinsamen Sozialpsychiatrischen Verbund wurden vier Zielperspektiven vorangestellt,
die an der eingangs erläuterten Grundhaltung ausgerichtet
sind. Ein klein gehaltener Fachbeirat steht dem Dezernenten
zur Seite, der Arbeitskreis Gemeindepsychiatrie bildet die
monatlich tagende Vollversammlung des Verbundes, seine
Fachgruppen bearbeiten spezielle Themen. Sektor-Arbeitsgemeinschaften koordinieren die dezentralen Hilfsangebote
in den inzwischen elf Sektoren einer Region, die mit ihren
knapp 1,2 Mio. Einwohnern größer als das Saarland ist.
Eine Geschäftsstelle mit einem Psychiatriekoordinator, als
Stabsstelle der Leitung des Sozialpsychiatrischen Dienstes
zugeordnet, unterstützt die Arbeit der Gremien organisatorisch.
Die Selbsthilfeinitiativen der Psychiatrie-Erfahrenen und
ihrer Angehörigen wirken seit Anfang der 90er- bzw. Ende
der 80er-Jahre in den Gremien mit und spielen hier seitdem eine nicht zu überschätzende konstruktive Rolle. Die
Zahl der stimmberechtigten Mitglieder des Verbundes liegt
inzwischen bei 64 mit über 180 verschiedenen Hilfsangeboten. Die Beteiligung an den Gremiensitzungen ist rege, die
Diskussionen werden offen geführt, sind aber entsprechend
der Vorgaben des NPsychKG auf Konsensbildung angelegt.
Das fördert die Beteiligungsmöglichkeit interessierter Personen und Einrichtungen, erschwert, verzögert oder verhindert andererseits gelegentlich eine klare Positionierung
in Streitfragen.
Planung geht nicht ohne aussagekräftige
und vergleichbare Daten
2003 veröffentlichte Clemens Cording sein wichtiges Plädoyer für ein neues Paradigma zur Qualitätssicherung in der
Psychiatrie.1 Er fordert statt der betriebswirtschaftlichen Optimierung einzelner Institutionen eine gesamtgesellschaftliche
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Perspektive. Als Qualitätskriterien sollen gelten die individuellen Langzeitergebnisse über alle beteiligten Institutionen
hinweg und die Versorgungsqualität definierter Regionen. Die
zu ergreifenden Maßnahmen müssen nach ihrer Kosteneffektivität priorisiert werden, ihre Implementierung schrittweise,
zielorientiert und koordiniert erfolgen. Notwendig sind dazu
entsprechende politisch-administrative Rahmenbedingungen.
Gesundheitsberichterstattung im Allgemeinen und Psychiatrieberichterstattung im Besonderen sind in Deutschland
unterentwickelt. Die vorhandenen Ansätze sind in der Regel
mangels Aktualisierung, Aussagekraft und Vergleichbarkeit
für Planungszwecke nicht zu gebrauchen. Jeder kennt inzwischen die Bestandteile einer Qualitätsentwicklung komplexer
Organisationen, und jeder weiß, dass Ergebnisse messbar sein
müssen, um den Erfolg geplanter Maßnahmen überprüfen zu
können. Situationsanalyse, Politikformulierung, Umsetzung
und Ergebnismessung bilden einen fortlaufenden Zirkelprozess, in dem Soll-Bestimmungen und Messungen des IstZustandes gleichermaßen ihren Platz haben.
Laut § 9 des NPsychKG soll der SpDi der Kommune im Benehmen mit dem Verbund einen Sozialpsychiatrischen Plan
aufstellen und regelmäßig fortschreiben. Da nun Planung
auf verlässliche Datenerhebung angewiesen ist, wurde in der
Konzeption des Verbundes der Region Hannover auch eine
regionale Psychiatrieberichterstattung vorgesehen. In drei
Schritten wurden statistische Jahresberichte der Einrichtungsträger nach einheitlichem Muster eingeführt. Die Daten eines
Berichtsjahres sollen bis zum 31. März des Folgejahres bei
der Geschäftsstelle abgegeben, innerhalb von drei Monaten
ausgewertet und dann den Einrichtungen und Gremien des
Verbundes zwecks Interpretation zur Verfügung gestellt werden. Ein zusammenfassender Auswertungsbericht erscheint
regelmäßig zum Jahresende im Sozialpsychiatrischen Plan.2
Dieser Plan umfasste in den letzten Jahren etwa 100 Seiten
und enthält neben Stellungnahmen des Dezernenten, der
Leitung des SpDi und der Selbsthilfe-Initiativen Beiträge zu
einem wechselnden Schwerpunktthema, zur Tätigkeit der
Gremien und auch einen Sonderteil Hilfen für psychisch
kranke Kinder und Jugendliche.
Die Beteiligung an der Datenerhebung ist noch unbefriedigend, aber ein Anfang ist gemacht.3 Ein langer Atem ist
auch hier Voraussetzung für den Erfolg. Immerhin verfügen
wir für die Berichtsjahre 2001, 2004 und 2006 über recht
vollständige Angaben zu allen Hilfsangeboten mit ihren Platzzahlen und Kostensätzen, mit Umfang und Qualifikation des
dort eingesetzten Personals (Datenblätter A und B). Seit der
Einführung der anonymisierten Basis- und Leistungsdokumentation (Datenblatt C) für das Berichtsjahr 2001 hat die
Beteiligung hier kontinuierlich zugenommen. So lagen für
das Berichtsjahr 2007 immerhin knapp 9000 Datensätze
zur Auswertung vor. Eine gute Aussagekraft hat inzwischen
die Auswertung für die Angebotsformen des Sozialpsychiatrischen Dienstes, der Suchtberatungsstellen, Tagesstätten
37
38
Elgeti: Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover
und des ambulant betreuten Wohnens, während die großen
Klinik- und Heimträger sich gerade hier noch nicht in die
Karten gucken lassen.
Neben den Primärdaten der Leistungserbringer auf den
Datenblättern A – C bekommen wir Daten der Gebietskörperschaften aus ihrer kleinräumigen Jahresstatistik. Wir
erhalten für jeden Sektor die Einwohnerzahl, differenziert
nach den Altersgruppen unter 18 Jahren, zwischen 18 und
unter 65 Jahren sowie ab 65 Jahren, zusätzlich die Zahl der
Arbeitslosen und die Gebietsfläche der Sektoren in Hektar.
Mit einem eigens entwickelten EDV-Auswertungsprogramm
berechnen wir aus diesen Daten insgesamt 28 Kennzahlen,
die automatisch und bezogen auf die jeweiligen Adressaten in
Auswertungstabellen zusammengestellt werden. So werden
Längsschnitt- und Querschnittvergleiche für Hilfsangebote
und ihre Patientengruppen möglich, aber auch zusammengefasst für Patientengruppen aus bestimmten Sektoren und
für Hilfsangebote einzelner Angebotsformen.
Die Prävention von Langzeithospitalisationen
ist ein lohnendes Ziel
Nun möchte ich von einem Versuch berichten, eine ganze
Versorgungsregion für eine gemeinsame Zielvereinbarung
zu gewinnen, wobei aussagekräftige und vergleichbare Daten
eine wichtige Rolle im Soll-Ist-Vergleich spielen. Dazu will
ich zunächst von einer lange zurückliegenden Begebenheit
berichten, die mich früh davon überzeugte, dass wir gute
quantitative Daten brauchen, um qualitative Verbesserungen
im Sinne unserer sozialpsychiatrischen Grundsätze zu erreichen und abzusichern. Ich war 1986 bereits als Assistenzarzt
in der Sozialpsychiatrischen Poliklinik tätig, als ein älterer
Kollege in unserem Team um Datenmaterial für seine Habilitation nachsuchte.4 Seine These, dass der psychiatrische
Hausbesuch ein kritikwürdiger Eingriff in die Privatsphäre des
Betroffenen sei, vergleichbar mit der Injektion einer DepotSpritze, rief meinen Protest hervor und schuf die Motivation
für eine kleine Gegenuntersuchung.5 Wir konnten zeigen,
dass unsere Interventionen sich weniger an der klinischen
Diagnose unserer Patienten ausrichten als an ihrer sozialen
Ausgrenzung und mangelnden Mobilität.
Der kurze Fragebogen, den ich damals für eine Beantwortung
durch die Bezugstherapeuten entwickelt hatte, enthielt im
Prinzip bereits die Merkmale des psychosozialen Risikoscores,
mit dem wir später Risikogruppen für Langzeithospitalisationen abschätzen lernten. In einer groß angelegten Studie im
Auftrag des Landesfachbeirates Psychiatrie Niedersachsen
hatten wir für den Zehnjahres-Zeitraum 1987 bis 1996 alle
chronisch psychisch Kranken unseres Versorgungssektors mit
allgemeinpsychiatrischen Diagnosen erfasst.6 Einschlusskriterien waren mindestens zwei Kontakte zu einem der hier
zuständigen institutionsbezogenen Dienste (die Klinik und die
Poliklinik, zwei Wohnheime und eine Werkstatt) im Abstand
von wenigstens zwei Jahren sowie ein Alter unter 65 Jahren
bei Erstkontakt.
Von den 313 Patienten der Untersuchungsgruppe hatten
68 % eine Erstdiagnose aus dem schizophrenen Formenkreis
(F2 nach ICD-10), und diese waren zu einem relativ höheren Prozentsatz Männer (44 % gegenüber 26 % bei anderen
Erstdiagnosen). Eine Langzeithospitalisation innerhalb des
Zehnjahres-Zeitraums wiesen 28 % der 213 schizophren erkrankten Patienten auf, während es bei den 100 Patienten
mit anderen Diagnosen lediglich 8 % davon betroffen waren.
Langzeithospitalisation haben wir definiert als summierte Aufenthaltsdauer von mindestens 365 Tagen in der Klinik oder
vier Quartalen im Heim innerhalb von zwei Jahren. Unter
den 213 schizophren erkrankten Patienten waren Männer
mit einem Ersterkrankungsalter von unter 25 Jahren besonders häufig von einer Langzeithospitalisation betroffen. Das
beim – oft lange zurückliegenden – Erstkontakt in einer der
untersuchten Einrichtungen errechnete psychosoziale Risiko, gemessen als Summenscore von sechs Merkmalen einer
normalen Basisdokumentation, hatte eine gute Aussagekraft
in Bezug auf eine solche Langzeithospitalisation.
Einige weitere Ergebnisse aus späteren Untersuchungen bestätigten die aus der Forschung und der Alltagspraxis vertraute Vermutung, dass junge Männer mit einer funktionellen Psychose eine Hochrisikogruppe für einen ungünstigen
Verlauf der Erkrankung darstellen. Bei den Bewohnern von
zwei therapeutischen Wohnheimen, die im Jahre 2001 von
der Psychiatrischen Institutsambulanz unserer Poliklinik
mit behandelt wurden, betrug der Anteil psychosekranker
Männer mit einem Ersterkrankungsalter von unter 25 Jahren
32 %. Bei der Evaluation der Planung von Eingliederungshilfen in der Region Hannover zeigte sich, dass in 57 % der
Hilfeplanverfahren im Berichtsjahr 2001 Männer betroffen
waren, die zudem ein deutlich höheres psychosoziales Risiko aufwiesen als Frauen.7 Von insgesamt 570 Hilfeplanverfahren in diesem Jahr waren 287 Neuplanungen (ohne
Empfehlungen für eine WfbM), und bei der Empfehlung
stationärer oder kombiniert ambulant-teilstationärer Eingliederungshilfen waren hier Männer sogar zu 69 % betroffen.
Die Diskrepanz zwischen einem hohen Anteil von Männern
bei Neuplanungen und niedrigeren Werten bei der Fortschreibung laufender Maßnahmen deutet darauf hin, dass
Männer empfohlene Eingliederungshilfen häufiger vorzeitig
beenden.
Die Ergebnisse dieser regional angelegten Studien führten zur
Beleuchtung des hier angedeuteten Problems mit den Daten
der regionalen Psychiatrieberichterstattung, wie wir sie in der
Region Hannover eingeführt haben. Dabei ließ sich zeigen,
dass die kleine Gruppe von Männern mit einer funktionellen
Psychose im Alter unter 25 Jahren eine vergleichsweise geringere Kontinuität außerklinischer Betreuung aufwies. Sehr
hoch dagegen war bei dieser Gruppe der Anteil von Klinikbehandlungen im Berichtsjahr. Dieser schon im Jahre 2001 bei
Einführung des Datenblattes C sichtbare Befund bestätigte
sich in seiner Tendenz auch bei allmählichem Anstieg der
Zahl abgegebener Datenblätter in den Folgejahren.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Elgeti: Datengestützte Planung und Evaluation von Hilfen für psychisch Kranke im Sozialpsychiatrischen Verbund der Region Hannover
Zusammenfassend besteht das Problem darin, dass bei
psychosekranken jungen Männern die Erkrankung häufig
chronisch verläuft und einen komplexen Hilfebedarf erzeugt.
Abbruch von Hilfemaßnahmen, Suchtmittelmissbrauch und
dissoziale Verhaltensweisen erschweren die notwendige kontinuierliche sozialpsychiatrische Behandlung und Betreuung.
Hoch ist das Risiko für Vereinsamung, für Arbeits- und Wohnungslosigkeit, für Selbst- oder Fremdgefährdung, langfristige
Klinik- und Heimaufenthalte. Als Lösungsansatz haben wir
den Mitgliedern des Sozialpsychiatrischen Verbundes 2004
den Abschluss einer regionalen Zielvereinbarung vorgeschlagen, die bei dieser eng umgrenzten Patientengruppe zu einer
Verbesserung der Kontinuität außerklinischer Betreuung
führen soll. Dazu sollen die psychiatrischen Dienste und
Einrichtungen den SpDi benachrichtigen, wenn ein psychosekranker Mann unter 25 Jahren die Betreuung beendet oder
abgebrochen hat, ohne dass die weitere Versorgung trotz entsprechender Notwendigkeit gesichert ist. Daraufhin wird ein
Mitarbeiter des SpDi bestimmt, der für den Betroffenen und
seine Bezugspersonen langfristig ansprechbar ist und dafür
sorgt, dass er ihn nicht aus den Augen verliert.
Die Diskussionen der letzten zwei Jahre in den Gremien des
Verbundes haben mir gezeigt, wie gewöhnungsbedürftig ein
solcher Ansatz zur Qualitätsentwicklung für alle noch ist.
Die Vollversammlung des SpV hat sich im Jahre 2006 hinter
diesen Vorschlag gestellt, aber für die Umsetzung der Vereinbarung ist bis jetzt noch nicht viel passiert. Vier zentrale
Fragen sind in solchen regionalen Zielvereinbarungen zu beantworten: Was soll wann erreicht sein? Wie soll der Erfolg
gemessen werden? Wie soll das Ziel erreicht werden? Wer
ist verantwortlich? Bei allen noch zu lösenden Problemen ist
doch immerhin die Messbarkeit des Erfolgs mit den Daten
der regionalen Psychiatrieberichterstattung ohne zusätzlichen
Aufwand gegeben. Wir können Jahr für Jahr feststellen, ob
sich die geringere Kontinuität der außerklinischen Betreuung und der höhere Anteil stationär Behandelter bei unserer
Zielgruppe den Werten des Durchschnitts aller Patienten mit
funktionellen Psychosen angleichen oder nicht. In dieser Hinsicht hat es in den letzten drei Berichtsjahren 2005 bis 2007
keine Angleichung der Differenzen gegeben.
Angesichts zunehmender Tendenzen zur Rationalisierung
und Rationierung von Hilfeleistungen für psychisch Kranke
wird es einerseits immer schwieriger, andererseits immer
notwendiger, Fortschritte in der von mir skizzierten Richtung
zu erzielen. Auch hier sollten wir aufmerksam gegenüber
den Widersprüchlichkeiten unseres Handelns bleiben. Missbrauch von Ressourcen durch Patienten oder Therapeuten
muss bekämpft werden, aber Misstrauen bedroht das so
wichtige Vertrauen und Selbstvertrauen, eine um sich greifende Kontrolle engt die Spielräume aller ein. Die Qualität
der Versorgung muss gesichert werden, aber eine Standardisierung von Behandlungs- und Rehabilitationsprogrammen
verkennt die Besonderheiten des Einzelnen, bevorzugt die
durchschnittlich Kranken und entmachtet Patienten wie
Therapeuten.8 Kosten müssen eingespart werden, aber die
Verknappung der Mittel trifft zuerst und am härtesten die
am schwersten beeinträchtigten Kranken ohne soziale Unterstützung, die sich selbst nicht helfen und die sich auch
nicht wehren können.
So bleibt mir am Schluss nur die Empfehlung, den Chancen
und Risiken einer datengestützten Planung und Evaluation
gleichermaßen ins Auge zu schauen und sich nicht vorzeitig
abzuwenden, weil einem die Thematik ungewohnt oder unbehaglich ist. Die finanziellen Rahmenbedingungen für eine
ethisch verantwortbare Gemeindepsychiatrie werden sich so
schnell nicht wieder verbessern. Wir tun deshalb gut daran,
unsere Arbeit selbstbewusst und selbstkritisch auf den Prüfstand zu stellen, sie gegenüber den Psychiatrie-Erfahrenen
und ihren Angehörigen, den Kostenträgern und der Politik
transparent und nachvollziehbar zu machen. Wenn wir mit
den genannten Partnern nicht zu einer großen Koalition auf
Augenhöhe kommen, kriecht die Schnecke des gemeindepsychiatrischen Fortschritts garantiert rückwärts.
Anmerkungen
1 CORDING C (2003) Plädoyer für ein neues Paradigma psychiatrischer Qualitätssicherung. Psychiatrische Praxis; 225 – 229
2 Region Hannover: Sozialpsychiatrischer Pläne 2007 und 2008 als
Download unter: www.hannover.de/de/gesundheit_soziales/beratung/gesundheitsberatung/beratung/gpsych/verbund/index.html
3 ELGETI H (2007) Die Wege zur regionalen Psychiatrieberichterstat-
Der Fortschritt ist eine Schnecke,
die auch rückwärts kriechen kann
Ich wollte in einem größeren Zusammenhang darstellen,
was ich unter einer datengestützten Planung und Evaluation
von Hilfen für psychisch Kranke verstehe. Dabei habe ich
mich auf ein über 20-jähriges Engagement in der Region
Hannover bezogen und an einem Beispiel dargestellt, wie
wir Schritt um Schritt versuchen, auf diesem Weg voranzukommen. Die technischen Möglichkeiten haben in dieser
Zeit rasant zugenommen, die Widerstände gegen Transparenz im Leistungsgeschehen der gemeindepsychiatrischen
Versorgung haben sich allerdings nach meinem Eindruck
kaum verringert.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
tung sind lang. Ein Werkstattbericht aus Hannover über die Jahre
1997 – 2007. In: ELGETI H (Hg.) Psychiatrie in Niedersachsen
Jahrbuch 2008. Bonn: Psychiatrie-Verlag; 132 – 47
4 STOFFELS H, KRUSE G (1996) Der psychiatrische Hausbesuch:
Hilfe oder Überfall? Bonn: Psychiatrie-Verlag
5 ELGETI H, HARTMANN U (1988) Soziale Ausgrenzung, psychiatrische Diagnose und Behandlungsform. Fundamenta Psychiatrica
2 (4): 208 – 301
6 ELGETI H, BARTUSCH S, BASTIAAN P, STEFFEN H (2001) Sind
Langzeithospitalisationen bei chronisch psychisch Kranken vermeidbar? Ein Beitrag zur Evaluation gemeindepsychiatrischer
Versorgungsbedingungen. Sozialpsychiatrische Informationen
31 (Sonderheft): 51 – 58
39
40
7 ELGETI H (2004) Evaluation der Planung von Eingliederungshilfen. Gesundheitswesen 2004; 66: 812 – 815
8 SCHERNUS R et al. (2004) Soltauer Impulse – Zu Sozialpolitik und
Ethik am Beispiel psychiatrischer Arbeitsfelder. Soziale Psychiatrie
Heft 3; 34 – 36
Frühberentung für
den Homo sapiens
dringend empfohlen
Andreas Meißner
Anschrift des Verfassers
Dr. Hermann Elgeti
Medizinische Hochschule Hannover
Sozialpsychiatrische Poliklinik
Podbielskistraße 158
30177 Hannover
[email protected]
Angesichts der zunehmenden Folgen der ökologischen Krise, der Energie- und Rohstoffverknappung sowie der bisher
nicht nachhaltigen Lebensweise der Menschheit insbesondere in den Industriestaaten lässt sich die Forderung nach
einem weniger umweltschädlichen Verhalten insbesondere
der Bürger in unseren Breiten ableiten. Weniger Energie und
Materie verbrauchende Arbeit im klassischen Sinn ist daher
dringend geboten.
Vor zunehmenden ökologischen Problemen – vor allem dem
Klimawandel, aber auch der Rohstoffverknappung, der Artenvernichtung und anderen bedenklichen Veränderungen mit
daraus resultierenden Komplikationen – wird von Fachautoren
vielfach gewarnt (1). Im Kontrast dazu fallen die bisher noch
geringen Änderungen der Verhaltensweisen vor allem der
Menschen in den westlichen Industriestaaten auf. Diese Diskrepanz ist auch von psychologischem bzw. psychiatrischem
Interesse. Psychologische Hemmnisse der Bewältigung der
ökologischen Krise konnten bereits erkannt werden (2), evolutionsbiologische Aspekte kommen hinzu (3). Generell, aber
auch speziell aus psychiatrischer Sicht stellt sich zugespitzt
die Frage, ob der Homo sapiens grundsätzlich dazu in der
Lage ist, die gewaltigen vor ihm liegenden Herausforderungen zu bewältigen. So wird von Experten in erster Linie eine
nachhaltige Lebensweise und dabei eine Werteveränderung
gefordert, was enorme Folgen auch für die Alltagsgestaltung
hätte. Immer deutlicher wird erkennbar, dass durch Arbeit
und Produktion, die weiterhin in unseren Breiten einen zentralen Stellenwert einnehmen, aus ökologischer Sicht häufig
mehr Schaden als Nutzen verursacht wird (4), beispielsweise
durch die beschleunigte Rohstoffumwandlung in Produkte,
die dann letztlich als Abfall enden, des Weiteren durch die
dabei erfolgende Energietransformation mit Verbrauch von
Energieträgern, und durch in diesem Zusammenhang vermehrte ökologisch schädliche Mobilität. Mehr Energie und
Materie sparende Muße, weniger Arbeit, Mobilität und Hektik: diese auch psychiatrisch und psychotherapeutisch immer
wieder im Zentrum stehenden Veränderungsziele erscheinen
jetzt unter ganz anderen Gesichtspunkten zwingend notwendig. So wird Homo sapiens sich zurücknehmen müssen, um
die eigenen Lebensgrundlagen zu erhalten und sich nicht
gesundheitlich sowie hinsichtlich seiner Existenz überhaupt
zu gefährden. Eine Arbeitszeitreduktion tut also not. In nicht
immer ganz ernst zu nehmender Zuspitzung wird daher über
ihn von einem erfahrenen Rentengutachter das folgende Rentengutachten erstellt.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen
Ökologisch-psychiatrisches Gutachten
Betrifft: Herrn und Frau Homo sapiens.
Alter: Geschätzt auf bis zu zwei Millionen Jahre
Wohnhaft: Global, in unterschiedlicher Dichte verbreitet, hier
speziell: In den westlichen Industrieländern.
Anlass der Begutachtung
Das Gutachten wird nicht auf Veranlassung des Probanden
erstellt, vielmehr im Gegenteil auf Initiative des Biosystems
Erde als ökologischer Kostenträger mit dem Anliegen, den
Probanden ggf. auch gegen seinen Willen einer frühzeitigen
Berentung zuzuführen, da dieser durch zunehmende Erwerbstätigkeit und anderweitig fragwürdige Beschäftigung im steigenden Maße sich als fremdgefährdend und auch letztlich
selbstgefährdend erweist. So ist von ihm geplant, die wöchentliche Arbeitszeit weiter noch auf deutlich über 40 Stunden zu
erhöhen, zusätzlich Urlaubstage zu kürzen, Überstunden zu
absolvieren und somit insgesamt seine wirtschaftlichen Aktivitäten weiter zu verstärken; zu befürchten sind eine fortgesetzte
Ausbeutung von an sich bereits zu Ende gehenden Rohstoffen
mit noch mehr daraus erfolgender Herstellung von Abfällen,
dabei sowie auch durch andere ökologische Probleme sich
häufende Konflikte, zunehmende Hungerkrisen sowie das
Aussterben weiterer Tierarten.
Eigene Untersuchungen
Aktuelle Situation
Der hier untersuchte in den Industriestaaten lebende Homo
sapiens selbst klagt über zunehmenden Zeitdruck, Stresssymptome wie Schlafstörungen, innere Unruhe, schwankenden Blutdruck, Magenbeschwerden, selten auftretende, dann
aber quälende Selbstzweifel sowie in den letzten Jahrzehnten
zunehmend aufkommende Somatisierungstendenzen vor allem in den Stütz- und Bewegungsapparat.
Hinsichtlich seiner Lebenssituation ist in Erfahrung zu bringen, dass zunehmend Veränderungen auftreten, an denen
der Proband ursächlich nicht unbeteiligt war. Anzugeben
sind eine zunehmende Erwärmung, eine Verknappung von
Rohstoffen und Trinkwasser, das Aussterben anderer auf
Erden lebender Spezies, die Verunreinigung von Boden und
Gewässern sowie weitere bedrohliche Entwicklungen. Im Alltag belasten ihn unter anderem weite Arbeitswege, Hektik,
komplizierte zwischenmenschliche Beziehungen, zu Ruhe
und Reflexion komme er nur selten.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Biografische Anamnese
Hierüber sind nur wenige genaue Angaben in Erfahrung zu
bringen. Während einer offensichtlich lange, ca. zwei Millionen Jahre, anhaltenden, stetigen und ruhigen Entwicklungsphase zeigten sich, abgesehen von teilweise widrigen
äußeren Lebensumständen, keine besonderen Auffälligkeiten.
Wanderungsbewegungen aus der afrikanischen Savanne in
viele Regionen dieser Welt wurden größtenteils erfolgreich
bewältigt. Auffällig ist ein Entwicklungsschritt vor ca. 130 00
Jahren mit Übergang vom nomadenhaften Jäger- und Sammlerdasein zu Ackerbau und Sesshaftigkeit mit dadurch geringerer Mobilität und zunehmender körperlicher Schonung, dies
dann beschleunigt durch eine zunehmende Entwicklung von
Gebrauchsgegenständen, insbesondere dann bei Verwendung
neuer Energieträger als Lebensgrundlagen, die auffälligerweise in immer rascherer Folge gewechselt bzw. ergänzt werden
mussten: erst von Holz zur Kohle vor etwa 700 Jahren, dann
zum Öl vor etwa 150 Jahren und vor wenigen Jahrzehnten
zur Atomkraft. Zu dieser immer rascheren Abfolge kam dann
auch eine zunehmende äußere Unruhe im Leben des Homo
sapiens hinzu nach der langen und stabilen vorherigen Phase,
dabei wurden auch wiederholte Änderungen der Lebensanschauungen und Glaubensbezüge vollzogen.
Soziale Situation
Überwiegend erwerbstätig, zum kleineren Teil arbeitslos, zumeist in Kleinfamilie lebend in einer Mietwohnung, häufig
jedoch auch in Wohneigentum. Zunehmende Verschuldung.
Tendenz immer instabiler werdender sozialer Beziehungen
mit häufigeren Scheidungen und Trennungen, zunehmendem Single-Dasein und geringerem Interesse an früher sinnstiftenden Institutionen wie Kirche, Vereinen und Parteien.
Aufgrund geringeren Nachwuchses und längerer Lebenserwartung zunehmende Überalterung. Freizeitinteressen vorwiegend aus Fernsehen sowie aus Reisen bestehend.
Somatische Anamnese
Im Rahmen seiner evolutionären Entwicklung enorme Zunahme des Hirnvolumens mit noch starker Wirksamkeit der tiefer
gelegenen älteren Hirnanteile. Insbesondere in den letzten
Jahrhunderten auffällig zunehmende Lebenserwartung, weniger jedoch durch die in den letzten 50 Jahren zunehmende
Hightech- und Apparatemedizin, sondern vielmehr durch
abnehmende Säuglingssterblichkeit, verbesserte Hygiene und
Infektionsbekämpfung, des Weiteren jetzt eher vom Einkommen abhängiger Gesundheitsstatus. Zunehmende Zivilisationskrankheiten mit Übergewicht, erhöhtem Cholesterin,
Herz-Kreislauferkrankungen und Knochen- sowie Gelenksleiden bei Fehlernährung und mangelnder Bewegung.
Medikamenteneinnahme: Umfangreiche Palette möglicher
Medikamente, teilweise jedoch kaum wirksam. Begehrt sind
insbesondere Beruhigungs- und Schlafmittel. Häufig Einnahme von blutdruck- und cholesterinsenkenden Mitteln
nötig.
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42
Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen
Vegetative Anamnese
Der Appetit ist sehr gut, insbesondere im Zusammenhang
mit den über die Jahrtausende hinweg veränderten Ernährungsgewohnheiten. Hinsichtlich des Schlafes werden zunehmende Ein- und Durchschlafstörungen beklagt. Miktion und
Stuhlgang sind zumeist unauffällig. Häufiger Nikotinkonsum
sowie insgesamt steigender Alkoholkonsum (vor allem in der
jungen Generation des Homo sapiens) mit gewohnheitsmäßigem und ritualisiertem Konsum werden angegeben, jedoch
oft auch mit Abusus und Abhängigkeit. Zum kleineren Teil
Drogenkonsum.
Psychiatrische Anamnese
Bisher keine konsequente psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung, kein Suizidversuch in der Vorgeschichte, jedoch wiederholt in der Geschichte in größerem
Umfang autodestruktive Handlungen mit vor allem im letzten
Jahrhundert millionenfachen Todesfällen sowie auch jetzt
selbstschädigende Handlungen ohne direkte suizidale Absicht, jedoch mit unbewusster Inkaufnahme eines tödlichen
Ausgangs seines Daseins.
Körperlicher und psychischer Befund
Zumeist adipös. Auf den genaueren körperlichen Untersuchungsbefund kann angesichts der Fragestellung an dieser
Stelle verzichtet werden.
Psychisch zeigt sich der bewusstseinsklare und orientierte
Proband von zumeist mäßiger, vereinzelt guter Intelligenz und
eingeschränkter Bildung. Gröbere kognitive Einschränkungen
in Hinblick auf Konzentration, Aufmerksamkeit, Auffassung
und Konzentration sind nicht erkennbar.
Im formalen Denken ist er geordnet, inhaltlich jedoch deutlich
eingeengt auf einen Einkommens- und Wohlstandszuwachs,
auf Wirtschaftswachstum und Karriereplanung. Diesbezüglich sind auch die Wertvorstellungen und Glaubensbezüge
des Probanden ausgerichtet. Dabei zeigt sich eine nahezu
schon wahnhafte Symptomatik im Sinne einer unkorrigierbaren Überzeugtheit von dem Nutzen weiteren technologischen Fortschritts und steigendem Wirtschaftswachstums,
fast schon einem religiösen Wahn entsprechend mit hoher
Heilserwartung. Sinnestäuschungen im engeren Sinne liegen nicht vor, jedoch Wahrnehmungsstörungen im weiteren
Sinne dahingehend, dass etliche letztlich auch bedrohliche
Veränderungen seiner Lebenssituation von ihm kaum wahrgenommen werden. Ich-Störungen bestehen dahingehend,
dass er ungemein beeinflussbar ist von zumeist reißerisch
berichtenden Medien oder fraglichen Experten.
In der Grundstimmung gibt er sich ausgeglichen bis heiter,
hierbei jedoch eine tieferliegende depressive Symptomatik
dissimulierend (kaschierend). Insbesondere unter Verwendung von Ablenkungsstrategien mittels Fernsehen, Alkohol,
Reisen, Musik und anderen kulturellen Einrichtungen gute
affektive Auslenkbarkeit. Bei jedoch nur vereinzelt auftretender Wahrnehmung der realen Situation dann auftreten-
de Panikattacken bzw. auch hysterieforme Reaktionen mit
Tendenz zur Übertreibung, dies jedoch in sehr geringem
Umfang. Weit überwiegend sind psychodynamisch gesehen
Abwehrmechanismen wie Verdrängung sowie Projektion
erkennbar, Letztere dahingehend, dass andere für die missliche Situation verantwortlich gemacht werden (Politiker,
Manager, andere Länder etc.). Eigene Anteile dabei werden
verleugnet. In diesem Zusammenhang sind narzisstische Persönlichkeitsanteile erkennbar mit inadäquaten Größenideen
von sich selbst und leichter Kränkbarkeit bei Konfrontation
damit. Zudem zeigen sich autodestruktive Tendenzen in
Hinblick auf die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen
sowie im Umgang untereinander, des Weiteren fremdgefährdende Tendenzen mit kaum vorhandener Rücksichtnahme
auf arme Erdenmitbewohner sowie mit Vernichtung anderer
Spezies.
In der Persönlichkeitsstruktur zeigen sich abhängige Tendenzen mit nahezu blindem Vertrauen auf einen »letzten Retter«, der dann die Lösung für die verschiedenen Probleme
bringen solle, ob dies nun ein Gott, Politiker oder andere
wesentliche Bezugspersonen jeweils sind. Zudem bestehen
(roh)stoffgebundene Abhängigkeiten.
Eine vegetative Symptomatik besteht im Hinblick auf eine
deutliche Appetitsteigerung, Fehlernährung und die beschriebenen Schlafstörungen. Wiederholt werden Somatisierungstendenzen, insbesondere bezogen auf den Stütz- und
Bewegungsapparat, teilweise jedoch auch bezogen auf Gastrointestinaltrakt und Herz-Kreislaufbereich angegeben.
Diagnose
Aus psychiatrischer Sicht besteht eine komplexe psychiatrische Gesundheitsstörung mit depressiven Anteilen, autodestruktiven Tendenzen, narzisstischen und dependenten
Persönlichkeitsanteilen sowie Somatisierungstendenzen vor
allem bezogen auf den Stütz- und Bewegungsapparat.
Beurteilung
Es stellte sich vor der Proband im fortgeschrittenem Lebensalter im von ihm nicht erwünschten Rentenverfahren. Im
Rahmen der jetzt durchgeführten psychiatrischen Betrachtung stellt sich ein komplex-psychiatrisches Krankheitsbild
dar. Mehrere Differenzialdiagnosen waren genauer zu untersuchen. Letztlich steht eine vielfache psychiatrische Komorbidität im Vordergrund, ohne dass eine einzelne Störung
eindeutig herausragt.
Differenzialdiagnostische Erwägungen
Etwas deutlicher akzentuiert ist gegenwärtig erkennbar die
Suchterkrankung des Homo sapiens mit (roh)stoffgebundener
Abhängigkeit und jetzt deutlich erkennbaren Entzugserscheinungen bei zu Ende gehenden Ressourcen, etwa im Bereich
der Energieträger. Hierbei werden auch dissoziale Tendenzen zumindest diskret erkennbar bei den Bemühungen, sich
nun die restlichen noch zur Verfügung stehenden (Energie-)
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen
Substanzen anzueignen mit teilweise kriegerischen Tendenzen unter den hierbei Konkurrierenden sowie gegenüber den
Rohstoffe Besitzenden.
Eine Schizophrenie im engeren Sinne kann ausgeschlossen
werden, wenngleich ein gewisses »schizophrenes« Verhalten
durchaus erkennbar ist bei zwar vorhandenem Wissen über
den Zustand der Lebensgrundlagen, gleichzeitig jedoch dem
diametral widersprechendem Verhalten. Suizidalität besteht
somit nicht direkt, erkennbar sind jedoch selbstschädigende Handlungen mit Inkaufnahme eigener Vernichtung oder
tödlichen Verletzungen bzw. Inkaufnahme desgleichen bei
anderen. Dies zeigt sich beispielsweise in der bisher auf deutschen Autobahnen unbegrenzten Raserei, jedoch auch im
Verhalten des Homo sapiens insgesamt mit Vernichtung und
erhöhtem Verbrauch der eigenen Lebensgrundlagen und dadurch eintretender Verknappung von Rohstoffen wie auch
von Trinkwasser. Neben den autodestruktiven Handlungen
sind hier auch fremdaggressive Tendenzen erkennbar, da der
Proband für den eigenen Wohlstand gerne das Leiden und
die Armut des Homo sapiens in anderen Landstrichen sowie
das Aussterben anderer Spezies in Kauf nimmt.
Eine hysterieforme Störung kann ausgeschlossen werden,
da nur vereinzelt entsprechende Überreaktionen auf die
bestehende aktuelle Situation erkennbar sind, insgesamt
jedoch eher eine ausgesprochene psychomotorische Ruhe
hinsichtlich der aktuellen Situation besteht, die für sich
betrachtet schon fast wieder als auffällig zu bezeichnen ist
und im Kontrast steht zur äußeren Mobilitätsunruhe und
Zeitnothektik. In diesem Zusammenhang ist auch auf einen
parathymen Affekt hinzuweisen mit zumeist zur Schau getragener fröhlicher Heiterkeit, wobei jedoch dahinter eine
dissimulierte depressive Störung erkennbar ist und eine affektive Auslenkbarkeit zumeist auf Ablenkungsstrategien durch
entsprechende Konsumbetäubung (Fernsehen, Reisen, Alkohol, etc.) beruht.
Eine wahnhafte Störung kann nicht mit letzter Sicherheit
ausgeschlossen werden, da Homo sapiens unbeirrbar und
unkorrigierbar an Überzeugungen festhält, die letztlich zu
seiner eigenen Schädigung beitragen, so etwa am Glauben
an ein unbegrenztes und möglichst weiter zu steigerndes
Wirtschaftswachstum, des Weiteren in Hinblick auf die Annahme offenbar unbegrenzt vorhandener Ressourcen und
Lebensgrundlagen.
Leistungsempfehlung auf Grundlage der
bisherigen Therapieversuche und der Prognose
Vielfache, in erster Linie mahnende Therapieversuche durch
eine Fülle entsprechender Literatur sind bisher erfolglos verlaufen. Auch zeigte sich der Proband bisher kaum in der Lage,
aus früheren Katastrophensituationen – hier wären beispielsweise zu nennen Weltkriege oder größere Atomunglücke – zu
lernen, entsprechende Konsequenzen zu ziehen und das Verhalten zu ändern. Dahingehend ist auch die Einsichts- und
Urteilsfähigkeit des Probanden infrage zu stellen.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
In Anbetracht der weit überwiegenden Behandlungsresistenz
ist die Prognose als außerordentlich ungünstig zu betrachten.
Insbesondere von einer Intensivierung der bisherigen vor allem warnenden und aufklärerischen Behandlungsmaßnamen
ist kein durchgreifender Therapieerfolg zu erwarten.
In Hinblick auf das komplex-psychiatrische vielfältige Krankheitsbild mit erheblicher Komorbidität, auch in somatischer
Hinsicht, die bisherige Erfolglosigkeit vielfacher Behandlungsversuche, die gegebene Therapieresistenz, die bestehenden
funktionellen Einschränkungen, insbesondere in Hinblick auf
die beschränkte Einsichts- und Urteilsfähigkeit und wahnhafte
Symptomatik, den eher gesteigerten Antrieb und die nun im
fortgeschrittenen Alter aufgetretene alltagsbezogene psychomotorische Unruhe mit Hektik und vielfacher Mobilität ist
dringend zu einer allenfalls halbtägigen Erwerbstätigkeit zu
raten, da nahezu jegliche Erwerbstätigkeit mit einer Verstärkung dieser psychomotorischen Mobilitätsunruhe einerseits
und der narzisstischen Größenideen und wahnhaften Überzeugung eines anhaltenden Wirtschaftswachstums andererseits verbunden ist, zudem hierbei auch Rohstoffe fortgesetzt
umgewandelt werden, die schließlich nach kurzer Zeit wieder
als Müll oder Abgase anfallen. Eine vorgezogene Berentung
wird daher dringend angeraten.
Dem Probanden wird jedoch empfohlen, die dann zur Verfügung stehende Freizeit zur Förderung der Wahrnehmung
seiner eigentlichen inneren Bedürfnisse und Interessen zu
verwenden, bewusst den Müßiggang zu pflegen, da er hierdurch am wenigsten Schaden für die Umwelt anrichten
kann, seine sozialen Beziehungen zu pflegen durch Kontakte, Unterhaltung, Spiele, gemeinsame Wanderungen oder
gegenseitige Unterstützung in Notlagen, was ebenso weniger
umweltschädlich ist und zudem zu einer gesteigerten eigenen
Befriedigung führen dürfte.
Therapieempfehlung
Zur Förderung dieser Verhaltensänderungen ist dringend
anzuraten die Durchführung einer Psychotherapie, die existenzielle Angelegenheiten behandelt (5). Hierdurch könnte es
dem Probanden gelingen, sich mit seiner eigenen Todesangst
auseinanderzusetzen, die von ihm konsequent und vehement
verdrängt wird. Es sollte ihm dadurch langsam und behutsam
möglich werden, die eigene Endlichkeit zu erkennen, auch
die Endlichkeit der eigenen Kultur und diese nicht weiter zu
leugnen, um dadurch das selbstschädigende Verhalten abstellen zu können, paradoxerweise diese eigene Endlichkeit durch
Vernichtung der eigenen Lebensgrundlagen beschleunigt zu
erreichen. Auch im sonstigen Krankheitsverhalten leugnet er
bisher das eigene Sterben, bewegt sich zu wenig, ernährt sich
falsch und nimmt viele Risiken im Alltag in Kauf; all dies ist
gesundheitsschädigend und bringt ihn dadurch eigentlich
dem eigenen Tod näher.
Hier wirken sich ungünstig die Abhängigkeitstendenzen des
Probanden aus. Im Gesundheitsverhalten wird die Hoffnung
auf den »letzten Retter« erkennbar, der den Gesundheitsscha-
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Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen
den reparieren soll, mit einer zunehmenden, aber wenig Erfolg bringenden Besuchsfrequenz bei Ärzten und dadurch
erheblicher Verteuerung des Gesundheitswesens; insgesamt
besteht, was die Zukunft des Homo sapiens betrifft, seine
Hoffnung auf den letzten Retter dahingehend, dass ein Gott
oder zumindest irgendein Politiker oder technische Experten die Probleme schon lösen würden, was jedoch äußerst
unwahrscheinlich erscheint, da auch die Politiker als Teil
der Spezies Homo sapiens an den selben Störungen leiden
und technische Neuerungen zumeist selbst wieder erhebliche neue Probleme aufwerfen. Vielleicht könnte er durch die
Therapie wieder selbst verantwortlich werden im Sinne eines
Selbstmanagements, sodass er dies nicht in die Hände von
Autoritäten abgeben muss.
Schließlich könnte ihm durch diese therapeutischen Schritte
erfahrbar werden, dass der Verzicht auf die Mobilitätshektik,
auf die Karriereerwerbstätigkeit, auf den wahnhaften Wohlstandsglauben und andere narzisstische Attribute keineswegs
einen Verzicht oder eine Reise zurück in die Lebensumstände seiner frühkindlichen Entwicklung (»Steinzeit«) bedeutet,
sondern vielmehr einen erheblichen Gewinn dahingehend
darstellt, dass er zufriedener leben kann, selbstbewusster,
entschlossener und unabhängiger, mehr Ruhe findet und
eine tiefere, in sich ruhende Stabilität sowie wieder Zeit und
Muße findet für befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen.
Die Kreativität des Probanden, sein Leben anders zu gestalten, ist durch die Therapie zu fördern. Insgesamt dürfte es
aber auch um eine Änderung des Wertesystems gehen, hierfür
ist zunächst eine vorsichtige Bewusstwerdung der Situation
nötig, die Bearbeitung der dabei entstehenden panikartigen
oder hysterieformen Reaktionen bzw. die Bearbeitung der
zumeist hartnäckigen Abwehrstrategien.
Ein stärkerer sozialer Abstieg durch eine geringere Erwerbstätigkeit muss Homo sapiens nicht befürchten, da durch
dann vermehrte Schonung der Umwelt hier weniger Kosten
anfallen und zudem durch das in der Freizeit entstehende
verstärkte soziale Miteinander wiederum neue Quellen der
Zufriedenheit und auch gegenseitigen materiellen Unterstützung entstehen können. Dringend muss jedoch vor oberflächlichen Heilsbringern mit vermeintlich schnellen und
einfachen Lösungen gewarnt werden, wie sie derzeit wieder
vermehrt auftreten. Diese »Ärzte«, ob im Gesundheitswesen
oder in der Politik, mit oberflächlichen Untersuchungen
und der Tendenz, auf Apparate und Technik zu setzen,
die gleichzeitig aber häufig autoritär das Bedürfnis des Probanden nach Übernehmen der Verantwortung ausnützen,
dürften dem Probanden nicht entscheidend zu seiner Genesung verhelfen. Vielmehr ist einer weiteren Verstärkung
der sprechenden Medizin sowie des Konsens suchenden
Diskurses der Vorzug zu geben, da diese für sich betrachtet
wiederum weniger Müll erzeugen und kaum umweltschädlich sind, andererseits jedoch entscheidend zur Besserung
des Gesundheitszustandes beitragen können.
In Hinblick auf die Somatisierungstendenzen des Probanden
im Stütz- und Bewegungsapparat wird ebenso angeraten, in
der nunmehr vermehrt zur Verfügung stehenden Freizeit wieder verstärkt muskuläre Arbeit einzusetzen, etwa im landwirtschaftlichen Bereich, was einerseits durch geringeren Gebrauch von Maschinen die Abhängigkeit von hierfür nötigen
Rohstoffen wie Stahl, Metall oder Öl vermindert, andererseits
eine Unabhängigkeit von großen Nahrungsmittelindustrien
gewährleistet und schließlich der krank machenden Muskelatrophie, wie sie sich in den letzten Jahrtausenden entwickelt
hat, wieder gegenläufig ist. Abgeraten wird bei den zumeist
psychogenen Schmerzen im Stütz- und Bewegungsapparat
von einer übermäßigen Schonung, wie sie jedoch zumeist
derzeit betrieben wird. Durch die vermehrte, anfänglich
vorsichtig zu steigernde muskuläre Betätigung, werden sich
mittelfristig auch die Schlafstörungen deutlich bessern, das
Übergewicht vermindern und sich bessere Ernährungsgewohnheiten einstellen durch Verwendung wieder mehr direkt
vor Ort erzeugter landwirtschaftlicher Nahrungsmittel statt
industrieller Fastfood-Produkte.
Wenngleich gutachterlich normalerweise nicht von Interesse,
ist an dieser Stelle doch darauf hinzuweisen, dass es nahezu
unmöglich sein dürfte, unter der betroffenen Spezies Mensch
einen entsprechenden Therapeuten zu finden, der die umfangreiche Psychotherapie vornehmen könnte. Öffentliche
therapeutisch wirksame Vorbilder sind zumindest gegenwärtig
nicht zu erkennen und waren auch in den letzten Jahrzehnten
nur rar vorhanden. Somit kann aktuell nur zu entsprechend
orientierten Selbsthilfegruppen, zu Entspannungsverfahren,
Meditation und anderen Ruhe sowie den Zugang zum Ich
fördernden Verfahren geraten werden.
Psychodynamische Erwägungen
Psychodynamisch ist noch hinzuweisen auf einen Abhängigkeits-/Unabhängigkeitskonflikt, der die neurotisch geprägten
depressiven Anteile, die zumeist nicht so gerne wahrgenommen
und daher dissimuliert werden, aufrechterhält. So besteht einerseits ein gestörtes emotionales Verhältnis zur als mütterlich
wahrgenommenen Erde. Der Proband ist von dieser überaus
stark abhängig, da er seine Nahrungsmittel und andere Lebensgrundlagen von ihr bezieht, er versucht jedoch andererseits, sich
von ihr unabhängig zu machen, sie sozusagen in den Griff zu
bekommen und sich ihrer zu bemächtigen. Ähnlich stellt sich
dies im Verhältnis zur eher als Vater wahrgenommenen göttlichen Instanz dar, zu der gelegentlich ein übermäßig starkes
inneres Abhängigkeitsverhältnis besteht, verbunden etwa mit
wöchentlichen Kirchenbesuchen oder anderen entsprechenden religiösen Aktivitäten, teilweise aber auch mit fanatischen
Tendenzen. Zum anderen jedoch bestehen starke Bestrebungen, sich von ihm unabhängig zu machen, ohne sich jedoch
entscheidend von dem angeblich von ihm gegebenen Auftrag,
sich die Erde untertan zu machen, zu lösen. Hier liegt offensichtlich auch ein Elternkonflikt vor, der sich erschwerend auf
die Entwicklung des Probanden ausgewirkt hat.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Meißner: Frühberentung für den Homo sapiens dringend empfohlen
Auch hier könnte die therapeutische Reflexion dahin führen,
eine klarere eigenständige Position zu beziehen, nicht mehr
auf diesen letzten, jedoch nicht vorhandenen religiösen Retter
zu hoffen, dadurch dann vermehrt die Verantwortung für sich
selbst zu übernehmen und dabei jedoch wieder zurückzufinden zu einem besseren emotionalen Verhältnis zur Mutter,
von der er sich doch in den letzten Jahrhunderten stark entfremdet hat. Hierfür wird es jedoch nicht genügen, sich bei
Autobahnfahrten der am Rand stehenden Bäume sowie des
Strandes am Ziel etwa einer Urlaubsfahrt zu erfreuen. Es ist
schon eine tiefergehende Neuentwicklung der emotionalen
Bindung erforderlich.
Zusammenfassende Beurteilung
Aus psychiatrischer Sicht bestehen bei dem Probanden,
dem Homo sapiens, seit kurzer Zeit – in Anbetracht seines
bisherigen langen Lebens – die beschriebenen Gesundheitsstörungen. Er ist daher nur als vermindert erwerbsfähig zu
betrachten. In seinem eigenen Interesse sollte daher eine
vorzeitige Berentung erfolgen und die tägliche Dauer der
Erwerbstätigkeit deutlich reduziert werden. Die Prognose
ist insgesamt als äußerst ungünstig anzusehen, eine entscheidende Besserung des Gesundheitszustandes erscheint
unwahrscheinlich, erhebliche globale Umwälzungen mit
nötig werdenden Anpassungen und ggf. eintretender erheblicher Reduktion seiner Populationsdichte sind zu befürchten. Dennoch sollte jeglicher Behandlungsversuch,
allein schon der Form halber, zur Aufrechterhaltung von
Würde und Selbstachtung unternommen werden, eine resignativ-passive Haltung ist zu vermeiden. Anzuraten ist
theoretisch die Durchführung einer umfassenden Psychotherapie wie oben näher beschrieben, zunächst mangels zur
Verfügung stehender, den ökologischen Kontext einbeziehender Therapeuten jedoch die Durchführung anderer das
Selbstmanagement fördernder Verfahren. In Hinblick auf die
eingeschränkte Einsichts-, Kritik- und Urteilsfähigkeit, die
starken Abwehrmechanismen und wahnhaften Symptome
wäre eine vormundschaftlich verordnete Betreuung zwar
dringend notwendig, jedoch ist nicht erkennbar, wer die
Betreuung übernehmen sollte. Untersuchungen auf anderem Fachgebiet sind nicht notwendig, da die psychischen
Störungen im Vordergrund stehen. Dem Probanden bleibt
es abschließend zu wünschen, dass er in die Lage kommt,
seine eigene persönliche Endlichkeit, die Endlichkeit seiner
Spezies und seiner Kultur zu erkennen, anzunehmen, und
das ihm zur Verfügung stehende Leben sinnvoll und nicht
selbst- bzw. fremdschädigend zu nutzen. Der Gutachter
wird, da selbst auch als Teil der Menschenspezies von der
beschriebenen Pathologie betroffen, ebenso seine eigenen
therapeutischen Anstrengungen intensivieren.
Literatur
1 MEADOWS DH, MEADOWS D, RANDERS J (2004) The Limits to
Growth: The 30-Year Update. Chelsea: Green Pub Co
2 MEIßNER A (2008) Sinn und Verantwortung im Zeichen der ökologischen Krise. Neurotransmitter 2008; 6: 13 – 21
3 MEYER A (2008) Artgenossen sind selten Genossen. Handelsblatt
10.01.2008
JUNKER T (2006) Evolution. München: Beck 2006
4 SCHÜTZE C (2003) Das Grundgesetz vom Niedergang. Arbeit
ruiniert die Welt. München: Hanser
5 YALOM I (2005) Existentielle Psychotherapie, 5. Auflage. Köln:
Ed. Humanistische Psychologie
Anschrift des Verfassers
Dr. Andreas Meißner
Tegernseer Landstr. 49
81541 München
Die TRÄGER gGmbH ist eine gemeinnützige Organisation, die verschiedene Hilfen für psychisch kranke und suchtkranke Menschen
in Berlin-Reinickendorf anbietet.
Zur Unterstützung der Bereichsleiterin suchen wir zum nächstmöglichen Zeitpunkt für die Fachanleitung der Mitarbeiter/innen
in der Betreuung psychisch kranker Menschen eine/n
Psychologen/Psychologin
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Fortbildungsmöglichkeiten und eine Vergütung in Anlehnung an den BAT.
D�
%.
Ihre vollständige Bewerbung richten Sie bitte bis zum 15.05.09 an die Träger gGmbH, Alt-Reinickendorf 45, 13407 Berlin.
Bitte fügen Sie den Unterlagen Rückporto bei.
Weitere Informationen erhalten Sie unter www.traeger-berlin.de oder durch den Geschäftsführer, Herrn Rosemann,
unter der Telefon-Nr. 030/4963076.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
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Professor Autenrieth
erhält einen Verweis
des Königs
Alexander Veltin
Vom Aufenthalt des Hajum Abraham, der sich Felix Garrin
nannte, im Clinicum Tübingen handelt nur ein kleines Aktenkonvolut, das im Archiv der Eberhard Karls Universität
unter dem Zeichen 68/18 inventarisiert ist. Dennoch vermittelt sein Inhalt ein eindrucksvolles Bild von der Aufnahme
und Behandlung eines jüdischen Landeskindes, die der König, Friedrich I., höchstselbst unter dem 7.5.1811 befohlen
hatte. Dazu erfährt man Wissenswertes über das Verhältnis
des Clinicumsvorstehers, Professor Dr. J. H. F. Autenrieth,
zur Obrigkeit, seinen Umgang mit psychisch Kranken und
den Stand ihrer Versorgung im Land. – Die Geschichte beginnt mit einer Aktennotiz: Ich gestehe, dass ich es so satt habe,
Verwirrte aufzunehmen ... und es hat mich schon genug gereut,
überhaupt für Narren eine Einrichtung getroffen zu haben, sie sind
die allerbeschwerlichsten Kranken, und dazu ist nun die Aufmunterung der höheren Behörden noch zu rechnen, die alle freywillig
übernommenen Bemühungen ohne den mindesten Dank für Schuldigkeit, und es noch für eine Gnade halten, dass man sich bemühen
darf, schrieb Autenrieth Ende April 1811 an den Kanzler der
Universität Ch. F. Schnurrer. Anlass gegeben zu dieser bitteren Klage hatte der Auftrag der Königlichen Regierung Stuttgart vom 10.4.1811 an die Vorsteher des Tübinger Clinicums,
sich in möglichster Bälde zu äußern, ob der wahnkranke Felix
Garrin, jüdischen Glaubens, aus dem Oberamt Crailsheim
aufgenommen werden könne und mit welchen Kosten man
zu rechnen habe. Unter dem 24.4.1811 war die umgehende
Beantwortung der Anfrage angemahnt worden mit dem Vermerk, die Sache leide keinen längeren Verzug.
Seinen unverhohlen geäußerten Ärger über die Order der
Regierung, nach eigenen Worten verantwortlich für deren
zögerliche Bearbeitung, begründete Autenrieth dem Kanzler
gegenüber mit seiner Sorge um den unverhältnismäßig großen organisatorischen und finanziellen Aufwand, der bei der
Aufnahme eines Juden in Hinblick auf dessen Verpflegung
gemäß den religiösen Speisegesetzen zu gewärtigen sei, sehr
zum Nachteil anderer dringlicher Verpflichtungen des Clinicums. Bei diesen betriebswirtschaftlichen Erwägungen dürfte
er darauf angespielt haben, dass sein Haus, in dem bevorzugt
mittellose Patienten behandelt wurden, in jenen Jahren wegen
unzureichender Etatmittelzuweisungen wiederholt in eine
finanzielle Schieflage geraten war.
Der Kanzler überließ in seiner Antwort vom 30.4.1811 wegen mangelnder eigener Kompetenz in der Beurteilung des
Falles alles Weitere den beiden Kollegen im Vorsteheramt,
Autenrieth und Froriep, bat aber darum, den gewünschten
Bericht kurzfristig zu erstatten. Dem entsprach Autenrieth
noch am gleichen Tage und stellte dem Kanzler eine Abschrift
seines Schreibens an den König zu unter dem Hinweis, dass
Professor Froriep zwar informiert sei, er ihn aber, weil zu
einer Operation nach Herrenberg unterwegs, nicht mehr habe
konsultieren können.
In dem Bericht nun verweist Autenrieth zunächst darauf, dass
man bei der Einrichtung des klinischen Institutes Aufnahmemöglichkeiten für Irre vorgesehen habe, die die Unterbringung
eines, höchstens zweier nicht gefährlicher Kranke zur gleichen
Zeit gestatte, weil nach Euer Königlichen Majestät Allerhöchster
Absicht das Clinicum Unterrichts-Anstalt sein soll, also für möglichst vielartig Kranke eingerichtet werden musste, und aus eben
dem Grunde der Lehrer der inneren Heilkunde am Clinicum nicht
im Stande ist, auf eine Art von Kranken, bei seinen vielen übrigen
Geschäften als Professor an der Universität, alle seine freye Zeit
zu wenden; unter allen Kranken aber Gemüthskranke die meiste
auf Umgang mit ihnen zu verwendende Zeit erfordern, wenn die
ohnehin nicht große Hoffnung ihrer Heilung erfüllt werden soll.
Detailreich schildert Autenrieth dann die in der Aktennotiz
an den Kanzler erwähnten ökonomischen Konsequenzen für
den Klinikbetrieb, die mit der Aufnahme eines Kranken jüdischer Religionszugehörigkeit verbunden seien: Die Anstellung
einer Person jüdischen Geschlechts als Küchenhilfe, Anschaffung
eigenen Geschirrs, Beschaffung eines Teiles der benötigten
Viktualien, insonderheit des Fleisches, im benachbarten Dorf
Wankheim, da in Tübingen. keine Juden ansässig seien. (Im
eine Wegstunde von Tübingen entfernten Wankheim, bis 1805
in reichsritterschaftlichem Besitz, lebten zahlreiche Juden.)
Selbst ein vom Rabbiner erteilter Dispens, wie in Krankheitsfällen üblich, könne das Problem nicht mildern, da der Dispens
sich nur auf die eigentlichen medizinischen Verordnungen und
nicht auf die Regeln der gewöhnlichen Ernährungs- und Lebensweise erstrecke. Zudem zeige die Erfahrung im Clinicum,
welchen nachteiligen Gemütseindruck ein Verstoß gegen die
Religionsgesetze selbst auf ganz verwirrte Juden habe, umso
mehr würde das bei einem Unglücklichen der Fall sein, der
nur gemütskrank, also kein völlig Wahnsinniger sei, und sich
dazu verfolgt glaube. Das Clinicum könne für einen einzelnen
Hebräer keine Einrichtung treffen, für deren Kosten vier bis
fünf Kranke anderer Religionszugehörigkeit zu unterhalten wären. Falls Garrin nicht in der Lage sei, aus eigenem Vermögen
alles Notwendige zu bestreiten, könne das Clinicum ihm nicht
helfen. Ohnehin sei der einzige Platz für Irre derzeit mit einer
Gemütskranken aus dem Maulbronner Amt besetzt.
Autenrieth schließt die Frage an, damit die Möglichkeit eines
Ausweges aus dem aufgezeigten Dilemma eröffnend, ob nicht
der Unglückliche in der schon erwähnten halbjüdischen Commune Wankheim ein geeignetes Unterkommen finden könne.
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Veltin: Professor Autenrieth erhält einen Verweis des Königs
Die benötigten Arzneien würde der Kranke unentgeltlich vom
Clinicum erhalten, die moralische Behandlung würde er selbst
übernehmen, wegen der räumlichen Entfernung allerdings nur
mittelbar durch Anleitung der Personen, denen der Kranke
anvertraut sei.
Im folgenden letzten Absatz seines Schreibens schlägt Autenrieth den Bogen von den Unterbringungsproblemen des
aktuellen Falles zu den grundsätzlichen Defiziten der stationären Versorgung psychisch Kranker im Land. Er erinnert
daran, dass er schon im Jahre 1807 unter Hinweis auf die
geringe Platzkapazität des Tübinger Clinicums und die Unzulänglichkeit des Tollhauses zu Ludwigsburg in der Zeitschrift
»Versuche für die praktische Heilkunde aus den klinischen
Anstalten von Tübingen« den Vorschlag gemacht habe, in allen größeren Gemeinden der Oberämtern wohlfeile Einrichtungen für Verwirrte nach Art der im Clinicum vorhandenen zu
treffen und die Aufgabe der Behandlung der Kranken wegen
des großen Aufwandes auf möglichst viele Ärzte zu verteilen.
Nur so sei es möglich, dem Missstand abzuhelfen, dass das
Clinicum nur eine kleine Anzahl der im Königreich lebenden
Verwirrten aufnehmen könne.
Die Argumente, mit denen sich Autenrieth gegen die Aufnahme des Hajum Abraham wehrte, überzeugten nicht. Mit
Königlichem Reskript vom 7.5.1811 an die Vorsteher der Clinici Tübingen, ausgefertigt durch das Königl. O.Regierung.O.Policei- Department, wurde angeordnet, dass der Kranke
in das Tübinger Clinicum aufgenommen und der Aufsicht
und Leitung Professor Autenrieths übergeben werden solle
mit der Weisung, für die weitere zweckmäßige Behandlung dieses unglücklichen Juden Anordnung zu treffen. Nach Hinweis
auf die schon erfolgte Verständigung des Landvogtei-Amtes
Ellwangen wegen der Reise des Kranken nach Tübingen und
auf das beigefügte ärztliche Gutachten schließt der Erlass mit
dem Satz: Daran geschieht Unser Königlicher Wille und Wir
bleiben euch in Gnaden gewogen.
Der zweite Teil der Schlussformel dürfte in diesem Fall nicht
unbedingt den Intentionen des Königs entsprochen haben,
obwohl Autenrieth bei seinem Landesherrn durchaus in Ansehen stand. Denn unter dem 8.5.1811 wurde ihm auf Befehl
des Königs die Abschrift einer Note des Ministeriums des
Innern übersandt, in der es heißt, dass seine Königliche Majestät zu befehlen geruht habe, ihm einen Verweis zu erteilen.
Da die Note des Innenministers vom 5. Mai 1811, gerichtet
an das K. Ministerium der Geistl. Angelegenheiten, überdies
auf die Hintergründe des Einweisungsverfahrens eingeht, sei
sie in voller Länge wiedergegeben:
Schon seit Januar d.J. sind seine Königliche Majestät von einem
gemüthskranken Juden Hajum Abraham von Sauerbronnen,
Oberamts Crailsheim, der sich den Namen Felix Garrin beigelegt
hat, mit mehreren Bittschriften behelligt worden, und der Unterzeichnete hatte den Auftrag, über die Besorgung dieses Unglücklichen Bericht zu erstatten.
Es sind daher unter andern auch die Vorsteher des Clinici in Tübingen um ihre Erklärung aufgefordert worden, ob sich derselbe nicht
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
zur Aufnahme in diese Anstalt qualifizierte, allein sie äußerten
unter Anführung ihrer Gründe, daß solches mit großen Schwierigkeiten verbunden wäre.
Seine Königliche Majestät haben jedoch per Rescriptum vom 4 t.
huj: zu befehlen geruht, daß dieser Jude in dem Clinico zu Tübingen aufgenommen werden, und der Professor Autenrieth einen
Verweis erhalten solle, daß er ihn nicht gleich aufgenommen habe,
wonach der Minister des Innern und der Cultminister das Weitere
zu besorgen haben.
Der Unterzeichnete hat die Ehre, das K. Ministerium der Geistl.
Angelegenheiten hiervon mit dem Anfügen zu benachrichtigen,
dass die K. Oberregierung beauftragt sei, wegen der Aufnahme des
Kranken in jenes Institut das Erforderliche zu veranlassen.
Hajum Abraham litt nach dem auch aus heutiger Sicht sachkundigen Gutachten des Dr. Horlacher, das dem Landvogtei-Amt Ellwangen am 18.1.1811 erstattet und dem Königl.
Erlass vom 7.5.1811 beigefügt worden war, an einem Beeinträchtigungswahn, der sich auf einen ausgedehnten Personenkreis bezog; Verfolgungsbefürchtungen, die sich zu
nächtlichen Unruheständen steigerten, ließen ihn in Scheunen
und Heuschobern Unterschlupf suchen, Vergiftungsideen
führten zu mangelnder Nahrungsaufnahme. Dennoch verhielt
er sich, wie ausdrücklich erwähnt wird, tagsüber ruhig und
gesittet ohne aggressive Reaktionen gegen seine Umgebung.
Ein geordnetes Verhalten wurde Hajum Abraham auch von
behördlicher Seite attestiert. Das Oberamt Crailsheim stellte
ihm, einem Dekret der Landvogtei am Kocher vom 10.5.1811
folgend, unter dem 16.5.1811 einen Passierschein aus, in
dem die Oberämter Ellwangen, Aalen, Gmünd, Göppingen,
Kirchheim, Nürtingen ersucht wurden, ihn auf seiner Reise
nach Tübingen als einen ganz unverdächtigen Menschen passieren zu lassen.
Über den Aufenthalt des Kranken im Tübinger Clinicum
geben nur einige wenige Schriftstücke Auskunft, sodass sich
die weitere Fallgeschichte nur lückenhaft rekonstruieren
lässt. Immerhin erfährt man, dass Professor Autenrieth noch
vor dem Eintreffen seines Patienten den im hohenzollerschen
Hechingen amtierenden Oberlandrabbiner L. Aach1 um Rat
angegangen haben muss, da dieser sich in einem Brief vom
16. Mai 1811 dahingehend äußerte, Hajum Abraham dürfe
bei Inanspruchnahme neuen Koch-, Essgeschirrs und Bestecks Mehlspeisen, Garten- und Feldfrüchte, Reis, Grütze,
Milch und Butter, sowie Fische, die Schuppen und Flossen
haben, kochen und essen, Fleisch nur, wenn beim Juden
gekauft; trinken möge er alles, was die ärztliche Vorschrift
erlaube.
Die Königliche Regierung blieb mit Autenrieth im Gespräch.
Am 18.9.1811 stellte das Department des Innern unter Bezug auf eine Anfrage vom 9. Juli 1811 die Fortsetzung der
bisherigen Behandlung des Unglücklichen in sein Ermessen
und fügte hinzu, im Einvernehmen mit dem Oberamte sei
jedoch dafür zu sorgen, dass die Torwärter Tübingens und
andere die Torwache versehende Personen Gelegenheit erhielten, Garrin und sein Äußeres kennenzulernen, dass bei
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Veltin: Professor Autenrieth erhält einen Verweis des Königs
geöffneten Toren auf ihn und auf den Weg, den er einschlüge, Acht gegeben werden könne. Besonders aber sei ihm auf
eine schickliche doch ernsthafte Weise zu bedeuten, dass er
sich nicht unterstehen solle, S. Königliche Majestät mit Bittschriften und anderen Eingaben ferner zu behelligen. Sollte
er einmal entweichen, sei das Oberamt Crailsheim umgehend
zu verständigen, damit, wenn er in seiner Heimat angetroffen würde, für glimpfliche Aufsicht gesorgt und das weitere
Vorgehen mit der Sektion der inneren Administration abgesprochen werden könne.
Die Besorgnisse der Regierung müssen bald gegenstandslos
geworden sein. Denn auf den 21.10.1811 ist der Entwurf
eines Schriftsatzes datiert, in dem Autenrieth unter Berufung
auf einen von der K. Sektion der Innern Administration erhaltenen Befehl sich um Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche für
seinen Patienten an nicht näher charakterisierte Behördenleiter wendete. In dem Schriftsatz heißt es:
Der in Frage stehende Hebräer ist noch in den 30. Jahren, ehemals
stand er in einem großen Handelshause in Gotenburg in Schweden
als Commis und Rechnungsführer, hierauf war er Lehrer der französischen Sprache auf der schwedischen Universität Lund. Eine
unglückliche Liebe verwirrte seine Einbildungskraft. Jahrelang
glaubte er bei Nacht verfolgt und ermordet zu werden, den Tag über
hielt er zuletzt seine nächtlichen Träumereyen für Wahrheit. Er
schweifte umher von Crailsheim bis Greifswald und wieder zurück.
Als sein Geburtsort dem Staate Sr. Majestät einverleibt wurde (im
Jahre 1810), bestürmte er auch Se. Majestät mit Bittschriften um
Schutz. Unser allergnädigster Monarch stellte ihn durch Allerhöchsten Befehl im clinischen Institute in Tübingen unter meine
spezielle Aufsicht und ich hatte von Zeit zu Zeit alleruntertänigst
Bericht über den Unglücklichen zu erstatten. Es gelang nach vielen
ernsthaften Versuchen innerhalb des verflossenen Sommers den
Kranken so völlig wiederherzustellen, daß er zwar bey Nacht noch
schwer träumt, die Träume aber als solche erkennt, und völlig Herr
seiner Vernunft und seiner wirklich vorzüglichen Talente den Tag
über schon lange ist. Er schreibt sehr geläufig und gut französisch,
er kennt englisch und italienisch, ist ein sehr guter Rechner, auch
versteht er die doppelte kaufmännische Buchhaltung. Sein moralisches Betragen und seine Grundsätze waren sogar während seiner
Verwirrung untadelhaft, und sind so vollkommen geblieben, seitdem
er wieder seiner Herr ist. Arm ist er vollkommen und diese Armuth,
die der Grund seines Unglückes enthielt, hat wohl auch vieles dazu
beygetragen, es zu unterhalten bis das clinische Institut für seine
Bedürfnisse sorgte. Autenrieth bittet dann die Adressaten, sich
bei den Kaufleuten und Fabrikanten ihres Distriktes nach
einer Anstellungsmöglichkeit für den Patienten umzuhören
nicht ohne zu erwähnen, dass dieser Sr. Majestät selbst für seine
Rettung aus dem tiefsten Elend dankt.
Im letzten Aktenstück, das dem Fall zuzuordnen ist, wurde
Professor Dr. Autenrieth durch einen Erlass des Departments
des Innern vom 10.6.1812 davon in Kenntnis gesetzt, der
König habe Hajum Abraham von Sauerbronnen, genannt
Felix Garrin, erlaubt, sich für ein Jahr nach Frankreich zu
begeben; die Ausfertigung der erforderlichen Passes sei bereits
veranlasst. Es gibt Grund zu der Vermutung, dass sich der
Wiederhergestellte gegen die Rückkehr in sein Heimatdorf
Sauerbronnen gewehrt hat, in der die Mutter und drei Brüder
lebten. Im Sommer 1811 war ihm nämlich von Autenrieth
offenbar schon einmal nahegelegt worden, er möge sich mit
seiner Unterstützung über die Kreisbehörde Ellwangen um
eine Arbeitsstelle bemühen. Diesen Vorschlag hatte er am
29. Juni 1811 in einem Brief an seinen Arzt entschieden abgelehnt unter Hinweis auf die ihm in seinem Heimatkreis
widerfahrenen schrecklichen Handlungen und Vorfälle und zum
Ausdruck gebracht, dass er die Ausstellung eines Reisepasses
durch die Regierung in Stuttgart erwarte.
Am Ende alles gut? Hajum Abraham/Felix Garrin, nach dem
Urteil seines Arztes ein gebildeter und charaktervoller Mann,
war wieder Herr seiner selbst. Ob in der Fremde die Erinnerungen an die Schrecken seines Wahnerlebens geschwunden
sind, wie von ihm wohl erhofft, muss dahingestellt bleiben.
Der König, der sich des Schutzsuchenden angenommen, war
durch die erfolgreiche Behandlung der Sorge um den recht
hartnäckigen Bittsteller enthoben, und dürfte nicht allzu
schweren Herzen seinem Untertan die Reise nach Frankreich
erlaubt haben. Und Autenrieth? Er hat seinen Patienten die
Verärgerung über die ihm unwillkommene Zuweisung nicht
spüren lassen. Dafür spricht schon allein die Umsicht, mit der
er sich um dessen religiösen Verpflichtungen, materiellen Bedürfnisse und Zukunftsgestaltung kümmerte. Auch haben ihn
die im Eingangszitat und auch anderen Orts beklagten Lasten
an Mühe und Zeit, die die Behandlung psychisch Kranker
mit sich bringe, nicht daran gehindert, diese Arbeit in dem
beschränkten Rahmen fortzusetzen, die ihm die Fülle seiner
Aufgaben als Arzt, Lehrer und Kanzler ließ.
Anmerkung
1 Herrn Otto Werner aus Hechingen habe ich für seine Hilfe bei
der Identifizierung des Oberlandrabbiners L. Aach zu danken.
Anschrift des Verfassers
Dr. med. A. Veltin
Dürrstr. 15
72070 Tübingen
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
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Leserbrief
Vorbemerkung
Da das Info-Heft zum Thema »Gewalt« ohne einen Beitrag
aus Betroffenensicht erstellt wurde, freuen wir uns besonders
über unten stehenden Leserbrief, der eine Zwangsmaßnahme aus der Sicht einer psychiatrieerfahrenen Zeugin schildert. Vielleicht regt er diejenigen, die Zwangsmaßnahmen
anordnen oder durchführen noch einmal an, sich mehr und
immer wieder mit der Sicht und dem Erleben der von diesen
Maßnahmen Betroffenen oder auch außenstehenden Beobachter/-innen zu befassen. Und natürlich dazu, wie es die
Leserbriefschreiberin vormacht, sich über Alternativen im
Umgang mit Menschen, die sehr unruhig oder aggressiv sind,
Gedanken zu machen. Der Redaktion ist bewusst, dass dies
nach wie vor ein dringendes Anliegen psychiatrieerfahrener
Menschen ist.
(Siehe auch Sozialpsychiatrische Informationen 2/2003 dort
Beitrag von M. Kleinsorge: »Und bist Du nicht willig ...»)
Sibylle Prins
Gewalt und die Anwendung von Zwangsmaßnahmen sind
für die in der Psychiatrie Tätigen wie auch für die Patienten
erschütternde, einschneidende Erlebnisse und hinterlassen
auf beiden Seiten einen bitteren Nachgeschmack.
Ich selbst wurde (als Patientin) Zeugin folgender Situation:
Eine junge, zierliche Frau wurde vollkommen verängstigt,
aufgelöst und um Beherrschung ringend eingeliefert. Sie hatte
anscheinend etwas Schlimmes erlebt und wollte reden, reden,
reden. Von allen Seiten sprach man auf sie ein, sie solle sich
jetzt beruhigen; schließlich wurde sie im Flur der geschlossenen Station fixiert, die halbe Belegschaft, einschließlich
des Oberarztes stand um ihr Bett herum und schaute auf
sie herunter. Ihr Redefluss schwoll zum Schreien an, bis der
Oberarzt mit autoritärer Stimme sagte: »Frau X, wenn sie jetzt
nicht aufhören zu schreien, muss ich sie knebeln.« Sie schrie
erst recht, wurde geknebelt und »weggespritzt«.
Solche Eskalationen könnte man vermeiden, indem man den
Patienten nicht mit aller Gewalt zur »Ruhe« bringt, sondern
sich (in einem dazu vorgesehenen »risikoarmen« Raum unter
wohlüberlegten Bedingungen) mit dem Patienten beschäftigt,
ihn reden oder auch schreien lässt, ihm also Gelegenheit zum
Ausagieren gibt. Niemand würde von einem Menschen, dessen Haus in Flammen steht, oder der gerade beraubt worden
ist, verlangen, er solle sich erst einmal beruhigen oder gar
schlafen. Von psychotischen Patienten, die in einer ähnlichen,
wenn auch wahnhaften Gefühlslage sind (sie fühlen sich verfolgt, bedroht, o. Ä.) wird dies aber gefordert und geht daher
folgerichtig meistens schief.
Mit freundlichen Grüßen
Margit Weichold
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
Buchbesprechungen
Weizsäcker V von (2008) Warum wird man krank?
Ein Lesebuch. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 341 S.,
10,00 Euro
In der Reihe DAS LESEBUCH. Eine Sammlung klassischer
Lesestücke aus der Lebenswelt der Berufe für Fachleute und
Liebhaber erschien 1950 von Karl Hansen herausgegeben
und eingeleitet das »Lesebuch für Ärzte«.
Aus den Schätzen von Literatur, Medizin, Philosophie, Historik, Kunst und seriöser Journalistik hatte der Herausgeber eine
Textauswahl komponiert, die von Hippokrates über Goethe
und Carus bis zu Kußmaul und Viktor von Weizsäcker reichte.
Wie er in seiner Einleitung formulierte, war es sein Anliegen,
in und mit den ausgewählten Texten Interesse für die »geistigen Grundlagen und menschlichen Voraussetzungen« des
Arztberufes zu wecken und dieses insbesondere im interdisziplinären Austausch der verschiedenen Berufe zu vertiefen
(da die Reihe DAS LESEBUCH mehrere berufsspezifische
Bände umfasste).
Karl Hansen (1893 – 1962) entstammte der Heidelberger
Schule um Ludolf von Krehl und war ein umfassend interessierter Internist; er habilitierte sich sechs Jahre nach Viktor
von Weizsäcker, an dessen Seite er in Heidelberg bis 1932
arbeitete; mit von Weizsäcker publizierte er auch gemeinsam
über neurophysiologische Probleme.
Ein gutes Halbjahrhundert später ist ein weiteres Lesebuch
aus der geistigen Tradition der Heidelberger Schule erschienen. Der Berliner Neurologe Wilhelm Rimpau – Schüler von
Dieter Janz, der Sichtweisen der Heidelberger Schule, (insbesondere von Weizsäckers) für die Neurologie und speziell
die Epileptologie fruchtbar gemacht hat – hatte sich im Unterschied zu seinem Vorgänger Hansen die Aufgabe gestellt,
einem breiteren Publikum ausgewählte Texte Viktor von
Weizsäckers als der – neben von Krehl und Siebeck – Hauptfigur der Heidelberger Schule in der Form eines Lesebuchs
vorzustellen. Ihm konnte es auch im Unterschied zu Hansen
nicht darum gehen, nach der auch geistigen Katastrophe des
Dritten Reichs spezifisch für den Berufsstand der Ärzte Anknüpfungspunkte für eine Neubesinnung der Grundlagen
ärztlicher Berufstätigkeit in der Tradition »auszugraben«.
Im gemeinsam mit dem Psychiater Dörner verfassten Vorwort wirft Rimpau einen Blick auf die aktuelle politische wie
wissenschaftliche wie menschliche Krise ärztlicher Krankenversorgung; die Autoren plädieren zugleich dafür, die drängenden gesundheitspolitischen Fragen nicht rein administrativ bewältigen zu wollen, sondern sie vor dem Hintergrund
der weit gefächerten und solide philosophisch reflektierten
Überlegungen von Weizsäckers neu zu durchdenken. In der
klugen Textauswahl aus dessen Schriften hat sich Rimpau
von einer analytischen Zusammenfassung der fundamentalen
Intentionen von Weizsäckers durch seinen Lehrer Dieter Janz
50
Buchbesprechungen
leiten lassen: Grundlagenkritik der Medizin, Funktionsanalyse
körperlich-seelischer, d. h. leiblicher Leistungen und Anweisung zu einem menschlichen, d. h. Wahrheit ermöglichenden
Umgang von Arzt und Krankem.
Bei seiner Werkauswahl konnte Rimpau auf die seit 2005 vollständig vorliegenden zehn Bände der Gesammelten Schriften
von Weizsäckers zurückgreifen, die seit 1986 im Suhrkamp
Verlag erschienen sind und an deren Edition er auch selbst
beteiligt war; die zum Verständnis der Texte notwendigen
Grundlagen und Bezüge erfährt der Leser in den Einleitungspassagen zu den einzelnen Texten und in den zugehörigen
Anmerkungen. Den Abdruck der von Weizsäckerschen Texte hat der Herausgeber unter sechs Überschriften gegliedert
(Erinnerungen, Krankengeschichten, Grundfragen medizinischer Anthropologie, Die Einheit von Wahrnehmen und
Bewegen, Grundlagen einer neuen Medizin, Pathosophie);
diese Überschriften sollen die wesentlichen Aspekte des Spektrums von Weizsäckerscher Erfahrungs- und Reflexionsarbeit
repräsentieren.
Mit der Wahl des Titels »Warum wird man krank?« hat Rimpau
einen besonders glücklichen Griff getan; von Weizsäcker hat
nämlich an verschiedenen Stellen seines Werks Warum-Fragen über die Entstehung einer Erkrankung gestellt: »Warum
gerade ich?«, »Warum gerade jetzt?«, »Warum gerade dies?«,
»Warum gerade hier?«. Damit wollte er sich gegen die verborgene Metaphysik der neuzeitlichen Medizin stellen, die auf
den Erkenntniswegen der neuzeitlichen Naturwissenschaft die
vier antiken Fragen nach einem Grund von Phänomenen und
Dingen durch die in der Neuzeit einzig zugelassene Wie-Frage
ersetzt hat; die Warum-Frage wurde dann an die Philosophie
weitergereicht. In der Neuzeit konnte man seitdem in Wissenschaft und Medizin keine Antwort auf diese Frage geben, weil
man bereits die Frage nicht mehr stellen konnte. Der Sinn
einer Erkrankung lässt sich aber – so von Weizsäcker – in der
Medizin nur mit der Warum-Frage ergründen.
Dem Lesebuch »Viktor von Weizsäcker, Warum wird man
krank?« gelingt es nach Einschätzung des R. überzeugend,
den sog. anthropologischen Zugang zur Krise der Medizin,
die von Weizsäcker selbst bereits in den Jahren nach dem
ersten Weltkrieg diagnostiziert hatte, in allen denkbaren Facetten – von der Erkenntniskritik der Medizin als Wissenschaft
bis zur Analyse der je einmaligen Krankheitssituation eines
Menschen und seiner Begegnung mit einem Arzt – einem
breiteren Publikum nahezubringen.
Damit ist auch eine Grundintention der Viktor-von-Weizsäcker-Gesellschaft, die sich seit 1994 der Pflege und aufs
Aktuelle bezogenen Diskussion des von Weizsäckerschen
Werkes widmet, in die Tat umgesetzt, nämlich: eine öffentliche gesundheitspolitische Diskussion der aktuellen Krise der
Medizin unter Berücksichtigung des von Weizsäckerschen
Erbes anzuregen.
SCHMITT T (2008) Das soziale Gehirn.
Eine Einführung in die Neurobiologie für psychosoziale
Berufe. Bonn: Psychiatrie-Verlag, 168 S., 29,95 Euro
Bernhard Helmut Schmincke
Die Prozesse im Gehirn sind sozial geprägt, auf soziale Interaktion spezialisiert und durch diese formbar. Solch komplexe
Wechselwirkungen zwischen »dem Biologischen« und »dem
Sozialen« interessieren den Autor, der sich in den Lagern, in
denen vereinseitigt ausschließlich über soziale Belastungsfaktoren oder nur über Stoffwechselprozesse nachgedacht wird,
nicht wohl fühlt.
Die erste Hälfte dieser aufregenden Neuerscheinung eignet
sich definitiv nicht für den Nachttisch, verlangt sie doch Lesern mit eingeschränkter Kompetenz in den Naturwissenschaften Konzentration ab, die aber durch die Anschaulichkeit
der Darstellung mit ersten Einsichten in die Neurobiologie
belohnt wird. Für Angehörige psychosozialer Berufe, etwa
Sozialarbeiter, werden die Ausführungen zum Einfluss biografischer Erfahrungen auf die neuronalen Netze (S. 62)
ebenso spannend sein wie der naturwissenschaftlich fundierte
Nachweis, dass ein freundlicher Umgang mit Klienten mindestens ebenso wirksam ist wie ein Medikament (157), die
Entwicklung und Funktion unseres Gehirns letztlich primär
von Erfahrungen mit Menschen beeinflusst wird.
Man muss nicht mit jedem Satz dieses erfrischenden Buches
einverstanden sein: So wird die Theorie aus dem »Deutschen
Herbst« aufgewärmt, dass das Denken und Handeln von Ulrike Meinhof von ihrem Gehirntumor beeinflusst gewesen
sein könnte (119), der Nervenarzt Heinrich Hoffmann, der
im 19. Jahrhundert die schwarze Horrorfibel »Struwwelpeter«
verbrochen hat, wird als »Mediziner mit Humor und Kreativität« eingeführt (133).
Trotz solch vereinzelter Einwände muss man sich über Thomas
Schmitt nie wirklich ärgern, weil sein Buch ihn (im Gegensatz
zum Vater des »Struwwelpeter«!) als »Mediziner mit Humor
und Kreativität« zeigt. So spottet Schmitt über die täglich in der
Presse gezeigten Bilder vom Gehirn, deren leuchtende Farbkleckse »dem Neugierigen vermeintlich Erklärungen in allen
erdenklichen Fragen bringen« (27). Ähnlich (selbst-)ironisch
übersetzt er schlicht und präzise formulierte Einsichten zu Placebo-Effekten vom Deutschen in medizinisch-neurologisches
Fachchinesisch mit der Einleitung: »Neurologisch hört sich
das so an ...«
Im Zeitalter der biologischen Einseitigkeiten und notorischer
Besserwisserei hebt sich Thomas Schmitt wohltuend vom
Mainstream ab, nicht zuletzt durch seine bescheidene Bilanz, »es bleibt ein unendlicher Teil im Verborgenen« (156),
da wo wir kein klares Wissen haben, müssten wir versuchen
»Glaubenssätze« zu entwickeln (16).
»Das soziale Gehirn« ist ein Glücksfall für den Leser, weil
es komplexe Zusammenhänge anschaulich vermittelt und
zugleich, mutmaßlich durch das »kölsche Temperament« des
Autors, Lese-Vergnügen bereitet. Kaufen!
Detmold
Michael Eink, Hannover
Sozialpsychiatrische Informationen 2/2009
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Neuerscheinungen bei Vandenhoeck & Ruprecht
Stefan Kühne /
Gerhard Hintenberger (Hg.)
Handbuch Online-Beratung
Peter Bünder / Annegret SirringhausBünder / Angela Helfer
Lehrbuch der Marte-Meo-Methode
2009. Ca. 265 Seiten mit 2 Abb. und 9 Tab.,
kartoniert
ca. € 29,90 D
ISBN 978-3-525-40154-5
Entwicklungsförderung mit Videounterstützung
Die Abwicklung von Bankgeschäften,
die Buchung von Urlaubsreisen, der
Einkauf von Medikamenten – im Netz
ist alles möglich. Auch im Bereich der
psychosozialen Beratung hat sich in
den letzten Jahren in dieser Hinsicht
einiges getan: Sie findet zunehmend
im Internet statt.
Namhafte Experten stellen in diesem
Grundlagenwerk sowohl verschiedene
Beratungsformen und -konzepte als
auch Einsatzbereiche vor. Beiträge zur
Qualitätssicherung und Ausbildung
für Online-Berater/innen runden das
praxisnahe Handbuch ab. Sowohl Einsteiger als auch Fortgeschrittene sind
so für den Beratungsalltag im Internet
gerüstet.
Mit einem Vorwort von Arist von Schlippe.
2009. 410 Seiten mit 21 Abb. und 14 Tab. sowie
einer DVD, gebunden
€ 39,90 D
ISBN 978-3-525-40206-1
Marte Meo bedeutet »aus eigener Kraft«
und ist eine von Maria Aarts entwickelte
Beratungsmethode. Szenen aus dem Familienalltag werden gefilmt, ausgewertet und
gemeinsam mit den Akteuren besprochen.
Auf der Suche nach gelingenden Momenten
der Kommunikation lernen Eltern ihre
Kinder besser zu verstehen und zu unterstützen.
Dieses Lehrbuch, das erste seiner Art,
widmet sich der Theorie und den Einsatzfeldern von Marte Meo, geht auf
Marte Meo in Ausbildung, Weiterbildung,
Supervision sowie Wissenschaft ein und
vermittelt außerdem die Grundlagen der
Videotechnik.
Sigrid Haselmann
Psychosoziale Arbeit in der
Psychiatrie – systemisch oder
subjektorientiert?
Ein Lehrbuch
2008. 399 Seiten mit 6 Abb. und 20 Tab.,
kartoniert € 36,90 D
ISBN 978-3-525-49138-6
Die subjektorientierte Sozialpsychiatrie und die systemische Perspektive
haben frischen Wind in die klassischen
psychiatrischen Methoden gebracht. In
diesem Handbuch werden Denk- und
Vorgehensweisen dieser beiden Modelle psychosozialer Arbeit vorgestellt.
Welche Interventionsformen gibt es?
Wie gestaltet man die Beziehung zu
den Klienten? Wie geht man angesichts bestimmter Problemstellungen
vor? Sigrid Haselmann zeigt, dass sich
»Beziehungsarbeit und Verstehensbegleitung« zum einen und »Anstöße zur
Lösungsfindung und Veränderung«
zum anderen sehr gut verbinden lassen – zum Wohl der Klienten.
Weitere Informationen Vandenhoeck & Ruprecht Psychologie 37070 Göttingen [email protected] www.v-r.de
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Termine
Frühjahrstagung der Deutschen Fachgesellschaft Psychose
und Sucht e. V. (DFPS e. V) am 8. Mai 2009 in Bremen. Thema: Psychiatrie und Obdachlosigkeit. Weitere Infos über:
Frau Grünberg, Klinikum Bremen-Ost, Tel.: 0421/4082776
und Frau S. Hornung-Knobel, Isar-Amper-Klinikum, Klinikum München-Ost, 85540 Haar, Tel.: 089/4562-0
IX. Kongress der DGGPP vom 17. bis 20. Juni 2009 in Ber-
lin. Alterspsychiatrie 2009: »Seelische Gesundheit & Menschenwürde«. Das Programm des Kongresses findet sich
unter: www.dggpp.de. DGGPP e. V., Postfach 1366, 51657
Wiehl, Tel.: 02262/797683, Fax: 02262/999 9916
»Die Zukunft der Suchthilfe in Deutschland.Von der Person zur integrierten Hilfe im regionalen Verbund«. Tagung
18. bis 19. Juni 2009 in Berlin. Info: Aktion Psychisch Kranke
e. V., Oppelner Straße 130, 53119 Bonn, Tel.: 0228/676740,
Fax: 0228/676742, E-Mail: [email protected], Internet: www.psychiatrie.de/apk/
11. Dortmunder-Hemeraner Fachtagung für Psychiatrie und
Psychotherapie: »Was wirklich hilft – Wie sicher (belegt)
und effektiv sind Behandlungen in der Psychiatrie?«.
LWL-Klinik Dortmund, Marsbruchstr. 179, 44287 Dortmund (Freitag, 28. August 2009), LWL-Klinik Hemer,
Frönsberger Str. 71, 58675 Hemer (Samstag, 29. August
2009). Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Dr. U. Sprick
(Dortmund), Prof. Dr. U. Trenckmann (Hemer). Weitere
Infos und Programm erhältlich bei: Medi-Office, Medizinischer Dokumenten- und Kongressservice, Carsten Brall,
Fröschengasse 15, 66111 Saarbrücken, Tel. 0681/9409760,
E-Mail: brall@medi-office.de, www.medi-office.de.
3. Kongress zur transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik vom 11. bis 13. September 2009
in Zürich. Info: Frau Dr. med. Solmaz Golsabahi, E-Mail:
[email protected]
»Anything goes? Möglichkeiten und Grenzen (nicht nur)
von Psychotherapie«. Erfurter Psychotherapiewoche, 12. bis
16. September 2009 in Erfurt. Info: Organisationsbüro der
Erfurter Psychotherapiewoche, Tel. 0361/6422448, E-Mail:
[email protected], Internet: www.psychotherapie-woche.de
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Hinweise für Autoren
Sozialpsychiatrische Informationen
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der Redaktion unverlangt Manuskripte einzusenden, selbst
dann nicht, wenn sie den folgenden Punkten nicht entsprechen sollten:
1. Manuskripte sollten nach Möglichkeit weniger als 26.000
Zeichen beinhalten. Bitte senden Sie neben dem Ausdruck
auch die dazugehörige Datei per E-Mail oder auf Diskette an
die Redaktionsadresse.
2. Eine kurze Zusammenfassung bis zu 20 Zeilen sollte vom
Autor dem Artikel vorangestellt werden.
3. Zur besseren Übersicht und höheren Akzeptanz des Manuskripts trägt eine gute Gliederung (Zwischentitel, ohne Nummerierung) bei.
4. Wenn Zitate unumgänglich sind, sollten diese am Ende
des Artikels und bei den entsprechenden Literaturhinweisen
aufgelistet werden.
5. Die Redaktion verpflichtet sich, dem Autor eine schnelle
Rückmeldung darüber zu geben, dass sein Manuskript eingetroffen ist und in welcher Zeit er eine definitive Nachricht
über die Annahme erhalten wird. Deshalb geht die Redaktion
davon aus, dass die Autoren die Manuskripte nicht gleichzeitig
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6. Nach Annahme wird das Manuskript im nächsten thematisch passenden Heft erscheinen.
7. Die Autoren erhalten nach Möglichkeit ein PDF ihrer Arbeit
aufbereitet als Sonderdruck (bitte E-Mail angeben). Auf Wunsch
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gegründet 1971
ISSN 0171 - 4538
Postvertriebsnr. G 07569
Redaktion:
Michael Eink, Hannover
Hermann Elgeti, Hannover
Helmut Haselbeck, Bremen
Gunther Kruse, Langenhagen
Sibylle Prins, Bielefeld
Renate Schernus, Bielefeld
Ulla Schmalz, Düsseldorf
Ralf Seidel, Mönchengladbach
Peter Weber, Hildesheim
Dyrk Zedlick, Glauchau
Redaktionsanschrift: Frau Gabriele Witte,
Klinik f. Psychiatrie u. Psychotherapie – Institutsambulanz,
Rohdehof 5, 30853 Langenhagen
Tel. 0511/73 00 590, Fax: 0511/73 00 518
E-mail: [email protected]
Verlag: Psychiatrie-Verlag gGmbH,
Thomas-Mann-Str. 49a, 53111 Bonn,
Tel. 0228/725 34 0, Fax 0228/725 34 20
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Erscheinungsweise: Januar, April, Juli, Oktober
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Ausland 35,- Euro.
Das Abonnement gilt jeweils für ein Jahr. Es verlängert sich
automatisch, wenn es nicht bis zum 30.9. des laufenden Jahres schriftlich gekündigt wird. Bestellungen nimmt der Verlag
entgegen.
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Einzelpreis: 9,90 Euro
E-Paper: www.verlag.psychiatrie.de/zeitschriften
Satz: Psychiatrie-Verlag, Bonn
Layoutkonzept: I. Bielejec, Mainz
Druck: Ostfriesische Beschäftigungs- und Wohnstätten GmbH,
Emden
Die nächsten Schwerpunktthemen*
»Trialog« (Heft 3/2009)
»Die vergessenen psychisch Kranken (Heft 4/2009)
»Mitarbeiterperspektiven« (Heft 1/2010)
»Kultur« (Heft 3/2010)
*Diese Themenplanung kann sich aufgrund aktueller Entwicklungen verändern
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Vortragsreise
13.03.2009
9:51 Uhr
Seite 1
Johan Cullberg, Schweden
»Die psychotische Krise und die
Möglichkeiten zur Genesung«
Die Stationen seiner Tournee:
Sa. 9.5.09, 9.30–10.30 h
Ort:
Kontakt:
Informationen:
Veranstalter:
Berlin, Charité, Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Großer Hörsaal
Dr. Dorothea v. Haebler, [email protected]
www.charite.de/psychiatrie/aktuelles.html
Charité, im Rahmen des Überregionalen Symposiums für Psychosenpsychotherapie
Mo. 11.5.09, 18.00 h
Ort:
Kontakt:
Anmeldung:
Veranstalter:
Köln, Berufliches Trainingszentrum (BTZ), Vogelsangerstr. 193, 50823 Köln
Psychiatrie-Verlag, [email protected]
[email protected]
Psychiatrie-Verlag, AGPR, RGSP, BTZ, LVR-Akademie, PSAG, Aufbruch
Di. 12.5.09, 18.00 h
Ort:
Kontakt:
Veranstalter:
Hamburg, Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), Martinistraße 52, Hörsaal
Prof. Dr. Thomas Bock, [email protected], Tel. 040/4 28 03-32 36 (Sekretariat) - 32 36
Im Rahmen der Vortragsreihe Anthropologische Psychiatrie
Mi. 13.5.09, 15.00 h
Ort:
Kontakt:
Veranstalter:
Do. 14.5.09, 18.00 h
Ort:
Kontakt:
Veranstalter:
Gießen, KPP Gießen, Festsaal, Vitos – Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Prof. Dr. H.J. Wirth, [email protected]
Dr. Dietrich Süße, [email protected]
Psychosozial-Verlag, LKH
München, Klinikum rechts der Isar der TU,
Hörsaal B, Ismaninger Str. 22, 81675 München
Dr. Josef Bäuml, [email protected],
Tel.: 089/41 40-42 06/-42 10
(Fr. Kaiser, Sekretariat PD Dr. Bäuml)
Atriumhaus, Klinik rechts der Isar
Johan Cullberg: Therapie der Psychosen
Ein interdisziplinärer Ansatz
Fachbuch, ISBN 978-3-88414-435-0,
340 Seiten, 49.95 Euro / 83.40 sFr
PSYCHIATRIE-VERLAG
PSYCHIATRIE-VERLAG GmbH • BALANCE buch + medien verlag GmbH & Co KG • Thomas-Mann-Str. 49 a • 53111 Bonn