Heft #5 Deine moralische Anstalt

Transcription

Heft #5 Deine moralische Anstalt
Heft #5
00
01.01
03 Editorial 04 Friedrich Schiller: Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet 06 Kulturpreis für »Moschee DE«
08 Lars-Ole Walburg im Gespräch mit Oskar Negt 12 Rückblick auf das Projekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert«
16 Interview mit der Technikphilosophin Jutta Weber 18 »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« – Versuch einer Annäherung
20 Szenenfoto: »Kampf des Negers und der Hunde« 22 Interview mit dem Regisseur Mirko Borscht 26 Albrecht Hirche: Notizen zu »Chronik eines angekündigten Todes« 28 Ballhof backstage: Fotos aus »Neverland« 30 Gastbeitrag: Sigurd Hermes
über das Kommunale Kino 32 Was kommt: Die Höhepunkte von Dezember bis März 2011
schauspiel hannover
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ans
»Was mich an Schillers Rede berührt, ist
seine Theatertrunkenheit und Euphorie,
die mir heute so oft im Theater fehlt. Was
wir aus seinen Worten in die Jetztzeit
übernehmen sollten, ist die Rausch­
haftigkeit und Begeisterung für das
Medium.«
Mirko Borscht, Regisseur
02.03
02
Liebe Zuschauer,
wenn Spaßmacher und Spitzbuben die Bühnenbretter verlassen und ihr Glück in der weiten Welt suchen, wird es
schwer für uns Theaterleute: Welcher erfundene Marinelli oder Mephisto, muss man sich zum Beispiel fragen,
nimmt es mit der realen Lobby auf, die ihren verantwortungslosen Umgang mit hochgiftigen und radioaktiven Abfällen im Endlager Asse gerade so eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat und uns nun mit Engelsmiene von der
Unbedenklichkeit deutscher Kernenergie zu überzeugen versucht? Welcher Schwank, welche Posse, muss man sich
fragen, kann mit der parlamentarischen Anfrage (Verschwendung von Steuergeldern!) konkurrieren, die im niedersächsischen Landtag unser erfolgreiches Theaterprojekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert« in Misskredit zu
bringen versucht?
Um unserem Unterhaltungsanspruch gerecht zu werden, bleibt uns in solchem Umfeld geradezu nichts anderes
übrig, als die schwersten Geschütze bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses in Stellung zu bringen: Friedrich
Schiller! Unser Theater, Deine moralische Anstalt! Schillers alter und eigentlich auch altbekannter Text »Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet« hat uns in seinem Idealismus und seiner Emphase so begeistert, dass wir
ihm gleich unser ganzes Heft #5 gewidmet haben und ihn – leicht gekürzt – hier präsentieren (Seiten 4 und 5).
Intendant Lars-Ole Walburg und der Sozialphilosoph Oskar Negt, Gastgeber unserer Gesprächsreihe »Weltausstellung Prinzenstraße«, unterhalten sich über das Verhältnis von Moral und Ethik, Politik und Theater und versuchen
die Bedeutung des schillerschen Textes für ein heutiges Theaterverständnis auszuloten (Seiten 8 bis 11).
Mirko Borscht, Regisseur von »komA«, bescheinigt dem Theater eine eher rauschhafte denn moralisch bildende
Wirkung und zeigt sich doch im Interview zu seinem neuen Projekt »Kristus – Monster of Münster« über den Führer
der Münsteraner Wiedertäuferbewegung Jan von Leyden als geradezu eingefleischter Moralist...
In seiner Laudatio zum Kulturpreis der Evangelisch-lutherischen Landeskirche bescheinigt Jurysprecher und Super­
intendent i. R. Hans Werner Dannowski unserer Produktion »Moschee DE«, bei dem schwierigen Thema der Integration des Islam in Deutschland »Denkanstöße zu vermitteln, ohne sich selbst in allzu billigen Lösungsangeboten
zu versuchen« (Seiten 6 und 7). Viel mehr hätte wohl auch Schiller nicht gewollt ...
Christian Tschirner
Dramaturg und Regisseur
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Moralische Anstalt – was fällt Ihnen dazu ein?
Wir haben Hannoveraner im Theater und auf der Straße gefragt, was sie sich spontan unter einer »Moralischen
Anstalt« vorstellen. Die Antworten fielen naturgemäß unterschiedlich aus – mal erheiternd, mal fantasievoll, mal
verständnislos. Sie ziehen sich als Fußleiste durch das gesamte Heft und werden Sie bei der Lektüre begleiten.
Die Redaktion
Die Schaubühne als moralische
Anstalt betrachtet
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Vorgelesen bei einer öffentlichen Sitzung der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft zu Mannheim im Jahr 1784
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Die Schaubühne ist mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats
eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürger­
liche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den geheimsten Zugängen der
menschlichen Seele.
Wenn die Gerechtigkeit für Gold erblindet und im Solde der Laster schwelgt, wenn
die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der
Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage und reißt die Laster
vor einen schrecklichen Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und Geschichte,
Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem Wink zu Gebot. Kühne Verbrecher, die
längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst
jetzt vorgeladen und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein
schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, und mit wollüstigem
Entsetzen verfluchen wir ihr Gedächtnis. -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein
Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen
des Palastes herunter wankt und der Kindermord jetzt geschehen ist. Heilsame Schauer
werden die Menschheit ergreifen, und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen
preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht
und alle Wohlgerüche Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen. So
gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als toter Buchstabe und kalte Erzählung,
so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze. --------------------------------------------------------------------------------------------Aber hier unterstützt sie die weltliche Gerechtigkeit nur – ihr ist noch ein weiteres
Feld geöffnet. Tausend Laster, die jene ungestraft duldet, straft sie; tausend Tugenden,
wovon jene schweigt, werden von der Bühne empfohlen. Hier begleitet sie die Weisheit und die Religion. Aus dieser reinen Quelle schöpft sie ihre Lehren und Muster
und kleidet die strenge Pflicht in ein reizendes, lockendes Gewand. Mit welch herrlichen Empfindungen, Entschlüssen, Leidenschaften schwellt sie unsere Seele, welche göttlichen Ideale stellt sie uns zur Nacheiferung aus! – Wenn der gütige August
dem Verräter Cinna, der schon den tödtlichen Spruch auf seinen Lippen zu lesen
meint, groß wie seine Götter, die Hand reicht: »Laß uns Freunde sein, Cinna!« – wer
unter der Menge wird in dem Augenblick nicht gern seinem Todfeind die Hand drücken wollen, dem göttlichen Römer zu gleichen? – Wenn Franz von Sickingen, auf
dem Wege, einen Fürsten zu züchtigen und für fremde Rechte zu kämpfen, unversehens
hinter sich schaut und den Rauch aufsteigen sieht von seiner Feste, wo Weib und Kind
hilflos zurückblieben, und er weiter zieht, Wort zu halten – wie groß wird mir da der
Mensch, wie klein und verächtlich das gefürchtete unüberwindliche Schicksal! Eben so
häßlich, als liebenswürdig die Tugend, malen sich die Laster in ihrem furchtbaren
Spiegel ab. Wenn der hilflos kindische Lear in Nacht und Ungewitter vergebens an
das Haus seiner Töchter pocht, wenn sein wütender Schmerz zuletzt in den schrecklichen Worten von ihm strömt: »Ich gab euch alles!« – wie abscheulich zeigt sich uns
da der Undank? Wie feierlich geloben wir Ehrfurcht und kindliche Liebe! - ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Aber der Wirkungskreis der Bühne dehnt sich noch weiter aus. Auch da, wo Religion
und Gesetze es unter ihrer Würde achten, Menschenempfindungen zu begleiten, ist
sie für unsere Bildung noch geschäftig. Das Glück der Gesellschaft wird eben so sehr
durch Torheit als durch Verbrechen und Laster gestört. Eine Erfahrung lehrt es, die so
alt ist als die Welt, daß im Gewebe menschlicher Dinge oft die größten Gewichte an
den kleinsten und zartesten Fäden hangen und, wenn wir Handlungen zu ihrer Quelle zurück begleiten, wir zehnmal lächeln müssen, ehe wir uns einmal entsetzen. Mein
Verzeichnis von Bösewichtern wird mit jedem Tag, den ich älter werde, kürzer und
mein Register von Thoren vollzähliger und länger. Wenn die ganze moralische Verschuldung des einen Geschlechtes aus einer und eben der Quelle hervorspringt,
wenn alle die ungeheuren Extreme von Lastern, die es jemals gebrandmarkt haben,
nur veränderte Formen, nur höhere Grade einer Eigenschaft sind, die wir zuletzt alle
einstimmig belächeln und lieben, warum sollte die Natur bei dem andern Geschlecht
nicht die nämlichen Wege gegangen sein? Ich kenne nur ein Geheimnis, den Menschen vor Verschlimmerung zu bewahren, und dieses ist – sein Herz gegen Schwächen zu schützen. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Einen großen Teil dieser Wirkung können wir von der Schaubühne erwarten. Sie ist
es, die der großen Klasse von Thoren den Spiegel vorhält und die tausendfachen
Formen derselben mit heilsamem Spott beschämt. Was sie oben durch Rührung und
Schrecken wirkt, leistet sie hier (schneller vielleicht und unfehlbarer) durch Scherz
und Satire. Wenn wir es unternehmen wollten, Lustspiel und Trauerspiel nach dem
Maß der erreichten Wirkung zu schätzen, so würde vielleicht die Erfahrung dem ersten den Vorrang geben. Spott und Verachtung verwunden den Stolz der Menschen
empfindlicher, als Verabscheuung sein Gewissen foltert. Vor dem Schrecklichen verkriecht sich unsere Feigheit, aber eben diese Feigheit überliefert uns dem Stachel der
Satire. Gesetz und Gewissen schützen uns oft vor Verbrechen und Lastern – Lächerlichkeiten verlangen einen eigenen, feinern Sinn, den wir nirgends mehr als vor dem
Schauplatz üben. Vielleicht, daß wir einen Freund bevollmächtigen, unsre Sitten und
unser Herz anzugreifen, aber es kostet uns Mühe, ihm ein einziges Lachen zu vergeben. Unsere Vergehungen ertragen einen Aufseher und Richter, unsre Unarten kaum
einen Zeugen. – Die Schaubühne allein kann unsre Schwächen belachen, weil sie
unsrer Empfindlichkeit schont und den schuldigen Thoren nicht wissen will. Ohne rot
zu werden, sehen wir unsre Larve aus ihrem Spiegel fallen und danken insgeheim für
die sanfte Ermahnung. -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Aber ihr großer Wirkungskreis ist noch lange nicht geendigt. Die Schaubühne ist
mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser durch das bürgerliche Leben, ein unfehlbarer Schlüssel zu den
geheimsten Zugängen der menschlichen Seele. Ich gebe zu, daß Eigenliebe und Ab-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
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tausend Laster mit frecher Stirne vor ihrem Spiegel behaupten, tausend gute Gefühle
vom kalten Herzen des Zuschauers fruchtlos zurückfallen – ich selbst bin der Meinung, daß vielleicht Molières Harpagon noch keinen Wucherer besserte, daß Karl
Moors unglückliche Räubergeschichte die Landstraßen nicht viel sicherer machen
wird – aber wenn wir auch diese große Wirkung der Schaubühne einschränken,
wenn wir so ungerecht sein wollen, sie gar aufzuheben – wie unendlich viel bleibt
noch von ihrem Einfluß zurück? Wenn sie die Summe der Laster weder tilgt noch
vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht? – Mit diesen Lasterhaften, diesen Thoren müssen wir leben. Wir müssen ihnen ausweichen oder begegnen; wir müssen sie untergraben oder ihnen unterliegen. Jetzt aber überraschen sie
uns nicht mehr. Wir sind auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das
Geheimnis verraten, sie ausfindig und unschädlich zu machen. Sie zog dem Heuchler
die künstliche Maske ab und entdeckte das Netz, womit uns List und Kabale umstrickten. Betrug und Falschheit riß sie aus krummen Labyrinthen hervor und zeigte ihr
schreckliches Angesicht dem Tag. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Nicht bloß auf Menschen und Menschencharakter, auch auf Schicksale macht uns die
Schaubühne aufmerksam und lehrt uns die große Kunst, sie zu ertragen. Im Gewebe
unsers Lebens spielen Zufall und Plan eine gleich große Rolle; den letztern lenken
wir, dem ersten müssen wir uns blind unterwerfen. Gewinn genug, wenn unausbleibliche Verhängnisse uns nicht ganz ohne Fassung finden, wenn unser Muth, unsre Klugheit sich einst schon in ähnlichen übten und unser Herz zu dem Schlag sich
gehärtet hat. Die Schaubühne führt uns eine mannigfaltige Szene menschlicher Leiden vor. Sie zieht uns künstlich in fremde Bedrängnisse und belohnt uns das augenblickliche Leiden mit wollüstigen Tränen und einem herrlichen Zuwachs an Mut und
Erfahrung. Mir ihr folgen wir der verlassenen Ariadne durch das wiederhallende Naxos, betreten mit ihr das entsetzliche Blutgerüst und behorchen mit ihr die feierliche
Stunde des Todes. Hier hören wir, was unsre Seele in leisen Ahnungen fühlte, die
überraschte Natur laut und unwidersprechlich bekräftigen. Im Gewölbe des Towers
verläßt den betrogenen Liebling die Gunst seiner Königin. – Jetzt, da er sterben soll,
entfliegt dem geängstigten Moor seine treulose sophistische Weisheit. Die Ewigkeit
entläßt einen Toten, Geheimnisse zu offenbaren, die kein Lebendiger wissen kann,
und der sichere Bösewicht verliert seinen letzten gräßlichen Hinterhalt, weil auch
Gräber noch ausplaudern. ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Aber nicht genug, daß uns die Bühne mit Schicksalen der Menschheit bekannt macht,
sie lehrt uns auch gerechter gegen den Unglücklichen sein und nachsichtsvoller über
ihn richten. Dann nur, wenn wir die Tiefe seiner Bedrängnisse ausmessen, dürfen wir
das Urteil über ihn aussprechen... Selbstmord wird allgemein als Frevel verabscheut;
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wenn aber, bestürmt von den Drohungen des wütenden Vaters, bestürmt von Liebe,
von der Vorstellung schrecklicher Klostermauern Mariane Gift trinkt, wer von uns will
der Erste sein, der über dem Schlachtopfer einer verruchten Maxime den Stab bricht?
– Menschlichkeit und Duldung fangen an, der herrschende Geist unsrer Zeit zu werden. Wie viel Anteil an diesem göttlichen Werk gehört unsern Bühnen? Sind sie es
nicht, die den Menschen mit dem Menschen bekannt machten und das geheime Räderwerk aufdeckten, nach welchem er handelt? ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Die menschliche Natur erträgt es nicht, ununterbrochen und ewig auf der Folter der
Geschäfte zu liegen, die Reize der Sinne sterben mit ihrer Befriedigung. Der Mensch,
überladen von tierischem Genuß, der langen Anstrengung müde, vom ewigen Triebe
nach Tätigkeit gequält, dürstet nach bessern auserleseneren Vergnügungen, oder
stürzt zügellos in wilde Zerstreuungen, die seinen Hinfall beschleunigen und die
Ruhe der Gesellschaft zerstören. Bacchantische Freuden, verderbliches Spiel, tausend Rasereien, die der Müßiggang ausheckt, sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber diesen Hang des Volks nicht zu lenken weiß. Der Mann von Geschäften ist in
Gefahr, ein Leben, das er dem Staat so großmütig hinopferte, mit dem unseligen
Spleen abzubüßen – der Gelehrte zum dumpfen Pedanten herabzusinken – der Pöbel
zum Tier.---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der andern
gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird. Wenn Gram an
dem Herzen nagt, wenn trübe Laune unsere einsamen Stunden vergiftet, wenn uns
Welt und Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seele drücken und unsre
Reizbarkeit unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne
– in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns
selbst wieder gegeben, unsre Empfindung erwacht, heilsame Leidenschaften erschüttern unsre schlummernde Natur und treiben das Blut in frischeren Wallungen.-------------------------------------------------------------------------------------Der Unglückliche weint hier mit fremdem Kummer seinen eignen aus – der Glückliche
wird nüchtern und der Sichere besorgt. Der empfindsame Weichling härtet sich zum
Manne, der rohe Unmensch fängt hier zum erstenmal zu empfinden an. Und dann
endlich – welch ein Triumph für dich, Natur! – wenn Menschen aus allen Kreisen und
Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in ein Geschlecht wieder aufgelöst, ihrer selbst und der Welt vergessen und
ihrem himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen
aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurückfallen, und seine
Brust gibt jetzt nur einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein. ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Sensibilität, Intelligenz
und Offenheit für
elementare religiöse
Fragen«
Am 2. November wurden Robert Thalheim und Kolja Mensing für ihr Stück »Moschee DE«, das den realen Streit beim Bau einer Moschee szenisch rekonstruiert, mit dem Kulturpreis der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers
ausgezeichnet. Wir dokumentieren die Laudatio.
Von Hans Werner Dannowski, Stadtsuperintendent i. R. und Sprecher der Kulturpreis-Jury
»Keine der Positionen, so wird es am Ende des
Stückes vermutlich allen Zuschauern klar,
bietet eine tragfähige und zukunftsweisende
Lösung der angesprochenen Probleme. Die
wirkliche Begegnung der Kulturen und Reli­
gionen wird sich auf einer tieferen Ebene er­
eignen müssen.«
Am Ende der Aufführung sind viele der Zuschauer erkennbar konsterniert. Denn das Stück »Moschee DE«
über die Auseinandersetzungen beim Bau einer Moschee in Deutschland verweigert sich mit Konsequenz
den einfachen Lösungen des Pro oder Contra wie auch
den verschiedenen Vermittlungsstrategien, die dazwischen liegen könnten.
Robert Thalheim und Kolja Mensing haben authentisches Interviewmaterial, das sie bei der Planung und
dem Bau einer muslimischem Ahmadiyya-Moschee in
Berlin-Heinersdorf in den Jahren 2006 bis 2008 sammelten, zu einer szenischen Collage zusammengefügt.
Das Stück macht einerseits das hohe Konfliktpotenzial
begreifbar, das sich in der deutschen Integrationsdebatte schon seit Jahren verbirgt. Die »szenische Rekonstruktion« wird aber zugleich überzeugend dem Anspruch
des Theaters gerecht, weitergehende Denkanstöße zu
vermitteln, ohne sich selbst in allzu billigen Lösungsangeboten zu versuchen.
Da ist in der Collage von Thalheim und Mensing der
Vorsitzende einer Bürgerinitiative gegen den Bau der
Moschee, der durchaus zwischen dem Totalanspruch
des Islam auf den Menschen und der Lebenswirklichkeit des einzelnen Muslim zu unterscheiden weiß. Dessen »Feldzug gegen den Islamismus« aber erkennbar
gebrochen wird durch die unverhoffte Möglichkeit, in
seine schwierige Biografie noch einmal eine große Rolle einzufügen. Da ist der Imam der Gemeinde, dessen
Offenheit und Überzeugungskraft die innere Selbstgewissheit nicht versteckt, dass dem Islam – schon allein
infolge der numerischen Entwicklung – die Zukunft
auch in Deutschland gehören wird. Da ist der Konvertit,
dessen Hinwendung zum Islam sich wie eine analoge
pietistische Bekehrungsgeschichte liest. Und da sind
die Vermittlungsbemühungen der »Zugezogenen« und
des Pfarrers, die beide – aus unterschiedlichen Gründen
– Ausdruck der eigenen Schwäche sind.
Keine der Positionen, so wird es am Ende des Stückes
vermutlich allen Zuschauern klar, bietet eine tragfähige
und zukunftsweisende Lösung der angesprochenen Probleme. Die wirkliche Begegnung der Kulturen und Religionen wird sich auf einer tieferen Ebene ereignen müssen. Positionsklarheit wird sich mit Selbstbegrenzung,
Selbstbewusstsein mit Hör- und Dialogfähigkeit verbinden müssen. Nur so kann, im Zuspiel von allen Seiten,
das Gegeneinander zu einem Miteinander werden.
Indem die Jury der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers der szenischen Collage »Moschee DE«
den Kulturpreis der Landeskirche 2010 verleiht, würdigt sie mit hoher Anerkennung die Sensibilität und Intelligenz, mit der die Autoren das schwierige Thema der
Integration des Islam in Deutschland bearbeitet haben.
Sie dankt damit zugleich dem Schauspiel Hannover für
die Offenheit, mit der dort häufig elementare religiöse
Fragen (Beispiel: »Adams Äpfel« von Anders Thomas
Jensen) in Aufführungen zur Geltung kommen.
------------------------------------------------------»Moschee DE«: 22.12.*, 30.01.11, jeweils 20 Uhr, Cumberland­
sche Bühne; 28.01.11 Gastspiel in der Niedersächsischen
Landesvertretung in Berlin
------------------------------------------------------* 2:1 einmal zahlen und zu zweit ins Schauspiel gehen!
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»Eine moralische Anstalt? Sagt mir gar nix.« Mirko (34), Aktuar
Foto: Katrin Ribbe
06.07
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Szene aus »Moschee DE« mit Aljoscha Stadelmann als Konvertit und Sandro Tajouri als Imam (rechte Seite)
»Theater ist ein Rastplatz
der Reflexion«
Schauspielintendant Lars-Ole Walburg im Gespräch mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt
»Entscheidungen sind Verhandlungsresultate. Wir haben Ankläger und
Verteidiger und Richter in unserem Inneren.«
Lars-Ole Walburg Sie haben Schillers Text »Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet« erst jüngst
wieder zur Hand genommen. Wie empfinden Sie diesen
über 200 Jahre alten Text, wenn Sie ihn heute lesen?
------------------------------------------------------Oskar Negt Er ist sehr lehrreich und modern, weil er
die kulturell-gesellschaftliche Funktion des Theaters reflektiert: Was kann auf der Bühne gemacht werden?
Und natürlich ist diese Aussage über die moralische Anstalt bezogen auf die Emanzipationsmöglichkeiten des
Menschen. Die Bühne hat aufgrund der Unbegrenztheit
von Fantasie die Funktion, den Vorgriff zu riskieren, einen Zustand zu kennzeichnen und dramatisch zu entwickeln, den es in der Realität so nicht gibt. Da drin
steckt eben die utopische Funktion: das Freisetzen von
Fantasie und menschlichen Eigenschaften, bis hin zum
abgründig Bösen und Hässlichen. Es ist ja ein sehr kurzer Text, den man eigentlich auch im Zusammenhang
mit den »Ästhetischen Briefen« lesen muss, weil sehr
viel Kant darin aufgenommen ist: das Weltbürgertum
und die Weltbegriffe, die eigentlich das betreffen, was
alle angeht. Ja, ich finde den Text nach wie vor lesenswert.-------------------------------------------------------------------------------------------------------Walburg Schiller hat ihn ja vor der Kurfürstlichen Deutschen Gesellschaft als Vortrag gehalten. Man hat ein
bisschen das Gefühl, der Autor möchte sich hier seiner
eigenen Bedeutung rückversichern. Und gleichzeitig
blitzt da auch ein Anspruch von Fürstenerziehung auf,
also ein Appell an die Mächtigen im Umgang mit der
Bühnenkunst.-----------------------------------------------------------------------------------------------Negt Ja, ich bin absolut sicher, dass dieser Appell an
seinen Fürsten, an den Herzog, gerichtet ist. Ich meine,
Schiller ist nicht besonders gut behandelt worden,
wenn Goethe nicht dauernd gemahnt hätte, die Gelder
etwas zu erhöhen, wäre er vom Hof gar nicht wahrgenommen worden. Aber der Appell ist 1784 erschienen,
es ist ein vorrevolutionärer Text. Und Schillers vorrevolutionäre Texte haben alle die Tendenz von Ermahnungen: Wenn ihr euch nicht ändert, dann wird es eine
Revolution geben. Jedenfalls habe ich den Schiller dieser Zeit immer so gelesen. Es ist schon der Appell an die
bestehenden Herrschaftsstrukturen, sich zu reformieren,
und die Bühne hat eine große Bedeutung für diesen
menschlichen Emanzipationsprozess.------------------------------------------------------------------------
Walburg Schiller schreibt: »Wenn wir unsere Laster
auch vielleicht nicht bessern können, so werden wir
zumindest darüber aufgeklärt.« Man ist beim Lesen nicht
ganz sicher: Ist er tatsächlich überzeugt, dass das Theater in der Lage ist, den Menschen moralisch zu erheben, also wirklich besser zu machen? Aber er schreibt
hier zumindest, dass unsere Fehler und Makel eben
über das Theater emotional erfahrbar werden. Was
denken Sie über das Theater als moralische Anstalt?--------------------------------------------------------Negt Naja, das Brecht‘sche Theater will ja auf der einen
Seite immer die Verhältnisse richtigstellen, also die Verkehrtheit der Welt zurechtrücken, auf der anderen Seite
ist es natürlich auch in einem sehr penetranten Sinn
Lehrtheater. Wie aber kann eine moralische Anstalt
heute aussehen? Sie kann nicht mehr belehrend wirken
im Sinne der Moralisierung der Menschen. Das Theater
muss die Differenziertheit dieser Welt, auch in moralischer Hinsicht, sichtbar machen. Wie es bei Kant heißt:
Die Menschen werden nicht besser, die Moralisierung
ist nicht unter den Begriff des Fortschritts zu bringen.
Aber die objektive Vorkehrung, dass die Menschen weniger Zwistigkeiten haben, dass sie rechtlicher denken,
also in den äußeren Handlungen besser werden – davon geht Kant aus, und davon geht auch Schiller aus. Es
ist den Menschen möglich, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verändern, bis hin zu dem, was er
einen ästhetischen Staat nennt, in dem Lebensnot und
Spiel in einem versöhnenden Maßverhältnis zueinander
stehen; aber die Möglichkeit, aus einem charakterlich
niederträchtigen Menschen einen guten zu machen, das
hat, glaube ich, auch Schiller skeptisch betrachtet.----------------------------------------------------------Walburg Er beschreibt ja auch die Negativbeispiele, aus
denen wir viel eher bereit sind zu lernen als aus den
positiven, der Unterhaltungswert eines Verbrechens ist
natürlich höher, als der einer guten Tat. Das bringt mich
auf Ihr neues Buch, in dem Sie eine emotionale Bereitschaft beschreiben, überhaupt wieder politisch denken
zu wollen. Das Emotionale in diesem Bereich muss
überhaupt erst wieder ausgeprägt werden. Damit hat
die Bildung des Herzens und des Geistes bei Schiller ja
auch zu tun.------------------------------------------------------------------------------------------------Negt Ja, das ist ganz richtig. Und deshalb ist es mir
auch nie in den Sinn gekommen, in einem Buch mit
dem Titel: »Der politische Mensch« einfach Prädikate
des Menschen aufzuzählen, dem das Etikett »politisch«
angeheftet wird. Das ist ja nicht so einfach. Wie entsteht er, wie entwickelt er sich, welche Elemente von
Urteilskraft müssen mitbeteiligt sein, damit die Menschen aufmerken, was mit ihnen geschieht, in welcher
Welt sie leben? Ich versuche eben, diesen Strang der
Aufklärung weiterzuverfolgen. Es geht darum, die emotionalen Seiten, das Pathos, das Ethos und die Bestandteile der alten Rhetorik wiederzugewinnen, und das
wäre natürlich auch etwas für das Theater. Nirgendwo
sonst dürfen sich Emotionen so unverstellt ausdrücken.
------------------------------------------------------Walburg Sie beschreiben so etwas wie eine kulturelle
Öffentlichkeit, die innerhalb der Gesellschaft notwendig
ist, um einen Dialog überhaupt in Gang zu setzen. Mir
fällt dabei auf, dass Sie zwar sehr viel über Bildung
schreiben, Theater aber gar nicht vorkommt. Welche
Rolle spielt denn Theater in diesem Kontext für Sie?--------------------------------------------------------Negt Naja, das Theater gehört eigentlich auch in dieses
Kapitel Fünf: »Öffentliche Erfahrungsräume, kollektive
Erlebniszeiten – unverkäufliche Güter der Demokratie«.
Das Buch wurde ja gekürzt von über 1.100 Seiten im
Ursprungsmanuskript auf 600 Seiten, da ist das Theaterkapitel weggefallen. Unter dem Titel »Was wir vom
Theater lernen können« habe ich für das Schauspielhaus vor einigen Jahren einen Text verfasst, den ich
Ihnen in erweiterter Fassung zuschicken werde. Die ästhetische Fantasie hat in meiner Sicht der Dinge eine
prägende Bedeutung für das Lebensgefühl der Menschen und für Ihre emotionalen Bindungen. Vaclav Havel, der spätere tschechische Präsident, hat 1962 auf
dem Schriftstellerkongress gesagt: »Wenn ich die Fassaden Prags sehe, dann bin ich sicher, dass diese Lebensform des Sozialismus nicht haltbar ist.« Also, wer die
Umwelt ästhetisch ruiniert, die Dingwahrnehmung so
verkommen lässt, dass die Menschen sich darin nicht
wiedererkennen, dessen Ordnung muss zusammenbrechen. Und natürlich gehört die Freiheit des Theaters in
der Fantasieproduktion, in der Grenzüberschreitung
auch zu diesen Zusammenhängen, in denen die Menschen die Möglichkeit haben müssen, sich in dem, was
dargestellt ist oder wahrgenommen wird, wiederzuerkennen. Ein Element des Nichtentfremdeten gerade im
Bestätigen der Wahrnehmung des Fremden, des Entfremdeten.---------------------------------------------------------------------------------------------------
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------»Eine Institution, die sich um Werte wie Moral kümmert? Ich finde, die braucht es nicht, weil jeder selbst eine solche
Institution ist.« Klaus (59), Betriebswirt
Foto: Katrin Ribbe
08.09
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Walburg Sie gehen ja häufig ins Theater und in die
Oper. Stoßen Sie oft auf diese Momente?--------------------------------------------------------------------Negt Oper ist eine alte Liebe von Alexander Kluge und
mir, wir haben ja viel mit der Oper zu tun gehabt. Wissenschaft ist eine trockene Welt, empirische Wissenschaft sowieso. So ist meine Proklamation der Entwicklung soziologischer Fantasie zu verstehen – das bedeutet, wir müssen uns erlauben, die Dinge so zu wenden
und zu drehen, dass die verdeckten und unterschlagenen Potenziale besser sichtbar werden. Adornos Satz:
Wer nicht weiß, was über die Dinge hinausgeht, weiß
auch nicht, was sie sind – dieser Satz hat meine erkenntnistheoretische Sichtweise von der Welt maßgeblich geprägt. So geht es mir auch mit dem Begriff der
Utopie, als der Negation eines als unerträglich betrachteten Zustands mit dem Willen, mit der Entschlossenheit, diesen Zustand zu ändern. Theater ist im Grunde
für mich ein Rastplatz der Reflektion, der konstitutiv
notwendig ist für eine freie Gesellschaftsordnung. Für
freie Subjekte ist Theater einfach eine Lebensnotwendigkeit.-----------------------------------------------------------------------------------------------------Walburg Da fällt mir ein Satz von Ihnen ein, den ich
ganz toll finde: »Nur wenn wir uns der Vergangenheit
versichern, sind wir in der Lage, den Blick nach vorne
zu richten, eine Utopie des Alltagsgebrauchs zu entwickeln.« -----------------------------------------------------------------------------------------------------Negt Ja, und damit meine ich das Theater. Sie haben
mit »Parzival« und »Simplicissimus«, deren Aufführungen
ich mit höchster Zustimmung wahrgenommen habe,
gewissermaßen die deutsche Geschichte auf einer Ebene eingeholt, die offiziell eigentlich gar nicht existiert.
Für mich sind Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit wesentliche Freisetzungspotenziale von Zukunftsentwürfen. Ich glaube, dass der Energieverzehr
der Menschen so groß ist, weil er mit Verdrängungen
verknüpft ist, so dass ihre Entwurfsfantasie verloren
geht. Ich will es an meinen Gewerkschaftsdiskussionen
erläutern: »Soziologische Fantasie und exemplarisches
Lernen« war mein erstes Buch, in dem ich versuchte,
diese Fantasiepotenziale im Zusammenhang der Arbeiterbildung zu entwickeln. Die Lust, ein anderes Leben
zu fantasieren, aber auch eine andere Gesellschaft zu
entwerfen, ist verknüpft mit der Freisetzung von Triebenergie. Der schlimmste Verzehr von Energien besteht
-----------------------------------------------
Oskar Negt
»die neue Spielzeit in Hannover?«
Julian (24), Student
darin, es in diesem Zustand auszuhalten. Bei diesen Gewerkschaftsdiskussionen stoße ich immer wieder darauf. Jedesmal meldet sich einer und sagt, du kannst dir
ja gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, nichts mehr
über die Mandatserweiterungen der Gewerkschaften
hören zu müssen, wenn ich abends nach Hause komme.
Wir kommen gerade so über den Tag mit unseren Energien. Dann sage ich, das ist ja mein Argument, ihr
kommt über den Tag und verbraucht alle Fantasie, um
etwas auszuhalten. Aber dass Fantasien für die Veränderung der Verhältnisse verfügbar sein könnten, wenn
sie nicht von dieser Verdrängungsarbeit abgezogen
würden, das seht ihr nicht. Das betrifft nicht nur die
Gewerkschaften, sondern auch die Jammerei der Lehrer
in Schulen. Sie haben das Gefühl, man müsste was machen, sie tun es aber nicht. Dadurch igeln sie sich in
einem Zustand ein, in dem die Klage über die schlechten Verhältnisse ihre ganze Fantasie besetzt und verbraucht. Mehr haben sie nicht. Und gegen das Niederlassen und Einrichten in unerträgliche (jedenfalls sub­
jektiv so empfundene) Verhältnisse rebelliere ich.-----------------------------------------------------------Walburg Um nochmal auf die moralische Anstalt zurückzukommen: Warum hat Moral heutzutage eine fast
negative Konnotation, Ethik aber nicht? Es gibt immer
Ethikkommissionen, wenn irgendetwas anbrennt innerhalb der Gesellschaft, aber Moral hat schon fast einen negativen Beigeschmack.- -----------------------------------------------------------------------------Negt Es gibt moralphilosophische Vorlesungen von
Ador­no, in denen er freier mit dem Gedanken umgegangen ist. Das gilt auch für Kant zum Beispiel, und das gilt
auch für mich, dass man in den sprechenden Veranstaltungen frei ist. Ethos ist ja aus griechischem Ursprung
verknüpft mit etablierten Haltungen und Einstellungen
der Menschen, Ethik ist doch eher konventionell, und
Adorno plädiert eben für den Begriff der Moral, weil er
die Unbedingtheit des Willens enthält. Es sind andere
Ansprüche an den Menschen, Selbstverpflichtungen,
die wenig Kompromisse zulassen.--------------------------------------------------------------------------Walburg Welche Ansprüche meinen Sie?-------------------------------------------------------------------Negt Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit allgemeines Gesetz werden kann. Das ist das
Grundprinzip der Moralphilosophie. Eine konkretere
Form des Kategorischen Imperativs lautet: Handle so,
dass du den anderen Menschen nie bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Selbstzweck nimmst. Wenn
man den moralischen Rigorismus Kants in den Alltag
übersetzt, sind es ganz andere Anforderungen, als zu
sagen: Ethos besteht in einer ausgeglichenen integrierten Situation meines Lebens in der Gemeinschaft.
Das heißt, die Kompromissfähigkeit der Ethik ist viel
größer als die Kompromissfähigkeit der Moral.--------------------------------------------------------------Walburg Das beantwortet meine Frage aber noch nicht.
Warum ist denn Moral – wenn Sie es so beschreiben,
klingt es ja eher positiv – so in Verruf gekommen?----------------------------------------------------------Negt Die Moralisierung des Politischen, also die Aufteilung der Welt in Gut und Böse (die berüchtigte »Achse
des Bösen«) könnte dazu beigetragen haben, die Moral
zu diskreditieren. Dann überwuchern Gesinnungsfragen
natürlich alles andere. Ein Politiker, sagt Max Weber,
muss kein guter Mensch sein. Er muss Verantwortung
übernehmen für sein Handeln und sein Nichthandeln.
Innerhalb der Gesinnungsethik gilt etwas anderes. Da
muss die Qualität der Handlungsmotive in Ordnung sein.
Das muss durchaus nicht für einen Politiker so sein.
Wenn ich eine Antwort auf Ihre Frage geben sollte,
dann enthält die Moral Anforderungen an den Menschen, die eben mehr bedeuten, als bloße Verantwortung für Handlungen zu übernehmen – nämlich die Motive. Schiller, der sich hartnäckig an Kant abgearbeitet
hat, hat sich im übrigen ja über diesen moralischen Rigorismus lustig gemacht. Es gibt den Vers, ich glaube in
den Xenien: »Gern hülf ich den Freunden, doch tu ich es
leider aus Neigung und so wurmt es mir oft, dass ich
nicht tugendhaft sei.« Das ist ein schöner Satz. Sobald
Neigung im Spiel ist, ist für Kant die moralische Qualität
des guten Willens in Frage gestellt. Aber das ist wahrscheinlich immer noch nicht die richtige Antwort auf
Ihre Frage.--------------------------------------------------------------------------------------------------Walburg Naja, es klingt durch, dass die Ethik einen
doch stärker in Ruhe lässt, als es eine Forderung, die
aus einer moralischen Verhaltensweise kommt, vermag.
------------------------------------------------------Negt So kann man es sagen. Warum herrschen zum
Beispiel in Afrika südlich der Sahara die schlimmsten
Zustände der Weltgeschichte? Der ganze Kontinent
südlich der Sahara ist abgekoppelt vom Weltmarkt, und
trotzdem wird viel Geld reingesteckt. Die Friedensmissi-
onen dort fassen sieben bis acht Milliarden im Jahr.
Wenn es nur um das Geld ginge, das da reingesteckt
wird in Spenden und europäisch-amerikanischen Hilfsleistungen der Staaten, dann müsste das ein blühender
Kontinent sein. Ist es aber nicht, weil Investitionen im
Grunde nur um die Rohstoffquellen stattfinden, und
zwar in allen diesen Ländern, die sehr rohstoffreich
sind. Das heißt, die Motive sind so, da zu investieren,
dass das den Menschen überhaupt nicht zugute kommt.
Der gute Wille reicht nicht aus; die Hilfsleistungen sind
nicht vom Prinzip der Verantwortung angeleitet.------------------------------------------------------------Walburg Auf jeden Fall nicht nachhaltig. Ich möchte
noch einmal kurz auf das Moralische kommen. Sie zitieren in Ihrem Buch auch eine Maxime von Goethe: »Der
Handelnde ist immer gewissenlos.« Man hört raus, dass
Sie dem misstrauen, dass Sie nicht der gleichen Meinung sind wie Goethe. Warum nicht?-----------------------------------------------------------------------Negt Weil diese Aussage »Der Handelnde ist immer gewissenlos« ein Problem zuspitzt, aber die Komplexität
der Handelnden nicht in den Handlungszusammenhang
einbezieht. Die Gewissenlosigkeit kann man in Zusammenhängen, die mit Handlungen verknüpft sind, nicht
als ein zureichendes Motiv für Handlungen annehmen.
Sondern man muss es wirklich so sehen, wie es Kant
gesehen hat: »Betrachten wir das Gewissen einmal als
inneren Gerichtshof.« Das ist nicht einfach eine Naturqualität des einzelnen Menschen, sondern Entscheidungen sind Verhandlungsresultate. Wir haben Ankläger und Verteidiger und Richter in unserem Inneren.--------------------------------------------------------Walburg Das ist ein schönes Bild. Diese Ingredenzien in
uns sind ja vielleicht dann die Voraussetzung für das
moralische Verhalten des Einzelnen?-----------------------------------------------------------------------Negt So sehe ich das. Nehmen Sie das Gewissen: Im
Altgriechischen heißt Gewissen Syneidesis. Das bedeutet, da ist immer jemand, der zusieht, zusammen sehen.
Jedenfalls ein Blick von oben. Und im Lateinischen heißt
es conscientia, wir haben immer Mitwisser. Was immer
wir entscheiden, es wird mit dem Gewissen verknüpft
werden. Aber diese Vorstellung von Gewissen, dass eigentlich immer einer oder mehrere dabei sind bei diesen Entscheidungen, bedeutet, dass Gewissensentscheidungen nie völlig isolierte subjektive Entscheidungen
sind; das Innere des Menschen ist dabei im Spiel, ge-
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------»Moral ist klar, aber Anstalt? Ich könnte mir höchstens vorstellen, dass es sich vielleicht um ein Theaterstück
handelt.« Peter (51), Angestellter im öffentlichen Dienst
10.11
10
wiss. Aber in letzter Instanz wissen wir nicht, wann und
wie der Richter im Innern sagt, das mache ich oder das
mache ich nicht. Freud würde sagen, da funktioniert
das Über-Ich. Aber das Über-Ich ist ja für Freud, so würde Kant sagen, praktisch eine empirische Instanz. Also,
dein Vater hat schon so entschieden und übrigens, der
erwartet das von dir, demzufolge entscheide ich das.
Sehr vereinfacht ausgedrückt. Das wäre für Kant eine
empirische Zufälligkeit, während für ihn die Moralität
gleichsam eine erfahrungsunabhängige, das heißt:
transzendentale Gegebenheit ist.---------------------------------------------------------------------------Walburg Glauben Sie daran, dass diese Gewissensbildung, aber auch vielleicht die Bildung von Moral tatsächlich vom Theater ausgehen kann? Es heißt ja zum
Beispiel, im Theater wird keine Revolution gemacht.
Welche Bedeutung können dann Theaterabende überhaupt für diese Vorgänge haben?---------------------------------------------------------------------------Negt Das stimmt ja auch gar nicht. Vom Theater gehen
häufig Impulse aus, gerade vom guten Theater, die kollektive Einstellungen verändern. Ich glaube, das Theater ist ein entscheidender Rastplatz der Reflexion und
der Ausdrucksmöglichkeiten der Gefühle der Menschen;
vielleicht nicht unbedingt eine Einrichtung der Besserung, der Zivilisierung, aber die Menschen werden mit
den eigenen Gefühlen konfrontiert, sie werden sichtbar
gemacht in einer kollektiveren Form, als das anderswo
passieren könnte. Natürlich werden starke Gefühle angeregt, wenn eine Bergwerkskatastrophe wie die in
Chile stattfindet, auch Gefühle der Hilfe, der Fürsorge,
der Schuldzuweisungen. Aber die Komplexität der Gefühle, also Angst, Zorn, Neid, wurde wirklich in den
griechischen Tragödien so gesehen, dass demokratische
Gesellschaftsstrukturen nur existieren können, wenn
die Gefühle ihren öffentlichen Ausdruck haben. Wenn
sie privat verkapselt bleiben, sind sie gefährlich, jedenfalls für eine Gesellschaft freier Bürger. Dann ist derjenige, der kollektive Gefühle privatisiert, für das Gemeinwesen ein potenzieller Rebell. Und deshalb ist es notwendig, die Waffen für einen Tag oder zwei ruhen zu
lassen, damit die Reflexionsruhe des dramatischen Geschehens nicht gestört wird, damit wirklich Ödipus oder
Antigone ihre Gefühle komplett ausdrücken können, bis
zum Selbstopfer. Ein bisschen hatte ich im übrigen bei
dem Stück von Koltès...--------------------------------------------------------------------------------------
Walburg ...»Kampf des Negers und der Hunde«...------------------------------------------------------------Negt ...ja, dieses Antigone-Motiv im Kopf. Ich meine, es
geht einfach darum, dass der Ermordete nach den Ritualen der Schwarzen angemessen beerdigt wird. Und
die Verweigerung der Leiche bedeutet eine Verneinung
oder Achtungslosigkeit gegenüber ihren Gepflogenheiten und Sitten.- -----------------------------------------------------------------------------------------Walburg Es ist genauso wie bei »Antigone« das althergebrachte Recht, und so beschreibt Koltès auch, wie die
Mutter die Nacht durchschreit, solange ihr Sohn nicht
unter der Erde ist. Hier bestimmt noch das Matriarchat,
und dagegen tritt dann das Patriarchalische als neue
Kraft auf, das ist dann Kreon als der Staat oder das Geld
in Form einer französischen Baustelle bei Koltès.------------------------------------------------------------Negt Ah ja, sehen Sie das auch so. -------------------------------------------------------------------------Walburg Ja, es ist das gleiche Recht, das gefordert
wird.-------------------------------------------------------------------------------------------------------Negt Das Recht des Grabes und der Beerdigung, das
Naturrecht also gegenüber dem, was die Herrschaftskriege anrichten auf allen Ebenen, auf der Baustellenebene genauso wie anderswo.------------------------------------------------------------------------------Walburg Ich habe Ihnen im Zusammenhang mit der
moralisch-gesellschaftlichen Verantwortung des Theaters davon erzählt, dass einzelne CDU-Landtagsabgeordnete gerade unser Projekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert« attackieren. Ich kriege natürlich
auch Briefe von Abonnenten, die fragen, warum wir so
viel politisches Zeug machen und nicht einfach nur
Theater spielen. Was würden Sie darauf antworten?--------------------------------------------------------Negt Dass Politik nicht mehr so einfach als isolierte Materie betrachtet werden kann. Es ist nachweisbar, dass
wir alltäglich in politische Zusammenhänge einbezogen
sind, ob wir wollen oder nicht. Die Ghettoisierung des
Politischen, die Vorstellung von Politik als Sonderforschungsbereich, mit dem sich nur Politiker beschäfti­
gen – das geht nicht mehr. Das sieht man an allen
Ecken und Enden unserer Gesellschaft, das sieht man
an Stuttgart 21 und an Gorleben oder der Asse. Wer
dann sagt, das ist was Unpolitisches, das ist ein Sachbereich, der Sachbereich Gorleben, der überhebt sich in
seinem Politikverständnis und versucht die Bevölkerung
aus entscheidenden Fragen herauszuhalten. Das sind
Fragen mit politischen Folgen, mit Gemeinwesen-Folgen, die unsere gemeinschaftlichen Lebensgrundlagen
zentral berühren. Und wer da als Privatmann sagt, das
gehört nicht zu meinen Überlegungen, das gehört nicht
zu meinem Gemeinwesen, der wird am Ende selbst Opfer eben dieses Gemeinwesens, wenn es verrottet und
kaputt gerissen ist. Ich habe in anderen Zusammenhängen in Bezug auf Bildung gesagt: »Alle Bildung ist politische Bildung«, aber nicht im Sinne parteipolitischer
Verengung. Wenn man den Begriff des Politischen so
eng fasst, dass man sagt, da gibt es Politik, da gibt es
eine Ingenieurswissenschaft, und dann gibt es einen
Sachbereich Radioaktivität, dann bezeichnet es ja im
Grunde, dass man überhaupt gar keine Vorstellung von
der gegenwärtigen Welt hat. Und das zu bekämpfen, ist,
glaube ich, sehr legitim. Und auch Wesensbestandteil
des modernen Theaters.------------------------------------------------------------------------------------Walburg Haben Sie vielen Dank. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------»Parzival«: 15. (Wiederaufnahme) und 22.01.11, jeweils 19:30
Uhr, Schauspielhaus
------------------------------------------------------»Kampf des Negers und der Hunde«: 23.12. und 09.01.11,
jeweils 20 Uhr, Cumberlandsche Bühne
------------------------------------------------------Oskar Negt: Der politische Mensch – Demokratie als Lebensform,
Steidl Verlag, Göttingen 2010, 29 €.
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------»Ich möchte meinen, dass es eine Art Anstalt ist, wie man sich eine Psychiatrie vorstellt – nur für Leute, die von der
staatlich vorgeschriebenen Moral abweichen.« Henrik (22), Gamedesigner
Dreams reloaded
Ein rückblick auf das Projekt »Republik freies wendland –
reaktiviert«
Von aljoscha begrich, fotos: katrin ribbe, Aljoscha Begrich
»Rats-CDU: Hüttendorf muss weg!« Hannoversche Allgemeine
»Noch geht es ziemlich unauffällig zu im mit öffentlichen Mitteln geförderten
Ausbildungslager für zivilen Ungehorsam.« nachtkritik.de
»Die Politisierung der Jugend ist wichtig, aber das ist wohl kaum Aufgabe eines
Theaters.« Presseerklärung von Dirk Toepffer, CDU Niedersachsen
schulklassen besuchten die ver­
anstaltungen der republik eben­
so wie politisch aktive jugendli­
che, bürgerliche intellektuelle,
kinder, nachbarn und politiker.
Das Theaterprojekt »Republik Freies Wendland – Reaktiviert« wurde vom 17. bis 26.
September auf dem Ballhofplatz durchgeführt. 50 junge und 25 nicht mehr ganz so
junge Menschen lebten hier mitten im Herzen Hannovers neun Tage lang eine utopische Republik. Anfangs versammelten sich nur wenige auf dem leeren Platz und
begannen damit, ein paar Holzlatten zusammenzubauen, doch mit jeder Minute nahm
die »Republik« mehr Gestalt an, und täglich stießen neue Leute zu. Tagsüber kamen
Nachbarn und Schulklassen vorbei, um sich den neuen Freistaat anzugucken, und an
den Abenden nahmen über 2.000 Besucher an den Veranstaltungen teil – vom Ton
Steine Scherben-Eröffnungskonzert bis zur Abschlußdiskussion mit Oskar Negt.
------------------------------------------------------------------------------------Die Dorfbewohner bauten hier zusammen Puppen für das Straßentheater von Bread &
Puppet, kletterten auf Bäume oder begrünten angrenzende Baumscheiben, hörten
Vorträge, führten Theaterstücke und Konzerte auf, diskutierten, aßen und schliefen –
kurzum lebten dort. Doch gleichzeitig agierten sie die ganze Zeit auf einer Bühne: Sie
wurden von Besuchern und Journalisten bei ihrem Tun beobachtet. Innerhalb dieser
grundlegenden theatralen Situation konnte das Theater seine Kraft entfalten, denn
nur in dieser künstlich errichteten »Republik« war es möglich, dass ganz gewöhnliche
Elftklässler, streng dogmatische Jungaktivisten, liberale Althippies und Theaterfreaks
eine Woche lang solidarisch zusammenleben konnten. Und nur dieses Theaterdorf
ermöglichte es, die Fragen zur Atomkraft und nach unseren gesellschaftlichen Lebensentwürfen über Partei- und Gruppengrenzen hinweg in die Mitte der Gesellschaft zu tragen und ein heterogenes Publikum zu erreichen. Schulklassen besuchten
die Veranstaltungen in der Republik ebenso wie politisch aktive Jugendliche, bürgerliche Intellektuelle, Kinder, Nachbarn und Politiker.
------------------------------------------------------------------------------------Die reaktivierte »Republik Freies Wendland«
war eine gelebte Utopie, bei der jeder sehen konnte, welche Möglichkeiten die Demokratie bietet und was gesellschaftspoliti­
sches Engagement bedeuten kann. Es gab
Kritik und Aufregung um die Aktion, aber
auch Hannoveraner, die Essen, alte Bilder
und Plakate vorbeibrachten, Anwohner
und Polizeibeamte, die ihre Solidarität
bekundeten.
----------------------------------------Das Dorf wuchs über sich hinaus. Auch
wer nur kurz in der »Republik Freies
Wendland« war, wird sie wohl nie wieder vergessen, denn auch wenn auf
dem Ballhofplatz längst wieder der
Weihnachtsmarkt die Szene bestimmt,
lebt der Freistaat in den Köpfen und
Herzen vieler für immer fort: »Turm
und Dorf könnt ihr zerstören, nicht
aber die Kraft, die es schuf!« --------
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Theater! Jedenfalls hat es den Anspruch und möchte ab und zu Moralische Anstalt sein.« Hans-Peter (67), Rentner
12.13
12
»Wenn das Theater ein Hüttendorf bauen will, dann muss es sich die Freiheit
dafür nicht nehmen. Die hat es schon.«
Ronald Meyer-Arlt, Hannoversche Allgemeine
»Ja, ja. Die Jugend.« taz
»Da werden Jugendliche verführt, sich in die falsche Richtung zu engagieren.«
Nils Tilsen, FDP Hannover
»So ist das mit der moralischen Anstalt: Man spürt, wann sie wehtut.«
Evelyn Beyer, Neue Presse
»Anti-Atom-Dorf spaltet die Stadt« Bild-Zeitung
»Die Kunst kam in Hannover bei so viel Erinnerung nicht zu kurz.«
Deutschlandradio Kultur
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»Klingt ja furchtbar. Früher waren das Erziehungsheime für Töchter.« Angelika (57), Lehrerin
Foto: Katrin Ribbe
»Republik Freies Wendland – Reaktiviert«, Ballhofplatz Hannover (September 2010)
14.15
14
»Der Roboter wird zum Gefährten«
Die technikphilosophin jutta weber über tendenzen der sozialen robotik und die normierung unseres miteinanders
interview: judith gerstenberg
»muss es bei der lösung gesellschaftlicher probleme immer ein a priori
der technischen lösung geben?«
Freude
Ekel
Angst
wut
ekel
angst
Der Großmeister des britischen Humors, Alan Ayckbourn, entwarf 1987 in seiner Science-Fiction-Komödie
»Ab jetzt« eine imaginäre Zukunft, in der sich ein Dienstleistungsroboter als Spiegel unserer Verfasstheit erweist. Seit 20. November läuft das Stück auf der Cumberlandschen Bühne. Ein Gespräch mit der Philosophin
und Technikforscherin Jutta Weber über Geschichte,
Wunsch und Wirklichkeit gegenwärtiger Roboterträume.
------------------------------------------------------Frau Weber, Sie sind Technikphilosophin und -forscherin mit besonderem Schwerpunkt »Robotertechnik«. Womit genau beschäftigen Sie sich?___
Jutta Weber Ich führe Gespräche mit Robotikern,
gehe ins Labor, um zu prüfen, wie der Stand der Forschung tatsächlich ist. Der ist meist weit unter dem, was
in die Öffentlichkeit getragen wird, sei es durch Clips
auf Webseiten oder Fernsehberichte. Das, was dort in
einem Zwei-Minuten-Ausschnitt präsentiert wird, erfordert monatelange Arbeit. Noch gibt es massive, einfachste Fehlerquellen, die die Nutzungsmöglichkeiten
von Robotern im Alltag sehr in Frage stellen. Auf Kongressen der traditionellen Technikphilosopie wird zu
häufig die Frage erörtert: Was passiert, wenn die Maschine intelligent wird? Ich kann nur sagen: Wir müssen uns darum keine Sorgen machen. Auch seriöse Robotiker geben dies zu, wenn sie nicht gerade vor einer
Fernsehkamera stehen. Außerdem betrachte ich die Geschichte der Technik, schaue, wo es Wendepunkte gab,
an welcher Stelle die Forschung nicht weiterkam, wann
und wohin sie ihr Interesse verlagerte. Früher, beispielsweise, haben sich Techniker nur für Maschinen
mit rational-kognitiven Fähigkeiten interessiert. Seit einiger Zeit findet aber eine verstärkte Entwicklung hin
zu so genannten sozialen, vermenschlichten und teilweise vergeschlechtlichten Artefakten statt. Die so genannte »Soziale Robotik« konzipiert die Maschine als
Gefährten des Menschen in verschiedenen Rollen: als
Altenpfleger, Therapeut, Kinderbetreuer, Haushaltshilfe,
Kuschelersatz bis hin zum Liebesobjekt.----------------
Ein solcher Dienstleistungsroboter, genannt GOU
300F, spielt auch in der Science-Fiction-Komödie
»Ab jetzt« von Alan Ayckbourn eine Rolle. Die Situationskomik entsteht durch eine fehlerhafte Software und den Versuch der Hauptfigur, die als Kindermädchen programmierte Maschine in seine Lebenspartnerin zu verwandeln. Das Stück entstand
1987. Viele der dort entworfenen Zukunftsvisionen
wie Vollverkabelung, Überwachungstechnik, Bildtelefon etc. haben wir längst eingeholt. Die Idee
von GOU 300F aber nicht. Dennoch wirkt sie auf
mich wie ein längst überholter Traum der ScienceFiction-Literatur. Welches Menschenbild steht hinter der Idee der Sozialen Robotik? Das einer sich
selbst steuernden Mechanik ist doch eines des 18.
Jahrhunderts.___Weber Das mechanistische Bild ist
in den Techno-Wissenschaften durchaus noch dominierend. Der Großteil der Robotik wird von Informatikern
und Ingenieuren bestückt (ich wähle hier bewusst die
männliche Form). Ihr Denken ist auf eine bestimmte
Weise trainiert, und sie haben nun mal die Aufgabenstellung, bestimmte Konzepte auf Maschinen zu
übertragen. Dafür müssen sie diese Konzepte in Algorithmen umsetzen. Ganz schnell wird klar, was umsetzbar ist und was nicht. Die ganze Geschichte der Künstlichen Intelligenz und Robotik lässt sich letztlich als einen
permanent weiterentwickelten Versuch beschreiben,
herauszufinden, was sich in Algorithmen umsetzen lässt.
Von der Mitte des 20. Jahrhundert bis in die 1980er
Jahre hinein hatte man ein emphatisches Konzept von
Intelligenz als Repräsentation von Welt. Welt wurde als
logisch geordnet begriffen. Aus diesem Ansatz hat sich
der Schachcomputer entwickelt, der einen ganz rationalen, kognitiven Zugang zur Welt widerspiegelt. Man
hat in einigen Bereichen damit sehr gute Erfahrungen
gemacht, nämlich dort, wo genau diese Fähigkeiten gefragt sind: beim Rechnen – der Computer rechnet
schneller als der Mensch –, aber andere, simpelste Tätigkeiten wie Treppensteigen, Trompete spielen, mit
den Hüften wackeln konnten diese Maschinen noch
nicht. In den 80er Jahren gab es da tatsächlich eine
Wende: »Interaktion« wurde die Leitmetapher – insofern passt die Entstehungszeit des Stückes genau.----------------------------------------------------------Die Soziale Robotik bemüht sich um eine Vermenschlichung der Maschine, um emotionale Reaktionen, Spontaneität, Unvorhersehbarkeit. Das heißt
doch, sie versucht eigentlich genau, die möglichen
Fehlerquellen des Menschen auf den Roboter zu
übertragen. Ist das lediglich eine sportive Herausforderung, weil das bislang noch nicht gelang, oder
gibt es noch andere Gründe?___Weber Ingenieure
sind sehr findig im Hinblick auf die so genannten hot
spots der Gesellschaft – es geht schließlich auch um
Forschungsgelder. Ich möchte gar nicht bezweifeln,
dass sich auch Imaginationen und Wünsche ändern,
aber wichtig scheint mir: Mit dem alten Ansatz konnte
man bestimmte Tätigkeiten rationalisieren – Stichwort
»Automobilfabrik«, wo man aber bald an Grenzen gestoßen ist, weil es doch noch weite Bereiche gab, die sich
nicht automatisieren ließen. Das hat man lange auf sich
beruhen lassen, aber neulich präsentierte VW ein Konzept von Co-botics, die den nun zunehmend älter werdenden Arbeitnehmern bei der Ausführung ihrer Arbeit
helfen sollen. Ob das die wahre Motivation ist? Wahrscheinlicher scheint mir, dass wir uns der nächsten
großen Welle der Rationalisierung gegenübersehen.
Nur, darüber spricht man nicht gerne – und schon gar
nicht auf Arbeitgeberseite. Das in meinen Augen etwas
zu hoch gekochte Thema der Überalterung ist ein solcher hot spot. Daher die Forschung an den Pflegerobotern, die den Altenpflegern angeblich die monotonen
Tätigkeiten abnehmen sollen, damit diese sich wieder
mehr dem Zwischenmenschlichen widmen können. Ich
denke, viele Ingenieure nutzen diese gesellschaftlichen
Problemfelder, um Lösungsvorschläge durch Automatisierung zu suggerieren; der Markt dafür wächst an. Ob
sich die Ingenieure tatsächlich so sehr um die Pflege
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Das ist ein Begriff, den es heute nicht mehr gibt.« Anonym
16.17
16
Wut
Traurigkeit
Überraschung
Freude
Traurigkeit
Überraschung
hilfloser Menschen sorgen oder darin einen guten Anlass sehen, unter anderer Überschrift weiter an der Verfeinerung von Sensoren, Aktoren etc. zu arbeiten, stelle
ich dahin. In dieser Diskussion wird jedenfalls versäumt
zurückzufragen, ob es bei der Lösung gesellschaftlicher
Probleme immer ein a priori der technischen Lösung geben muss. Sicher haben manche Robotiker wirklich den
Traum vom Gegenüber. So hat Hiroshi Ishiguro erstaunliche »Kopien« von konkreten Menschen gebaut. Sein
erstes Modell war seine fünfjährige Tochter. Zuletzt
baute er sich selbst nach. Und tatsächlich: Während die
Konstruktion einer menschenähnlichen Wahrnehmung
noch Zukunftsmusik ist, sind die äußere Gestaltung und
die Mikrobewegungen der von einem externen Rechner
gesteuerten Androiden schon so gut, dass sie teilweise
die Illusion von einem echten Menschen erzeugen. Zumindest fiel vielen vor allem älteren Probanden die Unterscheidung zwischen dem Original und der Kopie auf
den ersten Augenschein schwer.---------------------------------------------------------------------------Der kopierte Mensch war schon immer eine Angstgestalt in der Literatur oder im Film. Warum aber
versucht man gerade das zu kreieren, was die Maschine schwächt? Ihr Vorteil gegenüber dem Menschen besteht doch gerade in ihrer Berechenbarkeit, Emotionslosigkeit, ihrer Unabhängigkeit von
Stimmungen. Ist das tatsächlich der alte Traum,
Schöpfer zu sein?___Weber Es wurden seit den
1980er Jahren neue Ansätze des Programmierens wie
etwa genetische Algorithmen entwickelt, mit denen
man hoffte, autonomes Verhalten zu erzeugen. Der Roboter soll zum Teil wieder das unbekannte, aber auch
kreative Wesen werden. Es gibt sogar bereits Diskussionen unter Robotikern und Philosophen, ob es nicht
bald eine Ethik für den Umgang mit Maschinen bräuchte,
da diese dann ja auch Vergleichbares wie Gefühle und
eine Psyche entwickelten. Hier geht es dann nicht um
die Krankenpflege- oder Therapieroboter, sondern eher
um den Compagnion, den Robotergefährten. Beim Ge-
fährten schwingt ja das Versprechen mit, man könne
ihn erziehen. Aber begrenzte Konditionierung ist keine
Erziehung, und ein Roboter kann seine ursprüngliche
Programmierung nicht überschreiten. ----------------------------------------------------------------------Reagiert die Entwicklung der Sozialen Robotik auf
die Vereinsamung der Gesellschaft?___Weber: In
Japan wurde PARO entwickelt, ein Kuschelroboter, der
in Altenpflegeheimen eingesetzt wird, auch bereits in
einem hier im Norden Hannovers. Er sieht aus wie ein
Seehundbaby, ist schon für 1.000 Euro zu erwerben
und ist pflegeleichter als ein echtes Tier. Er besitzt
Lichtsensoren, taktile Sensoren und kann Geräusche lokalisieren sowie rudimentär Sprache erkennen. Er reagiert auf Berührungen und gibt zugleich Heultöne von
sich. Sein Einsatz hat laut seinem Entwickler therapeutischen Erfolg gezeigt: Die alten Leute hätten ein Gesprächsthema gehabt und seien beschäftigt gewesen.
Allerdings wurde diese Studie von dem Entwickler des
Roboters selbst angestellt – in einem Heim, dessen
Stimmung er als sehr gedrückt beschrieb, in dem keine
Kommunikation mehr stattfand und ein burn out des
Pflegepersonals vorlag. Da lassen sich solche Erfolge
natürlich relativ leicht erzielen.-----------------------------------------------------------------------------In den 60er Jahren entwickelte Joseph Weizenbaum
ein Computerprogramm mit dem Namen ELIZA, das
psychotherapeutische Gespräche führte und zwar
durch den einfachen Trick, bestimmte Schlüsselworte zu erkennen und als Frage zurückzuspielen.
Zum Erschrecken des Erfinders, der daraufhin ein
vehementer Gesellschafts- und Technikkritiker wurde, hatte das Programm großen Erfolg.___Weber
Das Phänomen ELIZA stellt uns die Frage, wie unsere
menschlichen Beziehungen verfasst sind, dass so ein
Programm überhaupt greifen kann. Sie müssen schon
auf eine Art normiert sein, damit wir solch ein Programm
überhaupt interessant finden. Das gleiche kann man
bezüglich der Pflegerobotik sagen. Man konnte es ja
überall in den Zeitungen lesen: Die Krankenkassen zahlen einen bestimmten Satz, der genau festlegt, wie viel
Zeit dem Pflegepersonal fürs Bettenmachen, Rückenwaschen, Haare kämmen, das Gespräch bleibt. Jede emotionale Zuwendung ist eine Dienstleistung und kann
abgerechnet werden. Da findet bereits die Standardisierung und Automatisierung statt. Die Maschine kann
erst da greifen, wo dieses Denken bereits bestimmend
ist. Umgekehrt: Wenn der Roboter da ist, zum Beispiel in
der Kinderbetreuung bzw. -bespaßung, hat das auch
rückwirkend Folgen: vom Verhalten Mensch-Maschine
auf das Verhalten Mensch-Mensch. Um dem Roboter
Lebendigkeit zu verleihen, implementiert man ihm
sechs Basisemotionen – Ärger, Ekel, Furcht, Freude,
Trauer und Überraschung. Das ist zwar ein vereinfachtes
Schema, aber bei der Modellierung von sozialem Verhalten werden statische Modelle bevorzugt, da stereotype Kommunikationsmuster leichter in Roboter zu implementieren sind. Die Kommunikation ist mühsam, da
der Roboter nur eindeutige Gesichtsausdrücke lesen
kann, d. h. das Kind wird stereotyp immer wieder die
gleichen Grimassen schneiden, um mit dem Computer
zu kommunizieren. Das ist vergleichbar mit den frühen
Übersetzungsprogrammen, wo man die Sekretärinnen
anwies, nur ganz einfache, nicht doppeldeutige Formulierungen zu wählen, damit das Programm die Sätze
klar erkennen kann. Wir stellen unser Verhalten auf die
Maschinen ab, damit eine Kommunikation möglich wird,
aber entscheidender ist die Erkenntnis, dass es bereits
eine Gleichförmigkeit und Normierung unseres Miteinanders gibt, die durch den Roboter sichtbar wird.
+++++++++++++++++++++++++++++++++++
Jutta Weber ist Philosophin, Technikforscherin und Medientheoretikerin. Aktuell lehrt sie
als Gastprofessorin am Zentrum für Gender
Studies der TU Braunschweig.
--------------------------------------------------------------------------»Ab jetzt«: 10., 31.12. und 07.01., jeweils 20 Uhr, Cumber­
landsche Bühne
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Oh Gott, moralische Anstalt!? Dafür ist es zu spät.« Franziska (29), Juristin
Foto: Katrin Ribbe
Brot, Blut und Torfboden –
die Affäre von Tiszaeszlár
Im Dezember läuft der zweite Vorstellungsblock von Kornél Mundruczós Inszenierung »Eszter Solymosi von Tiszaeszlár«. Es ist die Geschichte einer verstörenden Anklage, basierend auf einem historischen Fall des ausgehenden 19.
Jahrhunderts. Der Bericht eines Zuschauers
Von David Kolosska
Der Geist der Aufklärung hat in Tiszaeszlár, dem ungarischen Dorf an der Theiß, keinen Fuß fassen können.
Knöcheltief stecken die Dorfbewohner fest im Morast
moralischen Versagens. Nachdem ein christliches Bauernmädchen spurlos verschwunden ist, bestimmen Verzweiflung, Feindseligkeit, Machthunger und rohe Gewalt die Gemeinschaft von Ungarn und Juden. Der
anschließende Ritualmordprozess gegen die verdächtigten Juden bereitete den Boden für antisemitische
Ausschreitungen, die Ende des 19. Jahrhunderts ganz
Ungarn erfassten. ------------------------------------Mein Besuch der Uraufführung des Theaterstücks »Eszter
Solymosi von Tiszaeszlár« liegt nun schon einige Wochen zurück, die dargestellten Ereignisse rund um die
verschwundene Dienstmagd beschäftigen mich seitdem. Die Frage nach der Relevanz des Themas ließe
sich mit der Deutung der Ereignisse als Aufflammen
eines bereits schwelenden Antisemitismus beantworten. Die hyperrealistische Inszenierung von Kornel
Mundruczó könnte somit als Darstellung menschlicher
Immoralität verstanden werden, als eine regendurchnässte »Matzeparabel«, ein kulturpessimistischer Gegenentwurf zur Toleranzidee Lessings. Wer den aktuellen Integrationsdiskurs verfolgt, wird wahrscheinlich
einen Bezug zur historischen Affäre von Tiszaeszlár herstellen können. Engstirnigkeit, Ressentiments und kulturelle Hegemonie haben wieder Saison. Zweifelhafte
Leitkulturdebatten, offener Rechtspopulismus und nationale Egoismen sind in vielen europäischen Gesellschaften mittlerweile Ausdruck eines Konflikts um das
angemessene Miteinander bzw. Nebeneinander verschiedener Kulturen und Gemeinschaften. ------------Irritation. Mundruczós Werk hat mich irritiert, ließ mich
während der Aufführung abschweifen, um über Alltägliches, Menschliches nachzudenken. Dieser Erfahrungsbericht kann also ausschließlich den Versuch darstellen,
vom sprichwörtlichen Elfenbeinturm hinabzusteigen,
den wissenschaftlich-analytischen Blick auf Wirklichkeit aufzugeben, um die eigenen Empfindungen und
Erkenntnisse beim Betrachten von »Eszter Solymosi von
Tiszaeszlár« nochmals zu reflektieren. ----------------Rekonstruktion. Die Recherche verläuft unproduktiv.
Gewohnheitsmäßig zapfe ich das digitale Weltwissen
an. Über Nebensächliches strauchele ich, benommen
vom Krach – das Internet ist voll ungefragter Meinungen. Soviel Partizipation verlangt nach einem Filter,
wohltuend soufflierte Information statt reißerischem
Geschwätz. Aber wer soll dann entscheiden über das
Gute, Schöne, Wahre? Die Entscheidungskompetenz
verteilt sich hier auf mehrere Kanäle. Und mir scheint,
es wird aus allen Rohren geschossen! Schließlich finde
ich dann doch Vertrauenswürdiges, um meine bisherigen Gedanken an bereits Ausformuliertem zu überprüfen. Ob dahinter die Befürchtung steht, Irrelevantes
oder gar Nonsens zu produzieren? Ich wüsste gern, seit
wann ich meinem eigenen Geschmacksurteil nicht mehr
hinreichend trauen mag. Ein paar quer gelesene Rezensionen später stelle ich fest, dass ich es faszinierend
finde, wie über die legitimen Formen von Kunst gestritten wird. Manche Links zum bildungsbürgerlichen Wissensrepertoire bleiben mir allerdings verwehrt, dafür ist
mein Geschmack eindeutig zu populär, zu wenig kanonisiert. Aber auch so komme ich nicht weiter, entmutigt
kehre ich zurück in die analoge Welt. Dort finde ich das
Programmheft, sehe die Probenfotos. Mir ist, als kann
ich den Schlamm riechen... ---------------------------Schlamassel. Es regnet. Die Kälte kriecht einem von der
Bühne in die Socken. Du wirst ins Geschehen hineingezogen, ob du willst oder nicht. Die Bühne bleibt nicht
länger Spielort, sie ist »das Dorf«. Unmöglich, sich dem
Geschehen gleichgültig zu entziehen, keine kontemplative Betrachtung absehbarer Handlungsstränge. You are
watching the Historical Research Channel. Eine Dokumentation in Sepia-Color©. (Als Kind war ich davon
überzeugt, mit Großvaters ausrangiertem Volksempfänger könne man auch nur veraltete Musik empfangen.)
Ob sich die Ereignisse weiter dramatisch zuspitzen werden, ob die zu Unrecht Beschuldigten sich erheben, es
bleibt ungewiss. Das hier ist keine perfekt geschmierte
theatralische Inszenierung, die Handlungen geschehen
einfach, sie schreiten asynchron voran. Regen und
Schlamm verschlucken gesprochenes Wort, heiser gebrüllte Befehle und der alberne Gesang der Verliebten
gesellen sich zu bäuerlicher Dumpfheit und beißender
Ironie. Und überall dieser Schlamm. Kaum verwunderlich, dass der Sohn zum Verräter wird, indem er seinen
Vater des Mordes beschuldigt, Misstrauen allerseits. Als
assimilierter Ungar glaubt der Junge frei von religiösen
Bevormundungen leben zu können. Anerkennung und
Brot statt Dogmen und Hunger. Doch die Hoffnungslosigkeit ist auch den Ungarn nicht fremd. Eigentlich will
niemand an diesem unsäglichen Ort bleiben. Der Ritualmordprozess allerdings verspricht neue Perspektiven
für die Ungarn, sei es die politische Karriere oder den
-------------------------------------------------------------------------------------------------
»Bundestag?« Doris (70), Rentnerin
18.19
18
sozialen Aufstieg durch promiskes Anbiedern an den
schneidigen Herrn aus der Stadt. Die Situation gerät außer Kontrolle, und es schwinden die Chancen, dem
Schlamm zu entfliehen, als der Hauptbelastungszeuge
nicht auffindbar ist. In diesem Moment wird sogar die
Selbstbezichtigung des Mordes zum Akt der Vernunft.
Kein Lichtblick, nur dunkle Agonie?-------------------Erkenntnisverwertung. Theaterbesuche sollten wohl
überlegt sein, schließlich gilt es die »Relation zwischen
materiellen Kosten und veranschlagtem kulturellen Gewinn« zu vermessen. Theater wird im trockenen Soziologenjargon als Ort kultureller Bildung und sozialer Praxis beschrieben. Manchmal verdichtet die Theaterkunst
mein diffuses Interesse an einem Thema, meine Neugier
an einem Gegenstand, oder die Suche nach neuen Eindrücken wird zu einer intensiven Empfindung, zur elementaren Erkenntnis. Dieser »Gewinn« lässt sich schwer
verbalisieren und nicht valide messen. Denn Theater
berührt mich, unmittelbar oder in nachträglicher Betrachtung. Theater bildet, und mit diesem Anspruch
nervt es mich auch manchmal. Lange war das Theater
in meinen persönlichen Erfahrungshorizont ein weißer
Fleck. Mein individuelles Menschwerden vollzog sich
auch ohne »moralische Anstalt«. Mittlerweile stelle ich
allerdings an mir ein Bedürfnis nach Orientierung fest,
trotz aufrichtigen Strebens nach persönlicher Emanzipation. Die Selbstbestimmung ist mir ein hohes Gut. Gelegentlich fühle ich mich allerdings überfordert, auf
mich selbst zurückgeworfen vom beständigen Auftrag
der selbst initiierten Meinungs- und Geschmacksbildung. Unregelmäßig suche ich dann das Theater auf,
ohne konkrete Erwartungen, nur wenn das Thema mir
zusagt. Manchmal werde ich auch einfach nur mitgeschleppt. Und dann kann es passieren, dass ich wirklich
verstehe. Mundrudzós Werk hat mich irritiert, das »schöne« Bühnenbild und die historischen Kostüme ließen
mich ein anderes Theater erwarten. Ob ich alles »verstanden« habe, wage ich zu bezweifeln. Aber ich fühle
mich in meiner Skepsis gegenüber selbst ernannten
»Leitkulturen« bestätigt und der Vernunft des Widerstands dagegen verpflichtet.--------------------------------------------------------------------------------»Eszter Solymosi von Tiszaeslár«: 15., 16., 17. und 18.12., jeweils
20 Uhr, Cumberlandsche Bühne
--------------------------------------------------------------------------David Kolosska studiert Politologie und Niederlandistik an der Universität Oldenburg.
-----------------------------------------------
»Eszter Solymosi von Tiszaeszlár« mit Martin Vischer, Hanna Scheibe und Aljoscha Stadelmann, v. l. n. r.
»Das Parlament jedenfalls nicht!«
Gert (73), Rentner
Foto: Katrin Ribbe
Szene aus »Kampf des Negers und der Hunde« mit Andreas Schlager als Baustellenleiter Horn
20.21
20
»Das Monster ist der Mensch selbst«
Nach dem stationentheater »komA« in der tellkampfschule bringt der Regisseur Mirko Borscht im Januar 2011 »Kristus
– Monster of Münster« nach einem roman von Robert Schneider über die wiedertäuferbewegung in münster auf die Bühne
des Ballhof Eins. Erinnerungen und Gedanken über Gewalt und Moral, Religion und Revolution
Interview: Volker Bürger
»Das Scheitern an nicht erreichbaren Moralansprüchen bestimmt
wesentlich meine heutige Arbeit.«
Seit 1536 hängen oben an der Lambertikirche zu
Münster die Käfige der exekutierten Wiedertäufer.
Der Turm wurde längst erneuert, die Käfige blieben. Sie stehen bis heute am Pranger. Was brachte
Jan van Leyden, den Anführer der Wiedertäufer,
und seine Anhänger dorthin? __ Mirko Borscht
Infolge der Abspaltung der Protestanten von der katholischen Kirche entstand um 1524 die Wiedertäuferbewegung. Ihnen ging Luthers Reformation nicht weit
genug, sie forderten die Erwachsenentaufe und ein
christliches Miteinander, wie es in der Urkirche der
Apostel gelebt wurde. Gleichzeitig interpretierten sie
die Wirren der Zeit als endzeitliche Symbole, wie sie in
der Johannesoffenbarung beschrieben wurden. Sie bereiteten sich auf das Ende der Welt vor. In Münster bekamen die Täufer, aufgrund unklarer Machtverhältnisse,
plötzlich die Oberhand im Stadtrat. Sie riegelten die
Stadt ab und zwangen alle, die sich ihnen nicht anschließen wollten, Münster zu verlassen. Die Gütergemeinschaft wurde eingeführt, es gab kein Arm und
Reich mehr, alles gehörte allen. Das kann man das Himmelreich auf Erden nennen oder auch gelebte kommunistische Utopie. Interessant war auch die Einführung
der Polygynie (Vielweiberei), die sich an den alttestamentarischen Patriarchen orientierte und vermutlich
eine Reaktion auf den massiven Frauenüberschuss in
Münster war. Dieses radikale Vorgehen konnten die
weltlich-christlichen Machthaber natürlich nicht durchgehen lassen. Die Stadt wurde eineinhalb Jahre belagert, bis sie im Sommer 1535 durch Verrat eingenommen werden konnte. Denn auch innerhalb der Mauern
hatte sich das Himmelreich in eine Hölle verwandelt.
Jan van Leyden hatte sich inzwischen zum wiedergekehrten Christus erklärt, zum König der Könige, der versuchte, durch immer härtere Gesetze der Hungersnot
und Verzweiflung der Bevölkerung Herr zu werden. Jedes Zuwiderhandeln gegen die neuen Gesetze wurde
mit dem Tode bestraft. Gott hatte die »Auserwählten«
nicht erlöst, sondern in ihrer eigenen Selbstüberschätzung verrotten lassen. Jan van Leyden und zwei seiner
Getreuen wurden öffentlich zu Tode gequält und in Käfigen an die Lambertikirche gehängt. Zur Abschreckung
und Mahnung für die einen und als Zeichen einer Sehnsucht nach Gleichheit und Gerechtigkeit für die anderen. Und diese Sehnsucht ist bis heute nicht gestillt.
Und daher weiterhin gefährlich. Gott sei dank.
++++++++++++++++++++++++
Du nennst deine Fassung, die den Roman von Robert Schneider adaptiert, »Kristus – Monster of
Münster«. Wer oder was ist das Monster? __
Borscht Das Monster ist der Mensch selbst. Er hat es
bis heute nicht geschafft, eine gerechte Welt zu errichten. Noch immer leben wenige Fette auf Kosten einer
unterdrückten, ausgemergelten Mehrheit. Global gesehen, verhält sich eine Demokratie da nicht anders als
eine Diktatur. Eine Demokratie kann nur eine Demokratie sein, weil irgendwo anders die Sklaven dafür schuften. So haben wir guten Christenmenschen die Idee ja
von den alten Griechen übernommen. Und in diesem
Zusammenhang erscheint das Münsteraner Experiment
der Errichtung eines Gottesstaates als moralisch ernstzunehmender, ehrlicher Versuch, eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu schaffen. Gescheitert sind sie
aber nicht nur, weil sie von außen bedroht und angegriffen wurden, sondern weil sie es nicht geschafft haben, ihr eigenes Ideal zu leben. Die ewige Unzulänglichkeit des Menschen, die bisher alle Versuche einer
gelebten Utopie hat scheitern lassen. Und obwohl wir
wissen, dass bisher jede Revolution ihre Kinder fraß
und Macht korrumpiert, als wäre es ein Naturgesetz, ist
der Traum einer gerechten Welt allgegenwärtig. Wer ist
im Falle von »Kristus« das größere Monster? Der äußere
oder der innere Feind? Oder ist es egal, weil der Mensch
gar nicht in der Lage ist, wahrhaftig und gut zu sein?
Weil er sonst Gott selbst wäre? Das sind die Fragen, denen wir uns in der Arbeit stellen müssen. Die Meinungen
werden auseinander gehen. Also lasst uns streiten.
++++++++++++++++++++++++
Du bist in Cottbus aufgewachsen. Dort warst du
Messdiener und gleichzeitig Punk – scheinbar unvereinbare Dinge. Irgendwie ist Jan van Leyden so
etwas wie ein fundamentalchristlicher Punk, oder?
__ Borscht (lacht): Das kommt darauf an, wie heilig
man Punk empfindet. Aus meiner damaligen pubertären
Perspektive würde ich das ganz klar mit ja beantworten. Das hat aber auch damit zu tun, dass die logische
Konsequenz meiner katholische Erziehung – oder vielmehr des damit verbundenen moralischen Menschenbildes – mich eigentlich erst zum Punk gemacht hat. Ich
wollte an etwas glauben und war bereit, fast jede Konsequenz zu ziehen, mich auszuliefern, einer größeren
Sache zu opfern. Das ging so weit, dass ich als etwa
Zehnjähriger nach einem Fernsehfilm über den heiligen
Franz von Assisi, der die Wundmale Christi bekam,
plötzlich auch starke Schmerzen hatte und mir sofort
der Blinddarm rausgenommen werden musste. Wäre ich
in Jan van Leydens Zeit aufgewachsen, wäre das todsicher ein Zeichen Gottes gewesen. So blieb es bei einem
Zufall. Dennoch konnte ich als Jugendlicher die Doppelmoral der erwachsenen Gemeindemitglieder schlichtweg nicht ertragen. Ich habe sie zutiefst verachtet, ihr
Leben als Verrat am Glauben empfunden, mich mehr
und mehr distanziert. Unsere Kirche war damals in Form
einer riesigen stilisierten Dornenkrone angelegt, und
während der Messe habe ich mich bald nur noch außerhalb der Krone bewegt, weil ich nicht mit diesen katholischen Heuchlern in einem Raum sein wollte. Kurze
Zeit später trug ich in einer so genannten Jugendmesse
als Ministrant die Hostien nach vorn. Der Bischhof, der
zufällig an diesem Tag die Messe hielt, nahm sie mir mit
entsetztem Gesicht ab. Ich hatte einen roten Iro, und
das hat dem Herrn wohl gar nicht gefallen. Das Ergebnis: ein Ministrierverbot in der gesamten Diozöse. Meine prompte Reaktion war die Verweigerung der Firmerneuerung, was wiederum meinen Eltern gar nicht gefiel.
Aber da ich wegen »Gewissenskonflikten« die Jugendweihe und den Eintritt in die FDJ verweigert hatte,
mussten sie den gleichen Grund nun auch ihrem Glauben gegenüber akzeptieren. Ich stand plötzlich zwischen allen Stühlen, die Pickel sprossen, und auf meiner Lederjacke stand neben dem Anarchiezeichen bald
auch »We‘re already dead«. Na, wenn das kein Endzeitszenario ist. Aber leider ist aus mir kein Jan geworden.
Schade eigentlich...
++++++++++++++++++++++++
Jan van Leyden will Christus werden. Er schreibt
seinem Lehrer den Berufswunsch auf einen Zettel:
»Kristus«, mit K. Damals blasphemisch, eine Todsünde. Jan lässt trotzdem nicht ab, er stellt sich gegen die Welt mit seinem sündhaften Wunsch. Später
schreien die Wiedertäufer »Buße, Buße, Buße!«
durch die Gassen Münsters. Kannst du etwas mit
den zentralen christlichen Kategorien des
(ur)sündhaften Menschen und der Reinigung durch
Buße anfangen? __ Borscht Und ob. Wenn man sich
als Zwölfjähriger stundenlang nicht in den Beichtstuhl
traut, weil man dem Priester gestehen muss, dass man
unter der Bettdecke onaniert hat und neulich da was
raus kam, und dass man jetzt Angst hat, krank zu sein
und natürlich bei der Beichte kein Wort über die Lippen
bringt, weiß man plötzlich, was Verzweiflung ist und
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Schule und Lehre.« Fabienne (28), Opernsängerin
22.23
22
Leiden. Wir haben euch was mitgebracht: Angst! Angst!
Angst! Es gibt nur zwei Möglichkeiten, da rauszukommen: Heuchler werden oder sich radikalisieren. Diese
lustigen Kindheitsprobleme haben mein ganzes weitere
Leben bestimmt. Das Scheitern an nicht erreichbaren
Moralansprüchen bestimmt wesentlich meine heutige
Arbeit. Und diese Nichterreichbarkeit führt jeden Gottesfürchtigen immer wieder in seinen Glauben zurück.
Ein perfektes System. Wie dankbar muss ich Bischof
Huhn für sein engstirniges Verhalten sein, er hat mich
sozusagen frei gelassen, sonst wäre ich vermutlich immer noch in der Katholikenmühle gefangen. Die Zweifel
und das regelmäßige Scheitern an meinen eigenen moralischen Grundsätzen allerdings werden mir wohl erhalten bleiben, ein Leben lang. Amen.
++++++++++++++++++++++++
Gott übt Gewalt aus – zumindest der Gott in den
Köpfen der apokalyptisch denkenden Wiedertäufer,
die der Meinung waren, dass der Jüngste Tag unmittelbar bevorsteht. Auch die Wiedertäufer selbst
geraten irgendwann in den Sog von Gewalt. Um die
Regeln der Gemeinschaft oder die Macht zu erhalten, wird ein erster Mensch hingerichtet – in deiner
Fassung der Schmied, ein abtrünniger Mitstreiter
der ersten Stunde. Ist Gewaltanwendung für dich
mit moralischem Handeln vereinbar? __ Borscht
Auf jeden Fall. Ich bin kein Pazifist. Und natürlich wäre
es richtig gewesen, Hitler oder Stalin zu eliminieren, um
zumindest vorübergehend das Sterben zu stoppen. Leider wird immer jemand nachwachsen, der das Grauen
weiterführt. Man muss nur ein bisschen warten. Ich
glaube nicht daran, dass man Gewalt überwinden kann,
aber man kann sie verteilen, im besten Fall vorübergehend aussetzen. Meist mit Gegengewalt. Die aktuellen
Beispiele zum Thema Atomkraft oder Stuttgart 21 sprechen da eine deutliche Sprache, auch wenn das in unserem Zusammenhang vielleicht zynisch klingt. Gewalt
ist die instiktivste und einfachste Antwort der Konfliktbewältigung. Zivilisierte Menschen üben sie in der Regel psychisch aus. Aber wir lösen die meisten unsere
Konflikte dennoch mit Gewalt. Im Falle der Münsteraner
Täufer war die erste Hinrichtung auch der erste sichtbare Beweis ihres Scheiterns. Alle haben es gesehen.
Alle haben es gewusst. Ihr Moralbegriff muss nun abgewandelt, gedehnt werden. Das Ideal muss der Realität
angepasst werden. Der Betrug beginnt. Und an die Stelle des utopischen Gedankens rückt die Angst. Der An-
fang vom Ende. Um mit den Worten Gerrit Tom Kloisters,
einem »Mentor« Jan van Leydens im Stück, zu sprechen:
»Aus dem nichtlebbaren Ideal aber« wächst »alles Missverständnis und Leid, unter dem Menschen je gelitten
haben, denn das Ideal bleibt fern der Wirklichkeit, fern
des Chaos, fern von Gott«.
++++++++++++++++++++++++
Viele deiner Arbeiten kreisen um Gewaltfragen –
»komA« etwa, dein letztjähriges Projekt in Hannover mit Schülern in der Tellkampfschule, um das
Thema Amoklauf. Auch deine Filme. Was fasziniert
dich an Gewalt? __ Borscht Mich interessieren
Grauzonen, Orte, die im Schatten liegen, das Zwielicht,
schwarze Löcher, weil sie zwar täuschen können, aber
nicht lügen oder betrügen. Ich vertraue dem Intellekt
nicht, weil er von Distanz lebt und Emotionen ausblendet. Er ist vielleicht objektiver, aber er ist nicht ehrlicher. Ich vertraue der Sprache nicht, ich bin misstrauisch gegenüber der Diplomatie von Worten, deshalb
suche ich nach der Wahrhaftigkeit und Authentizität in
Zuständen und Grenzsituationen, in Momenten, wo der
Mensch sich selbst nicht kontrollieren und zensieren
kann. Und dabei ist Gewalt oft ein wesentlicher Bestandteil, gegen andere oder gegen sich selbst. Ein anderer wesentlicher Punkt ist Gewalt als mediales Kommunikationsmittel, als Ausdrucksform im künstlerischen
Sinne. Gewalt, auf die ich in Kino oder Fernsehen reagiere, gibt mir die Möglichkeit, die Situation extrem
subjektiv wahrzunehmen, weil ich mich fürchte, mich
ekle oder auch angezogen werde. Ich verliere die analytische, distanzierte Betrachtungsweise und werde
plötzlich Teil des Geschehens. Ich glaube auch an die
Authentizität und Unmittelbarkeit des Spiels, wie sie
nur im Theater erfahren werden kann. Ich glaube an
echte Gefühle in einem künstlichen Raum. Und Gewalt
ist dabei ein sehr geeignetes Mittel der Stimulanz, wenn
man sie als Mittel ernst nimmt. ++++++++++++++++++++++++
Moral ließe sich beschreiben als Handlungsprinzip
einer bestimmten Gesellschaft. Wenn nun eine neue
Gesellschaft gegründet wird, wie bei den Wiedertäufern in Münster, muss man auch Moral und
Handlungsprinzipien neu erfinden. Wie sollen die
entstehen, wie kann Moral neu erfunden werden?
__ Borscht Wohl nur, indem man sich selbst neu erfindet. Wenn man es schaffen könnte, seine eigenen
Prägungen und anerzogenen Wertesysteme nach ihrer
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Irrenhaus!« Emil (28), Sozialarbeiter
kaschieren, die es gar nicht nötig hat. Wo ist der Mut zu
großen Gefühlen geblieben, vor dem Schillers Worte nur
so strotzen? Kaum ein anderes Medium hat die Chance,
so nah an sein Publikum heranzukommen. Nirgends
sonst ist der Grad an Identifikation mit dem Spieler so
groß. Nirgends sonst kann man auf sein Publikum direkt
und unmittelbar reagieren. Was mich heute an Schillers
Rede berührt, ist seine Theatertrunkenheit und Euphorie, die mir heute so oft im Theater fehlt. Was wir aus
seinen Worten in die Jetztzeit übernehmen sollten, ist
die Rauschhaftigkeit und Begeisterung für das Medium.
Die Schaubühne als Narkomanische Anstalt – das würde mir gefallen. Und die moralische Aufgabe besteht
dann genau darin, das eigene Selbstbewusstsein anhand der Qualität dieser Droge zu optimieren. Und bei
der Qualität, die uns da von Seiten des deutschen Kinos
und Fernsehens entgegenkommt, hat das Theater wahrlich gute Karten.
--------------------------------------------------------------------------»Kristus – Monster of Münster«: 07. (Uraufführung), 13. und
23.01., jeweils 19:30 Uhr, Ballhof Eins, ab 16
++++++++++++++++++++++++
Mirko Borscht , 1971 in Cottbus geboren, inszenierte nach zwei Co-Regiearbeiten am Theater
ab 1992 die Kurzfilme »Mäuseboxen« und »Bastard!«, Seine Arbeit wurde entscheidend durch
die Zusammenarbeit mit jugendlichen Laien bestimmt. So entstand 2005 sein erster Spielfilm
»Kombat Sechzehn« und 2007 das Theaterstück
»Opferpopp«, das er für das Thalia Theater Halle mit so genannten »Problemkids« entwickelte. 2008 erhielt er dafür den Hans-GötzelmannPreis für Streitkultur und 2009 den BKM-Preis
für kulturelle Bildung des Beauftragten der
Bundesregierung für Kultur und Medien. Am
Centraltheater Leipzig sind derzeit seine inszenierungen »Sweet Dreams« und »deutschland
tanzt« zu sehen. Am Jungen Schauspiel Hannover inszenierte er 2010 »komA« nach Volker
Schmidt / Georg Staudacher (mit Schülern, Lehrern und Schauspielern).
++++++++++++++++++++++++
yaroslaw schwarzstein , 1975 in tula (Russland) geboren, ist grafiker, illustrator und
musiker. Seine zeichnungen sind zentraler bestandteil des Bühnenbildes von »kristus –
monster of münster«.
Zeichnungen: Yaroslaw Schwarzstein
Tauglichkeit zu prüfen und allen Ballast über Bord zu
werfen. Vor allem aber müsste man diese »neue« Moral
den Notwendigkeiten der neuen Gesellschaft unterordnen. Und da ist der Schritt zum Faschismus nicht mehr
weit. Ich glaube, das Hauptproblem besteht darin, dass
jeder Utopist die Utopie noch erleben will und an seiner
eigenen Ungeduld scheitert. Neue Regeln müssen nicht
nur neu erlernt, sondern zu Instinkten werden. Eine
neue Sprache beherrsche ich auch erst dann, wenn ich
in ihr denke, manche sagen auch: träume. Und da wir
noch nicht so weit sind, unsere utopischen Träume isoliert auf dem Mond entwickeln zu können, müssen wir
wohl lernen, nicht in Menschenzeitaltern zu denken,
sondern in Erdzeitaltern – wenn es die Menschheit
dann noch gibt.
++++++++++++++++++++++++
Das Titelthema dieses Heftes, »Deine moralische
Anstalt«, ist einer Rede Schillers aus dem Jahr 1784
entlehnt. Euphorisch sprach Schiller damals von
der Potenz des Theaters, moralische Anstalt sein zu
können, weil der Zuschauer im Theater den Menschen erkennen kann, weil er dort sogar selbst den
»kühnen Verbrecher« kennenlernt, dessen Leben
und Untaten »heilsame Schauer« auslösen. Dass die
Schaubühne also »den Menschen mit dem Menschen bekannt macht und das geheime Räderwerk
aufdeckt, nach welchem er handelt«. Funktioniert
Theater so für dich? __ Borscht Nein. Leider nicht.
Den erzieherischen, moralischen Mehrwert kann das
Theater genauso wenig liefern wie die öffentlich rechtlichen Fernsehanstalten. Das anzunehmen, wäre vermessen und naiv. In unserer Zeit führt das Theater ein
Nischendasein und versucht leider allzuoft, mit den
großen Medien der Gegenwart – Kino, Games, Multimedia – mitzuhalten, anstatt sich auf seine ureigene Kraft
zu berufen. Ich glaube, Schillers Wünsche sind leider
inzwischen an andere Medien abgewandert, was uns
nicht traurig machen muss, weil es ungeahnte Freiräume schafft. Denn die Unmittelbarkeit und »künstliche
Echtheit« kann dem Theater niemand nehmen. Und
ganz besonders nicht seine Autonomie. Kaum ein Medium genießt formal und inhaltlich so viel Freiheit. Kaum
ein anderes Medium ist heutzutage so wenig Regeln
und wirtschaftlichen Abhängigkeiten unterworfen, auch
wenn man derzeit latent versucht, diese Unabhängigkeit zu beschneiden. Dennoch läuft das Theater Gefahr,
sich mit einer kleinbürgerlichen intellektuellen Elite zu
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Anstalt für Moral: Theater!« Anke (54), Dozentin für Deutsch als Fremdsprache
24.25
24
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Grosse Schauspielmomente 2011
Erstmals gibt die Gesellschaft der Freunde des hannoverschen Schauspielhauses (GFS) den Fotokalender Große Schauspielmomente 2011 heraus. Er
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und am Bücherkiosk im Pausenfoyer käuflich erworben werden. Es besteht auch die Möglichkeit, ihn
direkt bei der GFS zu bestellen:
Kontakt Schauspielfreunde:
c/o Angelika Nauck, Vorsitzende
Wallmodenstr. 72, 30625 Hannover
Tel. 0511 554 7375, Fax (0511) 554 7376
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1
2
3
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Donnerstag, 20. Januar 2011
Don Juan
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Freitag, 04. Februar 2011
Der goldene Drache
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Lars-Ole Walburg
Dienstag, 22. März 2011
Romeo und Julia
von William Shakespeare
Regie: Heike M. Götze
Freitag, 08. April 2011
Der Silbersee
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Der Morgen
vor dem Chaos
Am 15. Januar hat Gabriel García Márquez’ »Chronik eines angekündigten Todes«
Premiere auf der Cumberlandschen Bühne. Vorab gewährt uns der Regisseur
dieses Theaterabends einen Einblick in seine szenische Fantasie.
Von Albrecht Hirche
Nach einer rauschenden Hochzeit bringt der wütende
Bräutigam seine Jungvermählte zurück zu ihren Eltern –
sie ist keine Jungfrau mehr. Wer ist für die Schande
verantwortlich? Unter den Schlägen ihrer Mutter nennt
das Mädchen einen Namen. Ihre Brüder schwören Rache und machen sich mit Schlachtermessern auf die
Suche nach dem Beschuldigten. Jedem, dem sie begegnen, offenbaren sie ihren Plan. Und doch wird der
Mord nicht verhindert.-------------------------------Gabriel Garcia Marquez’ »Chronik eines angekündigten
Todes« könnte ein düster-betroffenes Drama um überkommene Traditionen und kollektive Schuld sein. Doch
Regisseur Albrecht Hirche legt einen anderen Schwerpunkt: Wenn das Ereignis die Menschen verändert,
wie verändert seine Erzählung das Ereignis? Seine
Spieler sind Chronisten. Irgendwo zwischen Hollywood-Schreiblabor und südamerikanischem Schachcafé ordnen, beschreiben und erkunden sie in detektivischer Akribie und individuellem Gestaltungswillen
das Erzählte und die Erzählung selbst. Einen Vorgeschmack auf seine erste Inszenierung am Schauspiel
Hannover, die am 15. Januar 2010 Premiere auf der
Cumberlandschen Bühne hat, geben Hirches Notizen,
in die er uns hier einen Blick gewährt. -------------------------------------------------------------------»chronik eines angekündigten todes«: 15. (premiere), 16. und
29.01., jeweils 20 Uhr, Cumberlandsche Bühne---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
26.27
26
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238 Tage Neverland
making of »Neverland« – bilder einer Popmärchenrecherche zu Michael Jackson und Peter Pan mit Jugendlichen aus
Hannover im und um den ballhof
fotos: Roxana Rios
»Neverland« – vom Casting zur Premiere: 8. April 2010 Kick-off zum Projekt »Neverland« mit Regisseur Robert Lehniger und Team + 26. April bis 2. Mai Auswahlworkshops, in denen die 21 Jugendlichen gefunden wurden, die am Projekt teilnehmen +
10. Mai bis 4. Juni 1. Block: Abendproben nach der Schule + 12. Juli bis 4. August
2. Block: Ganztagsproben im Ballhof Zwei während der Sommerferien + August bis
September 3. Block: Wochenendproben + 27. September bis 23. Oktober Endproben im Ballhof Eins + 24. Oktober Uraufführung im Ballhof Eins -------------------------------------------------------------------------------------------------------Roxana Rios (15), steht zusammen mit anderen Jugendlichen aus hannover
in »Neverland« auf der Bühne.
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Kooperationspartner: enercity--------------------------------------------------------
27. Juli
6. Oktober
6. Oktober
11. Oktober
11. Oktober
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Das habe ich auf einem Plakat gelesen.« Carsten (45), Technischer Angestellter
28.29
28
3. August
30. September
7. Oktober
15. Oktober
12. Oktober
16. Oktober
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Öffentlich-rechtliches Fernsehen.« Hendrik (52), Online-Spezialist
»Ohne die Kommunalen Kinos hätte
es Fassbinder und Schlingensief nicht
gegeben«
Sigurd Hermes, Leiter des kommunalen Kinos im Künstlerhaus, über ein Leben für den Film, die Geschichte des KoKi in Hannover und die Eigenheiten der Filmsprache
gastbeitrag
»Die wichtigste Aufgabe eines Kommunalen Kinos ist es, Filmgeschichte
erfahrbar zu machen, analog zur Kunstgeschichte und dem Theater.«
An meinem sechsten Geburtstag durfte ich das erste Mal
allein ins Kino gehen. Meine Großmutter hat mir drei
Groschen geschenkt, und dann bin ich zum Haus der
Jugend gegangen, wo es für zwei Groschen einen Film
für Kinder gab: »Das Wunder von Mailand« von de Sica.
Ein Märchen eigentlich, aber ich war so berührt – erst
einmal vom Inhalt, und dann habe ich natürlich mit
meinem kindlichen Bewusstsein reflektiert, dass ich so
etwas zum ersten Mal gesehen habe. Fernsehen gabs
nicht bei uns in der Familie. Ich fand das faszinierend
und wollte immer mehr davon haben. ----------------Damals haben Kinder- und Jugendzentren Kinovorführungen für Kinder organisiert, aber auch in den gewerblichen Kinos gab es Veranstaltungen nur für Kinder. Ich
habe alles gesehen, was ich mir mit meinen paar Groschen leisten konnte: »Zorro«, »Fuzzy«, Karl May. Aber
ich fing damals schon an zu differenzieren. Ich konnte
darüber streiten und sagen: »Diesen Film finde ich miserabel, und zwar deshalb...«, oder: »Diesen Film finde
ich gut, und zwar deshalb...« -------------------------Ich habe von 1967 bis 1974 in Kassel Grafikdesign und
Kunst studiert, mit den Hauptfächern Film, Fotografie
und Malerei. Kassel ist meine Geburtsstadt, und noch
als Student habe ich dort an der Hochschule für bildende Künste einen Filmclub gegründet, das »Andere Kino«.
Hier war es das erste Mal möglich, zunächst einmal für
die Kommilitonen, aber auch für die Leute in der Stadt,
europäische Filmkunst der klassischen Moderne kennenzulernen, einen Fellini zu sehen, einen Pasolini, einen Godard, einen Truffaut, darüber hinaus natürlich
auch Beispiele der internationalen Filmgeschichte: Eisenstein, Bergmann.----------------------------------Kassel ist ja die Documenta-Stadt. Und ich bin noch als
Student zu Harald Szeemann gegangen und habe ihm
gesagt, dass er ja jetzt die V. Documenta ausrichtet und
diese ja eigentlich die wichtigste Kunstausstellung der
Welt sei, die sich mit der Kunst des 20. Jahrhunderts
auseinandersetzt. Ich würde jetzt aber schon vier Documenten lang die wichtigste Kunst des Jahrhunderts –
wie Lenin sie übrigens schon nannte – vermissen. Harald Szeemann hat sich zurückgelehnt und so in der Art,
wie es die Berner tun, lange überlegt, und dann hat er
gesagt: »Sie haben Recht, machen Sie. Sie kriegen einen Arbeitsvertrag. Machen Sie eine Sektion Film!«
Eine Kunstausstellung ist auch Kino, und gutes Kino ist
auch immer eine Kunstausstellung. In diesem Fall haben wir entsprechend der konzeptionellen Fragestel-
lung unter anderem die Avantgarde des New American
Cinema sowie die opulenten Opernfilme aus China zum
ersten Mal in Deutschland gezeigt. Deutsche Filmkünstler waren mit Werner Nekes, Dore O. und Werner Schröter vertreten. 1968, während der Documenta IV, bin ich
erstmals Joseph Beuys begegnet. Ich war als Hilfskraft
bei Christo beschäftigt und hatte die Aufgabe, nachts
sein riesiges, penisartiges Objekt zu bewachen. Eines
Tages in der Morgendämmerung versuchte ein etwas
merkwürdig wirkender Mann mit Hut und Anglerweste,
die Absperrungen zu überklettern. Unter Androhung
von Gewalt hielt ich ihn davon ab. Erst später wurde ich
aufgeklärt, dass ich mich mit dem wohl bedeutendsten
deutschen Künstler angelegt hatte. Er hat es mir aber
verziehen.--------------------------------------------1974 bewarb ich mich aufgrund einer Zeitungsausschreibung in Hannover, das Kommunale Kino zu leiten.
Und bin genommen worden. Damals habe ich damit begonnen, was ich jetzt seit 36 Jahren mit großer Leidenschaft und Liebe tue. Das Kommunale Kino, das in Hannover gegründet wurde, hatte als einziges der deutschen
Kollegenkinos kein eigenes Haus. Wir tingelten zwar
nicht von Jahrmarkt zu Jahrmarkt wie in den Anfängen
des Kinos, aber wir zogen von einem Freizeitheim dieser Stadt zum anderen, bis wir 1979 in den Raschplatzkinos als Untermieter eine Bleibe fanden. Dort machten
wir erstmals ein volles Wochenprogramm.------------Diese Kinos waren die erste und einzige Möglichkeit für
viele Filmschaffende, ihr erstes Publikum zu finden, die
erste Auseinandersetzung mit dem Publikum. Später
waren sie etabliert, also in dem Sinne, dass ihre Arbeit
auch gewerblich umsetzbar war. Aber die ersten Schritte
all dieser Künstler fanden in den Kommunalen Kinos
statt, und das kann man auch auf den Dokumentarfilm
beziehen. Es hätte nie einen Fassbinder gegeben oder
einen Wim Wenders oder einen Werner Herzog oder
auch einen Christoph Schlingensief, wenn nicht diese
Kinos gewesen wären.-------------------------------Die wichtigste Aufgabe eines Kommunalen Kinos ist es,
Filmgeschichte erfahrbar zu machen, analog zur Kunstgeschichte und dem Theater. Darüber hinaus ist es natürlich sehr wichtig, die Augen offen zu halten: Was
passiert Neues in diesem Medium? Wo sind neue formale Ansätze, wie werden neue Inhalte umgesetzt?
Werden neue Formen für neue Inhalte gefunden? Da ist
dieses Kino immer Avantgarde gewesen, und zwar von
Anfang an. Ein Auge für die Avantgarde zu haben, heißt
natürlich auch, über die Landesgrenzen hinauszugucken: Was passiert in Europa, was passiert ansonsten in
der Welt, vor allem auf den Kontinenten, die filmarchäologisch schwer zugänglich waren? Afrika oder Lateinamerika sind ja noch relativ unbekannte Filmländer.
Darüber hinaus ist es natürlich auch wichtig, sich den
Genres zu widmen, die im kommerziellen Kino gar keine Chance haben: dem Dokumentarfilm, dem Kurzfilm,
dem ganzen Bereich des Experimentalfilms bis hin zu
den Anfängen der Videokunst. Das sind Bereiche, um
die sich die kommerziellen Kinos nicht kümmern können, einfach, weil das merkantile Risiko für sie zu groß
ist. Das Kino im Künstlerhaus in Hannover hat wahrscheinlich deutschlandweit den höchsten Anteil an Dokumentarfilmen. Deshalb ist es eine Einrichtung, die
subventioniert werden muss, so wie andere Kultureinrichtungen auch. Film ist Kultur, Kultur ist ein Lebensmittel, und Lebensmittel müssen zur Verfügung stehen,
und zwar so, dass jeder sie sich leisten kann. Indem es
Filmgeschichte erfahrbar macht, wird so ein Kino auch
zur Bildungseinrichtung, und zwar für alle Generationsstufen, angefangen bei der Kinderfilmarbeit, bis zu den
Gruppen der silver surfer, also der Senioren, die zu uns
kommen. ---------------------------------------------Stichwort Bildung: Der Film hat seine eigenständige
Sprache. Sie besteht eben nicht aus linguistischen Zeichen, sondern es ist die Filmsprache. Sie hat ihre eigene Grammatik, und die muss man lernen. Und man kann
sie nur in Einrichtungen wie unserer lernen. Das ist die
Voraussetzung, um mit Film umgehen und letztlich unterscheiden zu können, was hohe Qualität hat oder irgendein Mist ist.--------------------------------------Für die Zukunft wünsche ich mir auch weiterhin so ein
großartiges Publikum, das dieses einmalige Programmangebot wertzuschätzen weiß. Das die »Schule des Sehens« als Werkstatt der Träume nutzt und immer wieder
neu erfindet. -----------------------------------------Ich wünsche mir weiterhin die Unterstützung von Kulturverwaltung und Politik, dass diese wertvolle und
einzigartige Einrichtung, die nicht mehr aus dem kulturellen Leben der Stadt wegzudenken ist, weitergeführt
wird. Die Pflege des globalen filmkulturellen Erbes und
dessen Vermittlung ist auch in Zukunft der tragende
kulturpolitische Auftrag – ein Bildungsauftrag.
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------Protokoll: Friederike Trudzinski------------------------
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Kirche.« Stefan (47), Angestellter
Foto: Jaika Harms
30.31
Sigurd Hermes
FilmTheater – Theatermacher zu Gast im Künstlerhaus
Regisseure, Schauspieler, Autoren und Bühnenbildner, die am Schauspiel Hannover
arbeiten, stellen in der gleichnamigen Veranstaltungsreihe ihre Lieblingsfilme, Juwelen des unkommerziellen Kinos, aber auch eigene Werke vor – und damit sich selbst.
Sie geben Einblick in ihre Sicht der Dinge, ihre Leidenschaft, ihr Interesse, ihre gegenwärtige Arbeit. Denn viele Theatermacher sind offenkundige oder versteckte Cineasten. Ihre Kinoerlebnisse prägen nicht selten ihre Bühnenästhetik, und immer
mehr von ihnen pendeln ohnehin zwischen diesen beiden Welten. So waren in der
letzten Spielzeit unter anderem der Film- und Theaterregisseur Mirko Borscht mit
seinem Film »Kombat Sechzehn«, der Bühnenbildner Mihal Galinski mit Robert Thal-
heims preisgekröntem Film »Am Ende kommen Touristen«, der Autor Kolja Mensing
mit dem interaktiven Videoprojekt »13ter Shop«, die Schauspielerin Sandra Hüller mit
Helene Hegemanns Debüt »Torpedo« und der Performer Jürgen Kuttner mit einer Perle
des japanischen Independentfilms zu Gast. Nach Kornél Mundruczó (»Delta«), Florian
Fiedler (»Palindrome von Todd Solondz«) und Albrecht Hirche (»Blow up« von Michelangelo Antonioni) stellt sich als Nächster am 30. Januar um 17:30 Uhr der Dokumentartheaterspezialist Hans-Werner Kroesinger mit »The Wild Bunch – Sie kannten kein
Gesetz« und »Opening Night« vor.
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Jeden letzten Sonntag im Monat um 17:30 Uhr im Kino Künstlerhaus
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
»Dass man uns vielleicht doch etwas über die Moral beibringen will.« Georg (53), Bankkaufmann
Die Programm-Höhepunkte
Dezember 2010 bis März 2011
05.12.10 Schauspielhaus
07.01.11 Ballhof Eins
08.01.11 Schauspielhaus
DIE BAKCHEN ODER DER
EINDRINGLING
KRISTUS –
MONSTER OF MÜNSTER
DON JUAN
GRAFFITIMUSEUM
von Molière
von Euripides
nach dem Roman von Robert Schneider,
bearbeitet von Mirko Borscht
Skripte unbekannter Autoren (V)
Wir sammeln weiter. Graffiti ist unser
Material. Es steht schon da, es drängt
sich auf. Jetzt widmen wir uns Graffiti
auf Güterzügen. Hier schlägt der Zufall
den Takt. Eine sehnsuchtsvolle, fast
schon kitschige Grundmelodie pfeift die
Gleise entlang, wenn die blinden Passagiere uns ihre Geschichte erzählen. Am
9. Januar wird das Skript eingelesen
(Treffpunkt: 14 Uhr, Schauspielhaus). Am
15. Januar kommt es auf die Bühne des
Ballhof Zwei (20 Uhr).
PREMIERE
Unter den Frauen der Stadt Theben breitet sich Wahnsinn aus. Ein schöner Fremder, heißt es, raube ihnen mit seinen
Reizen den Verstand. König Pentheus
droht die Kontrolle zu verlieren. Theiresias, der blinde Seher, warnt ihn vor der
Macht eines neuen Gottes: Bakchios oder
Dionysos sei es, der in Menschengestalt
in der Stadt Einzug gehalten habe. Mit
Gewalt versucht Pentheus, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten und setzt so die
Tragödie in Gang.
URAUFFÜHRUNG
Jan hat einen Berufswunsch: Kristus.
Was als Missverständnis auf einer Prozession beginnt, entwickelt sich zur Bestimmung seines Lebens. Der feinsinnige
und gerechtigkeitsliebende Junge findet
bei den Wiedertäufern in Münster Gleichgesinnte, die auf das Ende der dunklen
Zeit hoffen. Gemeinsam gründen sie ein
Reich – mit Jan an der Spitze. Doch die
schöne Utopie scheitert. Zweite Arbeit
von Regisseur Mirko Borscht (»komA«) am
Schauspiel Hannover.
PREMIERE
Hemmungslos hedonistisch verschwendet sich Don Juan an die Frauen, die Lust
und das Leben – dies macht ihn gleichermaßen anziehend wie abstoßend.
Der Mythos des großen Verführers lebt
auch von unserer Lust an der Unmoral.
Molière zeigt ihn uns als zynischen Freigeist, dessen Kraft aus seiner völligen
Ungebundenheit rührt. Frei von jedem
Glauben, hat Don Juan nichts zu fürchten
und nichts zu verlieren. Nach »Yerma«
zweite Regiearbeit von Sebastian Schug
am Schauspiel Hannover.
09. / 15.01.11 Schauspielhaus / Ballhof Zwei
15.01.11 Schauspielhaus
15.01.11 Cumberlandsche Bühne
30.01.11 11 Uhr Foyer Schauspielhaus
30.01.11 17:30 Uhr Kino im Künstlerhaus
PARZIVAL
CHRONIK EINES ANGEKÜNDIGTEN TODES
WELTAUSSTELLUNG
PRINZENSTRASSE (XII):
DAS DRAMA DER EVOLUTION
LANGE FILMNACHT
MIT HANS-WERNER
KROESINGER
von Lukas Bärfuss
nach Wolfram von Eschenbach
von Gabriel García Márquez
WIEDERAUFNAHME
PREMIERE
Die Parzival-Dichtung Wolfram von
Eschenbachs gehört zu den bedeutendsten literarischen Texten des deutschen
Mittelalters. Lukas Bärfuss, derzeit einer
der profiliertesten Autoren im deutschen
Sprachraum, hat für das Schauspiel Hannover eine neue, eigene Bearbeitung erstellt. Zur Wiederaufnahme kommt es zu
einer Umbesetzung der Titelfigur: Für
Sandra Hüller spielt Sebastian Kaufmane
den Parzival.
Nach einer rauschenden Hochzeit bringt
der wütende Bräutigam seine Jungvermählte zurück zu ihren Eltern: Sie ist keine Jungfrau mehr. Wer ist für die Schande verantwortlich? Ihre Brüder schwören
blutige Rache... Der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García
Márquez entwirft in »Chronik eines angekündigten Todes« ein vielstimmiges
Dorfpanorama. Erste Regie von Albrecht
Hirche am Schauspiel Hannover.
Oskar Negt im Gespräch mit dem Paläontologen Björn Kröger
Wie unser Lebensstil das Gesicht der Erde
möglicherweise irreversibel verändert und
welche langfristigen Folgen unseres Handelns möglich sind – dazu befragt Oskar
Negt den deutschen Paläontologen Björn
Kröger in Folge XII der Gesprächsreihe
»Weltausstellung Prinzen­straße«. Es geht
um die erdgeschichtliche Tiefenzeit und
die Akteure der Evolution. Mit freundlicher
Unterstützung der TUI Stiftung
FilmTheater – Theatermacher zu Gast im
Künstlerhaus
Der Dokumentartheaterspezialist HansWerner Kroesinger, der am 26. Februar im
Ballhof Zwei sein Projekt »Unternehmen
Hunger« auf die Bühne bringt, zeigt in der
Reihe »FilmTheater« zwei seiner Lieblingsfilme: den Spätwestern »The Wild Bunch«
von Sam Peckinpah, der 1914 während
der Revolution in Mexiko spielt, und »Opening Night«, die Geschichte einer alkoholkranken Schauspielerin. Beide Filme
können auch einzeln besucht werden!
11.02.11 Ballhof Eins
12.02.11 Schauspielhaus
26.02.11 Ballhof Zwei
19.03.11 Schauspielhaus
CLAVIGO
BAUERN, BONZEN, BOMBEN
UNTERNEHMEN HUNGER
DER SILBERSEE
von Johann Wolfgang von Goethe
nach einem Roman von Hans Fallada
von Hans-Werner Kroesinger
von Georg Kaiser mit Musik von Kurt Weill
PREMIERE
PREMIERE
PREMIERE
PREMIERE
Der 25-jährige Johann Wolfgang von
Goethe schrieb »Clavigo« in einer einzigen Woche nieder. Mit dem Konflikt
zwischen der Sehnsucht nach Familie
und den Verheißungen von Karriere und
Ruhm schrieb er sich sein eigenes Dilemma von der Seele. »Clavigo« diente ihm
als »poetische Beichte«, nachdem er Friederike Brion, Pfarrerstochter aus einfachem Hause, für seine Juristenkarriere
in Strasbourg verlassen hatte.
Hans Fallada gehörte zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Roman
»Bauern, Bomben und Bonzen« knüpft an
die Ereignisse des Landvolk-Prozesses
im holsteinischen Neumünster an und
entwirft das Panorama einer Gesellschaft,
die zum Spielfeld politischer und wirtschaftlicher Einzelinteressen geworden
ist. Politikverdrossenheit, Denunziation
und politische Intrigen sind die Folge.
Wieso haben die meisten Menschen
nicht genug zu essen? Wieso können wir
zum Mond fliegen, sind aber unfähig, Lebensmittel gerecht zu verteilen? Warum
haben 50 Jahre Entwicklungshilfe die
Lage nur noch verschlimmert? Entstehen
Hungersnöte aus Mangel an Lebensmitteln oder durch ihre planvoll gesteuerte
Fehlverteilung? Wie entstand eigentlich
die Dritte Welt und die Erste, ihr Elend
und unser Wohlstand? »Unternehmen
Hunger« – ein Projekt mit Zukunft!
In seiner am 18. Februar 1933 uraufgeführten Schauspieloper »Der Silbersee«
nutzt Kurt Weill, der Komponist der »Dreigroschenoper«, wie in anderen seiner
Werke auch, eine Vielzahl musikalischer
Formen. Und obwohl es sich um ein Theaterstück handelt – der weitaus größte
Teil des Textes wird gesprochen –, ist die
musikalische Ausarbeitung ausgesprochen anspruchsvoll. Intendant Lars-Ole
Walburg begibt sich in dieses genresprengende Wagnis.
IMPRESSUM Heft #5 HERAUSGEBER Niedersächsische Staatstheater Hannover GmbH, Schauspiel Hannover, Spielzeit 2010/11 INTENDANT Lars-Ole Walburg REDAKTION
Björn Achenbach, Aljoscha Begrich, Vivica Bocks, Volker Bürger, Judith Gerstenberg, Friederike Trudzinski, Christian Tschirner GESTALTUNG María José Aquilanti, Birgit
Schmidt DRUCK Berlin Druck, Achim