Lösungsvorschläge und Materialien für die Fälle 1 und 2

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Lösungsvorschläge und Materialien für die Fälle 1 und 2
Dipl.-Jur. Frank Richter, LL.B.
VK zum GK Strafrecht im Sommersemester 2008
Universität Greifswald
Lösungsvorschläge und Materialien für die Fälle 1 und 2
Zu Fall 1
Ein Vorschlag zur Bildung von Tatkomplexen:
1. Tatkomplex: Bis zum Unfall
In Betracht zu ziehende Tatbestände:
–
–
–
Beleidigung/ üble Nachrede = §§ 185 ff. StGB?
Verkehrsdelikte = § 316 StGB?
Vollrausch = § 323 a StGB?
2. Tatkomplex: Der Unfall
In Betracht zu ziehende Tatbestände:
–
–
–
–
–
–
–
–
–
Mord = § 211 StGB?
Totschlag = § 212 I StGB?
Fahrlässige Tötung = § 222 StGB?
Körperverletzungsdelikte = §§ 223 ff. StGB?
Verkehrsdelikte = §§ 315 b ff. StGB?
Sachbeschädigung = § 303 I StGB?
Unfallflucht = § 142 StGB?
Unterlassene Hilfeleistung = § 323 c StGB?
Vollrausch = § 323 a StGB?
3. Tatkomplex: Nach dem Unfall
In Betracht zu ziehende Tatbestände:
–
–
–
Sachbeschädigung = § 303 I StGB?
Verkehrsdelikte = §§ 315 b ff. StGB?
Vollrausch = § 323 a StGB?
Solange man eine logische Einteilung des Sachverhaltes vornimmt, kann man es nicht als falsch bewerten. Eine solche grobe Einteilung sollten Sie am Anfang jeder Fallbearbeitung erstellen.
Bei der anschließenden Prüfung kann man zwei grundsätzliche Regeln festhalten:
1. „Dickschiffe“ nach vorn!
= Es wird im Grundsatz der Tatbestand mit der höchsten Strafandrohung zuerst
geprüft.
2. Den „tatnächsten“ Beteiligten zuerst prüfen!
= Täterschaft vor Teilnahme prüfen. Gibt es mehrere Täter, prüft man denjenigen
zuerst, der die Tathandlung selbst vornimmt.
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Dipl.-Jur. Frank Richter, LL.B.
VK zum GK Strafrecht im Sommersemester 2008
Universität Greifswald
!Achtung! Im juristischen Sprachgebrauch zeigt das Wort grundsätzlich, anders als im alltäglichen
Gebrauch, gerade an, dass es Ausnahmen gibt!
Zu Fall 2
A. Die Sachbeschädigung - § 303 I StGB – Aufbau und Definitionen
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a. Tatobjekt: fremde Sache
b. Tathandlung: Beschädigen oder Zerstören
c. Kausalität
d. objektive Zurechnung
2. Subjektiver Tatbestand
Vorsatz (d.e. reicht)
II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
IV. Strafantrag
Definitionen1
Begriff
Definition
fremd
Fremd ist eine Sache, die wenigstens auch im Eigentum eines
anderen als des Täters steht.
Sache
Alle körperlichen Gegenstände ohne Rücksicht auf ihren Aggregatzustand, solange sie räumlich abgrenzbar sind.
beschädigen2
Eine Sache ist beschädigt, wenn durch die Einwirkung auf die
Substanz ihre Unversehrtheit oder die bestimmungsgemäße
Brauchbarkeit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird.
zerstören
Eine Sache ist zerstört, wenn sie ihrer Substanz nach vernichtet oder so schwer beschädigt wurde, dass sie für ihren Zweck
völlig unbrauchbar ist.
Kausalität3
Kausal im Sinne des Äquivalenztheorie ist jede Handlung, die
nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in
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Die Definitionen stammen überwiegend aus: Joecks, Studienkommentar zum StGB, 7. Auflage 2007, § 303 Rdn. 5
ff.; Man kann sie allerdings auch aus jedem anderen Lehrbuch oder Kommentar entnehmen..
2 Wessels/Hillenkamp, Strafrecht BT 2, 27. Auflage 2004, Rdn. 27.
3 Joecks, Studienkommentar zum StGB, 7. Auflage 2007, Vor § 13 Rdn. 23.
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seiner konkreten Gestalt entfiele.
objektive Zurechnung
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Vorsatz5
Ein durch menschliches Verhalten verursachter Erfolg ist dem
Täter nur dann zurechenbar, wenn sich die durch ihn herbeigeführte rechtlich missbilligte Gefahr des Erfolgseintritts im
konkreten erfolgsverursachenden Geschehen realisiert hat.
„Kurzform“: Das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung.
„Langform“: Der Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestands in Kenntnis aller objektiven Tatumstände
(Zu den den unterschiedlichen Vorsatzformen später mehr.)
B. Lösungsvorschlag
Ein wesentliches Problem in der Fallbearbeitung ist, dass es den – „einen“ – Lösungsweg nicht
gibt. Sie werden schnell feststellen, dass so ziemlich alles umstritten ist, mit der Folge, dass man
bei umfangreichen Klausuren schnell auf eine beträchtliche Zahl vertretbarer Lösungswege kommt.
Daher verstehen Sie meine Hinweise zur Lösung der besprochenen Fälle bitte als einen möglichen
Weg der Falllösung.
Vorüberlegung :
--> Es wird nur nach der Strafbarkeit des T gefragt!
--> Es wird im SV extra darauf hingewiesen, dass ein Strafantrag gestellt wurde. Scheinbar
kommt es darauf an!
--> Es kommt nur eine Strafbarkeit nach § 303 I StGB in Betracht.
Gutachten
T könnte sich einer Sachbeschädigung nach § 303 I StGB strafbar gemacht haben, indem er den
hinteren Fahrradreifen des O zerstach.
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
Dafür müssten die objektiven Tatbestandsmerkmale durch T erfüllt worden sein.
a. Tatobjekt
Dann müsste sich die Tat zunächst gegen ein taugliches Tatobjekt gerichtet haben.
aa. Sache
Fraglich ist, ob ein Fahrradreifen eine Sache im Sinne dieser Norm ist. Eine Sache ist jeder
körperliche Gegenstand unabhängig vom Aggregatzustand ,solange er räumlich abgrenzbar
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Joecks, Studienkommentar zum StGB, 7. Auflage 2007, Vor § 13 Rdn. 37.
Joecks, Studienkommentar zum StGB, 7. Auflage 2007, § 15 Rdn. 6.
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ist. Ein Reifen ist ein körperlicher Gegenstand und räumlich abgrenzbar. Somit ist ein Fahrradreifen eine Sache.
bb. fremd
Weiterhin müsste diese Sache für T fremd gewesen sein. Fremd ist eine Sache, die
wenigstens auch im Eigentum eines anderen als des Täters steht. Laut Sachverhalt handelte
es sich um das Eigentum des O. Die Sache stand somit zumindest auch im Eigentum einer
anderen Person als des Täters. Mithin war die Sache für T fremd.
Es lag ein taugliches Tatobjekt vor.
b. Tathandlung
Fraglich ist jedoch, ob der T auch eine hinreichende Tathandlung begangen hat. Dann
müsste er das Tatobjekt beschädigt oder zerstört haben.
aa. Beschädigen
Unter einer Beschädigung versteht man „zumindest“ jede nicht ganz unerhebliche Verletzung der Substanz der Sache. T zerstach den Reifen, wodurch der Reifen für seinen Zweck
nicht mehr verwendbar war. Mithin hat er ihn nicht nur unerheblich an der Substanz verletzt,
somit beschädigt.
bb. Zerstören
Fraglich ist, ob er ihn auch zerstört hat. Eine Sache ist zerstört, wenn sie ihrer Substanz nach
vernichtet oder so schwer beschädigt wurde, dass sie für ihren Zweck völlig unbrauchbar
wird. Vorliegend ist der Reifen nicht mehr für seinen Zweck verwendbar und somit zerstört.
T hat mithin auch eine hinreichende Tathandlung begangen.
c. Kausalität
Fraglich ist, ob der Stich des T auch kausal für die Beschädigung und Zerstörung gewesen
ist. Kausal im Sinne des Äquivalenztheorie ist jede Handlung, die nicht hinweggedacht
werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele. Hätte der T nicht in
den Reifen gestochen, wäre dieser nicht an seiner Substanz verletzt worden und noch verwendbar gewesen. Ohne den Stich in den Reifen durch T wäre somit der konkrete Erfolg
nicht eingetreten. Die Handlung des T war kausal.
d. objektive Zurechnung (hier offensichtlich gegeben)
Weiterhin müsste dem T der Erfolg auch objektiv zurechenbar gewesen sein. Ein durch
menschliches Verhalten verursachter Erfolg ist dem Täter nur dann zurechenbar, wenn sich
die durch ihn herbeigeführte, rechtlich missbilligte Gefahr des Erfolgseintritts im konkreten
erfolgsverursachenden Geschehen realisiert hat. T hat durch den Stich in den Reifen eine
rechtlich missbilligte Gefahr der Beschädigung des Reifens geschaffen, welche sich unmittelbar im erfolgsverursachenden Geschehen realisiert hat. Dieser Erfolg ist ihm objektiv
zurechenbar.
T hat die objektiven Tatbestandsmerkmale verwirklicht.
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2. Subjektiver Tatbestand
Weiterhin müsste der T den subjektiven Tatbestand verwirklicht haben. Der subjektive Tatbestand
des § 303 I StGB setzt Vorsatz voraus. Unter Vorsatz versteht man den Willen zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller objektiven Tatumstände.
T wusste, dass es sich um den Reifen des O gehandelt hat, mithin um eine fremde Sache. Weiterhin stach er laut SV absichtlich in diesen hinein. T handelte auch vorsätzlich.
3. Zwischenergebnis
T hat den Tatbestand der Norm verwirklicht. Weiterhin müsste er rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben.
II. Rechtswidrigkeit
Es sind keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich. T handelte rechtswidrig.
III. Schuld
Es sind auch keine Entschuldigungsgründe ersichtlich. Mithin handelte T auch schuldhaft.
IV. Strafantrag
Der nach § 303 c StGB nötige Strafantrag wurde laut SV durch O gestellt.
V. Ergebnis
T hat sich einer Sachbeschädigung nach § 303 I StGB strafbar gemacht, indem er den hinteren
Fahrradreifen des O zerstach.
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