Heft #4 Kunst - Schauspiel Hannover

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Heft #4 Kunst - Schauspiel Hannover
Heft #4
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01.01
03 Editorial 04 »Kunst wird gebraucht!« – Jürgen Kuttner im Interview 06 Gastbeitrag (I): René Zechlin über den Künstler
Timm Ulrichs 08 Soeren Voima: Wozu Kunst, wozu Theater? 10 Florian Fiedler: Darf Kunst politisch sein? 12 Die Reise nach
Hiroshima 15 Herbert Schmalstieg im Interview 16 Szenenfoto: »Romeo und Julia« 18 Die Autorin Anne Jentsch im Gespräch
20 Der Regisseur Kornél Mundruczó im Porträt 22 Szenenfoto: »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« 24 Aufbruch nach »Neverland«: Fragen von Lars-Ole Walburg an Michael Feist 26 Gastbeitrag (II): Kristin Schrader über die Künstlerin Nathalie
Djurberg 28 Szenenfoto: »Adams Äpfel« 30 was kommt: Die Höhepunkte im September und Oktober
schauspiel hannover
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Steht so genannte Kunst im öffentlichen
Raum auch nur herum? Was ist mit den
Nanas am Leibnizufer der Leine? Wären
diese in einer Kindertagesstätte nicht
besser aufgehoben? Seltsam, ich bilde
mir ein, dass sie dort gebraucht würden.
Heidi Mumenthaler, Künstlerin
02.03
02
Theater und Politik
»Kunst wird woanders gebraucht, als wo sie rumsteht« – der Titel ist These. Für die neue Show von Jürgen Kuttner,
aber auch für unser Heft #4: Kuttner, der Urheber dieser These, postuliert, dass wirkliche Kunst nur jene sei, die
uns hilft, das Leben zu verstehen und auf andere Art zu sehen. Kunst als angewandte Lebenssehhilfe und Einmischkraft im Interview auf den Seiten 4 und 5. Soeren Voima hält dagegen, dass das Essenzielle des Theaters und
der Kunst gerade ihre Unbrauchbarkeit und Unnützlichkeit sei (Seite 8). Florian Fiedler wiederum beschreibt auf
den Seiten 10 und 11, warum Kunst immer dort gebraucht wird, wo sie rumsteht und als Kommentar zur Wirklichkeit niemals unbrauchbar, niemals unpolitisch sein darf.
Kuttners Showtitel entstammt übrigens einem Zitat von Bertolt Brecht, in dem er beschreibt, dass die Erkenntnis
nicht hier, aber vielleicht an einem anderen Ort gebraucht werden könne. Brecht versuchte, dem Theater einen
gesellschaftlich-politischen Nutzen zu geben und ersann die Idee des Lehrtheaters, bei dem die Mitwirkenden
spielend Erkenntnisse gewinnen. Eine Art Mitmach-Lehrtheater ist auch unser Projekt »Republik Freies Wendland –
Reaktiviert«, mit dem wir unser Anliegen, gegenwärtige Themen auf der Bühne zu verhandeln, weiterführen.
Vielleicht sollten wir Arbeiten wie »Moschee DE« oder »Die Schöpfer der Einkaufswelten«, »komA« und »Die Welt
ohne uns«, mit denen wir uns in Heft #3 unter dem Stichwort »Feldforschung« beschäftigten, am ehesten mit
dem Begriff »sinnliches Lehrtheater« definieren. Denn es ist die Möglichkeit einer anderen gesellschaftlichen
und politischen Bildung mit sinnlichen, theatralen Mitteln, die diese Projekte und die Wendland-Republik so
besonders machen.
»Aber das ist kein Theater, sondern Politik!«, schallt der Vorwurf zu uns. Theater und Politik – wie sollten wir beides
trennen? Diese Bereiche sind seit der Antike über Ibsen und Schiller bis heute so eng miteinander verwoben, dass
es ebenso vermessen wäre, zwischen ihnen eine Differenz zu markieren wie zwischen Leben und Politik. Jede
Handlung ist politisch, weil sie gesellschaftlich und sozial relevant ist. Das gilt aber auch für jede unterlassene
Handlung. Würden wir kein Wendland-Projekt machen, wäre dies ebenso politisch!
Wie politisch brauchbar und sinnlich moralisch Theater in seiner »Mächtigkeit der sichtbaren Darstellung« sein kann
und muss, beschrieb schon Friedrich Schiller in seinem Manifest »Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet«: »Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der
menschlichen Seele.« Aber – und darin liegt die eigentliche Kraft des Theaters und der Kunst – hier kann das Wissen
und die Moral auf sinnliche, performative und unterhaltsame Art vermittelt werden, denn, so Schiller: »Die Schaubühne
ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft
der Seele zum Nachtheil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird.«
Liebe Zuschauer, herzlich willkommen in Ihrer und unserer zweiten Spielzeit! Herzlich willkommen in Ihrer und
unserer, Deiner Moralischen Anstalt!
Aljoscha Begrich
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------PS: Unsere Grafikerinnen Maria José Aquilanti und Birgit Schmidt, die dieses Theatermagazin für Sie gestalten,
wurden für das Heft #2 und das Spielzeitheft 2010/11 mit dem iF communication design award 2010 ausgezeichnet.
Beide Publikationen wurden von einer international hochkarätig besetzten 16-köpfigen Jury ausgewählt. Beworben hatten sich insgesamt 1.687 Beiträge aus 26 Ländern. Der iF communication design award ist ein anerkannter
internationaler Designwettbewerb für alle Formen des Kommunikationsdesigns. Das Magazin seitenbühne der
Staatsoper wurde ebenfalls ausgezeichnet.
Die Redaktion
»Kunst ist keine Kunst! Wirkliches
wirklich machen – das ist, wenn man
Glück hat, Kunst!«
Jürgen Kuttner über seine Show »Kunst wird woanders gebraucht, als wo sie rumsteht«, Eisschirmchen in Hundekot­haufen
und den Ausnahmekünstler Christoph Schlingensief
Interview: Aljoscha Begrich / Transkription: Mina Salehpour
»Ich bin keine klassizistische Marmorgestalt, ich brülle die Leute
lieber an.«
Der Titel ist These: Jürgen Kuttner, legendärer Sprechfunkmoderator und wortgewaltiger Performer, Videoschnipselvortragender und Kulturwissenschaftler, will
Kunstwerke als Spielanleitung lesen, Genrebestimmungen umkehren und aus Theorie Praxis machen, um
Kunst in einer geisteshellen Show zwischen Zauberei
und Massenchoreografie, Diskurs und Zirkus, Quatsch
und Avantgarde ins Leben zurückzuführen.
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»Kunst wird woanders gebraucht, als wo sie rum­
steht« – was verbirgt sich für dich hinter dieser
These?___JÜRGEN KUTTNER Als anthropologischer
Optimist denke ich: Mensch, Kunst ist doch eigentlich
toll! Ich finde, man sollte Kunstwerke als Erfindungen
begreifen, die einfach Instrumente bieten, unsere Welt
anders zu sehen, anders zu begreifen und vielleicht sogar zu verändern.
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Ein Beispiel?___KUTTNER: Es gibt diese Fotoserie von
Thomas Kapielski, »Autos mit kranken Augen«, für die er
Autos fotografiert hat, deren Scheinwerfer kaputt waren
und mit Tesafilm oder was auch immer geflickt wurden.
Die sehen einen dann so traurig an wie schielende Kinder, denen ein Brillenglas abgeklebt wurde. Wenn ich
jetzt durch die Straßen gehe und so ein Auto sehe,
denke ich: »Ach nee, da hat ein Auto wieder ein schlim­
mes Auge.« Und das macht die Welt etwas schöner,
trauriger und besser. Oder eine andere schöne Aktion
von ihm, bei der er Eisschirmchen in Hundekothaufen
gesteckt hat. Das verändert was! Man kann da reintreten und sich ärgern, man kann nicht reintreten und sich
ärgern, man kann sich darüber aufregen, man kann
nach der Stadtreinigung rufen und die Hundehalter verfluchen, aber man kann da auch ein Eisschirmchen
reinstecken, und dann wird es gleich eine freundlichere
Sache.
Ich finde, das ist – sehr kleingerechnet – der Wert und
die Möglichkeit von Kunst. An diesem Punkt bin ich fast
konservativ und durchaus Hegelianer, ich halte Religion, Kunst, Philosophie für wesentliche Bewusstseinsformen, in denen die Vernunft, der Geist, letztlich die
Gesellschaft zu sich selber kommen. Hegel setzt das
Ende dieser »Kunstperiode« mit dem Tod von Goethe an,
aber auch darüber hinaus bleibt Kunst ein wichtiges
Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung und –
erkenntnis. Die knappste und präziseste, auch utopische
Formulierung findet man bei Rilke in seinem Gedicht
»Archaischer Torso Apolls«. Rilke schaut sich in Paris die­
se Skulptur an, die Skulptur schaut zurück und sagt: »Du
musst dein Leben ändern!« Das ist die verpflichtende
Möglichkeitsleistung von Kunst! Das ist nicht erfüllbar,
aber man kann und muss sich daran abarbeiten. Mehr
geht nicht, aber weniger darf nicht! Das ist für mich das
Motiv, Kunst oder Quatsch zu machen in der Sprache,
die mir zur Verfügung steht. Ich bin keine klassizistische
Marmorgestalt, ich brülle die Leute lieber an: »Verdammt
noch mal, ihr müsst euer Leben ändern! Kommt aus dem
Arsch!«
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Heißt das, dass du ein utilitaristisches Kunstver­
ständnis hast? Was du sagst, steht ja einer Auffas­
sung von Kunst entgegen, die man ganz ohne Ab­
sicht nur so anschaut, die sich in der Folge von
Kants Schönheitsdefinition als »interesseloses
Wohl­gefallen« entwickelt hat, einer Kunst ohne Ge­
brauchswert. Es gibt meiner Meinung nach einen
breiten Konsens über einen ganz anderen Kunst­
begriff: Jeder sagt, man wisse nicht, was Kunst
sei, denn Kunst sei undefinierbar. Aber alle sind
sich darin einig, dass Kunst keinen Nutzen hat.___
KUTTNER Ich halte diese politökonomische Begriffswahl – Gebrauchswert, Tauschwert – für Quatsch. Marxistisch formuliert sind diese Überbauphänomene wie
Kunst, Wissenschaft oder Philosophie Formen, sich über
die Welt zu verständigen, die nicht durch einander ersetzt
werden können. Wir brauchen die Naturwissenschaft, um
uns in der Welt bewegen zu können, aber wir brauchen
auch die Philosophie. Und zwar nicht nur Ethik und Moralphilosophie, sondern auch die wirkliche Philosophie.
Und genauso brauchen wir auch die Kunst, um die Welt
um uns herum überhaupt begreifen zu können.
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Für die russische und deutsche Avantgarde in den
zwanziger Jahren war die Verschmelzung von bil­
dender Kunst und Theater noch erstrebenswert.
Heute jedoch laufen die Gattungen eher parallel ne­
beneinander her.___KUTTNER Mich nerven diese
scharfen Betriebsgrenzen zwischen den einzelnen Gattungen und Institutionen: Da ist der Literaturbetrieb mit
den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt, da ist der
Kunstbetrieb mit Art Basel und Traritrara, da sind die
Theater mit dem Theatertreffen. Alle sind extrem herme-
tisch und verhalten sich eher unsolidarisch,
uninteressiert und konkurrenzhaft zueinander. Ich weiß nicht, ob man nicht miteinander zu tun haben will, aber man
hat definitiv nicht miteinander zu
tun. Das ist schon ein sehr ausgewachsenes Platzhirschtum. Das
hängt sicher mit der enormen Dominanz des Marktes zusammen und
hat mit der eigentlichen Leistungsfähigkeit, den eigentlichen Möglichkeiten der einzelnen Genres
nichts zu tun. Das finde ich
schreck­lich. Wenn es zu einer
Begegnung kommt, wie zum Beispiel bei einer Ausstellung von
Bert Neumann in Wien, diesem
tollen Bühnenbildner der Volksbühne, bleibt das Grundmotiv
dieser Begegnung trotzdem so
eine Form von Parasitismus,
weil es an der Grundvereinbarung »Das hier ist Kunst-Kunst,
und hier ist Theater-Theater«
nicht rührt.
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Klaus Biesenbach, der Leiter
der Kunstwerke in Berlin und
des P. S. 1, hat gerade gesagt, der
einzige, der die soziale Plastik von
Joseph Beuys konsequent weiter gedacht
habe, sei Christoph Schlingensief gewe­
sen. Interessanterweise hat Schlin­­gen­
sief ja die Beuys’sche Ambition eines
weniger materialistischen Kunstbe­
griffs, einer Kunst, die in die Gesell­
schaft einwirkt und mit Werken,
Gesprächen, Aktionen soziale Ver­
änderungen erreicht, mit Mitteln
des Theaters weitergetrieben.
Aber Schlingensief ist natürlich
eine Ausnahmeerscheinung, der
die Künste quasi in sich zusam­
menbringen konnte.___KUTTNER
Letzt­lich lebt Kunst eben durch die
Ausnahme und durch eine be-
04.05
04
stimmte Konsequenz. Ich bin kein Fan des
Geniebegriffs aus dem 19. Jahrhundert, aber Schlingensief ist eben ein
solitäres Phänomen. Er ist der
einzige, der das machen
konnte, was er gemacht hat
– und der einzige, der es
wirklich gemacht hat!
Kunst ist keine Kunst! Etwas Wirkliches wirklich
machen – das ist, wenn
man Glück hat, Kunst! Diese Konsequenz, für die es
keine Erfolgsgarantie gibt,
ist eben selten. Es gab nur
einen Christoph Schlingensief, und es gab nur einen
Joseph Beuys. Es gab einen
Dieter Roth, und es gibt einen
Timm Ulrichs; ich würde
es mir gar nicht zutrauen,
da Wertungshierarchien
einzuziehen. Ich würde
mich sehr freuen, wenn
Timm Ulrichs bei unserem Abend mitmachen
würde. Das wäre gut und
von der Absicht her nicht
parasitär, denn dann
würde ich sagen, er soll
machen, was ihm wichtig ist, woran ihm liegt.
Er kann meinetwegen
auch versuchen, den
ganzen Abend zu zerkloppen. Ich hätte nichts
dagegen. Wenn es was Reelles wäre, dann wärs toll.
Dann wär mir auch egal, wenn
das jetzt vielleicht den kulinarischen Theatergenuss stört.
+ + + + + + + + + + + + + + +
Was macht gerade Timm Ul­
richs für dich so interes­
sant?___KUTTNER Das liegt
sicher auch in meiner Präfi-
guration begründet, weil ich selbst ja tendenziell einen
eher distanzierten, ironischen und vor allem selbstironischen, aber, wie ich hoffe, nicht zynischen Blick auf die
Welt habe – und den hat Ulrichs auch. Der gängige Begriff Ironie greift hier vielleicht zu kurz. Ich meine eine
Ironie, die etwas Wirkliches sagt, der auch eine Form
von Melancholie eingeschrieben ist. Und so eine Form
von Ironie hat Ulrichs auch. Das ist mir sehr nah. Dagegen sind mir bestimmte Formen von Pathoskunst fremd.
Ich gehe selbstironisch durch die Welt und denke immer: »Mensch Kuttner, reiß doch nicht immer das Maul
so auf!« Aber was soll man machen? Wenn man nichts
anderes kann, dann eben das. Aber konsequent!
----------------------------------------------------»Kunst wird woanders gebraucht, als wo sie rumsteht«:
23.10. (Premiere), 27., 30. und 31.10., 03., 04. und 16.11., Schauspielhaus
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Jürgen Kuttner Geboren 1958 in Ost-Berlin. Am
Schauspiel Hannover ist er in der Hannoverrevue »Götter, Kekse, Philosophen« und »Die
Schöpfer der Einkaufswelten« nach Harun Farocki zu sehen.
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Rainer Maria Rilke ------------------------------------Archaischer Torso Apollos ---------------------------------------------------------------------------------Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,--------------darin die Augenäpfel reiften. Aber---------------------sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,-------------in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,------------------------------------------------------------------sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug-------der Brust dich blenden, und im leisen Drehen- --------der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen-----------zu jener Mitte, die die Zeugung trug.--------------------------------------------------------------------------Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz- ----------unter der Schultern durchsichtigem Sturz--------------und flimmerte nicht wie Raubtierfelle;------------------------------------------------------------------------und bräche nicht aus allen seinen Rändern------------aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,------------die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.-------
Muss man Kunst überhaupt sehen?
Kunst findet nicht nur in Ausstellungsräumen und auf der Bühne statt, sondern im Denken und im Geist. Dort wird sie
auch gebraucht. Eine Einstimmung auf die groSSe Timm-Ulrichs-Werkschau, die der Kunstverein Hannover und das Sprengel Museum vom 28. November 2010 bis 13. Februar 2011 gemeinsam veranstalten
gastbeitrag Von René Zechlin
Das Konzept und die Idee sind für Timm Ulrichs ohnehin höherwertig
als deren visuelle Realisierung. »Mein Kopf ist mein Atelier«, sagt der
Künstler.«
Die Behauptung »Kunst wird woanders gebraucht« führt
unweigerlich zu weiteren Überlegungen. Wird Kunst
überhaupt gebraucht? Wo ist »woanders«? Und natürlich: Was ist Kunst überhaupt?------------------------Ein Meister des Umgangs mit diesen Fragen ist sicherlich der hannoversche Künstler Timm Ulrichs, der 2010
seinen 70. Geburtstag feierte. Bereits 1961 beantwortete er die Frage, wozu, weshalb und wo Kunst gebraucht
würde, mit seinem Begriff der Totalkunst. »Totalkunst ist
das Leben selbst«, erklärte der damals 21-jährige Künstler auf Flugblättern, Manifesten und Programmen. Diese
radikale Grundannahme bildete die Basis für ein Werk,
das seit über 50 Jahren Kunst und Leben mit Witz, Ironie und analytischem Feingespür auf den Zahn fühlt.
Der Kunstverein Hannover und das Sprengel Museum
Hannover stellen die thematischen Schwerpunkte und
Facetten des außergewöhnlichen Künstlers nun in einer
umfassenden gemeinsamen Ausstellung unter dem Titel
»Betreten der Ausstellung verboten – Timm Ulrichs:
Werke von 1960–2010« dar (28. November 2010–13.
Februar 2011).----------------------------------------Timm Ulrichs meinte es mit der Totalkunst von Anfang
an sehr ernst. Wenn ein Alltagsobjekt wie ein Flaschentrockner von Marcel Duchamp zum Ready-made erklärt
wird, kann man doch auch eine Person zur Kunst erklären, folgerte Timm Ulrichs und stellte 1966 sich selbst
in einer Ausstellung als erstes lebendes Kunstwerk aus.
Damit stellte er nicht nur einen Menschen als Readymade aus, sondern erklärte die Person des Künstlers als
Autor, Schöpfer und Erfinder des Kunstwerkes zur Kunst
an sich. So bildete seine Person immer wieder die
Schnittstelle seiner künstlerischen Untersuchungen. Er
ist Wissenschaftler, Philosoph, Proband und Darsteller
in einer Person. Neben der Integration von Sprache und
Dichtung umfasst dies auch außerkünstlerische Disziplinen wie Naturwissenschaften, Statistik und Soziologie
– kurzum, sämtliche Bereiche, die dazu dienen, das
menschliche Dasein zu erfassen. »Woanders« ist in Bezug auf die Kunst damit paradoxerweise zuerst einmal
ganz nah: im alltäglichen Leben und nicht in den institutionellen Rahmen, für die sie produziert wird.-------Nicht nur Timm Ulrichs schöpft aus den Fragen der Gegenwart, um daraus Werke zu schaffen, die dann »woanders« präsentiert werden. Gerade diese Trennung
zwischen »hier« und »dort«, zwischen dem Bereich der
Kunst und dem »richtigen Leben« wird von Timm Ulrichs
immer wieder auf den Kopf gestellt. Den Regeln und
Normierungen des Lebens wirft er mit entwaffnendem
Wortwitz seine Fragen entgegen. So nahm er 1973 die
Rolle des Durchschnittsbürgers wortwörtlich und konsumierte den damaligen durchschnittlichen Pro-KopfVerbrauch verschiedener Lebensmittel innerhalb eines
Jahres. Darunter befanden sich: 4,8 Kilo Schokolade,
4 Kilo Fisch, 800 Tassen Kaffee, 144 Liter Bier und
2.425 Zigaretten.-------------------------------------Ein weiteres Resultat seiner künstlerischen Versuche,
eine statistische »Realität« oder, vielleicht besser, eine
statistische Abstraktion der Realität in eine künstlerische, visuelle Abstraktion zu überführen, wurde 2009
nur wenige hundert Meter vom Schauspielhaus entfernt
im neuen Gebäude der VGH Versicherung realisiert:
Eine 50 Meter lange Wandarbeit repräsentiert anhand
von 2.500 bunten Quadraten die »Lieblingsfarben der
Niedersachsen«. Jede Farbe erscheint genau so oft, wie
eine vom Künstler in Auftrag gegebene »repräsentative«
Umfrage zuvor ermittelt hatte. Der ermittelte ästhetische
Durchschnittsgeschmack der Niedersachsen ist demnach im Wesentlichen Blau und Rot (37 Prozent und 20
Prozent).----------------------------------------------Aber auch die Funktionsweisen, Systeme und Kontexte
der Kunst selbst sind immer wieder Ziel der Aktionen
von Timm Ulrichs. So fand die bekannte Aktion, in der
er als blinder Seher agiert und doppelsinnig erklärt, er
könne keine Kunst mehr sehen, 1975 auf der Kunst-
messe Art Cologne statt. Die meisten Besucher haben
wohl kaum realisiert, dass Timm Ulrichs über die Idee
eines lebenden Bildwitzes hinaus den Kontext seiner
Aktion ins Visier nahm. Aus der Sicht der Institutionen
wie Museen, Kunstvereine oder Theater betrachtet, ist
eine Kunstmesse durchaus ein »Woanders«. So wandte
sich Ulrichs mit seiner Aktion gegen die Kommerzialisierung von Kunst, die das Schöne und Dekorative dem
Konzeptuellen und Kritischen immer vorziehen würde.
Denn: Muss man Kunst überhaupt sehen?-------------Das Konzept und die Idee sind für Timm Ulrichs ohnehin
höherwertig als deren visuelle Realisierung. »Mein Kopf
ist mein Atelier«, sagt Timm Ulrichs und verschiebt damit den Schwerpunkt der Kunst eindeutig von der ästhetischen Anschauung hin zur intellektuellen Reflexion.
Tatsächlich basieren viele seiner Arbeiten auf intelligenten Sprachspielen, wie der Satz »Am Anfang war
das Wort Am« (1962 / 71). Auch die Idee seines bereits
vorab produzierten Grabsteins mit der Aufschrift »Denken Sie immer daran, mich zu vergessen« wird erst nach
seinem Tod zur konzeptuellen Vollendung kommen,
ebenso wie der lapidare Abspann eines radikalen
künstlerischen Lebens: »The End« ließ er sich auf sein
Augenlid tätowieren.---------------------------------Mit der Betonung der Idee im künstlerischen Schaffen
ließe sich »woanders« demnach auch als Ort des Geistes
definieren. Kunst findet nicht erst und nicht nur in den
Ausstellungsräumen und auf der Bühne statt, sondern
im Denken und im Geist. Und wird dort auch gebraucht.------------------------------------------------------»Betreten der Ausstellung verboten – Timm Ulrichs: Werke
von 1960–2010«: 28. November 2010 bis 13. Februar 2011,
Kunstverein und Sprengel Museum hannover
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René Zechlin geboren 1974 in Würzburg, stu-
Timm Ulrichs: Wegweiser »Hier 40 000 km«, 1969.
Siebdruck auf Aluminium
Copyright VG Bild Kunst, Bonn
»Unendlich«: Beschreibung des Himmels, KondensstreifenAktion, 1969 / 9.8.1986. C-Print auf Aludibond, in Holzrahmen
Copyright VG Bild Kunst, Bonn
dierte Kunstgeschichte und Philosophie, bevor
er als Kurator im Frankfurter Kunstverein und
im irischen Cork in der Lewis Glucksman Gallery arbeitete. Seit 2008 gestaltet er als Direktor
das Programm des Kunstvereins Hannover.
06.07
06
Timm Ulrichs: »Ich kann keine Kunst mehr sehen«, 1975 / 2002.
Dokumentationsfoto einer Demonstration beim Internationalen Kunstmarkt Köln 1975, Messegelände Köln-Deutz am 10.11.1975
Foto: Ellen Poerschke, Berlin. Copyright VG Bild Kunst, Bonn
Wozu Kunst, wozu Theater?
Warum die Kunst sich gegen gesellschaftliche und kommerzielle Eingemeindungsversuche wehren und letztlich jedes
betriebswirtschaftliche Denken ad absurdum führen muss
Von Soeren Voima
Sobald Kunst anfängt herumzustehen, verliert sie ihre vitale Fähigkeit,
in den engen Raum scheinbarer und tatsächlicher Notwendigkeiten
Fenster des Möglichen zu schlagen.
Ab und an sieht man ihn noch, den alten Aufkleber des
Deutschen Bühnenvereins: »Theater muss sein!« Seit er
mir vor Jahren das erste Mal ins Auge stach, ist landauf
landab eine ganze Reihe von Theatern geschlossen
worden. Reibungslos und ohne dramatische Folgen. Das
Gegenteil dürfte also bewiesen sein: Theater muss nicht
sein! Kunst wird nicht gebraucht! Weder da, wo sie
rumsteht, noch irgendwo sonst. ----------------------Die generelle Unbrauchbarkeit des Theaters für die heiligsten Zwecke hatte schon Platon begriffen, als er Sokrates von einem Theaterverbot für seinen idealen Staat
sprechen ließ. Vollkommen einig darin mit den frühkapitalistischen Puritanern: Was nicht brauchbar ist, schadet am Ende nur. (Und das Geld, mein Gott! Man mag
gar nicht daran denken, was sich damit Brauchbares
herstellen ließe...). -----------------------------------Anderer Ansicht waren zum Beispiel General William
Booth, Gründer der Heilsarmee, und Anatoli Lunatscharski, sowjetischer Volkskommissar für Bildung: Warum
sollten nur Teufel und Klassenfeind die gute Musik haben? So ganz im Dienste einer besseren Welt verkümmerte dann allerdings allzu oft die Kunst. Kunst, die
gebraucht wird und die sich gebrauchen lässt, verwandelt sich in Gebrauchskunst, verwandelt sich in Propaganda oder Design. Merkwürdigerweise orientierten
sich, wie der Kunsttheoretiker Boris Groys bemerkt, ambitionierte Designer gegenwärtig stark an der Kunst,
gestalteten also bewusst unbrauchbare Produkte, während Künstler unter ihrer Nutzlosigkeit litten und sich
tendenziell nach einer neuen Brauchbarkeit sehnten.
Kunst, schlägt Groys vor, ließe sich am besten als dysfunktionales Design beschreiben. Wofür aber braucht
man dysfunktionales Design? Wozu braucht man
Kunst? -----------------------------------------------In einer Vorlesung vor Architekturstudenten sprach Michel Foucault 1967 über Orte, die Gegenentwürfe zu
dem sie umgebenden kulturellen Raum darstellen. Über
Orte also, die alle anderen Orte repräsentieren, in Frage
stellen oder in ihr Gegenteil verkehren. An diesen realen Orten, die er Heterotopien nennt, realisieren sich,
so Foucault, die nur imaginären Orte unserer Utopien.
Kunst besitzt die Fähigkeit, solche Heterotopien zu erschaffen. Wo Kunst ist (dysfunktionales Design), realisiert sich persönliche oder gesellschaftliche Utopie: Die
Erdanziehung wird aufgehoben, die Liebe regiert oder
der Mensch wird zum Tier. Da die spezielle Kunstform
des Theaters vom Drama lebt, von Handlung also, beziehen sich seine Heterotopien aller Wahrscheinlichkeit
nach auf Utopien menschlicher Handlung, auf die Fragen also: Was können wir tun? Und was sind die Folgen
unserer Taten? Mit Foucault könnte man sagen, das dramatische Theater ist in der Lage, Heterotopien der Ethik
zu schaffen ­– reale Räume oder Orte also, in denen sich
die imaginären Räume (Utopien) unserer Handlungsmöglichkeiten – wenn auch nur zeitlich begrenzt – verwirklichen. Natürlich sind Utopien nicht nur positiv: Es
gibt Gewaltutopien, Utopien der Selbstvernichtung,
Utopien totaler Handlungsunfähigkeit. Politisch interessant jedenfalls ist Theater nicht aufgrund einer bestimmten politischen Aussage. Politisch interessant ist
es, wenn es die Fähigkeit behauptet, im offenen Gegensatz zu eingebildeten oder tatsächlichen gesellschaftlichen Notwendigkeiten, Handlungsmöglichkeiten zu
eröffnen und auszuloten. -----------------------------Ökonomische Zwänge, so scheint es, bestimmen unser
gesamtes gesellschaftliches Leben. Politik, Erziehung,
Bildung und viele Bereiche der Kultur beziehen inzwischen ihre Wertvorstellungen und ihre Berechtigungsargumente aus betriebswirtschaftlichen Denkfiguren.
Utopien sind rar geworden, der schiere Sachzwang regiert. Wirtschaftliche Notwendigkeit fungiert auf fast
allen gesellschaftlichen Ebenen als ultimatives Totschlagargument, egal, ob es um Einschnitte in der Bildung geht, um den Erhalt der Atomenergie oder die
Förderung des weltweiten Flugverkehrs. Immer wieder
werden die Forderungen nach gesellschaftlichen Alternativen mit dem herablassenden Hinweis auf die wirtschaftliche Realität vom Tisch gewischt. Dabei sollte
spätestens seit der jüngsten Finanzkrise klar sein, welches Ausmaß an Spekulation und Fiktion sich hinter
diesem ökonomischem Realismus und seiner wirtschaftswissenschaftlichen Rhetorik verbirgt – und auch
verborgen werden soll. - -----------------------------Kunst und Theater operieren nicht in der Sphäre des
Notwendigen, sondern in der Sphäre des Möglichen. Je
unbrauchbarer etwas, würde ich sagen, desto wahrscheinlicher handelt es sich um Kunst. Gerade ihrer
ausdrücklichen Unbrauchbarkeit, Unvereinbarkeit und
Unberechenbarkeit nämlich verdankt die Kunst, verdankt das Theater die Fähigkeit zur Heterotopie: Immer
aufs Neue und mit immer neuen Strategien muss sie
sich gegen gesellschaftliche und kommerzielle Eingemeindungsversuche immunisieren. Hartnäckig muss sie
jede Kalkulierbarkeit leugnen, jede Rationalisierung
hintertreiben und jedes betriebswirtschaftliche Denken
ad absurdum führen. Immer aufs Neue muss sie die eigenen künstlerischen Mittel hinterfragen, muss sie Geschmacksbarrieren einreißen oder neue errichten. Die
Geschwindigkeit, mit der erprobte und funktionierende
ästhetische Konzepte dabei über Bord geworfen werden, entspricht der rasenden Geschwindigkeit der Kommerzialisierung und Instrumentalisierung eben dieser
Konzepte durch die Gesellschaft. ---------------------Sobald Kunst anfängt herumzustehen, sobald sie einen
Kanon bildet, sobald sie eingeordnet und zugeordnet
werden kann, verliert sie ihre vitale Fähigkeit, in den
engen Raum scheinbarer und tatsächlicher Notwendigkeiten Fenster des Möglichen zu schlagen. Und diese
Fenster sind es, derer wir am dringendsten bedürfen,
wollen wir unser Menschsein (ganz im Sinne Schillers)
bewahren. In einer Welt geradezu atemberaubender
Rationalisierung und Kapitalisierung ist das Wertvollste
am Theater, an der Kunst wahrscheinlich das ausdrücklich Unbrauchbare. -----------------------------------++++++++++++++++++++++++
SOEREN VOIMA Geboren 1972 in Wittgensdorf
(Chemnitz). Nach Forstwirtschaftsausbildung
und Abitur an der Abendschule Studium der
Verhaltensbiologie in Berlin. Beginnt während
des Studiums zu schreiben und entdeckt das
Theater. 1995 Gründung der nach ihm benannten Autorengruppe. Seit 2003 eigene Projekte. in
der Spielzeit 2009/10 Textbearbeitungen für das
Schauspiel Hannover (»Der abentheuerliche
Simplicissimus Teutsch«, »Sternstunden der
Menschheit«). am 14. mai 2011 wird sein neues
stück »ursprung der welt« im schauspielhaus
uraufgeführt. Er Lebt als freier Autor im Havelland und in Hannover.
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08.09
08
Foto: Katrin Ribbe
»Sternstunden der Menschheit« nach Stefan Zweig, bearbeitet von Soeren Voima:
Szene mit Martin Vischer, Susana Fernandes Genebra
Wie ich das Theater als moralische
Anstalt entdeckte
Keine Kunst wird überhaupt nicht da gebraucht, wo sie rumsteht, oder: Darf Kunst politisch sein?
Von florian fiedler
Wer dem Künstler das Recht abspricht, politisch Haltung zu beziehen,
macht ihn zu einer überinstanzlichen Autorität. Diese Rolle wird kaum
ein Künstler annehmen wollen.
Als kleiner Junge wollte ich Bundeskanzler werden, so vieles fand ich nicht richtig
und ungerecht, das ich ändern wollte. Ein paar Jahre später versuchte ich es erstmal
mit der Schulsprecherei. In einem Kollektiv haben wir eine Schulbesetzung und eine
ganze Menge Demos (meist gegen den Bildungsnotstand) organisiert. Eine Aktionswoche eröffneten wir mit einem Streik und einer daran gekoppelten Demonstration;
von 1.000 Schülern nahmen mindestens 800 teil. ----------------------------------An einem Freitag nachmittag kamen dann nur 35. Wir wurden von der Polizei gebeten, auf dem Bürgersteig zu demonstrieren. So stellte sich mir die Frage nach dem
Sinn dieser Arbeit. Schien es doch den meisten eher darum zu gehen, schulfrei zu
haben, als sich wirklich gegen eine empörende Bildungspolitik zu engagieren. -----Parallel dazu begann ich mich für das Theater zu interessieren. So, wie ich das Theater damals in Hamburg erlebt habe, war es für mich eine Art Gemeindehaus in Zeiten
aussterbender Gemeinschaftskultur. Menschen saßen gemeinsam in einem Raum und
kommunizierten miteinander, indem sie Reaktionen auf Gedanken, Bilder und Vorgänge zeigten, erwiderten einander manchmal sogar lautstark und fanden sich anschließend im besten Fall in Diskussionen wieder. ----------------------------------Ich hatte einen Ort der Kreativität und des Denkens gefunden! Hier wurden politische
Fragen viel grundsätzlicher als in der Schule und viel offener als in der Antifa gestellt,
weil sie immer auch Fragen nach dem Menschsein an sich waren – Fragen danach,
wie sich der Mensch in der Gesellschaft verhält. Im Theater, so fand ich, wurden
Menschen für die Notwendigkeit der politischen und gesellschaftlichen Beteiligung
eines jeden Einzelnen sensibilisiert. Hier wurde der Mensch direkt auf seine Trägheit
angesprochen, konnte mobilisiert werden oder, besser noch, dazu gereizt werden,
sich selbst zu mobilisieren. ---------------------------------------------------------Ich hatte das Theater als moralische Anstalt entdeckt. Das Tolle dabei war für mich,
wie unmoralisch es sein konnte. Ich musste überhaupt nicht übereinstimmen mit
dem, was auf der Bühne geschah (was ich mir bei einer politischen Veranstaltung
schon eher gewünscht hätte), um denkend und fühlend zu reagieren. Dadurch, dass
sich alles in einer künstlichen Welt abspielt, konnte ich einer antisemitischen Figur
zuhören und mich vielleicht sogar dabei ertappen, ihren Vorurteilen zuzustimmen,
also über mich erschrecken. Der fiktive Raum ermöglicht mir einen Draufblick auf
politische und gesellschaftliche Prozesse, auf menschliche und allzu menschliche
Verhaltensweisen. -----------------------------------------------------------------Wenn in der zweiten Septemberhälfte auf dem Ballhofplatz hoffentlich über 100 Jugendliche an einem Hüttendorf bauen, dann ist das auch ein fiktiver Raum. Noch ist
im Zentrum Hannovers kein Zwischen- oder Endlager geplant, und die Gefahr einer
Räumung durch den Staat und seine dafür vorgesehenen Organe ist auch ziemlich
gering. Die Jugendlichen haben also die Chance, gleichermaßen Akteure und Publikum zu sein. Die Diskussionen über das »Wie« unseres Zusammenlebens, die Suche
nach Formen des Protestes, die Fragen nach dem Sinn desselben sind alle gleichermaßen real wie auch ein Spiel. -----------------------------------------------------
So, wie der Protest schon lange nach Spielmöglichkeiten sucht (ich erinnere mich an
eine Pro-Atom-Demo, auf der wir, in schicke Anzüge gekleidet, Parolen wie »Lieber
keine Haare als keinen Strom« skandierten), wird hier im Spiel nach Protestmöglichkeiten gesucht. Täglich gibt es Workshops wie »Unsichtbares Theater«, »Klettern«,
»Der Clown im Widerstand«, »Guerilla Gardening« oder »Gewaltfreie Aktionsformen«.
Außerdem werden Aufführungen eingeübt, unter anderem von der berühmten Puppenstraßentheatercompany Bread and Puppet aus den USA. Wir spielen Ibsens »Ein
Volksfeind« auf dem Ballhofplatz, laden zu Kino, Konzerten und Diskussionen ein.
Außerdem wird es ganz grundsätzlich um utopische Lebensformen und ein selbstbestimmtes Leben gehen. Auch das ist ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie: Sie
kann nur lebendig sein, wenn sie sich permanent weiterentwickelt.----------------Die jüngsten Erpressungsversuche der vier großen Energiekonzerne zeigen noch einmal deutlich, wie sehr zuviel Macht der Konzerne das Demokratieverständnis ihrer
leitenden Verantwortlichen beschädigt. Wie also Atomenergie, die nur zentralistisch
und von Konzernen betrieben werden kann, die Demokratie gefährdet – nicht zuletzt
deswegen, weil es eine Technologie ist, die ein hohes Risiko und eine nicht gelöste
(und auch nicht lösbare) Endlagerproblematik enthält. -----------------------------Darauf, dass die Mehrheit der Deutschen Atomenergie ohnehin schon seit   Jahrzehnten ablehnt, will ich hier gar nicht erst weiter eingehen. Uns geht es also nicht
darum, Protest zu organisieren, sondern darum, dass sich die Menschen politisieren.
Gerade in Bezug auf »die Jugend« wird das ja oft genug gewünscht. ----------------»Das Schauspiel Hannover setzt sich an die Spitze der Anti-AKW-Bewegung«, schreibt
eine hannoversche Zeitung. Welch unverdienter Ruhm. Der Autor mag offenbar nicht
erkennen, dass es sich hier um ein Spiel handelt. Dass es nicht unsere Absicht ist, ein
Endlager in Hannovers Altstadt zu verhindern. Warum wir denn nicht lieber Flugblätter drucken? Weil wir Lust auf Kunst als Vermischung von Realität und Spiel, Lust auf
die Auseinandersetzung haben. »Sollen Atomenergiebefürworter denn nicht mehr ins
Schauspiel Hannover kommen?« Doch, gerade die! Es geht ja nicht darum, einen Ort
zu schaffen, an dem man seine Meinungen bestätigen kann. Sondern sie und sich
verunsichert zu sehen.--------------------------------------------------------------Denn ist nicht die Idee des subventionierten Theaters die des Hofnarren, also desjenigen, der eine unbequeme Wahrheit laut ausspricht, während das Publikum entscheidet, ob es einfach nur darüber lacht oder diese vielleicht auch noch ernst nimmt?
Wer dem Künstler das Recht abspricht, politisch Haltung zu beziehen, macht ihn zu
einer überinstanzlichen Autorität. Diese Rolle wird kaum ein Künstler annehmen wollen. Der Hofnarr bekommt Geld vom Staat, um Kunst und Wahrheit zu produzieren
oder zu provozieren. Geld, das sinnvoll angelegt ist, weil eine Gesellschaft, die sich
immer nur schnurgeradeaus bewegt, nicht überlebensfähig ist. Sie muss sich selbst in
Frage stellen lassen, ohne auch nur zu versuchen, auf die Fragen und die Art der
Fragestellungen Einfluss zu nehmen. -----------------------------------------------Deshalb ist meine erste Frage: Darf Kunst unpolitisch sein? --------------------------
10.11
10
Florian Fiedler 1977 in Hamburg geboren, entdeckte das Theater als Souffleur. 1997 begann
er, Theaterprojekte mit Behinderten am Thalia
Theater Hamburg umzusetzen und war von 1998
bis 2001 Regieassistent am Theater Basel. Seit
2001 ist er freier Regisseur und inszenierte
regelmäSSig am Theater Basel, am Deutschen
Schau­spielhaus in Hamburg, am Münchner
Volks­theater und am Schauspiel Frankfurt, wo
er von 2006 bis 2009 zudem die Nebenspielstätte
schmidtstraSSe leitete. 2003 erhielt er den Förderpreis für junge Regie der Deutschen Akademie der darstellenden Künste. 2004 wurde er im
Rahmen der Kritikerumfrage von Theater heute
zum »Nachwuchsregisseur des Jahres« gewählt.
Seit der Spielzeit 2009/10 ist er Hausregisseur
am Schauspiel Hannover, wo er in der Spielzeit
2010/11 »Das doppelte Lottchen« und »Clavigo«
inszenieren wird. zusammen mit aljoscha begrich Initiierte er das Projekt »Republik Freies
Wendland – Reaktiviert«.-----------------------------
--------------------------------------------------------------------------»Republik Freies Wendland – Reaktiviert«: 18. bis 26.09.,
Ballhofplatz + »Das doppelte Lottchen«: 14.11. (Premiere),
17., 18., 24., 25. und 28.11., Schauspielhaus + »Clavigo«:
11. 02. 2011 (Premiere), Ballhof Eins
»You came to the rigth place«
Ansichten aus Hiroshima, die der Filmemacher Axel Töpfer in Vorbereitung auf die Europäische Erstaufführung von
»Little Boy – Big Taifoon« im Sommer von einer Reise nach Japan mitbrachte
BILD 01 Sachiko Hara zeigt, wo am 6. August 1945
die Atombombe über Hiroshima explodierte.
BILD 02 Die Radiation Effects Research Foundation
(RERF) betreibt die Laboratorien in Hiroshima
und Nagasaki in US amerikanisch-japanischer
Kooperation.
Bild 03 Frau Ikawa, Chief of Public Relations and
Publications Office, begleitet uns durch das Laboratorium, in dem die Auswirkungen radioaktiver
Strahlung auf die Gesundheit des Menschen erforscht werden.
Bild 04 Als Einführung zeigt sie uns ein Video, das
die Geschichte und den Zweck der RERF und seiner Laboratorien erläutert.
Bild 05 Auf den Bildern des Videos sehen wir, wie
an den Strahlungsopfern von Hiroshima geforscht
wurde und wird.
Bild 06 Wir erfahren, dass hier im Sinne der Bevölkerung geforscht wird. Am Tag der offenen Tür je
zum Jahrestag der Explosion kann sich jedermann
über die Arbeit in den Laboratorien informieren.
Bild 07 Danach zeigt uns Frau Ikawa die einzelnen
Abteilungen der Einrichtung: Clinical Studies, Genetics, Radiobiology / Molecular Epidemiology,
Epidemiology, Statistics, Information Technology
und die Radioisotope Facility.
Bild 08 Überall auf den Fluren sind Wandzeitungen,
die die Arbeit der Abteilungen erklären. Sie zeigt
uns hier, wie viele Menschen untersucht werden
und wer sich für eine Untersuchung eignet.
Bild 11 Radioaktive Strahlung verletzt die Zellen unserer Körper. Eine verletzte Zelle versucht hier ihre
Struktur wieder herzustellen und verbindet sich
irrtümlich mit Teilen anderer verletzter Zellen.
Bild 12 Frau Ikawa erklärt, besonders sich schnell
verändernde Körperteile wie Haare oder Darm
seien von radioaktiver Strahlung am ehesten betroffen, fallen aus, lösen sich auf.
Bild 09 Wir erfahren, in welchen Teilen eines Körpers gespeicherte radioaktive Strahlung am besten gemessen werden kann – z. B. in den Lymphknoten.
Im Sommer 2010 besuchten die Schauspielerin Sachiko
Hara und der Filmemacher Axel Töpfer gemeinsam Hiroshima, um Videoaufnahmen für die Theaterproduktion
»Little Boy – Big Taifoon« zu machen. Mit der Europäischen Erstaufführung des Stückes von Hisashi Inoue in
der Regie von Marc Prätsch wurde am 18. September die
Ballhof-Saison eröffnet. Darin erzählt der kürzlich verstorbene Autor, ein führender Vertreter der japanischen
Literatur- und Theaterszene, die Geschichte des 6. August 1945, an dem die Atombombe über Hiroshima explodierte, aus der Sicht dreier Jungen. Für das Heft #4
hat Axel Töpfer die Reise nach Hiroshima dokumentiert. -
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12.13
12
Bild 13 Zwischen den Gebäuden treffen wir Dr. Dupont, Chief of Research. Er sagt: »You came to the
right place.«
Bild 14 Sachiko Hara entdeckt den Tennisplatz und
stellt sich Japaner in den 70er Jahren mit Tennisschlägern vor.
Bild 15 Die Bibliothek der RERF birgt überraschend
viele Publikationen in allen Richtungen der Erforschung radioaktiver Strahlung. Frau Ikawa zeigt
uns einige Bücher mit Bildern aus Hiroshima.
Bild 16 Die Bibliothek ist für die Öffentlichkeit
nach Absprache zugänglich, man kann dort kostenlos kopieren.
Bild 17 Erst 1986, nachdem die Katastrophe von
Tschernobyl geschah, erkannten viele Japaner
die Wichtigkeit der Forschungen des Laboratoriums, überwanden ihr Misstrauen und ließen sich
untersuchen.
Bild 18 Die Vorgabe einer Dosis, mit der die Arbeiter für wenige Sekunden auf das Dach des havarierten Reaktorblocks des Kernkraftwerks Tscher­
nobyl konnten, ergab sich aus Forschungen in
Hiroshima.
Bild 19 Langsam entstand seitdem auch ein Austausch des RERF mit Forschern verstrahlter Regionen der ehemaligen Sowjetrepubliken wie Semipalatinsk und Mayak, um vergleichbare Daten
zu erheben.
Bild 20 Ich denke: Wäre dieses Selbstverständnis
der Ununterscheidbarkeit ziviler und militärischer Szenarien für die Strahlungsbelastung im
Bewusstsein der Bevölkerung, wäre Atomenergie
keine Option.
Bild 21 Ich habe gehört, das sich die komplexe
Schädigung an der Genetik von radioaktiv verstrahlten Menschen in der Region um Mayak
(1957) erst bei den nachfolgenden Generationen
deutlich zeige.
Bild 22 Frau Ikawa sagt, das habe man bei Mäusen
bemerkt. Bei Menschen hätten nachfolgende Generationen von Strahlungsopfern nach dem derzeitigen Forschungsstand keine auffälligen Risiken.
Bild 23 Die RERF mit ihren Laboratorien wird von
den Regierungen der USA und Japans wahrscheinlich noch mindestens 20 Jahre lang finanziert.
Bild 24 Auf lange Sicht müsse man sich aber auch
nach privaten Unterstützern umsehen, sagt Frau
Ikawa.
Little Boy – Big Taifoon
Ein heißer Augusttag. Masao massiert Großmutter, Hidehiko spielt Verstecken, Katsutoshi schält Kartoffeln. Da
trudelt vom blauen Sommerhimmel ein Fallschirm herab. Die Welt steht kurz still. Dann explodiert sie. Hiroshima, die Heimatstadt dreier 12-jähriger Jungen, geht
in einer Apokalypse unter. Binnen Sekunden verwandelt sich die blühende Handels- und Universitätsstadt in
einen historischen Schreckensschauplatz. Hisashi Inoue
beschreibt diesen Tag, den 6. August 1945, aus der Sicht
der Kinder und schildert deren Versuch, inmitten der
Apokalypse den Alltag wiederherzustellen.-------------
Weit oben am Himmel entfernt sich ein Flugzeug, es hat
soeben »Little Boy«, die erste Atombombe, abgeworfen.
Im Cockpit ein Pilot. Was spielt sich ab in ihm in den
Sekunden vor, in den Jahren nach dem Abwurf? Der 6.
August 1945 war der Tag, der vor Augen führt, dass die
Menschheit die technische Möglichkeit besitzt, sich auf
einen Schlag auszulöschen. Wie konnte es so weit kommen? Diese Fragen schlagen einen Bogen ins Hier und
Jetzt. Wie nah ist uns die Geschichte unserer Partnerstadt heute? Regisseur Marc Prätsch begibt sich auf eine
deutsch-japanische Spurensuche mit Elementen des
Butoh-Tanzes. Mit einem Monolog von Björn Bicker.----
»Little Boy – Big Taifoon«: 30.09., 02. und 09.10., 10. und 18.11.,
jeweils 19:30 Uhr, Ballhof Eins, ab 14
------------------------------------------------------Schirmherr: Seisuke Narumiya,
Japanisches Generalkonsulat Hamburg
------------------------------------------------------Mit freundlicher Unterstützung
der Schauspielfreunde (GFS)
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Foto: Katrin Ribbe
Sachiko Hara spielt in »Little Boy – Big Taifoon«
»Wir sind die AuSSenstelle
von Hiroshima in Europa«
14.15
14
Herbert Schmalstieg, Hannovers Oberbürgermeister a. D., über die Entstehung der Städtepartnerschaft mit Hiroshima
und die Gefährdung der Welt durch Atomwaffen heute
Interview: Björn Achenbach
Herbert Schmalstieg neben der Friedensglocke der Aegidienkirche, einem Geschenk der Stadt Hiroshima an die Hannoveraner
Herbert Schmalstieg war von 1972 bis 2006 Oberbürgermeister von Hannover. Die Städtepartnerschaft zwischen Hannover und Hiroshima, die am 27. Mai 1983
besiegelt wurde, geht entscheidend auf die Initiative
des SPD-Politikers zurück. Im November 2009 wurde
Schmalstieg für seine Verdienste um die atomare Abrüstung und die Beziehungen zwischen Deutschland und
Japan mit dem Kyokujitsu chujusho (Mittleren Orden der
Aufgehenden Sonne am Band) geehrt.
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Die Städtepartnerschaft zwischen Hannover und Hi­
roshima besteht seit 27 Jahren. Wie ist es dazu ge­
kommen?__HERBERT SCHMALSTIEG Die ersten Kontakte gab es 1968/69. Damals reiste eine Delegation
japanischer Jugendleiter durch Deutschland. Sie kamen
nach Hannover, sahen das zerstörte Stadtmodell, und ihr
Chef erklärte spontan: Wir suchen eine Stadt für einen
Jugendaustausch – das kann nur Hannover sein. Als ich
1972 Oberbürgermeister wurde, besuchte mein damaliger Amtskollege in Hiroshima Hannover. Ich fragte ihn:
Könnten nicht unsere beiden Städte Freunde werden?
Hiroshima hatte Anfragen aus aller Welt, aber es gab nur
zwei Partnerstädte: Honolulu, wegen Pearl Harbor, und
Wolgograd, wegen Stalingrad. Alle anderen Anträge
wurden abgelehnt. 1983 wurde Hannover als dritte
Stadt in den Reigen dieser Partnerstädte aufgenommen.
++++++++++++++++++++++++
Was macht diese Städtepartnerschaft ganz konkret
aus?___SCHMALSTIEG Wir sind 1983 dem NagasakiHiroshima-Pakt zur Ächtung aller atomaren Waffen beigetreten. Das war zwar politisch leicht, aber zugleich
auch schwer. Denn damals erklärten sich viele Städte
zu atomwaffenfreien Zonen, und die jeweiligen Bezirksregierungen haben diese Beschlüsse meist wieder kassiert mit der Begründung: Das ist Außenpolitik, das darf
die Stadt nicht. In unserem Fall – es gab einen einstimmigen Beschluss im Rat – traute sich die damalige Regierung nicht, dieses zu beanstanden. Wir haben uns
immer als Außenstelle von Hiroshima in Europa gefühlt
und intensiv für den Beitritt zu diesem Hiroshima-Bündnis geworben. Es heißt jetzt »Mayors for Peace«. Mittlerweile gehören ihm allein in Deutschland über 370
Städte an.
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Wie lebendig sind die Beziehungen zwischen den
beiden Städten heute?___SCHMALSTIEG Es gibt viele
sehr persönliche Kontakte, die durch den Jugendaustausch gewachsen sind. Es haben sich Freundschaften
entwickelt, zum Teil zwischen den Kindern der dritten
Generation. Ich kenne eine Familie, deren Tochter damals zwei Jahre alt war. Jetzt, mit 25, hat sie geheiratet
und ihre Hochzeitsreise nach Hannover gemacht. Aller-
dings sind die Reisekosten bei einer solchen Entfernung
natürlich sehr groß. Deswegen verbinden wir den Jugendaustausch mit internationalen Friedenskonferen­
zen, zu denen auch junge Menschen aus anderen Partnerstädten eingeladen werden, um Friedenspolitik zu
diskutieren. Da geht es dann nicht nur um Hiroshima.
Ich war ja gerade im Irak, in Halabja, jener Stadt, die
1988 von Saddam Hussein durch Giftgas total vernichtet wurde. Dort, in der Gedenkstätte, fiel mir sofort die
Inschrift ins Auge: »No more Hiroshima – no more Halabja«. Also, Partnerstadt von Hiroshima zu sein, ist wirklich
etwas Außergewöhnliches.
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Hiroshima veranstaltet seit 2002 den »HannoverTag«. Was passiert da genau?___SCHMALSTIEG An
dem Tag – es ist der 23. Mai – werden alle aus Hiroshima, die Kontakte zu Hannover haben, eingeladen. Vertreter der Stadt Hannover reden, oder es wird eine Videobotschaft des Oberbürgermeisters eingespielt. Es ist
schon etwas Besonderes und dient der Hannover-Kontinuität.
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In Hannover steht umgekehrt der 6. August im Zen­
trum des Erinnerns.___SCHMALSTIEG An diesem Tag
wird jedes Jahr um 8:15 Uhr die Friedensglocke der
Aegi­dienkirche angeschlagen. Sie wurde uns damals
von der Stadt Hiroshima überreicht. Es gibt vier Exemplare davon, alles Originale. Eins steht im Friedenspark
in Hiroshima, die anderen in Honolulu, in Wolgograd
und hier in Hannover.
++++++++++++++++++++++++
Sie engagieren sich nach wie vor für die atomare
Abrüstung. Wie real ist die Gefahr eines neuen Nu­
klearzeitalters?___SCHMALSTIEG Ich glaube, dass
die großen Atommächte klug genug sind, dass so etwas
nicht wieder passiert. Wenn es nochmal dazu käme,
dann wäre die Erde wirklich vernichtet. Ich habe aber
die Sorge, dass es immer mehr Atomwaffen produzierende Nationen gibt. Man kann nicht beurteilen, was
zwischen Indien und Pakistan geschieht, was die Israelis machen, was der Iran und Nordkorea vorhaben. Man
bedenke nur, dass eine heutige Atomwaffe das Fünzigfache an Sprengkraft der Hiroshima-Bombe besitzt. Das
ist höchst gefährlich.
++++++++++++++++++++++++
Auch in Deutschland werden atomare Sprengköpfe
gelagert.___SCHMALSTIEG Ja, es sind noch zwischen
20 und 25. Wir sitzen im wahrsten Sinne des Wortes auf
einem Pulverfass. Ich halte es da mit Albert Einstein, der
gesagt hat: Ich weiß nicht, welche Waffen im nächsten
Krieg zur Anwendung kommen, wohl aber, welche im
übernächsten – nämlich Pfeil und Bogen.
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Szene aus »Romeo und Julia« (mit Daniel Nerlich)
Foto: Katrin Ribbe
16.17
16
»Es war wie ein groSSer Berg für mich«
Die junge Autorin Anne Jentsch über ihr Stück »Crux oder Der Heiland unterm Bett«, das am 19. September im Ballhof
Zwei uraufgeführt wurde und mit dem sie den Schreibwettbewerb »Stücke für die Stücke« der Niedersächsischen
Lottostiftung gewonnen hat
Interview: Volker Bürger
»Katholizismus, Reste vom Sozialismus, Kapitalismus, Globalisierung –
das ist Komödie und Tragödie«
Du hast ein Stück mit reiner Männerbesetzung ge­
schrieben. Eine Clique von drei Jungs steigt betrun­
ken und bekifft in der Silvesternacht aufs Andachts­
kreuz am Ortsrand. Der dicke Hansi fällt dabei – und
mit ihm das Kreuz. Jetzt wissen die Drei nicht, wie
sie den Jesus wieder dorthin zurückbekommen
können. Dazu kommt noch ein vierter Junge, der
sie beobachtet hat. Könnte die Geschichte auch un­
ter vier Mädchen spielen?___ANNE JENTSCH Die
Probleme im Stück sind doch spezifische Jungspro­
bleme. Wenn das Mädchen wären, würden die das Problem mit dem Kreuz ganz anders lösen, und die Tränchen von Hansi wären kein verletztes Tabu. Ich bin sehr
eng mit Jungs aufgewachsen. Wir haben viel Freizeit
miteinander verbracht. Jungs sprechen anders als Mädchen. Oft geht es um Selbstdarstellung. Im Gruppenverhalten geht es nicht nur um den Kampf um Mädchen.
Kämpfe können zum Beispiel der Kampf um Freundschaft, Status und Anerkennung sein. Ich habe immer
versucht, genau zu beobachten. Mir hat ein Junge mal
über seine Probleme mit der Beichte erzählt. Das ist
schon schwer für einen jungen Menschen herauszufinden: Was ist Sünde, was nicht? Aber eigentlich bewegte
ihn die Peinlichkeit des Beichtens. Der Pfarrer erkennt
doch seine Stimme und wird ihn anschauen mit so
einem ganz bestimmten, wissenden, beschämenden
Blick. Wir haben also darüber nachgedacht, was das
Beichten überhaupt soll und ob es ihm hilft in seinem
Glauben oder nicht. In meinem Stück denken die Jungs
auch über das Beichten nach. Diese Jugendlichen müssen Männer werden in gesellschaftlichen Umbrüchen.
Sie ahnen, was Globalisierung sein könnte. Sie zweifeln, ob die Werte und Normen des Dorfes noch für sie
gelten. Vielleicht kann man in der Pubertät gesellschaftlichen Wandel leichter bewältigen, weil man sowieso im Umbruch ist. Auch in Großstädten klammern
sich manche Jugendliche an die strengen Regeln ihrer
Herkunftskulturen, weil sie verunsichert und überfordert sind, welche Werte des Lebens für sie noch möglich wären.
++++++++++++++++++++++++
Du bist in der Oberlausitz aufgewachsen, schreibst
auf Deutsch und auf Sorbisch. Welche Sprache wür­
dest du als deine Muttersprache bezeichnen?___
JENTSCH Ich bin in der Schule als »Muttersprachlerin«
erzogen worden. Muttersprachler nennt man die Gruppe von Schülern, die gut Sorbisch sprechen können,
weil sie mindestens ein sorbisches Elternteil haben,
das die Schriftsprache sehr gut kann. Wir hatten den
Schulunterricht in fast allen Fächern in Obersorbisch.
Obersorbisch, Niedersorbisch und die Grenzdialekte
sind bedroht. Es gibt immer weniger Sprecher der sorbischen Sprache insgesamt. Sprachen sind kulturelles
Erbe, das man pflegen und erhalten sollte. Man spricht
die Sprache seines Umfeldes, je nach Situation. Der
Mensch ist zur Mehrsprachigkeit geboren. Das ist der
Normalzu­stand. Meine Mutter hat Sorbisch gelernt. Zu
Hause haben wir meist Deutsch gesprochen, weil meine Mutter Sorbisch nicht so gut sprechen konnte wie
mein Vater.
++++++++++++++++++++++++
Wie entscheidest du dann, welchen Text du auf
Sorbisch und welchen du auf Deutsch schreibst?___
JENTSCH Ich denke da eher an die Menschen. Man
schreibt ja für ein Publikum. Für das Sorbische stelle ich
mir Bautzen vor, das Umfeld und den Humor dort. Das
könnte dann zum Beispiel in Bayern oder im Eichsfeld auch funktionieren, aber nicht in Berlin. Oder ich
denke vom Genre her. Gedichte werden im Sorbischen
viel gelesen. Kleine literarische Formen sind gut für kleine Literaturen – also die von kleinen Völkern, weil man
möglichst schnell und möglichst aktuell publizieren kann.
++++++++++++++++++++++++
Gab es bei »Crux« zuerst die deutsche oder die sor­
bische Fassung?___JENTSCH Die Fassungen entstan-
Foto: Martin Baierlein
18.19
den parallel. Ich habe versucht, den Drive des Sorbischen bei den Jungs ins Deutsche rüberzuholen. Das
Sorbische ist insgesamt sehr freundlich. Man ist immer
bemüht, eine schöne Wendung zu finden. Gleichzeitig
ist die Sprache knapp. Sorbisch klingt sehr weich. Sehr
angenehm. Ich mag die vielen weichen Zischlaute, das
Singende. Es ist fast ein bisschen märchenhaft. Aber
man kommt schnell auf den Punkt.
++++++++++++++++++++++++
Du hast eben Bayern erwähnt. Dein Stück handelt
von den Verstrickungen mit der Religion. Muss man
sich die Zusammenhänge ähnlich wie in Bayern
vorstellen, wo Theatralität im Alltag aus der ba­
rock-katholischen Tradition heraus eine große Rol­
le spielt?___JENTSCH Auf jeden Fall. Das ist schon
sehr ähnlich. Der Zusammenhang zwischen Dorfgemeinschaft und dem Theatralischen  ist sehr ausgeprägt, in Laienspielgruppen, aber auch bei Wallfahrten
und bei den Prozessionen, die es zu jedem großen Feiertag dort gibt. Es geht da um Heiterkeit, Lebensfreude
und Schönheit. Folklore gibt es ja traditionell überall
auf dem Land. Alltagskultur ist nicht immer Hoch­
kultur. Wenn man den ganzen Tag schwere Arbeit
getan hat, erfreut man sich am Leichten, Prächtigen,
Bunten. Das erhebt den Menschen, und das ist auch
heute noch so, wo die Menschen eher in Angestelltenverhältnissen leben.
++++++++++++++++++++++++
Du hast aber kein Stück geschrieben, das aus­
schließlich Regionalbezüge hat. ___JENTSCH Im
Zentrum stehen für mich ganz existenzielle Fragen des
Menschseins. Wer bin ich? Wo gehe ich hin? Die Clique
verbinden Versatzstücke der Populärkultur und gleichzeitig Elemente der Traditionen, ihrer Region. Das zeigt
sich in der Sprache: Anglizismen, Dialekt, Lehnwörter,
alte Phrasen, Slang, Neuschöpfungen. Es findet eine
Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen statt, alte Werte
und neue Werte, regionale Maßstäbe, globale Maßstäbe. Dass Menschen zu bestimmten Anlässen in Trachten gehen oder in Traditionsvereinen sind und gleichzeitig, zum Beispiel, HipHop tanzen, gibt es ja nicht nur
in der Region, in der das Stück spielt. 
++++++++++++++++++++++++
Du nimmst Motive aus der Leidensgeschichte Jesu
auf und nutzt den zeitlichen Bogen, da die Ge­
schichte zu Neujahr beginnt und dann über Fa­
sching im Fest der Auferstehung zu Ostern mündet.
Oder dann die Drogenbezüge, die auch kultische
und ekstatische Momente haben. Dein Stück ist fast
so etwas wie eine moderne Gottsuche. Finden die
Jungen näher zu dem, was Gott heute sein kann?___
JENTSCH Naja. Religion möchte, als gesellschaftliches
System betrachtet, gemeinschaftsbildend und identitätsbildend wirken. Deswegen gibt es sie wahrscheinlich. So kann man im Stück die religiösen Bezüge lesen.
Wie ist meine Beziehung zur Gemeinschaft? Was geben
mir die Erwachsenen vor? Wenn man aber, wie die Jugendlichen in »Crux«, allein ist, weil die Eltern abwesend oder überfordert sind und ihre Kinder schlagen,
dann müssen die Jugendlichen in der Beziehungsfindung zu Gott ohne Erwachsene klarkommen. Sie müssen sich allein auf den Weg machen, die Vertrauensbasis zu den Eltern ist nicht da – bei allen vieren aus
unterschiedlichen Gründen. Am Ende ist jeder ein anderer geworden. Ob ihre Freundschaft am Ende gefestigt ist, weiß ich nicht. Es gibt kein Happy End. Sicher,
es ist ein Plädoyer an die Freundschaft. Es wurde versucht, die Freundschaft zu kitten. Es bleiben aber noch
jede Menge Konflikte. Meine Frage in dem Stück war
weniger, wie sie zu Gott, als wie sie zu sich finden. Wie
finden sie einen Weg, sich selbst zu vertrauen? Vertraue
ich meinen Freunden? Die religiösen Momente sind da
eher wie ein Katalysator.
++++++++++++++++++++++++
Dein Stück hat den Schreibwettbewerb »Stücke für
die Lücke« gewonnen, der auf Stücke für die Alters­
gruppe 12 bis 15 abzielte. Hast du dir explizit vor­
genommen, ein Jugendstück zu schreiben, oder
bist du einfach nur instinktiv deiner Geschichte ge­
folgt?___JENTSCH Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, ein Erwachsenenstück mit Jugendlichen zu
schreiben. Der Impuls, ein Stück für Jugendliche zu
schreiben, kam dann von der Universität der Künste,
wo ich Szenisches Schreiben studiert habe. Wir hatten
unter anderem Volker Ludwig, den langjährigen Leiter
des Berliner Gripstheaters und Urgestein des Kinder-
und Jugendtheaters, als Dozenten. Der hat uns viel über
seine Erfahrung als Autor von Jugendstücken erzählt.
Sicher, es gibt einen gewissen Bedarf an Texten für
Kinder und Jugendliche. Aber es ist auch sehr schwer,
für Jugendliche zu schreiben. Man muss genauer und
realistischer denken. Es erfordert mehr Schreibtechnik.
Das Problem ist dabei gar nicht das Thema, das findet
man leicht. Aber das Konkrete und die Schwierigkeit,
Figuren über den ganzen Abend zu halten, das ist nicht
so einfach zu bewältigen. Es war wie ein großer Berg
für mich, und es war kein Spaziergang mit diesem
Stück. Ich hoffe, dass Erwachsene auch Interesse an
meinen Figuren haben. Ein gutes Jugendbuch ist ja
auch immer für Erwachsene geeignet.
++++++++++++++++++++++++
Du benutzt eine knappe Sprache und schnelle Sze­
nenwechsel. Auch die Art, wie die Jungen sich
manchmal gegenseitig in die Pfanne hauen, ist ko­
misch. Wie viel Komödie steckt in deinem Stück?__
_JENTSCH Ich nehme diese Jungs wahnsinnig
ernst, sogar tragisch ernst. Je tragischer sie in ihren pubertären Kämpfen werden, desto komischer wird die
Sache – Katholizismus, Reste vom Sozialismus, Kapitalismus, Globalisierung – das ist Komödie und Tragödie.
Ein abgebrochenes Kreuz ist sehr schlimm, es ist ein
symbolischer Angriff auf grundsätzliche Werte. Wann
der Text komische Momente hat, werden wir sehen.
Weil ich die Jungs ernst nehme, könnte ich nicht über
sie lachen, nur mit ihnen. Humor ist vielleicht eine zärtliche Angelegenheit.
++++++++++++++++++++++++
ANNE JENTSCH, 27, wuchs in der in der Oberlausitz auf. Heute lebt sie in Berlin, wo sie bis 2008
an der universität der künste szenisches
Schreiben studiert hat. Mit »Crux oder Der Heiland unterm Bett« gewann sie den schreibwettbewerb »Stücke für die Lücke« des Jungen
Schauspiel Hannover und der Niedersächsischen Lottostiftung.
--------------------------------------------------------------------------»Crux oder Der Heiland unterm Bett«:
04., 10., 23. und 29.10., 01., 06. und 11.11.
Ballhof zwei
Kompromisslose Suche
nach emotionaler Wahrheit
Ein Porträt des ungarischen Theaterregisseurs Kornél Mundruczó, der auf der Cumberlandschen Bühne in seinem Stück
»Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« der geschichte einer historischen anklage nachgeht
Von Tilo Werner
Die erste Begegnung mit ihm war im Kino. Der Film hieß
»Szép napok« (»Schöne Tage«), hatte den Preis für den
besten Erstlingsfilm beim Filmfest in Locarno gewonnen
und lief in einigen kleinen Kinos in Budapest. Ein langsamer Film mit kräftigen Bildern und schroffen Gesichtern. Eine Wäscherei in einem Provinznest in Ungarn, ein heimlich zwischen Wäschebergen zur Welt
gebrachtes Kind; ein Junge, der dabei zusieht und später das Kind der Mutter abschwatzt, um es bei seiner
Schwester in Obhut zu geben, zu der er ein inniges Verhältnis hat und die ihn in einer stummen Szene in einer
Waschmaschine badet; immer wieder lange Blicke, Körperteile, Nacktheit, Brutalität, die zugleich zärtlich ist,
Schamlosigkeit, Verletzlichkeit. Wenig Dialog und wenn,
dann unsentimental und einfach. Aber auch Wackelkamera und Retrolook, Gewalt und Sex, an der Grenze zum
Modischen. ------------------------------------------In Ungarn gibt es eine Totschlagkritik für alles, was
nach viel aussieht, letztlich aber leer ist: Bluff. Manche
behaupteten das über den Film, mich beeindruckten vor
allem die Dichtheit der Bilder und die Schauspielergesichter. Erst beim Abspann las ich, dass das Ganze eine
Paraphrase auf die »Ratten« von Gerhart Hauptmann
war. Wie kommt ein junger ungarischer Filmregisseur
dazu, ein deutsches Theaterstück vom Beginn des 20.
Jahrhunderts als Vorlage für seinen ersten großen Film
zu benutzen?-----------------------------------------Ihm ging der Ruf voraus, arrogant und ein bisschen
großmäulig zu sein. Die Kollegen von der Schauspielschule meinten, man hätte ihn nie so ganz einordnen
können, er sei als Schauspieler nicht besonders gut,
aber auch nicht schlecht gewesen, alle hätten sich gewundert, als er plötzlich auf der Filmakademie angenommen wurde. Jetzt aber, mit den ersten Erfolgen,
begann man, ihn ernstzunehmen. Ich hörte auch, dass
er anfing, Theater zu machen, eine Off-Produktion, irgendwas mit Oper. Plötzlich saß er in einer Vorstellung
von uns, und ich fand ihn blasiert und mich ärgerte,
dass er einen gelangweilten Eindruck machte. Ein weiterer dieser Filmregisseure, die mit Theater nichts anfangen können, dachte ich. --------------------------Doch der Grund für seinen Besuch war, dass er die Zusammenarbeit mit uns suchte, um das Mammutwerk
eines jungen ungarischen Dichters – die Neufassung
des Nibelungenmythos in Versen mit ca. 100 Personen
– uraufzuführen. Es gab ein erstes Treffen, bei dem er
sein Vorhaben vorstellte, und ich war überrascht, mit
welcher Ernsthaftigkeit und Gewissenhaftigkeit er
sprach, so gar nicht der coole, Sprüche klopfende Filmemacher, den ich erwartet hatte. ----------------------Er suchte die Zusammenarbeit mit uns, weil er mit einer
Truppe von Schauspielern arbeiten wollte, die es gewohnt war, ungewöhnliche Wege zu gehen und selbst-
ständig an einer Sache zu arbeiten, bei der die Kraft im
Miteinander liegt. ------------------------------------Der Spielort: ein unterirdisches Krankenhaus unter der
Burg von Buda, Probenzeit: etwa vier Wochen. Die
nächste Überraschung war, mit welch klarer Vorstellung er jede Szene anging, wie er mit theatralischen
Formen experimentierte. Mal wurde etwas völlig überdreht und groß gespielt, dann plötzlich ganz direkt und
fast privat, mal mit großer Ironie, dann wieder mit komischem Pathos. Gleichzeitig beharrte er, bei aller Veralberung und Übertreibung, bei aller Verwendung von
Klischees und Zitaten aus Filmen und Popkultur, zum
Teil streng, auf Genauigkeit und Ernsthaftigkeit. Nichts
fand er schlimmer, als wenn er das Gefühlt hatte, die
Schauspieler würden zu gewollt und mit zu viel Dampf
spielen. Er betonte immer wieder, dass ihn so etwas
wie eine normale ungarische, perfekt geölte Theateraufführung nicht interessiere und dass ihn Theater, das
vorhersehbar und unmittelbar erkennbar ist, schnell
langweile. Was er suche, sei das Ereignishafte, das Unberechenbare, das den Theaterbesuch zur individuellen
Erfahrung macht: Die Zuschauer gehen bei der schließlich knapp vierstündigen Aufführung von einem Ort zum
anderen, müssen zum Teil stehen oder in Krankenhausbetten liegen.-----------------------------------------Die Theaterszene in Ungarn ist verhältnismäßig klein.
Alles konzentriert sich auf Budapest, daneben gibt es
vielleicht vier, fünf Städte, in denen wichtiges Theater
gemacht wird. Man kennt sich, beobachtet sich. Neben
den genau wie in Deutschland funktionierenden Stadttheatern mit Repertoirebetrieb und festen Ensembles
gibt es eine Reihe freier Gruppen, die sich immer wieder neu formieren, ein paar Jahre arbeiten und dann
wieder auseinandergehen. Viele Schauspieler pendeln
zwischen beidem hin und her. Die Entscheidung für
eine freie Gruppe ist eine künstlerische, denn fast nur
sie machen Experimente. In den Stadttheatern ist der
Spielplan eine ähnliche Mischung von Shakespeare und
Tschechow wie überall, der Stil für unsere Augen oft
altbacken, extreme Sichten auf Stoffe oder extreme
Handschriften gibt es kaum – es herrscht gut gemachtes
Schauspielertheater vor. Spielpläne werden nicht nach
inhaltlichen Kriterien zusammengestellt, sondern meist
nach praktischen: Welcher Schauspieler müsste jetzt
mal was spielen? Die Theater sitzen ideologisch fest im
Sattel, eine grundsätzliche Hinterfragung des Mediums
findet weder auf Zuschauer-, noch auf Kritiker- oder
Künstlerseite statt. Ein großes Problem ist natürlich, wie
überall, das Geld und, in letzter Zeit, politische Einflussnahme bei der Vergabe von Posten. Aber die Theater
sind – noch – meist voll, die Diskussion, ob man so etwas wie subventioniertes Theater überhaupt braucht,
ist meilenweit entfernt. Theaterschauspieler sind ge-
achtet und respektiert, das Verhältnis vom Publikum
zum Theater ist eher eines von unten nach oben: Man
ist glücklich, den Künstlern zuschauen zu dürfen (so
spricht man die Darsteller gern mit »Herr Künstler« oder
»Frau Künstlerin« an); die bekannten Schauspieler werden jedes Jahr mit Staatspreisen überhäuft. Deshalb
dürstet das Stadttheater auch nicht gerade nach Innovation. -----------------------------------------------Wenn jemand in der freien Szene auffällt, sieht man ihn
nicht unbedingt gleich in einem großen Theater inszenieren, schon gar kein Theater übernehmen. Die Intendanten sind fast durchweg Vertreter der – zumindest
ästhetisch gesehen – älteren Generation. Dazu steht
Kornéls Arbeit in vielem Sinne quer, das normale Stadttheater hat ihn als Schauspieler wie als Regisseur nie
interessiert. Seine Auffassung von Theater deckt sich
eher mit der Welt von John Cassavetes oder Fassbinder:
eine kompromisslose Suche nach emotionaler Wahrheit
bei gleichzeitiger Lust auf Spiel und Ironie. Nach einem
längeren Berlin-Aufenthalt und vielen Besuchen in der
Volksbühne hat er gesagt, dass er sich der Ästhetik von
Castorf sehr verwandt fühle.--------------------------Eine weitere Arbeit war die Dramatisierung eines Romans von Vladimir Sorokin »Das Eis« – ein harter Stoff,
so etwas wie eine innere Bestandsaufnahme der Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks, gescheiterte
oder verrohte Menschen, die plötzlich Liebe, Licht und
Herzensgüte in sich finden. Der Grundimpuls für die
Aufführung war, eine ähnliche Wirkung wie beim Lesen
des Buches zu erreichen – fasziniert bis abgestoßen,
verstörend, weil man nicht genau weiß, was der Autor
von einem will, schön und berührend – und das mit
größtmöglicher Unmittelbarkeit und Glaubwürdigkeit. Die Bühne war eine aus echten und benutzten Filmstudioelementen zusammengebaute Wohnung mit fließendem Wasser und großer Nähe zum Publikum. Sie
war zu Beginn der Proben bereits fertig, denn für Kornél
ist es immer wichtig, die Proben im Echten, Konkreten
zu beginnen, wenn nicht an vorhandenen, realen Orten, dann in echten Bühnenräumen, nicht in halb fertigen, markierten, wo, wie er meint, auch nur halb fertige, markierte Emotionen entstehen können. --------Eine andere Besonderheit seiner Arbeit lernte ich hier
zum ersten Mal kennen: Er bat uns, Szenen allein vorzuprobieren und sie ihm später zu zeigen. Er sagte dann
ein paar Dinge dazu, was ihm gefiel, was nicht, in welche Richtung die Suche weiter gehen sollte und ließ uns
wieder allein. Das war nicht immer einfach. Normalerweise ist der Regisseur ja immer bei allen Proben dabei.
Kornél verzichtet darauf aber eine längere Zeit ganz bewusst, um eine stärkere, persönlichere Einlassung der
Schauspieler zu erreichen. Er möchte die erste Begegnung zwischen Stoff und Schauspieler nicht gleich mit
Die Geschichte
einer Anklage
20.21
Kornél Mundruczo inszeniert auf der Cumberlandschen Bühne Gyula Krudys
Roman »Eszter Solymosi von Tiszaeslár«
nahe Budapest, gehört zu den herausragenden
Regietalenten Ungarns. Nach der Schauspielschule absolvierte er die Regie-Klasse der Ungarischen Universität für Film und Theater. Bereits sein erster Film »Afta – Day after Day« (2001)
erregte groSSe Aufmerksamkeit und erhielt
zahlreiche Preise auf diversen Filmfestivals
(unter anderem in Oberhausen). Es folgten die
Filme »Pleasant Days« (der ebenfalls wichtige
Preise gewann, unter anderem die der Filmfestivals in Rotterdam, Sofia und Brüssel), »Johanna« und »Delta«, für den er den Kritikerpreis
der Filmfestspiele in Cannes erhielt, auf denen
alle seine Filme bislang gezeigt wurden. Seit
2003 arbeitet er ebenso erfolgreich auch im
Theater. Seine Adaption von Sorokins Roman
»Eis« war weltweit zu sehen, ebenfalls seine
freie Adaption des Frankenstein-Stoffes »Frankenstein-Terv« – aus letzterer hat er einen
gleichnamigen Film entwickelt, der 2010 in
Cannes uraufgeführt wurde. Seine jüngste
Theaterarbeit »Es ist nicht leicht ein Gott zu
sein« entstand für das Brüsseler kunstFestival und wurde im Sommer in Essen im Rahmen
des Festivals Theater der Welt gezeigt.
--------------------------------------------------------------------------Tilo Werner, geboren 1969 in Braunschweig, ist
nach seinem Schauspielstudium an der Ernst
Busch Schule und Engagements am Gorki Theater sowie der Schaubühne Berlin dem ungarischen Regisseur árpád Schilling nach Budapest gefolgt und hat dort viele Jahre lang in
der über die nationalen Grenzen hinaus bekannten freien Theatertruppe Kretakör gespielt. In diesem Zusammenhang hat er auch wiederholt mit Kornél Mundruczó gearbeitet. Seit
2009/10 ist er Ensemblemitglied am Thalia Theater Hamburg.
Foto: Katrin Ribbe
seiner Fantasie bedrängen. Später gibt er Anweisungen
und macht viele Vorschläge, aber in jeder Aufführung
bleibt ein starker Kern, der von den Schauspielern persönlich stammt. Aus der Begegnung mit ihm ist für mich
eine wichtige künstlerische und menschliche Beziehung geworden, seine Suche und Beharrlichkeit bestärken mich, in der eigenen Arbeit immer wieder die Grenzen zu suchen, große Fragen zu stellen und Theater als
Ort dafür zu verteidigen. Es gibt meines Erachtens zurzeit nicht viele Theatermacher, die in der Lage sind, so
gekonnt Trash mit Tiefe zu vereinen. Vielleicht, weil er
künstlerisch typisch Osteuropäisches mit typisch Westeuropäischem zu verbinden weiß. Ich bin froh darum.
++++++++++++++++++++++++
Kornél Mundruczo, geboren 1975 in Gödöllö
Kornél Mundruczó
Nur etwa zweihundert Kilometer von Kornél Mundruczós Geburtsort Gödöllö entfernt liegt die Ortschaft Tiszaeszlár. Sie erlangte 1882 traurige Berühmtheit, als
dort das Verschwinden eines christlichen Mädchens
Anlass einer Massenhysterie wurde, die sich in wütenden Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung entlud. Jahrzehnte später noch waren die Auswirkungen
in weiten Teilen Europas zu spüren: Eine antisemitische Partei wurde gegründet, der erste antisemitische
Kongress (in Dresden) abgehalten. -------------------Was war passiert? Am 1. April 1882 verschwand die
Magd Eszter Solymosi spurlos. Im Dunstraum einer
schwelenden antisemitischen Stimmung, ausgelöst
durch eine fortschrittliche Integrationspolitik von Minderheiten, tauchen innerhalb kurzer Zeit Gerüchte auf,
sie sei einem Ritualmord anlässlich des jüdischen Pessachfestes zum Opfer gefallen. Diverse Politiker stützen
diese Behauptung und legen abstruse Talmud-Auslegungen vor, aus denen die Pflicht zu diesem religiösen
Brauch (Juden müssten christliches Blut trinken oder
essen, um sich zu erneuern) hervorgeht. Die Mutter des
Mädchens erstattet Anzeige. Die massiven Verhöre füh-
ren dazu, dass der 14-jährige Sohn des Synagogen­
dieners Josef Scharf aussagt, er habe durch das Schlüsselloch der Synagoge gesehen, wie Schächter dem
Mädchen den Hals aufgeschlitzt und das Blut in einer
Schale aufgefangen hätten. Die Agitation erfasst das
ganze Land. Über zwei Jahre zieht sich der Prozess hin,
in dem die Angeklagten schließlich aufgrund der unhaltbaren Beweislage freigesprochen werden. Der
Freispruch führt allerdings nicht zur Beruhigung, sondern zu weiteren, um so heftigeren Ausschreitungen. In
Teilen Ungarns muss der Notstand ausgerufen werden.
Noch heute ist der Fall in Ungarn sehr präsent. Die neue
nationale Rechte feiert den Jahrestag Eszter Solymosis
in gespenstischen Zeremonien nach wie vor. ---------Kornél Mundruczó schlägt in seiner hannoverschen Arbeit dieses scheinbar abgeschlossene Kapitel der Geschichte noch einmal auf und gibt es zur Betrachtung
frei. Er versetzt die Zuschauer ins Ungarn des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Erkenntnisse, die sich
daraus gewinnen lassen, sind verstörend. ------------------------------------------------------------------2. Vorstellungsblock im Dezember 2010!
Szene aus »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« (mit Martin Vischer, Susana Fernandes Genebra, Andreas Schlager)
Foto: Katrin Ribbe
22.23
22
»Auf dem Weg zu neuen Ufern«
SchauspielIntendant Lars-Ole Walburg im Gespräch mit Michael Feist, Vorstandsvorsitzender der Stadtwerke Hannover AG
»Als Regisseur gehe ich jeden Tag ins Ungewisse, und das ist manchmal wirklich schwer auszuhalten.« Lars-Ole Walburg
»Ich finde es faszinierend, wie Kunst gemacht wird. Das ist so ganz
anders, als ein Unternehmen zu führen.« Michael Feist
Videostills aus »Neverland« von Tobias Yves Zintel
Der eine leitet ein Theater, der andere ein Energieunternehmen. Lars-Ole Walburg ist Intendant des Schauspiel Hannover, Michael Feist Vorstandsvorsitzender der
Stadtwerke Hannover AG. Beide verbindet eine gemeinsame Kooperation, die jüngst um drei Jahre bis 2013
verlängert wurde: Als Hauptsponsor unterstützt enercity
das Junge Schauspiel und ermöglicht so jährlich eine
Produktion am Ballhof mit Jugendlichen aus Hannover.
»Neverland« heißt das neue Projekt, in dem Peter Pan
auf die erste Boy Group der Welt, die Jackson Five, trifft
(Regie: Robert Lehniger). Ein Gedankenaustausch über
den Traum vom Fliegen, den Mut, auf der Bühne zu stehen, und das Überwinden von Grenzen.--------------------------------------------------------------------LARS-OLE WALBURG Als wir auf der gemeinsamen
Pressekonferenz das neue enercity-Projekt »Neverland«
vorstellten, haben mich Ihre Äußerungen sehr beeindruckt. Sie sind ein überaus erfolgreicher Mensch der
Energiewirtschaft, und als Sie über Ihren Traum vom
Fliegen sprachen, sah ich neben mir die blitzenden Augen eines Jungen. Haben Sie nur früher davon geträumt,
oder träumen Sie vielleicht heute noch davon?--------------------------------------------------------------MICHAEL FEIST Das Thema Fliegen fasziniert mich
schon lange. Weniger in Bezug darauf, Stunden im Flugzeug beim Reisen zu verbringen, sondern unter den Aspekten Überwindung der Schwerkraft und Aufbruch zu
neuen Zielen. Die Möglichkeiten, scheinbar unveränderbare Hindernisse zu überwinden und damit zu besseren Zielen zu gelangen, kennen wir aus vielen Teilen
unserer Arbeit, wie zum Beispiel im Change Management. Die Wege und Mechanismen dazu gehören im
Management mit zu den interessantesten Aspekten. So
wie in unserer Kooperation zu »Neverland«, wo wir uns
mit Ihnen auf den Weg zu neuen Ufern begeben haben.
Kann auch ein Theatermann vom Fliegen träumen, oder
ist das mehr tägliche Routine?------------------------------------------------------------------------------WALBURG Ich spüre da eine Mischung aus Faszination
und Angst. Das Verlassen des Erdbodens ist dem Menschen wahrscheinlich genetisch ein Problem. Aber
letztlich ist mein Beruf auch immer die Sehnsucht nach
der Schwerelosigkeit. Als Regisseur gehe ich jeden Tag
ins Ungewisse, und das ist manchmal wirklich schwer
auszuhalten. Im Erfolg ist dann die Luftigkeit ein Genuss, in schlechten Zeiten eine wahre Zumutung. Mein
konkretes Unwohlsein beim Fliegen versuche ich zu
überwinden, indem ich mich in die Lüfte begebe. So
habe ich zum Beispiel vor ein paar Monaten eine Ballonfahrt über Hannover gemacht. Ein tolles Erlebnis.
Aber ich möchte nochmal auf den jungen Michael Feist
zurückkommen: Kannten Sie als Kind die Geschichte
von Peter Pan, der den Kindern zum Fliegen verhilft und
sie mitnimmt auf eine einsame Insel ohne Eltern, die ja
auch etwas Gruseliges hat?---------------------------------------------------------------------------------FEIST Peter Pan gehörte nicht zu meiner Kinderlektüre.
Da waren eher »Struwwelpeter«, »Tausendundeine
Nacht«, »Das Märchen vom glücklichen Löwen«. Etwas
später dann deutsche Heldensagen, die griechischen
Sagen, »Ein Kampf um Rom« und natürlich viel Karl May.
So richtig sehe ich da keine direkte Verbindung zu »Fliegen«. Eher zu Werten, das Gute gegen das Böse. Wobei
das Gute meistens gewinnt. Vielleicht passt die Erkundung der Ferne, von fremden Gegenden oder neuen Situationen am ehesten zum Thema Fliegen oder wie
überwindet man Grenzen. Bis heute mag ich vielleicht
wegen dieser Jugendlektüre Western, speziell mit
John Wayne. Da ist immer klar: Das Gute, die Gerechtigkeit siegt eigentlich fast immer.-----------------------------------------------------------------------------WALBURG Wir sind ja mit Peter Pan eher in einem Piratenfilm, und das Gut-Böse-Schema ist vom Autor
reichlich verwischt. Was mich als Theatermann, der
Spannung über Moral stellt, erst einmal freut. Da sind
wir wohl eher gegenteiliger Natur?-------------------------------------------------------------------------FEIST Zum Verhältnis von Spannung und Moral sehe
ich keinen Gegensatz. Auch in Piratenfilmen gibt es oft
beides. Wenn ich die Wahl habe, dann ist mir Spannung
mit Moral lieber als keine Spannung und keine Moral.
Aber interessant wird es im Mittelfeld, wenn die Entscheidung zwischen beiden nötig ist. Für das Theater
kann ich mir eine Präferenz für Spannung vorstellen,
weil auf der Bühne gespielt wird. Im echten Leben halte
das aber für wenig zielführend. Wobei zugegebenermaßen die Kategorien von Gut und Böse mehr Definition
brauchen. --------------------------------------------------------------------------------------------------WALBURG Die Geschichte der Jackson Five ist bei »Neverland« die andere Seite des Projekts. Die erste Boy
Group des Pop, erfunden von einem ehrgeizigen Vater,
der seine Söhne zu Stars und sich selbst zum Millionär
macht. Kennen Sie die Band?-------------------------------------------------------------------------------FEIST Die Jackson Five kenne ich nur dem Namen nach.
Musikalisch war das nicht mein Jahrgang. Das Problem
mit dem Ehrgeiz des Vaters scheint jedoch häufiger vorzukommen. Insoweit wissen wir wohl gar nicht, ob die
24.25
24
Boy Group wirklich das wollte, was sie am Ende bekommen hat.-----------------------------------------------------------------------------------------------WALBURG Michael Jacksons Ranch »Neverland« gab
unserem Projekt den Titel. In der Realität hat er versucht, dort dem Erwachsensein zu entgehen und – ähnlich wie in »Peter Pan« – eine ewige Kindheit zu leben.
Haben Sie auch manchmal, beispielsweise nach einer
schwierigen Aufsichtsratssitzung, Sehnsucht danach?-------------------------------------------------------FEIST Sehnsucht nach der Kindheit oder Flucht aus
dem Erwachsensein habe ich nicht, auch nicht nach
schwierigen Aufsichtsratsitzungen. Kann mich auch für
die Vergangenheit nicht daran erinnern. Ich finde Abstand und Entspannung vom Job in meiner Familie, bei
Musik, beim Wandern und Golfen.--------------------------------------------------------------------------WALBURG Sie haben bei einer Vorabpräsentation ja
schon einen kleinen Einblick in »Neverland« bekommen.
Was erwarten Sie?------------------------------------------------------------------------------------------FEIST Eine überraschende und spannende Aufführung
in einer tollen Mischung aus Video, Tanz und Musik. Ich
finde es faszinierend, wie sich die jungen Leute im Gespräch privat öffnen und wie sich das mit dem verbindet, was sie auf der Bühne zeigen. Insofern erwarte ich
auch ein Stück Selbsterkenntnis der jungen Leute zu
sehen, auf ihrem Weg hinaus auf die nächste Stufe ihres
Lebens.-----------------------------------------------------------------------------------------------------WALBURG Ist diese direkte Konfrontation mit der Gedankenwelt der Jugendlichen auch ein Grund, weshalb
Sie dieses Sponsoring betreiben?----------------------
FEIST Unternehmerisch betreiben wir das Sponsoring
natürlich, weil wir glauben, dass wir damit die Anerkennung des Unternehmens in der Stadtgesellschaft
verbessern können. Aber das lebt ja auch vom Interesse
der handelnden Personen, und ich habe persönlich eine
große Affinität zu der Kooperation mit dem Schauspiel.
Ich finde es faszinierend, wie Kunst gemacht wird. Das
ist so ganz anders, als ein Unternehmen zu führen und
Geschäft zu machen. Es ist immer wieder erstaunlich,
wie die Dinge am Ende zueinander kommen. Eventuell
beginnt das alles im Chaos, doch dann wird das Chaos
geordnet, und es kommt etwas Strukturiertes und Aussagekräftiges heraus.---------------------------------------------------------------------------------------WALBURG Ich fand es sehr berührend, mit den Aussagen der Jugendlichen konfrontiert zu werden und dann
hautnah mitzuerleben, wie sie tanzen. Das ist ja erst
mal unglaublich mutig. Wie ging es Ihnen?-----------------------------------------------------------------FEIST Ja, ich finde, dass die jungen Leute da über ihre
Grenzen gehen. Obwohl sie sonst vielleicht eher scheu
Michael Feist
sind, sich so in der Öffentlichkeit zu exponieren. Das auf
der Bühne zu zeigen, ist für sie ein großer Schritt, der
viel Überwindung kostet. Natürlich sind sie davor aufgeregt, aber das macht eben auch den Kick aus. Es ist
aber die Kunst der Theaterleute, die jungen Leute dahin
zu bringen, dass sie diesen Mut haben. Deshalb glaube
ich auch, dass sich die Jugendlichen in so einer Situation sehr weitereintwickeln. Sie nehmen sehr viel mit für
sich persönlich.---------------------------------------------------------------------------------------------WALBURG Das glaube ich auch. Um nochmal auf den
Anfang zurückzukommen: Haben Sie in unserer Präsentation auch etwas von Peter Pan oder dem Traum vom
Fliegen gesehen?-------------------------------------------------------------------------------------------FEIST Ja, man hat das in einer Szene gesehen. Ich
glaube im übertragenen Sinne: Es gibt viele Arten zu
fliegen, aber alle haben mit der Überwindung von Grenzen zu tun. Insofern fliegen sie auch auf der Bühne, weil
sie ihre eigenen Grenzen überwinden.-----------------------------------------------------------------------
Lars-Ole Walburg
»You might as well be dead already«
Über Spiel und Schmerz bei Nathalie Djurberg, deren Ausstellung »Snakes knows it’s Yoga« noch bis 7. November 2010 in
der kestnergesellschaft zu sehen ist.
gastbeitrag Von Kristin Schrader
Ihre Schauspiele erzählen von Schmerz, Tod, Lust, Ausschweifung,
Sex, Macht und Ohnmacht. Als Betrachter sind wir gleichermaSSen
angezogen wie abgestoSSen von den Geschehnissen.
Nathalie Djurberg inszeniert Aufführungen. Das verwundert, bedenkt man, dass die
1978 in Schweden geborene Künstlerin bisher hauptsächlich filmisch gearbeitet hat
und Aufführungen, in der Interaktion von Zuschauern und Akteuren, an den Augenblick und seine Zufälle gebundene Ereignisse sind, nie vollkommen plan- und vorhersehbar. -----------------------------------------------------------------------------Allein in ihrem Berliner Studio, ohne Publikum, bringt Nathalie Djurberg dennoch
Schauspiele zur Aufführung. Sie erzählen von Schmerz, Tod, Lust, Ausschweifung,
Sex, Macht, Ohnmacht. Als Betrachter bringen sie uns in eine Schieflage, sind wir
doch gleichermaßen angezogen wie abgestoßen von den Geschehnissen und entwickeln einen geradezu voyeuristischen Blick. Etwa, wenn drei über die Maßen korpulente Frauen in Spitzenwäsche sich in einer Umkleide einen kleinen entblößten
schwarzen Jungen in ihre Mitte nehmen (»Hungry Hungry Hippoes«, 2008). Tränen
bedecken sein Gesicht, aber auch ein Lachen erstreckt sich darüber. Am Ende ausgeschlossen, steckt er einer der Abgewendeten seinen Zeigefinger in den Anus. Die
riecht daran, bevor sie den Knaben strafend in einem Spind einschließt. Die anderen
ekeln sich. Abscheu bringt auch der Soundtrack hervor, der aus lauter Glucks- und
Furzgeräuschen besteht. Aber er ist auch lustig.------------------------------------Snakes knows it’s Yoga, Filmstill
Nathalie Djurberg mit Musik von Hans Berg. Snakes knows it’s Yoga, 2010. Filmstill
Courtesy Nathalie Djurberg, Gió Marconi, Milan, Zach Feuer Gallery, New York. © Nathalie Djurberg
Was Djurberg uns vorführt, ist stets äußerst ambivalent, die Trennungslinie zwischen
Opfern und Tätern immer schon im Auflösen begriffen. Beide aber lassen uns keinen
Moment darüber im Unklaren, dass sie der Belebung bedürfen. Alles in diesen aufgeführten Welten ist von Hand gemacht: papierene Bühnen, Kulissen und Requisiten,
Figuren aus Draht, Plastilin, Silikon, Wolle und Stoff. Animiert werden diese Puppen
mit Stecknadeln und Fäden. Die marionettenhaften Gestalten verweisen denn auch
auf die ihnen Leben schenkende Instanz außerhalb der Kadrierung des Bildes. Sehen
wir in Nahaufnahmen – die angewandte Technik des Stop Motion reiht Einzelaufnahmen aneinander und erzeugt so die Illusion einer Bewegung – manchmal Fingerabdrücke auf den roh und unwirsch gekneteten Oberflächen, so greifen einmal tatsächlich zwei menschliche Hände in den kleinen Bühnenraum und benetzen eine Figurine
mit Wasser aus einer Glasflasche, ja waschen diese im Grunde (»Hardcore«, 2002). Die
Künstlerin ist hier nicht nur Schaffende, sie spielt. Verlockend ist da die Analogie zum
Puppenspiel, das sich vor allem in unserer Kindheit ereignet, aber auch fortan nicht
an Reiz verliert. ---------------------------------------------------------------------
Puppen ertragen alles, lassen sich liebkosen und misshandeln. An und mit ihnen
können wir unser Handeln in der Welt erproben. Sie bezeugen die menschliche Fähigkeit zu symbolisieren. Ähnlich wie Bilder. Vor allem eignen sie sich als Projektionsfläche für Aggressionen, Gewalt und Perversionen ebenso wie für Begehren und
Zuneigung. Deshalb sind sie unentbehrlich, auch im Werk von Nathalie Djurberg. --Es ist das Wesen der Puppe, gemacht zu sein. Wenn in einem der früheren Filme
Djurbergs die Figur eines Seemanns ertrinkt und auf der Kulissenwand der Satz »It
doesn’t matter, he was only made of clay anyway« (»Es spielt keine Rolle, er war
ohnehin nur aus Ton gemacht«) erscheint, dann wird auf sprachlicher Ebene genau
dieser Umstand manifest (»All this Meat and No Potatoes«, 2004). Und noch etwas
anderes. Denn das Sprechen ist etwas Besonderes, es könnte von demjenigen ausgehen, der diese Szenerien erst schafft. ----------------------------------------------Der Künstler, der gottgleich sein Werk zum Leben erweckt, ist ein alter Topos. Damit
einher geht auch die Macht zu zerstören. »I gave you life« (»Ich habe Euch Leben gegeben«) und »I can take it away« (»Ich kann es nehmen«) ist nacheinander in einer
Pappkulisse zu lesen (»On Fire«, 2006). Und nicht nur das. Die Stimme aus dem Off, die
freilich nur in unserer Vorstellung erklingt, gibt den Figuren auf der Bühne Anweisungen, die nicht selten wie Befehle klingen. Eine Reihe von Mannequins schlüpft in
wechselnde Outfits und damit in diverse Rollen – von weinenden Babys, rauchenden
Schulmädchen bis hin zu tanzenden Ballerinas. Überstrapazierte Klischees, aufgebrochen von Szenen roher Gewalt: Erscheint »give it to them, punish and bent them«
(»Gib es ihnen, bestrafe und biege sie«) und »humiliate and abuse« (»erniedrige und
missbrauche«) an der Rückwand der Bühne, findet Prostitution statt, werden Körper
geritten, Haare abgeschnitten, fließen Tränen. In der Darstellung einer Darstellung
agieren Puppen als Schauspieler, während eine Melodie wie von einem Gameboy
erklingt (»New Movements in Fashion«, 2006). --------------------------------------Alles nur ein Spiel? Das Lachen bleibt einem im Halse stecken, wenn ein andermal in
beklemmender, scheinbar rassistisch diskriminierender Weise schwarze, fast ausschließlichs nackte Menschen sich nacheinander nach Größe, Geschlecht und Farbe
gruppieren müssen, um am Ende vereinzelt angenommen oder unter Tränen abgelehnt zu werden (»The Natural Selection«, 2006).------------------------------------Ein plakativer Exotismus tritt uns auch in Djurbergs neuester Arbeit »Snakes knows
it’s Yoga« (2010) entgegen. Zu großen Teilen hält sie, was ihr Titel verspricht: Eine
26.27
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Snakes knows it’s Yoga, Installationsansicht Gió Marconi, Milan, Foto: Filippo Armellin
Vielzahl in Meditation versunkener Yogis, nahezu alle im Schneidersitz, ausgemergelt,
mit langen, verfilzten Haaren, von Asche bedeckte heilige Mönche, bläuliche indische
Gottheiten treten auf. Was zunächst nach innerem Frieden, Erleuchtung und Abstand
von allem Irdischen aussieht, entpuppt sich an anderer Stelle erneut als Reigen um
Macht und Gewalt, obschon Pein und Qual nicht nur anderen, sondern auch dem eigenen Leib zugefügt werden. Von Messern durchbohrte, mit Nägeln gespickte wie
auch sich selbst geißelnde Männer, aufgespießte, blut- und schmutzverschmierte
Frauenkörper, Fakire, strafende Götter – all diese Figuren sind nicht etwa Protagonisten eines Films. In ungekannter Fülle treten sie uns als Puppen im Ausstellungsraum
entgegen, vereinzelt oder in Gruppen arrangiert auf dunklen Sockeln. --------------Djurberg lässt uns ihre Installation, einer Bühne gleich, durch einen Vorhang betreten. In der eher konventionellen Präsentation der plastischen Werke kommt uns so
die Rolle der Betrachter zu, wir führen uns selbst auf. Im Umhergehen sind diesmal
umso mehr wir es, die die Figurinen mit unserem Blick beleben und in Erzählungen
verweben, noch beflügelt von den beiden zur Installation gehörenden Filmen und
ihrer Musik. Bis zu dem Punkt, wohlgemerkt, an dem sich in einem der beiden Filme
abermals die Stimme der Schöpferin zu Wort meldet: »You might as well be dead already« (»Du könntest ebenso gut schon tot sein«), wird da über das Schicksal eines
Yogi verlautbart, den im Folgenden tatsächlich der Tod ereilt. Eine Schlange reißt ihn
in Stücke. Aber es ist ja nur Spiel. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Kristin Schrader 2002–2008 Studium der Kunstwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, begleitend freie Mitarbeit
am Kunstmuseum Wolfsburg. 2006–2007 Aufenthalt in New York, u. a. wissenschaftliche Mitarbeit an der Dia Art Foundation. Seit 2008 Kuratorin
an der kestnergesellschaft, Ausstellungen von Jake & Dinos Chapman,
Gert & Uwe Tobias, Bethan Huws.
---------------------------------------------------------------------------------Nathalie Djurberg, »Snakes knows it’s Yoga« (mit Musik von Hans Berg):
3. September bis 7. November 2010, kestnergesellschaft
Szene aus »Adams Äpfel« (mit Elisabeth Hoppe, Leon Weber, Mathias Max Herrmann, Thomas Mehlhorn, Sebastian Schindegger)
Foto: Katrin Ribbe
28.29
28
Die Programm-Höhepunkte
september bis oktober 2010
mit ausgewählten Terminen von kestnergesellschaft,
Literaturhaus und Kunstverein Hannover
05.–10.09. aussenspielort
11.09. Schauspielhaus
17.–26.09. Cumberlandsche Bühne
was der mond rot
aufgeht. wie ein
blutig eisen.
Romeo und Julia
von William Shakespeare
Eszter Solymosi von
Tiszaeszlár
von Kulturfiliale in Kooperation mit dem
Schauspiel Hannover
PREMIERE
Geheimnisvolle Dinge geschehen in einer Kleingartensiedlung. Auf einer theatralen Entdeckungstour mit der Agentur
GreenWorks durch die Welt der Datschen
mischen sich Besucher, Bewohner und
Darsteller, bis am Ende niemand mehr
weiß, wer zu wem gehört.
Gefördert von Kulturbüro der Landeshauptstadt und Kulturregion Hannover
25.09.–07.10. foyer schauspielhaus
PREMIERE
Shakespeares Tragödie steht für die
Macht der Liebe – trotz aller Widrigkeiten. In Verona regiert der Hass zweier
verfeindeter Familien, eine Verbindung
scheint unmöglich. Julia inszeniert ihren
Freitod, um den Fängen der Familie zu
entkommen. Romeo, seine Angebetete
scheinbar tot auffindend, will ihr folgen.
Als sie erwacht, ist Romeo nicht mehr zu
retten, doch an seinen Lippen hängt
noch ein Tropfen Gift...
europäische erstaufführung
Tiszaeszlár, 1882: In dem ungarischen
Dorf verschwindet ein Mädchen. Schnell
tauchen Gerüchte auf, Juden hätten Eszter Solymosi anlässlich des Pessachfestes geopfert. Anklage wird erhoben, der
Volkszorn kocht. Regisseur Kornél Mundruczó schlägt ein abgeschlossenes Kapitel der Historie noch einmal auf und
erinnert an einen Kriminalfall, der Europa veränderte.
2. Vorstellungsblock im Dezember
25.09. Schauspielhaus
26.09. 11 Uhr Ballhof
26.09. 17:30 Uhr Kino im künstlerhaus
Weltausstellung
PrinzenstraSSe (X):
»Der atomare
Leviathan«
Jürgen Kuttner
zeigt ein Juwel des
japanischen Kinos
Mein China-Bild
Der Goldene Drache
von Roland Schimmelpfennig
Passend zur Premiere von »Der Goldene
Drache« (siehe nächster Eintrag) zeigen
wir in Kooperation mit dem Chinesischen
Zentrum Hannover die Fotoausstellung
»Mein China-Bild«, die aus einem Fotowettbewerb hervorgegangen ist. Im Juni
2010 trat die Jury zusammen und wählte
etwa 30 Bilder aus, die nun im Foyer des
Schauspielhauses gezeigt werden. Im
Rahmen der Vernissage am 25. September um 18 Uhr findet auch die Preisverleihung statt.
Was haben der Koch im Thai-ChinaVietnam-Schnellimbiss »Der Goldene
Drache«, Hansi, der Verkäufer, ein alter
Mann und der Freund seiner Enkeltochter, ein verlassener Mann mit gestreiftem
Hemd, eine Flugbegleiterin und ein rätselhafter Zahn in der Thai-Suppe gemeinsam? »Der Goldene Drache« als
Schnittstelle unterschiedlichster Kulturen
und Figuren – oft komisch und dabei von
schwebender Traurigkeit.
20.10. 19 Uhr Kunstverein
23.10. Schauspielhaus
Charles Avery:
Onomatopoeia
Kunst wird woanders
gebraucht, als wo sie
rumsteht
KURATORISCHE FÜHRUNG
Little Boy – Big Taifoon
von Hisashi Inoue mit einem Monolog
von Björn Bicker
Der erste Tag einer neuen Zeitrechnung:
Ein Fallschirm, dann flackert ein großer
Blitz über den Himmel, ein Feuerball, anschließende Dunkelheit. Seit dem 6. August 1945 ist klar, dass die Menschheit
in der Lage ist, sich auf einen Schlag
auszulöschen. Das Stück »Little Boy – Big
Taifoon« schildert den Atombombenangriff auf Hiroshima aus der Sicht dreier
zwölfjähriger Jungen. Mit einem Text von
Björn Bicker über den Bomberpiloten
Claude Eatherly.
fotoausstellung
Seit 2004 beschäftigt sich Charles Avery
mit der Kreation einer fiktiven Inselwelt.
In Zeichnungen, Installationen und Skulp­
turen formt er aus philosophischen Ideen
einen skurrilen Kosmos voller fabelhafter
Kreaturen, Götter, Touristen und Abenteurer. Kunstvereinsdirektor René Zechlin nimmt Sie mit auf eine Entdeckungsreise durch Onomatopoeia, die Hauptstadt
dieser Welt.
Die Geschichte einer Anklage
nach Gyula Krúdy
18.09. Ballhof Eins
PREMIERE
Eine bunte Kunst-Wut-Show von und mit
Jürgen Kuttner, Ensemble und Gästen mit
einem Kommentar von René Pollesch
PREMIERE
Der Titel ist These: Jürgen Kuttner, bekannt aus der Hannoverrevue »Götter,
Kekse, Philosophen«, will Kunstwerke als
Spielanleitung lesen, Genrebestimmungen umkehren, um die Kunst in einer
geisteshellen Show zwischen Zauberei
und Massenchoreografie, Diskurs und
Zirkus, Quatsch und Avantgarde in unser
Leben zurückzuführen.
uraufführung
Oskar Negt im Gespräch
mit dem Philosophen Eduardo Subirats
Diese »Weltausstellung Prinzenstraße«
findet im Rahmen von »Republik Freies
Wendland – Reaktiviert« statt. Der neue
Gastgeber der Reihe, der Philosoph und
Soziologe Oskar Negt, unterhält sich mit
dem spanischen Philosophen Eduardo
Subirats über die politischen Folgen atomarer Technologien, über Konzentration
von Macht und Demokratieabbau.
FilmTheater – Theatermacher zu Gast im
Künstlerhaus
FILMVORFÜHRUNG
Jürgen Kuttner, legendärer Moderator
und Veoschnipselvortragender, wird im
Oktober im Schauspielhaus Kunstwerke
des 20. Jahrhunderts in experimentellen
Anordnungen auf ihren Nutzwert überprüfen. Aber vorher stellt er sich in der
Reihe »FilmTheater – Theatermacher im
Künstlerhaus« vor und gibt einen Einblick
in seine geheime Leidenschaft: das japanische Kino.
24.10. Ballhof Eins
28.10. 19 Uhr kestnergesellschaft
Neverland
Reden über Kunst.
Die kunst des Redens
Popmärchenrecherche vom Jungen Schau­
­spiel und Kooperationspartner enercity
mit Jugendlichen aus Hannover
URAUFFÜHRUNG
Für fünf schwarze Jugendliche ging Ende
der sechziger Jahre ein Märchen in Erfüllung. Sie waren Brüder, sie hießen Jackson Five, und sie starteten durch als erste
Boygroup im Showbizz. In Robert Lehnigers Doku-Märchen mit Tanz und Videoelementen spielen 16 Jugendliche aus
Hannover. Die Reise geht in die Kinderpopwelt Neverland, wo keiner älter wird.
Der Preis für die ewige Jugend allerdings
ist hoch...
show-debatte
Reden über Kunst. Die Kunst des Redens
Bei zeitgenössischer Kunst sagt der Betrachter schnell: »Das kann ich auch!«
Aber so einfach wollen wir es ihm nicht
machen. Professoren und Personen aus
dem kulturellen Leben führen an diesem
Abend in der kestnergesellschaft ein
Streitgespräch über Kunst und Können.
Die Pro- bzw. Contra-Seite wird ihnen
dabei zugewiesen.
30.31
30
18.–26.09. Ballhof
19.09. Ballhof Zwei
republik freies wendland – reaktiviert
Crux oder Der Heiland
unterm Bett
Dein Staat auf dem Ballhofplatz!
30 Jahre nach Gründung der Republik
Freies Wendland und mitten im zweiten
Frühling der Atomenergie wird das Hüttendorf auf dem Ballhofplatz reaktiviert.
Schüler und Jugendliche aus Hannover
und Veteranen der Anti-AKW-Bewegung
suchen neun Tage lang gemeinsam nach
der Utopie von heute. Tagsüber werden
Hütten gezimmert und Workshops abgehalten, und jeden Abend finden Veranstaltungen statt. Reload your dreams!
Gefördert im Fond Heimspiel der Kulturstiftung des Bundes
von Anne Jentsch
30.09. 19 Uhr kestnergesellschaft
05.10. 19:30 Uhr Literaturhaus
Von nagel zu nagel
Fabian Reimann:
The Surveyor
führung und gespräch
Wie entsteht eigentlich eine Ausstellung?
In diesem neuen Führungsformat gewährt
die kestnergesellschaft spannende Einblicke hinter die Kulissen der täglichen
Ausstellungsarbeit. Kuratoren berich­ten
am Beispiel der aktuellen Ausstel­lungen
über die Kriterien der Künst­­ler­auswahl
und über organisatorische Besonderheiten des Kunstbetriebs.
uraufführung
Marko, Hansi und Kolla besteigen in der
Silvesternacht das Kreuz am Dorfrand.
Eine Schnapsidee, denn der dicke Hansi
bringt das Gottessymbol zum Einsturz –
das hat Folgen. Ein Stück über Religion,
Macht, Freundschaft, Grastee und die
Frage, was mit möglichen Zeugen der Tat
geschehen soll. Jemand scheint nämlich
etwas beobachtet zu haben.
Mit freundlicher Unterstützung der Nds.
Lottostiftung. Preisträger des Schreibwettbewerbes »Stücke für die Lücke«
31.10 17.30 Uhr Kino im Künstlerhaus
Kampf des Negers
und der Hunde
Florian Fiedler zeigt
»Palindrome« von Todd
Solondz
PREMIERE
Eine europäische Firma, eine Baustelle in
Westafrika. Ein Arbeiter stirbt am Bauplatz. Als ein geheimnisvoller Schwarzer
am Ort des Geschehens erscheint und die
Leiche einfordert, ist diese jedoch verschwunden. Ein Stück über Angst, Gier,
Hass, Verrat und Mord, das von der
Unversöhnlichkeit und Unvereinbarkeit
zwei­er unterschiedlicher Welten erzählt.
designt & produziert
im eigenen
Laden-Atelier
in der Oststadt
aus
hochwertigen
Bio-Stoffen
BUCHVORSTELLUNG
Der englische Kunsthistoriker Anthony
Frederick Blunt wurde 1979 von Margaret Thatcher öffentlich als sowjetischer
Spion enttarnt. Unter dem Titel »The Surveyor« zeigte der Kunstverein Hannover
im Sommer eine Installation von Fabian
Reimann, in der er sich mit der facettenreichen Person Blunts auseinandersetzt.
Mit dem gleichnamigen Buch knüpft der
Preisträger des Kunstvereins 2010 nun
daran an.
In Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Hannover
30.10 Cumberlandsche Bühne
von Bernard-Marie Koltès
ökologische
Kinderbekleidung
süße
Babymützen
mitwachsende
Hosen &
vieles mehr ...
(USA 2004, 100 Min.) FilmTheater –
Theatermacher im Künstlerhaus
FILMVORFÜHRUNG
Die zwölfjährige Aviva unternimmt alles,
um sich endlich ihren Kinderwunsch zu
erfüllen, doch die Eltern machen ihr einen Strich durch die Rechnung. Aviva
haut ab und findet sich auf einer Reise
durch ein Amerika der brutalen Widersprüche im Kampf gegen die Abtreibung
wieder. Todd Solondz ist ein eminent politischer Filmemacher – Hausregisseur
Florian Fiedler stellt uns seinen Film vor.
Eichstraße 60 30161 Hannover
Tel.: 0157. 77592568
Di-Do 10.00-15.00 Fr 10.00-18.00
Sa 10.00-13.00
Weltausstellung
PrinzenstraSSe 2010/2011
Gastgeber Oskar Negt im Gespräch mit
dem spanischen Philosophen Eduardo Subirats über
Kernenergie und Demokratie
Sonntag, 26. September, 11:00 Uhr, Ballhofplatz
der südafrikanischen Autorin Antjie Krog über
Afrikas Menschlichkeit
Freitag, 5. November, 18:00 Uhr, Cumberlandsche Galerie im Rahmen des November der Wissenschaft 2010
dem deutschen Paläontologen Björn Kröger über
Das Drama der Evolution
Sonntag, 30. Januar, 11:00 Uhr, Foyer schauspielhaus
dem amerikanischen Autor Richard Manning über
unser täglich Öl
Sonntag, 27. Februar, 11:00 Uhr, Foyer schauspielhaus
der portugiesischen Autorin Alexandra Lucas Coelho über
Tage in Afghanistan
Sonntag, 20. märz, 11:00 Uhr, foyer schauspielhaus
überlebenden ukrainischen Liquidatoren über
Die Katastrophe von Tschernobyl
Sonntag, 17. april, 11:00 Uhr, foyer schauspielhaus
dem russischen Philosophen Micheal Ryklin über
Postsowjetische Tendenzen
Sonntag, 15. Mai, 11:00 Uhr, foyer schauspielhaus
Mit freundlicher Unterstützung der
IMPRESSUM Heft #4 HERAUSGEBER Niedersächsische Staatstheater Hannover GmbH, Schauspiel Hannover, Spielzeit 2010 /11 INTENDANT Lars-Ole Walburg REDAKTION
Björn Achenbach, Aljoscha Begrich, Volker Bürger, Judith Gerstenberg, Christian Tschirner GESTALTUNG María José Aquilanti, Birgit Schmidt DRUCK Berlin Druck, Achim