Abschlussdokumentation
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1 2 3 4 Die 1952 gegründete Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB) ist die Fachorganisation für katholisch-sozial orientierte politische Jugend- und Erwachsenenbildung in Deutschland. Sie sorgt für fachlich qualifizierte politische Bildung in einer bundesweit wirksamen Infrastruktur. In der AKSB arbeiten mehr als 60 Akademien, Bildungsstätten, Bildungswerke, Soziale Seminare und Verbände zusammen, um bundesweit politische Bildungsarbeit auf der Grundlage christlicher Sozialethik anzuregen, zu fördern und zu koordinieren. Aus diesen Zielen ergeben sich folgende Aufgaben: • fachdidaktischer Austausch unter den AKSB-Mitgliedern • gemeinsame Arbeit an Schwerpunkten und innovativen Projekten (Konzeption und Evaluation) • Förderung der Fort- und Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern • partnerschaftliche Zusammenarbeit mit anderen zentralen Stellen der politischen Bildung • Pflege internationaler Kontakte • Interessenvertretung in Fachfragen • Beschaffung von Mitteln für die politische Bildung Rechtsträger der AKSB ist der „Verein zur Förderung katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e.V.“ Er nimmt die Aufgaben einer Zentralstelle für die Bewirtschaftung von öffentlichen Mitteln zur Förderung der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung der AKSB-Mitglieder wahr. Die AKSB ist u.a. Mitglied im Bundesausschuss Politische Bildung (BAP) und in der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (KBE). Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme „Familie und Gewalt: Menschen würdig erziehen!“ Ein trägerübergreifendes Projekt der politischen Bildung - Abschlussdokumentation / Lothar Harles (Hrsg.) im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Verein zur Förderung katholischsozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e.V., 2002 (AKSB, Dokumente - Manuskripte - Protokolle; 30) ISBN 3-924137-30-7 Redaktion: Dr. Lukas Roelli (Projektleiter bis Juli 2001) Dr. Simeon Reininger (Projektleiter ab August 2001) Satz + Gestaltung: Marie-Theres Pütz-Böckem Die Erlaubnis zum Nachdruck der Fotos gaben: AKSB (10, 146), Martin Kaiser (43, 44, 112, 187, 244, 278, 302, 320, 330), M.-Th. Pütz-Böckem (116, 122, 161, 191, 200, 232, 248), AGJ (204, 260, 315) © 2002, Verein zur Förderung katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland e.V., Bonn 5 Inhalt 1. Simeon Reininger Vorwort .................................................................................... 7-9 2. Lukas Rölli, Simeon Reininger Projektbeschreibung ................................................................. 10-43 2.1 Anlass .................................................................................. 12 2.2 Planung ................................................................................ 14 2.3 Konzeption ........................................................................... 18 2.4 Durchführung ........................................................................ 25 2.5 Ergebnisse ............................................................................ 33 3. Expertisen ............................................................................. 44-111 Andreas Borchers Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelderz ur Erleichterung familialen Erziehungshandelns und zur Prävention von Gewalt in der Erziehung ........................................... 46 Udo F. Schmälzle Gewaltfreie Erziehung: Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes ....................................................... 76 4. Fachtagungen ...................................................................... 112-272 4.1 Gewaltfreie Erziehung – Eine Herausforderung für die politische Bildung 27. Oktober 1999 in Bonn ....................................................... 114 4.2 Gewaltfreie Erziehung – Zu Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes * 24./25. Oktober 2000 in Neu-Anspach/Taunus ............................ 136 4.3 Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege * 8./9. Mai 2001 in Neustadt/Bergstraße ..................................... 212 4.4 Zwischen Prävention und Intervention * 12./13. Juni 2001 in Hildesheim ............................................. 257 * Die Fachtagungen 4.2 bis 4.4 sind nur auf CD-Rom verfügbar. 6 5. Seminar-Bausteine ................................................................ 273-319 5.1 Dagmar und Bernward Bickmann „Wo, bitte, geht’s denn lang wo ich hin will?“ (Karl Valentin) Familie als prägende Instanz von Wertorientierungen im „Zusammenspiel“ mit Schule, Arbeitswelt, Medien und politsicher Teilhabe ......................................................... 274 5.2 Birgit Engelhard-Schwaab „Was ist los, wenn ich wild werde?“ Bildungswoche für Alleinerziehende in der Katholischen Landvolkshochschule Feuerstein, Ebermannstadt ..... 279 5.3 Dorothea Frey „Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege Gewalt gegen Kinder – Rechte der Kinder“ Seminartag im Rahmen der Qualifizierung von Tagesmütter ......... 287 5.4 Rainer Hartel Jugend – Gewalt – Familie Bildungswoche für Jugendliche in der Bildungsstätte Alte Schule Anspach (basa), Neu-Anspach (Taunus) ..................................... 297 5.5 Christine Heide Gewalt in der Erziehung Eine Fortbildung für Erzieher/innen und Grunschullehrer/innen ..... 305 5.6 Simeon Reiniger „Starke Kinder – Starke Eltern“© Seminar für Familien, Alleinerziehende und Interessierte in Zusammenarbeit mit dem Kinderschutzbund Lingen (Ems) ........... 314 6. Lukas Rölli Ausgewählte Literaturhinweise ............................................... 320-329 7. Kontakte ............................................................................. 330-335 7.1 Projekträger ......................................................................... 332 7.2 Projektgruppe ...................................................................... 333 7.3 Autorinnen und Autoren ........................................................ 335 8. Inhalt – Langfassung * ......................................................... 337-344 * Die Langfassung ist nur auf CD-Rom verfügbar VORWORT 7 Simeon Reininger Vorwort Seit November 2000 ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) gesetzlich verankert. Damit folgte der Gesetzgeber der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die schon über 20 Jahre das Recht von Kindern auf körperliche Unversehrtheit fordert. „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (§ 1631 Abs. 2 BGB) Mit diesem Gesetz allein ist es freilich nicht getan. Während neue Gesetze zumeist das Ergebnis und der Abschluss eines lang anhaltenden parlamentarischen und auch gesellschaftlichen Diskussionsprozesses sind, gab dieses Gesetz umgekehrt erst Anstoß zu einem gesellschaftlichen Diskussionsprozess. Natürlich haben sich die Erziehungsstile in den letzten Jahren gewandelt. Sie sind oder wollen zumindest partnerschaftlicher sein. Und: Schläge und Prügel haben in der Erziehung nicht mehr den Platz, den sie früher als Straf- und Züchtigungsmittel hatten. – Zumindest wird das häufig so gesehen. Dennoch, wer sich der Thematik gewaltfreier Erziehung stellt, weiß nicht nur darum, dass Gewalt mehr ist als körperliche Gewalt und dass es diese immer noch zu viel gibt. Deshalb startete das Bundesfamilienministerium mit der Verabschiedung des Gesetzes im Deutschen Bundestag im September 2000 eine breit angelegte Werbekampagne: „Mehr Respekt vor Kindern“. Mit Plakaten, Anzeigen, Fernsehspots und Vor-Ortkampagnen warb das Familienministerium für die Umsetzung des Gesetzes an der Basis.1 Über diese Kampagne hinaus wurden Projekte und Kooperationen gefördert, darunter das trägerübergreifende Projekt „Familie und Gewalt – Menschen würdig erziehen“, das parallel zur Kampagne von der Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (AKSB) gemeinsam mit dem Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB), dem Deutschen Volkshochschul-Verband (DVV) und dem Verband ländlicher Heimvolkshochschulen (HVHS) durchgeführt wurde. 8 VORWORT Dieses Projekt, das Ende 2002 abgeschlossen wurde, und dessen Dokumentation mit dieser Veröffentlichung vorliegt, hatte zum Ziel, durch politische Bildung bei Eltern, Erziehungsberechtigten und Verantwortlichen in Gesellschaft und Staat das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Erziehung zu stärken, die die Persönlichkeitsrechte junger Menschen und ihre Würde achtet und ihre Entwicklung in einer auf Teilhabe, Verantwortung und Solidarität angelegten demokratischen Gesellschaft fördert. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit den strukturellen Rahmenbedingungen, die diesem Ziel förderlich oder hinderlich sind. Hierfür wurden wissenschaftliche Expertisen in Auftrag gegeben, vier Fachtagungen sowie Seminare und Bildungsveranstaltungen mit unterschiedlichsten Zielgruppen organisiert, durchgeführt und evaluiert, die im Folgenden dokumentiert sind. Das Projekt und die gesamte Kampagne des Bundesfamilienministeriums sind abgeschlossen. Auch wenn zum Abschluss der Kampagne im Herbst 2002 die damalige Familienministerin Bergmann in einem Interview sagen konnte, „Kräftig den Po versohlen ist allmählich out“2, reicht das nicht aus. Untersuchungen belegen zwar, dass Gewalt in der Familie abgenommen hat: Während Mitte der neunziger Jahre noch in einem Drittel der Familien den Kindern schon einmal der Po versohlt wurde, geschieht dies heute nur noch in einem Viertel der Familien. 85 % der Eltern streben eine gewaltfreie Erziehung an. Realität ist aber, dass immer noch zu viel Gewalt in Familien angewandt wird und vermutlich wesentlich mehr als statistisch erfassbar. Denn vielfach wird tatsächlich angewandte Gewalt – vor allem psychische – gar nicht als Gewaltanwendung wahrgenommen. Dies konnte gerade in den durchgeführten Bildungsveranstaltungen immer wieder deutlich werden. Abnehmende Tendenz also, und doch gibt es noch zu viele Eltern oder Sorgeberechtigte, die notfalls auch mal zuschlagen oder Kinder seelisch verletzen. Deshalb spricht das Gesetz, das vor zwei Jahren im Bundestag verabschiedet wurde, auch nicht nur vom „Recht auf gewaltfreie Erziehung“, sondern verbietet zudem „seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen“. Das durchgeführte Projekt und insbesondere die erprobten Seminarmodelle ließen deutlich werden, wie schwierig es ist, „Gewalt in der Familie“ in der Bildungsarbeit zu thematisieren. Allein über niedrigschwellige Angebote war und ist es möglich, Eltern zu erreichen, um mit ihnen Erziehungswerte und Erziehungsstile zu reflektieren. Gewiss ist die Nachfrage nach konkreten, praktischen Hilfsangeboten allerorten sehr stark. Denn Erziehung ist schwieriger geworden in einer Gesellschaft, deren Wertvorstellungen zwar VORWORT 9 nicht unbedingt brüchig, aber vielfältig wurden. Nicht wenige Eltern sehen sich überfordert, aus der Vielfalt der Wert-Angebote die richtigen zu übernehmen und ihren Kindern die Orientierung zu geben, die sie im gesellschaftlichen Dschungel brauchen. Aber schon die Frage nach dem richtigen („respektvollen“) Erziehungsstil lässt erkennen dass es sich eben nicht allein um ein familiäres, sondern ein gesellschaftliches Problem handelt. Deshalb ist es auch nicht allein ein Thema für Erziehungsberatungsstellen, sondern durchaus auch eines für die politische Bildung und die Politik. Familiäre Gewalt hat nämlich durchaus strukturelle Ursachen: Finanzielle Unsicherheit angesichts von Kindern als Armutsrisiko Nummer 1, unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten, kinderfeindliche Wohnviertel (Stadtplanung), zu enger Wohnraum, familienfeindliche Arbeitszeiten, berufliche Mobilität sind nur ein paar wenige Faktoren, die als Stressfaktoren schon einmal auch mit verursachen, dass eine „Hand ausrutscht“. Wer also eine „gewaltfreie Erziehung“ durchsetzen will, muss auch an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen etwas ändern. Hierzu Bewusstsein zu schaffen, zum politischen („zivilgesellschaftlichen“) Handeln zu ermutigen und zu befähigen, wollte das Projekt beitragen. Das Projekt ist beendet, die Aufgabe bleibt; denn immer noch gilt in mindestens einem Viertel aller Familien „Wen der Vater liebt, den züchtigt er.“ (Buch der Sprüche 3,12) Literatur 1 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.): Kampagne „Mehr Respekt vor Kindern“ 2000 bis 2002. Dokumentation. Bonn/Berlin 2002. 2 Psychologie heute September 2000, S. 38. Nachsatz des Herausgebers: Die Publikation der Ergebnisse des Projekts „Familie und Gewalt“ erfolgt als Broschüre und in Form einer CD-Rom. Der Umfang der Berichte machte es erforderlich, einen Teil der Materialien nur für die Präsentation auf der CD-Rom vorzusehen. Dort sind sie durch ein übersichtliches Suchsystem gut erschließbar. 10 Anlass Planung Konzeption Durchführung Ergebnisse Projektbeschreibung 11 12 2. PROJEKTBESCHREIBUNG Lukas Rölli, Simeon Reininger Projektbeschreibung 2.1 Anlass Am 23. Juni 1999 brachten die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundestag den Entwurf eines „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ ein (BT Drucksache 14/1247). Das Gesetz sollte § 1631 Abs. 2 des BGB und § 16 Abs. 1 SGB VIII (KJHG) i.d.S. ändern, dass das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung im BGB festgeschrieben und die Vorschriften über die allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie im KJHG um Angebote erweitert werden sollen, die Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können. Gegenüber der erst vor zwei Jahren beschlossenen Änderung des § 1631 im Rahmen des Kindschaftsrechtsreformgesetzes (KindRG) vom 16. Dezember 1997, in dem „entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen“ als unzulässig erklärt wurden, soll nun ein „Recht auf gewaltfreie Erziehung“ des Kindes festgeschrieben werden, um damit das gewohnheitsrechtliche Züchtigungsrecht in unmissverständlicher Weise abzuschaffen. Bereits in der 1. Lesung des Gesetzesentwurfes vom 30. Juni 1999 und in der Beratung des Bundestages über den Zehnten Kinder- und Jugendbericht vom 30. September 1999 wurde deutlich, dass zur Verhinderung von Gewaltanwendung in der Erziehung in der Bevölkerung ein breiter „Diskussions- und Bewusstseinsbildungsprozess“ in Gang gesetzt werden muss. Ausgehend von der Tatsache, dass Gewaltanwendung gegen Kinder durch eine „komplexe Verschränkung“ von gesellschaftlichen, familiären und individuellen Faktoren bedingt ist, nennt der Zehnte Kinder- und Jugendbericht (BT Drucksache 13/11368, S. 116, 128-131) drei Handlungsfelder für eine wirkungsvolle Prävention gegen Gewalt in der Erziehung: ■ Veränderung der Einstellungs- und Handlungsmuster in der Gesellschaft ■ Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Familien mit Kindern ■ Anforderungen an ein Hilfesystem für betroffene Kinder und ihre Familien Alle drei Handlungsfelder haben eine starke politische Dimension: Es geht um die Frage nach dem Verhältnis von Familie und Staat, nach Zielen und Maßnahmen einer familien- ANLASS 13 und kinderfreundlichen Sozialpolitik und nach Möglichkeiten zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Netzwerke zur Prävention von Gewalt. Mit der Verabschiedung des „Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ plante das Familienministerium eine breite Kampagne, die das Recht auf gewaltfreie Erziehung in der Bevölkerung bewusst machen sollte. Hier sahen sich Träger der politischen Bildung gefordert, zu sachlicher Information und qualifizierter Auseinandersetzung beizutragen und zudem im gesamtgesellschaftlichen Kontext auch Wege zu erörtern, die helfen, Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei zu lösen und Alternativen zu körperlichen Bestrafungen, seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen gegenüber Kindern zu entwickeln. Örtliche und überörtliche Kampagnen sowie eine erhöhte Medienpräsenz des Themas sollten von den Einrichtungen der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung genutzt werden, um das Thema wirksam aufzugreifen und gegebenenfalls mit anderen Aktionen zu vernetzen. Die Familienabteilung des BMFSFJ wollte im Rahmen ihres Aktionsprogramms flankierende Maßnahmen fördern. „Damit sollen neben der Information über die Intention des Gesetzes eine Bewusstseinsänderung in der Bevölkerung und damit auch bei den Eltern erreicht und konkrete Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen gefördert, angeregt und erprobt werden. In der Öffentlichkeit und insbesondere bei den Eltern soll eine breite Kommunikation darüber angeregt werden, wie Erziehung, die auch immer das Setzen von Grenzen bedeutet, so angelegt werden kann, dass Eltern dabei auf körperliche und seelische Gewalt verzichten. Andererseits sollen durch gezielte Hilfestellungen Eltern entsprechende Handlungskompetenzen im täglichen Umgang mit ihren Kindern vermittelt werden, damit sie ihre Verantwortung im Sinne des Gesetzes wahrnehmen können.“ Im Rahmen des Aktionsprogramms waren neben Maßnahmen auf lokaler Ebene (öffentliche Veranstaltungen und Aufklärung im Netzwerk sozialer Hilfen) Maßnahmen der Träger der Familienarbeit zur Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Familienbildung und -beratung und in Familien- und Kinderschutzorganisationen sowie präventive Aktivitäten der Institutionen, die Kontakt mit Eltern pflegen, vorgesehen. Für Träger der politischen Jugend-, Erwachsenen- und Familienbildung kamen eine Beteiligung an dem Aktionsprogramm vornehmlich in Form von präventiven Aktivitäten in Betracht. Konkret konnte es beispielsweise um Information und Auseinandersetzung mit 14 PROJEKTBESCHREIBUNG dem Thema „Grenzen setzen ohne Gewalt“ besonders für die Zielgruppen Eltern und andere Erziehungsberechtigte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Tagesbetreuung für Kinder sowie in anderen Einrichtungen und Stellen der Jugend- und Familienhilfe gehen, die mit Eltern Kontakt haben und auf deren Erziehungsverhalten sie Einfluss nehmen können. Dabei sollten auch grundsätzliche Fragen der Rechtsstellung des Kindes (u.a. Impulse aus der UN-Kinderrechtskonvention), der Werte und Normen in der Erziehung, der Rechtsstellung von Eltern und anderer Erziehungsberechtigter, der rechtlichen und alltäglichen Definition der Begriffe Gewalt, körperliche Bestrafung, seelische Verletzung, entwürdigende Maßnahme sowie das Verhältniss zwischen staatlichen Maßnahmen und Vorschriften im Verhältnis zu Elternrechten und -pflichten erörtert werden. Schließlich sollte auch die Einhaltung von Rahmenbedingungen für eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft berücksichtigt werden. Denn Erziehung hängt in erheblichem Umfang von Einflüssen und Einwirkungen ab, denen Familie und andere Institutionen der Erziehung ausgesetzt sind: das soziale Umfeld im engeren Sinne wie familiäre und kulturelle Tradition, Milieus, Wohnen, Arbeitswelt und vor allem die Medien – kurz: alle Miterzieher. Ein gesamtgesellschaftliches Klima und entsprechendes Handeln tut Not, um das Ziel gewaltloser Erziehung nachhaltig zu erreichen. Zwar will das Aktionsprogramm auch die Öffentlichkeit aufklären und sich mit anderen Aktivitäten (z.B. Soziale Stadt, Armutsprophylaxe) vernetzen; eine gezielte Einwirkung auf die Medien ist jedoch nicht vorgesehen. Daher sollten auch die Rahmenbedingungen für Erziehung in Veranstaltungen der politischen Bildung thematisiert und zu ihrer Verbesserung motiviert werden. Schließlich war auch zu erwägen, inwieweit Kinder und Jugendliche selbst sich mit der Thematik auseinandersetzen wollen und können. 2.2 Planung Die Idee zu einem trägerübergreifenden Projekt der politischen Bildung zum Thema „Gewaltfreie Erziehung“ ist 1999 im Vorfeld des parlamentarischen Beratungsprozesses des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung entstanden. Am 27. Oktober 1999 veranstaltete die Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke in der Bundesrepublik Deutschland (AKSB) eine vom Bundesfamilienministerium geförderte Fachtagung „Gewaltfreie Erziehung: eine Herausforderung für die politische Bildung“, die interessierten Einrichtungen aus unterschiedlichen Trägerzusammenschlüssen der politischen PLANUNG 15 Bildung Gelegenheit gab, die politische und gesellschaftliche Problematik des Themas „gewaltfreie Erziehung“ zusammen mit Experten zu erörtern und inhaltliche und didaktische Rahmenbedingungen eines möglichen gemeinsamen Projektes zu erörtern. Die Fachtagung zeigte, dass das Problem von Gewalt in der familiären Erziehung von politischen Bildnerinnen und Bildnern als wichtiges gesellschaftspolitisches Anliegen angesehen wird, zu dessen Bearbeitung politische Bildung einen Beitrag leisten kann. Nach Rücksprache mit dem BMFSFJ wurde in der Gemeinsamen Initiative der Träger politischer Jugendbildung (GEMINI) eine (möglichst) gemeinsame Beteiligung an dem Aktionsprogramm vorgeschlagen. Man dachte daran, Veranstaltungen und Bausteine zu dem Themenkomplex zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren, um die Thematik bekannt zu machen und ihr eine Perspektive in der weiteren Arbeit zu geben. Ansätze dafür lagen in der AKSB bereits vor: AKSB-Werkstatt 1 „Werte und Normen, Konflikte und Gewalt, Konzepte und Erfahrungen aus einem Arbeitsschwerpunkt katholisch-sozial orientierter politischer Jugendbildung 1994 bis 1998“ sowie das dreibändige Werk Vaskovics/ Lipinski „Familiäre Lebenswelten und Bildungsarbeit“, in dem Ergebnisse des AKSBProjekts Ehe und Familie im sozialen Wandel dokumentiert sind1. Ein solches Projekt bedurfte neben einem ausreichenden Interesse von Mitgliedsinstitutionen einer kontinuierlichen Mitwirkung, einer hauptberuflichen Projektleitung und wissenschaftlicher Zuarbeit. Bevor weitere Schritte eingeleitet werden konnten, war das Interesse an einem solchen Projekt zu erheben. Außerdem war mit dem BMFSFJ eine Abstimmung über Ziele, Inhalte und Strukturen eines solchen Projekts sowie über eine Koordination mit Vorhaben anderer Träger vorzunehmen. Folgende Einrichtungen bekundeten ihr Interesse an einer Mitarbeit in einem Projekt der familienbezogenen politischen Bildung zum Thema „Gewaltfreie Erziehung“ 2: AKSB-Mitglieder Franziskanisches Bildungswerk, Großkrotzenburg Heinrich Pesch Haus, Ludwigshafen Jugendakademie Walberberg Katholisch-Soziale Akademie Franz Hitze Haus Kolpingwerk Deutschland Ludwig-Windthorst-Haus, Lingen Sozialinstitut der KAB für Erwachsenenbildung e.V., Vohenstrauß 16 PROJEKTBESCHREIBUNG Weitere Mitglieder der GEMINI Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) Deutscher Volkhochschul-Verband (DVV) Verband ländlicher Heimvolkshochschulen Deutschlands (HVHS) An der vom BMFSFJ geförderten Tagung vom 27. Oktober 1999 in Bonn haben 34 Vertreterinnen und Vertreter aus diesen Trägerzusammenschlüssen teilgenommen. In einem Expertengespräch mit Prof. Dr. Holzhauer, Universität Münster, wurden im ersten Teil der Tagung grundlegende familienrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Gesetzesvorlage zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung geklärt. Frau Lipinski, Ludwigsburg, zeigte vor dem Hintergrund des abgeschlossenen Projektes „Ehe und Familie im sozialen Wandel“ Perspektiven für den Umgang mit dem Thema Gewalt in der familienorientierten politischen Bildung auf. Im zweiten Teil der Tagung wurde der von der AKSB-Geschäftsstelle vorgelegte Konzeptentwurf für ein trägerübergreifendes Projekt intensiv diskutiert. Die Fachtagung trug zur Klärung der Beteiligungsmöglichkeiten und -formen an dem trägerübergreifenden Projekt bei. Politische Bildung kann die öffentliche Diskussion sinnvoll begleiten. Die Frage nach dem Verhältnis von Familie, Erziehung und Staat trifft einen Kernbereich der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Hier ist politische Bildung gefordert. Sie kann das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Erziehung ohne Gewalt und für die strukturellen Rahmenbedingungen, die dieser Forderung entgegenstehen, wecken und vertiefen. Es ist allerdings nicht Aufgabe politischer Bildung, durch Persönlichkeitsbildung Handlungskompetenzen von Eltern zum gewaltfreien Umgang mit ihren Kindern zu schulen. Der von der AKSB-Geschäftsstelle vorgeschlagene Rahmen wurde grundsätzlich angenommen. Das Interesse an einer Mitarbeit war in genügendem Umfang vorhanden. Bei der Planung des Projekts konnte die AKSB auf bereits vorhandene Erfahrungen aus früheren Projekten zu den Themen „Familie“ und „Gewalt“ zurückgreifen. Die AKSB hatte gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft katholischer Familienbildungsstätten in dem vom BMFSFJ geförderten Projekt „Ehe und Familie im sozialen Wandel“ didaktische Bausteine für eine lebensweltorientierte politische Bildung zum Thema „Veränderte Familien- und Lebensformen“ entwickelt, erprobt und evaluiert3. Dabei wurde auch die Rolle von Leitbildern in der Familienerziehung thematisiert. Fragen nach Gewalt in der Erziehung, nach Gewaltfreiheit und Prävention standen dabei aber nicht im Vordergrund. PLANUNG 17 Im Arbeitsschwerpunkt „Werte und Normen – Konflikte und Gewalt“ erprobte die AKSB über einen Zeitraum von fünf Jahren didaktische Konzepte und Bausteine für einen wertorientierten Umgang mit dem Thema „Gewalt in der außerschulischen politischen Bildung mit Jugendlichen“4. Das Projekt „Ehe und Familie im sozialen Wandel“ und der Arbeitsschwerpunkt „Werte und Normen – Konflikte und Gewalt“ lieferten wichtige Grundlagen für die wertorientierte Auseinandersetzung mit dem Thema „gewaltfreie Erziehung“. Die Behandlung dieses Themas mit dem Ziel, gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen und Präventionsstrukturen zu stärken, stellt für die politische Bildung allerdings weitgehend Neuland dar. Mit dem trägerübergreifenden Projekt „Familie und Gewalt: Menschen würdig erziehen!“ wollte die AKSB Träger der politischen Bildung anregen, sich verstärkt mit diesem Thema auseinander zu setzen. In dem Projekt sollten innovative Konzepte für den Umgang mit diesem Thema in der politischen Bildung vor dem Hintergrund unterschiedlicher Arbeitsformen und Wertorientierungen entwickelt, erprobt und evaluiert werden. Das Projekt bot zudem die Möglichkeit, im Internet ein Forum für den didaktischen und praktischen Austausch zu dem Thema zu schaffen. 18 PROJEKTBESCHREIBUNG 2.3 Konzeption In dem Projekt sollten Bildungseinrichtungen mit unterschiedlichen Arbeitsformen (mehrtägige Veranstaltungen mit Internatsunterbringung, Wochenendseminare, Tagesveranstaltungen; regionale oder überregionale Verwurzelung), unterschiedlichen Zielgruppen und Methoden und mit verschiedenen Werthintergründen über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren kontinuierlich zusammenarbeiten. In der Vorbereitung auf die Fachtagung vom Oktober 1999 meldeten 47 Einrichtungen ihr Interesse an dem Projekt an: acht von der AKSB, neun vom AdB, 26 vom DVV, drei vom HVHS sowie die Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung (AKF). Die aktive und kontinuierliche Zusammenarbeit der am Projekt beteiligten Bildungseinrichtungen diente der gemeinsamen Entwicklung und Erprobung innovativer Seminare und Bausteine der politischen Bildung zum Thema „Gewaltfreie Erziehung“. Neben der Entwicklung und Erprobung von Veranstaltungen war besonders deren gemeinsame Evaluation wichtig im Hinblick auf die Optimierung von Methoden, Themenstellungen, Gewinnung von Teilnehmenden und Nachhaltigkeit von Lernprozessen. Zentrale inhaltliche und didaktische Fragestellungen sollten durch wissenschaftliche Expertisen im engen Austausch mit den Praktikern geklärt werden. Durch die Dokumentation der entwickelten und erprobten Bausteine und Materialien, der wissenschaftlichen Expertisen, durch das Forum im Internet und durch die Veranstaltung von Fachtagungen für interessierte Einrichtungen über den Kreis der am Projekt Beteiligten hinaus wollte man erreichen, dass das Thema „Gewaltfreie Erziehung“ in seinen politischen Dimensionen von einer breiten Zahl von Einrichtungen der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung aufgenommen wird, die dabei auf den gewonnen Erfahrungen des Projektes aufbauen können. Die Zusammenarbeit von Trägern mit unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen und Wertorientierungen barg den Vorteil in sich, dass sehr unterschiedliche Veranstaltungsformen erprobt und sehr vielfältige Teilnehmergruppen angesprochen werden können. Dies sollte den späteren Transfer auf andere Einrichtungen der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung erleichtern. Die trägerübergreifende Zusammenarbeit stellte für die am Projekt beteiligten Einrichtungen auch eine Herausforderung dar. Sie setzte die Bereitschaft voraus, sich mit anderen Trägern über den eigenen Arbeitszusammenhang hinaus auszutauschen und unterschiedliche Arbeitsformen und Wertorientierungen zu respektieren. Die trägerübergreifende Zusammenarbeit sollte die je eigenen Ansätze der beteiligten Einrichtungen diskursiv befruchten und zugleich KONZEPTION 19 einen breiten und vielerorts spürbaren Impuls zur Auseinandersetzung mit der Thematik auslösen. 2.3.1 Projektziel Übergeordnetes Ziel des Projektes war es, durch politische Bildung bei Eltern, Erziehungsberechtigten und Verantwortlichen in Gesellschaft und Staat das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Erziehung zu stärken, die die Persönlichkeitsrechte junger Menschen und ihre Würde achtet und ihre Entwicklung in einer auf Teilhabe, Verantwortung und Solidarität angelegten demokratischen Gesellschaft fördert. Dazu gehörte die Auseinandersetzung mit den strukturellen Rahmenbedingungen, die diesem Ziel förderlich oder hinderlich sind. Im einzelnen sollte durch das Projekt ■ geklärt werden, welche Bedeutung dem Misshandlungsverbot und der Gewaltfreiheit in einer Kultur der Erziehung in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zukommt; ■ Bausteine und Materialien zur Behandlung des Themas „Gewaltfreie Erziehung“ in der politischen Bildung in unterschiedlichen Arbeitsformen und mit unterschiedlichen Teilnehmerkreisen gemeinsam entwickelt, erprobt, ausgewertet und für die weitere Verwendung in der außerschulischen politischen Jugend-, Familien- und Erwachsenenbildung dokumentiert werden; ■ im Austausch mit den am Projekt beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen wissenschaftliche Expertisen zu zentralen Fragestellungen des Themas erstellt werden, die anderen Einrichtungen das Aufgreifen des Themas erleichtern; ■ durch Fachkonferenzen und Öffentlichkeitsarbeit Einrichtungen der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung angeregt werden, das Thema „Gewaltfreie Erziehung“ in Veranstaltungen der politischen Bildung mit unterschiedlichen Teilnehmerkreisen aufzugreifen; ■ im Internet ein Forum in Form einer Homepage geschaffen werden, das den didaktischen Austausch in der Projektgruppe und die öffentliche Diskussion von praktischen Fragen im Zusammenhang mit dem Projektthema ermöglichen sollte. 2.3.2 Lernziele Mit den im Rahmen des Projektes entwickelten, erprobten und ausgewerteten Veranstaltungen sollten folgende Lernziele erreicht werden: 20 PROJEKTBESCHREIBUNG ■ Eltern und Erzieherinnen und Erzieher sollen zur Wahrnehmung ihrer Erziehungsaufgabe im Hinblick auf die damit verbundene gesellschaftliche Verantwortung ermutigt werden. ■ Kinder und Jugendliche sollen ihre Verantwortung für eine Erziehung in gegenseitigem Respekt vor der Würde des anderen erkennen und dabei mitwirken. ■ Eltern, Erzieherinnen und Erziehern sowie Personen, die sich um die Herstellung kinderund familienfreundlicher Verhältnisse in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bemühen, soll der Wert von Erziehung in gegenseitigem Respekt vor der Würde des anderen im Hinblick auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung verdeutlicht werden. ■ Personen, die sich in der Jugend- und Familienhilfe, in der Sozial- und Familienpolitik oder in zivilgesellschaftlichen Initiativen durch präventive Maßnahmen für eine Erziehung ohne körperliche und seelische Gewaltanwendung einsetzen, sollen Kenntnisse über gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen erwerben oder vertiefen und ihre Handlungskompetenzen im Hinblick auf die Schaffung günstiger gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für eine solche Erziehung erweitern. 2.3.4 Zielgruppen Mit den im Rahmen des Projektes entwickelten, erprobten und ausgewerteten Veranstaltungen wurden verschiedene Zielgruppen angesprochen. In der ersten Phase des Projektes mussten Fragen der Zugangsweise und der Themenwahl für die unterschiedlichen Zielgruppen geklärt werden. Folgende Zielgruppen standen im Mittelpunkt: ■ Eltern und Erziehungsberechtigte. ■ Kinder und Jugendliche. ■ Familien (auch generationenübergreifend). ■ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Tagesbetreuung. ■ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Einrichtungen und Stellen der Jugend- und Familienhilfe sowie Lehrerinnen und Lehrer, die mit Eltern Kontakt haben und auf deren Erziehungsverhalten Einfluss nehmen können. ■ Personen, die in Politik, in Verbänden, in zivilgesellschaftlichen Initiativen und in den Medien auf Erziehungsbedingungen Einfluss nehmen können. 2.3.5 Themenbereiche Die Veranstaltungen, die im Rahmen des Projektes entwickelt, erprobt und ausgewertet werden sollten und wurden, befassten sich mit den politischen und gesellschaftlichen KONZEPTION 21 Dimensionen des Zieles einer Erziehung ohne körperliche und seelische Gewaltanwendung. Im Sinne der Teilnehmerorientierung sollten die konkreten Erfahrungen und Lebenszusammenhänge der Teilnehmenden selbstverständlich berücksichtigt werden. Die Reflexion von Erziehungsverhalten im Hinblick auf Werte, auf dessen gesellschaftliche Bedeutung und auf dessen gesellschaftliche Rahmenbedingungen waren das Hauptanliegen der Veranstaltungen. Man ging von der Annahme aus, dass es in der politischen Bildung nicht darum ginge, individuelle Problemlagen von Teilnehmenden oder von deren Familien durch Beratung, Begleitung oder Therapie zu bewältigen oder entsprechende Erziehungskompetenzen zu erlernen. Es erschien jedoch sinnvoll und möglich, Themenfelder des Projekts mit anderen zu verknüpfen, z.B. in Veranstaltungen zu erziehungspraktischen Fragen oder zur Gestaltung des Familienlebens. Folgende Themenbereiche sollten durch verschiedene Veranstaltungen abgedeckt werden: ■ Grundsätzliche Fragen der Erziehung und der Rechtsstellung des Kindes: – Rechtsstellung von Eltern, anderen Erziehungsberechtigten und Kindern unter Berücksichtigung von Grundgesetz und UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes. – Werte und Normen in der Erziehung – Eingriffsmöglichkeiten des Staates in die Erziehung und deren Grenzen. – Verhältnis staatlicher Maßnahmen zu Elternrechten und -pflichten. ■ Bedeutung von Gewaltfreiheit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung unserer Gesellschaft: – Rechtliche und alltägliche Definition der Begriffe „Gewalt“, körperliche Bestrafung, seelische Verletzung, entwürdigende Maßnahme, Misshandlung in der Familie. – Zusammenhänge zwischen Gewalt in der Familie und Gewalt in der Gesellschaft. ■ Gesellschaftliche Rahmenbedingungen zur Förderung des Zieles einer gewaltfreien Erziehung: – Rahmenbedingungen für eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft und ihr Einfluss auf Erziehung. – Einfluss der Medien auf Gewalt in der Erziehung. – Vorbeugende Maßnahmen zur Eindämmung oder Verhinderung von Gewalt in der Erziehung: öffentliche Verantwortung, zivilgesellschaftliche Handlungsfelder. 2.3.6 Veranstaltungsformen Je nach Zielgruppe und Träger wurden in dem Projekt unterschiedliche Veranstaltungsformen angewandt, z.B.: 22 PROJEKTBESCHREIBUNG ■ Einzelveranstaltungen ■ Wochenendseminare ■ Workshops mit Multiplikatoren aus der Jugend- und Familienhilfe oder engagierten Personen aus Politik, Verbänden oder zivilgesellschaftlichen Initiativen ■ Seminarreihen z.B. über ein Semester 2.3.7 Leitende Erkenntnisziele für die Evaluation Die gemeinsame Evaluation der erprobten Veranstaltungen stellte einen zentralen Bestandteil des Projektes dar. Sie ermöglichte es, Methoden, Themenstellungen und Werbemaßnahmen zu optimieren, um für unterschiedliche Zielgruppen nachhaltige Lernprozesse zu erreichen und einen breiten Kreis der Bevölkerung anzusprechen. Durch die Dokumentation der Evaluation konnten die gewonnenen Erfahrungen an andere Einrichtungen der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung weitergegeben werden. Folgende Erkenntnisziele leiteten die Evaluation: ■ Es sollten zielgruppenspezifisch geeignete Methoden für die Auseinandersetzung mit dem Thema gewaltfreie Erziehung in der politischen Bildung gefunden werden, die bei den Teilnehmenden das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Erziehung in gegenseitigem Respekt vor der Würde des anderen erhöhen. ■ Es sollten geeignete Bausteine und Materialien entwickelt werden, die nachhaltige Lernprozesse im Hinblick auf die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen zur Förderung des Zieles einer Erziehung in gegenseitigem Respekt vor der Würde des anderen ermöglichen. 2.3.8 Arbeitsstruktur Das Projekt erforderte die aktive und kontinuierliche Mitarbeit der beteiligten Einrichtungen über einen Zeitraum vom 01.3.2000 bis 30.11.2002, also über zweieinhalb Jahre. Es wurde von einem hauptberuflichen Projektleiter (1/3-Stelle) koordiniert. Die Projektgruppe, in der alle beteiligten Einrichtungen vertreten waren, traf sich halbjährlich, um sich über die Entwicklung, Erprobung und Auswertung der Veranstaltungen auszutauschen. Zu den zentralen Fragen des Projektes wurden Fachtagungen veranstaltet oder wissenschaftliche Expertisen in Auftrag gegeben. Für den didaktischen Austausch in der Projektgruppe und für die öffentliche Diskussion von praktischen Fragen im Zusammenhang mit dem Projektthema wurde im Internet ein Forum in Form einer Homepage geschaffen. KONZEPTION 23 Diese Arbeitsstruktur setzte voraus, dass die beteiligten Einrichtungen folgende Leistungen erbrachten: ■ Durchführung von möglichst zwei Seminaren pro Jahr, die inhaltlich den Zielen des Projektes entsprechen; ■ schriftliche Auswertung der Veranstaltungen auf der Grundlage gemeinsam entwickelter Evaluationskriterien; ■ Dokumentation methodischer Bausteine für eine gemeinsame Publikation; ■ Teilnahme an zwei Arbeitstagungen der Projektgruppe pro Jahr für die Entwicklung und Auswertung der Veranstaltungen. Der didaktische Austausch über das Internet setzte voraus, dass die beteiligten Einrichtungen über einen Zugang zum Internet verfügen. 2.3.9 Zeitplan Das Projekt begann im ersten Quartal 2000. In einer ersten Phase entwickelte die Projektgruppe gemeinsam Veranstaltungen und Evaluationskriterien, die den Zielen der Projektkonzeption entsprachen. Gleichzeitig wurden Expertisen in Auftrag gegeben werden, die im Austausch mit der Projektgruppe entstanden und die Entwicklung und Auswertung von Veranstaltungen unterstützten. Das Forum im Internet wurde im ersten Jahr realisiert. Nach einer ersten Erprobungsphase von etwa einem Jahr konnten die Bausteine und Veranstaltungen modifiziert und weiter erprobt werden. In Fachtagungen wurden Zwischenergebnisse präsentiert und neue Impulse für die beteiligten Einrichtungen und weitere interessierte Kreise vermittelt. In der letzten Phase des Projektes wurden die Bausteine, Materialien und die Evaluationsergebnisse dokumentiert und für die Veröffentlichung vorbereitet. Die geplante Abschlussveranstaltung konnte auf Grund eins zum vorgesehenen Zeitpunkt geringen Teilnehmerinteresses nicht durchgeführt werden. Quartal 2000 / 1 Aktivitäten Vorbereitungsphase A ■ Aufbau der Organisationsstrukturen des Projektes Kontaktierung von Experten ■ 1. PG-Sitzung: Konstitutierung der Projektgremien; Vergabe der Expertisen; Festlegung von gemeinsamen Themenfeldern für die Planung von Veranstaltungen 24 2000 / 2 PROJEKTBESCHREIBUNG Vorbereitungsphase B ■ Entwicklung von Veranstaltungen in den Themenfeldern ■ Erstellung der Expertisen ■ Aufbau des Internet-Forums 2000 / 3 Vorbereitungsphase C ■ 2. PG-Sitzung: Abstimmung der ersten Expertisen; Festlegung der Evaluationsraster 2000 / 4 1. Erprobungsphase ■ Jede beteiligte Einrichtung führt bis Ende 2001/2 mind. 1 Veranstaltung durch. 2001 / 1 ■ 3. PG-Sitzung: Abstimmung der letzten Expertisen; Evaluation von geplanten oder durchgeführten Veranstaltungen; Begutachtung des Internet-Forums 2001 / 2 ■ 1. Fachtagung ■ Ausbau des Internet-Forums und PR für das Projekt 2001 / 3 Zwischenauswertung ■ 4. PG-Sitzung: gemeinsame Evaluation der durchgeführten Veranstaltungen; ggf. Beratung über Modifizierungen der Veranstaltungen; Auswahl von ersten Bausteinen für die Veröffentlichung 2001 / 4 2. Erprobungsphase ■ Jede beteiligte Einrichtung führt bis Ende 2002/1 mind. 2 weitere Veranstaltungen durch. ■ Veröffentlichung der Expertisen ■ 2. Fachtagung 2002 / 1 ■ 5. PG-Sitzung: gemeinsame Evaluation der durchgeführten Veranstaltungen; Vorbereitung der Abschlussveranstaltung; ■ Vorbereitung der Veröffentlichung der Projektergebnisse 2002 / 2 Abschlussphase – Planung ■ Abschlussveranstaltung ■ Jede beteiligte Einrichtung präsentiert auf einer Ausstellungstafel Bausteine, Materialien und abschließende Evaluationsergebnisse. 2002 / 3 ■ Veröffentlichung der Projektergebnisse DURCHFÜHRUNG 25 2.3.10 Förderung Die Zuwendungen des BMFSFJ für das Projekt wurden in erster Linie zur Finanzierung der Kosten der Projektleitung, der Sitzungen der Projektgruppe einschließlich der Reisekosten ihrer Mitglieder nach BRKG, der Expertisen, des Internet-Forums, der Fachtagungen und einer Abschlussveranstaltung verwendet. Die finanzielle Förderung von Veranstaltungen der mitwirkenden Bildungseinrichtungen z.B. für Fachtagungen und Modellveranstaltungen im besonderen Interesse des Projektes stand nicht im Vordergrund des Projektes. Die beteiligten Einrichtungen erhielten für das Erstellen von Evaluationsberichten und Bausteinen Aufwandsentschädigungen, die sich am Zeitaufwand orientierten und im einzelnen vereinbart wurden. Zusätzlich war die Unterstützung von Werbemaßnahmen für besonders schwierig zu erreichende Zielgruppen möglich. 2.4 Durchführung Das auf gut zweieinhalb Jahre angelegte trägerübergreifende Projekt startete Anfang März 2000. Die zehn Monate des Jahres 2000 stellen somit das erste Drittel der gesamten Projektlaufzeit dar. Wie aus dem Zeitplan der Projektkonzeption hervorgeht, standen in dieser Auftaktphase die Konstituierung der Kooperationsstrukturen im Projekt sowie die Entwicklung von Veranstaltungskonzepten im Mittelpunkt. Auf der Grundlage der Ergebnisse der ersten Fachtagung am 27.10.1999 entwickelte die AKSB-Geschäftsstelle im November/Dezember 1999 die Konzeption für das Projekt „Familie und Gewalt: Menschen würdig erziehen!“. Sie lud die Trägerzusammenschlüsse der politischen Bildung (AdB, DVV, HVHS) ein, unter ihren Mitgliedern interessierte Einrichtungen für die Projektmitarbeit zu gewinnen. Um eine effektive Zusammenarbeit in der Projektgruppe zu gewährleisten, wurde die Zahl der beteiligten Bildungseinrichtungen auf zehn begrenzt. Die Auswahl konkreter Einrichtungen lag in der Verantwortung der jeweiligen Trägerzentralen. Aus diesem Auswahlverfahren ergab sich eine sehr ausgeglichene Zusammensetzung der am Projekt beteiligten Einrichtungen hinsichtlich der verwendeten Arbeitsformen und angesprochenen Zielgruppen sowie der regionalen und überregionalen Verteilung. Einzig in den neuen Bundesländern ließ sich leider keine interessierte Einrichtung finden. 26 PROJEKTBESCHREIBUNG Die am Projekt beteiligten Bildungseinrichtungen verpflichteten sich, für die gesamte Dauer des Projektes eine Person als Ansprechpartner/-in zu benennen. Von den im März 2000 in der Projektgruppe zusammen treffenden Personen (siehe 7.2), hatten etwa die Hälfte an der Fachtagung vom 27. Oktober 1999 teilgenommen. Das gemeinsame Verständnis über die Grundlagen und Ziele des Projektes musste deshalb in der ersten Projektgruppensitzung vom 1./2. März 2000 noch einmal gründlich erarbeitet und vertieft werden. Da die beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen in vier unterschiedliche Trägerzusammenschlüsse mit jeweils spezifischen Organisations- und Verwaltungsstrukturen eingebunden waren, galt es gleichzeitig, durch geeignete, leicht handhabbare Instrumente (Merkblätter, Anmeldeformulare, Sprachregelungen etc.) auch eine organisatorische Grundlage für die effiziente Kooperation im Projekt zu legen. Beide Zielsetzungen konnten in der ersten Projektgruppensitzung zufriedenstellend erreicht werden. Die am Projekt beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen akzeptierten sich sehr schnell als gleichwertige Partner und zeigten großes Interesse an einer Zusammenarbeit über gewohnte Fach- und Trägergrenzen hinweg. Bereits in der zweiten Projektgruppensitzung vom 20./21. September 2000 war die für den fachlichen Austausch und die gemeinsame Entwicklung von Veranstaltungskonzepten unbedingt erforderliche Vertrauensgrundlage in der Projektgruppe vorhanden. Die am Projekt anfänglich beteiligte Überregionale Frankfurter Sozialschule Abt. Fulda schied nach kurzer Zeit aus; an ihre Stelle trat aus dem Mitgliedseinrichtungen der AKSB das Familienpädagogische Institut der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Westdeutschlands in Haltern. Bei der Bildungsstätte Alte Schule Anspach e.V. und bei der Hildesheimer Volkshochschule trat im Verlaufe des Jahres 2000 Personalwechsel ein, die jedoch in der Projektgruppe gut aufgefangen werden konnten. 2.4.1 Aufbau der Projektstrukturen Zentrales Kooperationsinstrument für die Projektgruppe waren sechs Projektgruppensitzungen. Die erste Projektgruppensitzung diente der Vergewisserung über die Projektgrundlagen, dem Sich-Kennen-Lernen und der Entwicklung von Kooperationsinstrumenten. Die zweite Sitzung war v.a. der Entwicklung und Diskussion von Veranstaltungskonzepten gewidmet. Der Informationsaustausch über den Stand der Projektaktivitäten bei den beteiligten Bildungseinrichtungen sowie die Weitergabe von Literatur- und Veranstaltungshinweisen gehörten zum festen Bestandteil der Sitzungen. Die weiteren Inhalte bildeten insbesondere die Entwicklung, Erprobung und Evaluation innovativer Kurse (siehe 2.4.2) sowie der fachdidaktische Austausch über Kurskonzepte (siehe 2.4.3). DURCHFÜHRUNG 27 Zwischen den einzelnen Sitzungen wurden die Projektgruppenmitglieder von der Projektleitung durch mehrere Rundschreiben per Post und per E-Mail über die Entwicklung des Projektes und über gesellschaftliche und politische Vorgänge im Themenfeld des Projektes informiert. Seit November 2000 konnten die internen Seiten der Projekthomepage als zusätzliches Medium genutzt werden, um zentrale Dokumente, Vorlagen und Formulare für die Projektgruppe leicht abrufbar bereit zu halten. Die Entwicklung eines eigenständigen internetbasierten Kommunikationsinstrumentes durch die Projektleitung musste aus technischen Gründen auf das Frühjahr 2001 verschoben werden. Um die Verteilung der Zuwendungen für Evaluationsberichte, Bausteine und Werbemaßnahmen und das Anmeldeverfahren zur Bewerbung für die Durchführung einer Projektfachtagung in Kooperation mit der Projektleitung möglichst fair zu gestalten, wurden gemeinsam mit der Projektgruppe ein Merkblatt und dazu gehörige Anmeldeformulare entwickelt. So konnte sicher gestellt werden, dass die Projektleitung frühzeitig und umfassend über geplante Veranstaltungen informiert wurde und bei Bedarf die beteiligten Einrichtungen bei der Planung von Veranstaltungen beraten konnte. Zur Vertiefung ihrer Fachkenntnisse baute die Projektleitung einen Handapparat mit einschlägiger Literatur auf und betrieb eingehende Internet-Recherchen (siehe 6.1). Auf der Grundlage des fachwissenschaftlichen Diskurses und der Erkenntnisinteressen des Projektes einigte sich die Projektgruppe auf zwei erste Aspekte des Projektthemas, die in Expertisen geklärt werden sollten. Die Projektgruppe einigte sich auf die Vergabe von Expertisen zu den folgenden Themen: ■ Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelder zur Erleichterung familiären Erziehungshandelns und zur Prävention von Gewalt in der Erziehung (siehe 3.1) ■ „Gewaltfreie Erziehung“: Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes (siehe 3.2) Darüber hinaus zeigte sich die Notwendigkeit, dass unbedingt auch die juristischen Fragen im Zusammenhang mit dem Thema beleuchtet werden sollten (siehe 4.4.2). 2.4.2 Entwicklung, Erprobung und Evaluation innovativer Kurse Um die Fülle von Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Projektthema zu strukturieren und die Erkenntnisziele der Projektgruppe zu bündeln, einigte sich die Projektgruppe auf vier Themenfelder, die in den zu entwickelnden Veranstaltungskonzepten und in den fachwissenschaftlichen Diskursen der Projektgruppe im Mittelpunkt stehen sollten: 28 PROJEKTBESCHREIBUNG ■ Grundsätzliche Fragen der familiären Erziehung und der Rechtsstellung von Eltern und Kindern im Hinblick auf Gewaltanwendung. ■ Erziehungsziel „Gewaltfreiheit“ und seine Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung unseres Staates. ■ Gesellschaftliche Rahmenbedingungen zur Förderung oder Behinderung des Zieles einer gewaltfreien Erziehung. Bei der Entwicklung und der Diskussion erster Veranstaltungskonzepte zeigte sich, dass diese Aufteilung in Themenfelder mehr analytischen als praktischen Nutzen hatte. Es erwies sich als illusorisch, einzelne Bildungsveranstaltungen schwergewichtig oder gar ausschließlich einem dieser Themen zu widmen. Die Isolierung einzelner Aspekte widerspricht der ganzheitlichen Lebenserfahrung der Teilnehmenden. In der Praxis werden deshalb meist mehrere Ebenen des Themas angesprochen. Für die Projektevaluation dürften die oben genannten Themen deshalb keine zentrale Rolle mehr spielen. Dennoch trug die intensive Auseinandersetzung mit den Detailfragen dieser Themenfelder zur fachlichen Vertiefung des Diskurses in der Projektgruppe bei. Hinsichtlich der Zielgruppen, die von den beteiligten Bildungseinrichtungen schwergewichtig angesprochen werden, ergab sich eine ausgeglichene Verteilung. Mit Eltern, Erziehungsberechtigten oder Familien gemeinsam mit Kindern arbeiteten fünf Einrichtungen zusammen, mit Jugendlichen zwei Einrichtungen, mit professionellen Pädagoginnen und Pädagogen vier Einrichtungen und mit Spätaussiedlern oder Migranten zwei Einrichtungen. Die Voraussetzungen, um Konzepte für Veranstaltungen mit möglichst vielen verschiedenen Zielgruppen auszuprobieren, sind in der Projektgruppe somit gegeben. Um eine an den leitenden Erkenntniszielen des Projektes (siehe 2.3.1) ausgerichtete Evaluation der für das Projekt durchgeführten einzelnen Bildungsveranstaltungen zu gewährleisten, entwickelte die Projektleitung gemeinsam mit der Projektgruppe ein Evaluationsraster, das den Projektmitgliedern als Dateivorlage zur Verfügung gestellt wurde. Die Projektgruppenmitglieder wurden gebeten, ihre Berichte in elektronischer Form einzureichen, so dass sie später im Internet den übrigen Mitgliedern ohne Aufwand zur Verfügung gestellt werden konnten. DURCHFÜHRUNG 29 2.4.3 Fachdidaktischer Austausch über Kurskonzepte Nach der Auftaktsitzung der Projektgruppe benötigten die beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen rund ein halbes Jahr, um innerhalb ihrer jeweiligen Bildungseinrichtung realisierbare Kurskonzepte für Veranstaltungen zum Projektthema zu entwickeln. Dabei ist zu bedenken, dass die familienorientierte politische Bildung in allen am Projekt beteiligten Einrichtungen jeweils nur einen Teilaspekt der gesamten Bildungsangebote darstellt. Bei der Entwicklung von Kurskonzepten ging es folglich auch darum, diese Kurse stimmig in ein Gesamtkonzept der jeweiligen Einrichtung einzubauen. Dies traf insbesondere auf die Frage der anzusprechenden Zielgruppen und der zu ergreifenden Marketingstrategien zu. Im Austausch mit der Gruppe wurden dann insbesondere Fragen der Titelwahl, der Zielgruppenansprache, der Themenstellung und der Methodenwahl diskutiert. Die Bearbeitung von zehn unterschiedlichen Konzepten hatte den Vorteil, dass jedes Projektmitglied seine Ideen vorstellen konnte. Sie schuf allerdings auch einen großen Zeitdruck, der eine intensive Diskussion einzelner Aspekte kaum zuließ. Für den weiteren fachdidaktischen Austausch entschied sich die Projektgruppe deshalb zu einem Vorgehen, bei dem weniger Kurskonzepte in intensiverer Form besprochen werden können. 2.4.4 Erprobung von Werbemaßnahmen Bei der Konzeption des Projektes war sich der Projektträger bewusst, dass die Entwicklung von geeigneten Marketingstrategien für Bildungsveranstaltungen zum Projektthema von großer Bedeutung ist. Aus diesem Grund sah er neben Honoraren für Evaluationsberichte und Bausteine auch Zuwendungen für die Unterstützung von Werbemaßnahmen vor. Der Kostenplan des Projektes sah solche Zuwendungen allerdings nur für das erste Kalenderjahr vor. Die Möglichkeit, Unterstützung für besondere Werbemaßnahmen in Anspruch zu nehmen, wurde lediglich bei einer Veranstaltung in Anspruch genommen. Es zeigte sich im Verlauf der ersten Kurserprobungen, dass für die Gewinnung von Teilnehmenden aufwändige Werbekampagnen mit Plakaten oder Flugblättern wenig nützlich sind. Vielmehr ist eine intensive persönliche Beziehungspflege zu bestehenden Organisationen und Akteuren im gesamten Bereich der Familien- und Jugendhilfe für die Gewinnung von Teilnehmenden ausschlaggebend. Dies erfordert einen relativ langen Vorlauf für die 30 PROJEKTBESCHREIBUNG Vorbereitung von Veranstaltungen und setzt die Ressourcen einer auf langfristige Erfolge ausgerichteten Bildungsinfrastruktur voraus. 2.4.5 Vermittlung von Projektergebnissen über das Internet Für die Vermittlung von Projektergebnissen an die Fachöffentlichkeit spielte die Entwicklung einer eigenen Projekthomepage eine wichtige Rolle. Innerhalb der ersten drei Monate konnte das Grundgerüst der Projekthomepage entwickelt und ins Internet gestellt werden; Ergänzungen folgten dann im weiteren Verlauf des Jahres. Neben einer Vorstellung des Projektes und dem Verzeichnis der am Projekt beteiligten Einrichtungen (mit direkten Links auf deren Homepages) enthält die Website (www.aksb.de/familie-und-gewalt) eine Rubrik zur Ankündigung von Projektfachtagungen, eine Dokumentation mit Ergebnissen zurückliegender Fachtagungen und weiteren nützlichen Informationen (z.B. Zusammenstellung von Rechtstexten, Literaturliste) sowie ein umfangreiches Linkverzeichnis mit Verweisen zu Institutionen und Organisationen im Umfeld des Projektthemas. Zu der Bekanntheit der Projekthomepage hat die Verlinkung mit der Kampagnenhomepage „www.mehr-respekt-vor-kindern.de“ und mit Organisationen aus dem Bereich des Kinderschutzes wesentlich beigetragen. Die Homepage kann über das Stichwort „Familie und Gewalt“ in gängigen Suchmaschinen leicht gefunden werden. Zu den beliebtesten Seiten zählten (in der Reihenfolge ihrer Nennung): Mitgliederliste, Vorstellung des Pro- DURCHFÜHRUNG 31 jektes, Pressemeldungen, Links. Von den zum Download zur Verfügung gestellten Dokumenten wurden die Rechtstexte, die Literaturliste und die Dokumentation der Fachtagung vom 27. Oktober 1999 jeweils zwischen 30 bis 50 mal abgefragt. Der Aufbau und das Betreiben einer eigenen Projekthomepage hat sich somit für den Austausch mit der Fachöffentlichkeit als ein sehr effektives Kommunikationsmittel erwiesen. Über Links und Suchmaschineneinträge konnte einerseits ein breites Publikum, das an der Projektthematik interessiert ist, auf das Projekt aufmerksam gemacht werden; und andererseits konnten Materialien aus dem Projekt Interessierten ohne Portound Verwaltungskosten zur Verfügung gestellt werden. Als Ergänzung zur Projekthomepage wurde von der Projektleitung ein Projektflyer entwickelt, der im wesentlichen eine kurze Selbstdarstellung des Projektes und eine Liste mit den Adressen der am Projekt beteiligten Bildungseinrichtungen enthält (vgl. Anlage). Der Flyer sollte den Projektmitliedern und der Projektleitung in erster Linie als Informationsmittel bei der Werbung für Kooperationspartner und für Teilnehmende an den Projektfachtagungen dienen. Er wurde in einer Auflage von 3.200 Exemplaren gedruckt. Parallel zur Herstellung des Flyers baute die Projektleitung einen projektspezifischen Verteiler mit rund 200 Anschriften von bundesweit tätigen Organisationen und Institutionen im Umfeld des Projektthemas auf. Diese Einrichtungen wurden mit Informationen zum Projekt und mit der Ausschreibung für die erste Projektfachtagung beschickt. Neben den Postadressen baute die Projektleitung auch einen Verteiler für E-Mail-Adressen auf, über den weitere Einrichtungen kostengünstig beschickt werden können. 2.4.6 Weitere Schwerpunkte der Projektgruppe Gewinnung von Teilnehmenden: Die intensive Pflege von persönlichen Kontakten zu Akteuren im Bereich von Jugendhilfe und Gewaltprävention auf kommunaler Ebene sowie eine kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit ist für die Gewinnung von Teilnehmenden sehr wichtig. Dabei können auch bereits vorhandene Strukturen (z.B. Stadtelternrat, „Runde Tische“ etc.) genutzt werden. Der hohe persönliche Arbeitsaufwand, der mit dieser Akquisitionsarbeit verbunden ist, kann unter Umständen durch die Kooperation mit Gleichgesinnten reduziert werden. Der Zugang zu Teilnehmendengruppen braucht nicht immer ausschließlich über das Thema Gewaltprävention zu erfolgen. 32 PROJEKTBESCHREIBUNG Erschließung von Zugängen zu gesellschaftlichen und politischen Aspekten des Themas: Die Öffnung der Diskussion über Gewaltprävention in der Tagespflege, in Kindergärten, in Tagesstätten und Schulen durch die Einbeziehung der Familie ist wichtig. Bei der Thematisierung von gesellschaftlichen und politischen Aspekten sollte der Vereinbarkeit von Familie und Beruf besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. In die Reflexion über „strukturelle Gewalt“ sollte auch der eigene Arbeitsbereich von Pädagoginnen und Pädagogen einbezogen werden. Gute Kenntnisse der familienpolitischen Situation und der Familien- und Jugendhilfestrukturen vor Ort sind eine wichtige Voraussetzung für die familienorientierte politische Bildung. Erschließung von Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen familiären Erziehungshandelns: Ausgangslage für die Erschließung von Handlungsmöglichkeiten sollte eine gründliche Analyse bestehender Probleme und Hilfestrukturen sein. Die Arbeit an konkreten Projekten oder das Erarbeiten von Handlungsoptionen in Rollenspielen sind geeignete Methoden sowohl zur Vertiefung von Sachkenntnissen als auch zur Stärkung von Handlungskompetenzen. Die Projektgruppenmitglieder diskutierten u.a. Handlungsempfehlungen für die Bildungsarbeit mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Jugendhilfe und mit Pädagoginnen und Pädagogen. Sie konzentrierten sich vor allem auf die Frage, wie in Bildungsveranstaltungen Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen familiären Erziehungshandelns thematisiert werden können. Leitideen für die Kooperation mit Verantwortlichen für die Stadtplanung: von Erfahrungen ausgehen, wo die Stadtplanung in der Vergangenheit versagt hat, oder von konkreten Gewaltereignissen, die in der Öffentlichkeit bekannt wurden; möglichst viele Beispiele struktureller Rücksichtslosigkeiten in der Stadt sammeln; Umsetzung von Verbesserungsvorschlägen in Planspielen, in denen v.a. Beteiligungsmodelle für Kinder und Familien realisiert werden. ERGEBNISSE 33 2.5 Ergebnisse 2.5.1 Strukturelle Ebene Die Auswertung der Erfahrungen der Projektarbeit ergibt folgende Erkenntnisse: ■ Die Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen aus unterschiedlichen Trägerzusammenschlüssen zu einem bestimmten Thema ist möglich. Bei Pädagoginnen und Pädagogen ist eine große Bereitschaft zum Kennenlernen anderer Arbeitsformen und Themenzugänge vorhanden. Allerdings erfordert der Aufbau einer Kooperationsstruktur, die den fachlichen Austausch sicherstellt, einen Zeitraum von ungefähr vier bis sechs Monaten. ■ Projektgruppensitzungen benötigen ausreichend Zeit, um neben administrativen Absprachen einen intensiven fachdidaktischen Austausch zu gewährleisten. ■ Die Entwicklung von innovativen Veranstaltungen in Bildungseinrichtungen, die sich nicht ausschließlich auf familienorientierte politische Bildung spezialisiert haben, benötigt einen Zeitraum von mindestens einem Jahr. Um eine eingehende Erprobung von diesen Veranstaltungen zu gewährleisten, ist danach ein Zeitraum von mindestens eineinhalb bis zwei weiteren Jahren unbedingt erforderlich. ■ Die Tatsache, dass für innovative Veranstaltungen der am Projekt beteiligten Bildungseinrichtungen keine besondere Veranstaltungsförderung zur Verfügung steht, hat zur Folge, dass die Einrichtungen das Risiko für solche Veranstaltungen ausschließlich selbst tragen. Die Finanzierung erfolgte in der Regel durch Veranstaltungseigene Quellen. Frei ausgeschriebene Veranstaltungen ohne feste Kooperationspartner sind dadurch kaum möglich. Innovationen können im Rahmen eingespielter Kooperationsnetze der beteiligten Einrichtungen entwickelt werden; sollen darüber hinaus neue Zielgruppen über Kooperationen angesprochen werden, so macht dies einen aufwändigen Vorbereitungsprozess zur Erschließung dieser Kooperationen erforderlich. ■ Eine projekteigene Homepage ist sowohl für die Kommunikation innerhalb der Projektgruppe als auch für eine effiziente Öffentlichkeitsarbeit von großem Nutzen. 34 PROJEKTBESCHREIBUNG 2.5.2 Konzeptionelle Ebene Aus den Diskussionen im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Veranstaltungskonzepte und aus dem Austausch mit Praktikern und Fachwissenschaftlern während der ersten Projektfachtagung ergeben sich folgende Erkenntnisse zur Konzeption von Bildungsveranstaltungen zum Thema „Familie und Gewalt“: ■ Der Begriff „gewaltfreie Erziehung“ ist als Leitbegriff für eine öffentliche Diskussion, die bei Eltern und Erziehungsberechtigten einen Bewusstseinswandel anstoßen soll, wenig geeignet. Denn er setzt zu sehr bei der Gewalt als dem negativen Abgrenzungsbegriff an. Insbesondere bei der Werbung für Bildungsveranstaltungen erweist sich die negative Abgrenzung gegen Gewalt in Veranstaltungstiteln eher als hinderlich. Vielmehr sollten positive Werte in den Vordergrund gerückt und die tatsächlich vorhandenen Probleme von Eltern und Erziehungsberechtigten angesprochen werden. ■ Ein wichtiges Anliegen des Projektes ist es, Elemente eines positiven pädagogischen Leitbildes zu erarbeiten, das zu einer Verminderung von Gewaltanwendungen in der Erziehung führt. Stabile persönliche Beziehungsverhältnisse in den ersten drei Lebensjahren des Kindes scheinen von großer Bedeutung zu sein für die Fähigkeit, Frustrationen und Aggressionen positiv zu verarbeiten. Inwieweit gewaltbelastete Erziehungsstile kulturell oder gar religiös geprägt sind, sollte sehr sorgfältig geprüft werden. Bei der Entwicklung neuer Seminarkonzepte gilt es, Methoden zu entwickeln, die die Teilnehmenden zu einer Reflexion ihres Erziehungsverhaltens anregen. Dabei ist die Frage nach den erzieherischem Handeln zugrunde liegenden Werten zentral. ■ „Strukturelle Gewalt“, d.h. Umstände und Verhältnisse, die Erziehungshandeln in den Familien erschweren, ist für die Verbreitung von körperlicher oder psychischer Gewaltanwendung in Familien wichtig. Eltern und Erziehungsberechtigte lassen sich aber nur sehr schwer dazu gewinnen, sich mit den strukturellen Rahmenbedingungen ihres Lebens auseinander zu setzen. Es gilt deshalb, neue Seminarkonzepte zu entwickeln, in denen politische und gesellschaftliche Fragen geschickt mit pädagogischen und persönlichkeitsbezogenen Themen verknüpft werden. ■ Gewalt in der Familie kann nicht losgelöst von anderen Gewalterscheinungen in unserer Gesellschaft betrachtet werden. Deshalb sollte bei den vielfältigen Bemühungen zur Gewaltprävention die Familie verstärkt mit einbezogen werden. Bei der Ana- ERGEBNISSE 35 lyse von familiärer Gewalt sollten umgekehrt auch die weiteren Lebensbereiche der Betroffenen (Eltern und Kinder) mit berücksichtigt werden. Insbesondere für Pädagoginnen und Pädagogen und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Jugendhilfe sollten Veranstaltungskonzepte entwickelt werden, in denen die Zusammenhänge zwischen Gewalterscheinungen in unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen und die Möglichkeiten der Prävention bewusst gemacht werden. 2.5.3 Inhaltliche Ebene Ein wichtiges Ziel des Projektes war es, u.a. im Austausch mit den am Projekt beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen wissenschaftliche Expertisen zu zentralen Fragestellungen des Themas zu erstellen, die anderen Einrichtungen das Aufgreifen des Themas erleichtern (s.o.). Folgende Themenschwerpunkte sollte dabei behandelt werden: ■ Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelder zur Erleichterung familiären Erziehungshandelns und zur Prävention von Gewalt in der Erziehung. ■ „Gewaltfreie Erziehung“: Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes. Die Expertisen von Borchers und Schmälzle (siehe 3.) lieferten wichtige Ergebnisse der fachwissenschaftlichen Diskussion und lieferten wichtige Impulse bzw. bestätigten im Rahmen der veranstalteten Kurse gewonnene Einsichten, die für die weitere Arbeit im Rahmen der politischen Bildung von großer Bedeutung sind: ■ Das Thema „Gewalt in der Familie“ wie Gewalt überhaupt wurde lange Zeit bagatellisiert und tabuisiert (und wird es teilweise immer noch). Zugleich stellt sich gerade vor diesem Hintergrund nochmals die Frage nach dem Verständnis von Gewalt. Schmälzle und Borchers verstehen diese im Anschluss an Schwind/Baumann als „aggressiver, vom Gegenüber nicht erlaubten Zugriff auf dessen physische oder psychische Existenz“, wobei Schmälzle hier (wenn auch nicht im gesamten Kontext seiner Expertise) „strukturelle Gewalt“ (Johan Galtung) ausblendet. Diese wird jedoch bereits dort deutlich, wo Schmälzle das Problem der Gewalt in einer „Kultur der Gewinner“ begründet sieht, deren Perspektive zudem hauptsächlich die der Täter sei, einer Gesellschaft, in der „sozialdarwinistische“ Tendenzen immer mehr Oberhand gewinnen. Im Blick auf den Begriff „strukturelle Gewalt“ gibt Borchers zu bedenken, dass es schwer sei, „diesen Begriff konkret zu fassen und zu operationalisieren“. 36 PROJEKTBESCHREIBUNG ■ Schmälzle deutet Gewalt im Rückgriff auf Aggressions- und Frustrationstheorien, verortet sie in den Kontext mangelnder Identität und mangelnden Selbstwertgefühles, und sieht in ihr einen Reflex auf erfahrene Gewalt in der Herkunftsfamilie der Gewalttäter(innen): „Gewalt erzeugt Gewalt“. Borchers dagegen schränkt ein, dass Gewalt durch Gewalt erzeugt wird, aber nicht in jedem Fall. Hier müsse vor zusätzlichen Stigmatisierungen gewarnt werden. Im Blick auf mediale Gewalt wendet sich Schmälzle entschieden gegen einseitige Schuldzuweisung. Die in den Medien gezeigte Gewalt ist der „Spiegel unserer eigenen Innenwelt“. Borchers stimmt insoweit zu, als er ebenfalls vor monokausalen Schuldzuweisungen warnt. Schmälzle unterscheidet „eine intrapersonale, eine interpersonale und eine strukturelle Dimension“ von Gewalt. ■ Borchers weist zudem auf den gesellschaftlichen Wandel hin, der sowohl die „Binnenstruktur“ von Familie als auch das gesellschaftliche Umfeld verändert. D.h. die Anforderungen an Partnerschaft und Familie sind vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels stärker geworden und bergen Aggressionspotenziale: Veränderungen im Erwerbsleben (Flexibilität, Mobilität u.s.w.), unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten, problembeladenes Wohnumfeld. ■ Für die Bildungsarbeit bzw. gesellschaftlichen Handlungsziele werden als die wesentlichen Aufgaben gesehen – das diagnostizierte Tabu zu durchbrechen, Gewalt zu thematisieren und auf die Klärung des Begriffes „Gewalt“ hin zu arbeiten; – das Schaffen von Foren, in denen die verschiedenen Sozialisationsinstanzen gemeinsam die verschiedenen Dimensionen von Gewalt (präventiv) angehen können in der „Arbeit an wert- und normbildenden Kommunikationsstrukturen in einer plural verfassten Gesellschaft“ mit dem Ziel der Befähigung zu einer „gewaltlosen Konfliktlösung“; – „zwischen Verhaltensprävention, die die individuelle Handlungsfähigkeit im Blick hat, und Verhältnisprävention, die auf eine Verbesserung der Strukturen und Bedingungen zielt“ zu unterscheiden (Borchers), um somit Gesellschaft als Ganzes kinder- und familienfreundlicher zu gestalten; – angesichts des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses zum Aufbau von Netzwerken (Kommunen und Verwaltung, freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe, Selbsthilfegruppen und Elterninitiativen u.s.w., Institutionen wie Sozialisationsinstanzen, Ärzte, Polizei, Gerichte Wohnungsgesellschaften) zu befähigen (Borchers), die Familien zu eigenem Handeln befähigen (sowohl in ERGEBNISSE 37 der Verhaltens- als auch in der Verhältnisprävention) und sie in diesem Handeln begleiten; – (christlich orientierten) Trägern der Bildungsarbeit nicht zuletzt den christlichen Glauben als „Widerstandspotenzial“ gegen Gewalt aufzuschlüsseln (Schmälzle). 2.5.4 Ausblick und Forderungen Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die durchgeführten Einzelprojekte (Kurse, Fachtagungen), die Expertisen von Borchers und Schmälzle sowie die Projektgruppensitzungen als Diskussions- sowie als Auswertungs- oder Evaluationsforum als fruchtbar erwiesen. Für die weitere Entwicklung des Themas sowohl in der Bildungsarbeit als auch, sofern die Ergebnisse aufgegriffen werden, in der Politik können sie sich sehr nützlich erweisen. Auf Grundlage des durchgeführten Projektes werden insbesondere folgende Ergebnisse und sich daraus ergebende Konsequenzen für die bzw. Forderungen an die politischen Entscheidungsträger und politische Bildung festgehalten: ■ Politische Bildung steht zum Teil zwischen den Ansprüchen der Teilnehmerinnen und Teilnehmern von Kursen, den Ansprüchen der politischen Bildung (respektive der Bundeszentrale für politische Bildung) und den eigenen Ansprüchen in der Kursarbeit Tätigen. Hier gilt es enge Sichtweisen zugunsten einer umfassenden zu öffnen. D.h. Politische Bildung muss das „Private“ immer auch als das „Politische“ verstehen und im Blick haben. Bezogen auf Kursarbeit (im durchgeführten Projekt) heißt das dann: Orientierung an der Erwartung der Teilnehmenden nach konkreten Handlungsanweisungen im Erziehungsalltag bzw. Hilfestellung in bestimmten Problemlagen (z.B. zur Vermeidung von Gewalt in der Erziehung) bedeutet in einem ersten Schritt ein Eingehen auf diese Erwartungen, in einem zweiten Schritt ein Bewusstmachen, dass erzieherisches Handeln zwar zunächst eine familiäre (innere), dann aber auch eine gesellschaftliche (äußere) Angelegenheit ist, insofern es sich in einem gesellschaftlichen Kontext ereignet. Familiäre „Rollenmuster“ werden als Spiegel gesellschaftlicher „Rollenmuster“ bzw. gesellschaftlicher Strukturen bewusst gemacht, und damit werden familiäre Fragen oder Problemlagen auf ihre gesellschaftliche Relevanz hin erweitert und als politische Fragen formuliert. Das Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmern an ihren eigenen individuellen Problemen und an auf sie zugeschnittenen Handlungshilfen spiegelt sicher auch die 38 PROJEKTBESCHREIBUNG gesellschaftliche Individualisierung, für die unter anderem Hilflosigkeit und Überforderung Einzelner ursächlich ist. Hier zeigt es sich, wie wichtig es ist, Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit diesem Hintergrund zu konfrontieren und sie damit auch zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragestellungen zu motivieren und zu befähigen. In diesem Kontext wird an das im Mai 2000 formulierte Projektziel erinnert: Dieses war und „ist es, durch politische Bildung bei Eltern, Erziehungsberechtigten und Verantwortlichen in Gesellschaft und Staat das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Erziehung zu stärken, die die Persönlichkeitsrechte junger Menschen und ihre Würde achtet und ihre Entwicklung in einer auf Teilhabe, Verantwortung und Solidarität angelegten freiheitlich-demokratischen Gesellschaft fördert. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit strukturellen Rahmenbedingungen von Gesellschaft und Staat, die diesem Ziel förderlich oder hinderlich sind“. Unter politischer Bildung ist damit mehr zu verstehen als nur die Bemühung um bzw. Befähigung zu politischem Engagement. Dennoch: Es ist auch ein Ergebnis des Projektes, dass es sinnvoll und möglich ist, durch Politische Bildung in dem Sinne, wie sie von den Mitgliedern der Projektgruppe verstanden wird, Projekte auf kommunaler Ebene anzustoßen: sei es in stadtteilbezogenen Projekten wie etwa kinderfreundlicher Raumgestaltung (Wilhelmshaven/ siehe 5.5), sei es in „offenen“ Elternprojekten wie einem Elterncafé zur Ermöglichung elterlicher Selbsthilfe (Feuerstein/siehe 5.2). ■ Nicht nur die (zunächst individuell erfahrbare) Hilflosigkeit und Überforderung einzelner Eltern oder Familien ist bewusst geworden. Gewalt ist ein über den familiären Rahmen hinausgehendes gesellschaftliches Problem. Prävention ist daher eine umfassende gesellschaftliche Aufgabe, in die alle davon berührten Gruppen eingebunden und in der diese vernetzt werden müssen: Zum einen Sozialisationsinstanzen wie Familie, Tagespflege, Kindertagesstätten, Schulen u.s.w., zum anderen öffentliche Behörden wie Kommunen mit ihren Jugend- und Stadtplanungsämtern u.s.w., Justiz und Polizei bzw. auch Verbände, die die Problematik mittelbar oder unmittelbar berührt, und schließlich Träger von Bildungseinrichtungen. Erziehung ist auch immer zugleich Erziehungspartnerschaft. In diesem Zusammenhang ist es nicht nur unumgänglich, Projekte, die diese Vernetzung wollen und gemeinsam Initiative ergreifen, präventiv gegen Gewalt in Familie und anderswo arbeiten, entsprechend finanziell zu unterstützen, um so z.T. erfahrbare Konkurrenz im Einwerben öffentlicher Zuwendungen von vorne herein zu vermeiden und ERGEBNISSE 39 stattdessen konstruktive und produktive Kooperation zu ermöglichen. Es ist ebenso unumgänglich die Akteure in den professionellen Sozialisationsinstanzen wie Kindergarten, Tagespflege, Schule u.s.w. entsprechend auszubilden und beispielsweise Elternarbeit zu ermöglichen. Hier sieht die Projektgruppe beträchtliche Lücken in der gegenwärtigen Ausbildung, Fort- und Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrerinnen und Lehrern. Diese müssen befähigt werden zu ständiger Kooperation und Kommunikation mit den Eltern, weil Probleme wie z.B. Gewalt nie nur das Problem einer einzelnen Instanz ist (s.o. Erziehungspartnerschaft), sondern weil in einer individualisierten und pluralisierten Gesellschaft nicht nur der Konsens über Erziehungsziele, Werte und Normen abhanden gekommen ist, sondern ebenso die gemeinsame Sprach- und Verstehensregelung etwa darüber, was z.B. unter Gewalt und bzw. oder gewaltfreier Erziehung zu verstehen ist. (Dies wirft zugleich die Frage bestimmter Berufsgruppen auf, wie weit denn der eigene Beruf reiche. Hierzu zählen beispielsweise auch Ärzte, die lernen müssen, mit bestimmten Verdachtsmomenten bei möglicher Kindesmisshandlung sowohl pädagogisch als auch juristisch umzugehen.) Die in den öffentlichen Einrichtungen oder auch in der Tagespflege Tätigen dürfen und können in ihrem erzieherischen Handeln nicht allein gelassen werden. Gerade in Kindergärten sehen sich Erzieherinnen (und bisweilen auch Erzieher) gerade nach ihrer Ausbildung zum Teil weitaus älteren Eltern gegenüber, was den Dialog und eventuelle Angebote zur Hilfestellung im erzieherischen Handeln nicht erleichtert. ■ Die Frage nach „Gewalt in der Erziehung“, „Gewalt in der Familie“ berührt ein Problem, das in mehrfacher Weise Erzieherinnen und Pädagoginnen und Pädagogen vor Schwierigkeiten stellt: Sie müssen befähigt werden, etwas zu thematisieren, dem sich betroffene Eltern nicht nur nicht stellen wollen. Nicht selten wird sogar die Erfahrung gemacht, dass sich Eltern der Auseinandersetzung etwa in Kindergärten oder Kindertagesstätten entziehen, indem sie einfach die Einrichtung wechseln. Umgekehrt sind diese Einrichtungen gehalten, aus ökonomischen Gründen, sinkenden Kinderzahlen entgegenzuwirken, was sie dann in ein Dilemma treibt. Zweierlei wird hier deutlich: Zum einen ist hier eine (institutionalisierte) Kooperation möglicherweise konkurrierender Kindertageseinrichtungen von Nöten. Zum anderen sind Interventionskonzepte erforderlich wie sie beispielsweise im Kursmodell von Heide (s. 5.5) erarbeitet und in der Multiplikatorenschulung bereits umgesetzt wurde. Zugleich zeigt sich, wie wichtig es ist, Räume zu schaffen, in denen betroffene Eltern „niedrigschwellige“ Angebot eröffnet werden. Bildungsangebote zum Thema „Gewalt 40 PROJEKTBESCHREIBUNG in der Erziehung“ motivieren diese kaum, durch ihren Besuch Gewaltanwendung zu gestehen. Außerdem gibt es viele Formen elterlicher Gewaltanwendung, die nicht als solche bewusst sind, aber aufgrund von Formulierungen (wie „den muss ich zur Tür hinaustreten, damit er zur Schule geht“) offensichtlich sind. Diese „niedrigschwelligen“ Angebote können Elternabende zu anderen, möglicherweise von den Eltern selbst gewählten Themen sein, in deren Rahmen „Gewalt in der Erziehung“ problematisiert wird und in denen das Verständnis von bzw. der Begriff Gewalt diskutiert und geklärt werden kann. Diese Angebote können Elternseminare sein zu positiv formulierten Themen, die ansprechend und einladend sind und ebenso zum eigentlichen Thema hinführen (können). Diese Angebote können Bausteine innerhalb umfassenderen Kursen sein wie etwa der Qualifizierung in der Tagespflege. Diese Angebote können schließlich offene Treffs sein, Foren, die den ungezwungenen Austausch über Erziehungsprobleme ermöglichen und die, wie die vorgenannten Angebote ermöglichen, den notwendigen Raum des Vertrauens schaffen. ■ Dass Eltern häufig einen sehr engen Begriff von Gewalt als physischer Gewalt haben und dabei häufig angewandte psychische Gewalt ausblenden ist nur ein Problem, das zudem auf die Schwierigkeit der Projektgruppe hinweist, einen Konsens zu entwickeln im Blick auf das Verständnis von „menschen (–) würdig erziehen“. Ein anderes Problem sind die „strukturellen Rücksichtslosigkeiten“ (s.o.) oder die Formen „struktureller Gewalt“, die wiederum Aggressionspotenziale bei Eltern, Kindern und Jugendlichen verstärken. Gerade nach dem Amoklauf von Erfurt darf sich der Blick nicht einseitig auf mediale Gewalt als alleiniger Ursache beschränken. ■ Strukturelle Gewalt begegnet uns dort, wo die öffentliche Hand sich mehr und mehr durch Streichung von Fördermitteln aus ihrer erzieherischen Verantwortung entzieht. Dies betrifft die Förderung eines familienfreundlichen Wohnungsbaus ebenso wie einer familienfreundlichen Stadt- und Stadtteilplanung. (Wie Heinrich Zille sagte: „Mit der Wohnung kann man einen Menschen ‚erschlagen’ wie mit einer Axt.“) Dies betrifft auch die finanziellen Zuwendungen für Kindertagesstätten und Schulen bis hin zur in der Entlohnung ausgedrückten mangelnden Wertschätzung erzieherischer Berufe. ERGEBNISSE 41 2.5.5 Abschließende Reflexion der Projektgruppenmitglieder ■ Im Blick auf die eigene Arbeit waren die Erwartungen der Projektmitglieder (zu Beginn) unterschiedlich ausgeprägt: Sie hingen zum einen von persönlichen Erfahrungen in der Bildungsarbeit bzw. der Beschäftigung mit dem Themas ab, zum anderen von den Möglichkeiten des je eigenen Engagements innerhalb des Projektes. Als bedeutsam wurde dies im Blick auf die Erweiterung der eigenen inhaltlichen Kenntnisse sowie der Schärfung des eigenen Bewusstseins für die Thematik gesehen. Die trägerübergreifende Projektarbeit wurde als Chance der Vernetzung an sich, aber auch des voneinander Informiertsein und Voneinanderlernens gesehen, um so die eigene Arbeit qualitativ verbessern zu können. Mit der Projektarbeit war natürlich auch die Erwartung verbunden, dadurch eine finanzielle Förderung eigener Projekte abzusichern. Das mit dem „Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung“ vom 7. November 2000 garantierte Recht auf eine gewaltfreie Erziehung kann sich nicht nur allein als gesetzlich verbrieftes Recht durchsetzen. Die Projektgruppe sieht aber in diesem Gesetz eine Vorreiterfunktion und in ihrer praktischen Arbeit einen Beitrag, dieses Gesetz inhaltlich „aufzufüllen“ bzw. zu „unterfüttern“. Damit kann die Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit verstärkt und Interesse geweckt werden. „Gewaltfreie Erziehung“ soll in einer breiteren Diskussion zum Thema werden können: Insbesondere in der Tagespflege, in Kindergärten und Kindertagesstätten sowie in der Schule. Hierbei könnten vor allem auch Impulse gegeben werden für die Zusammenarbeit mit anderen Trägern, mit anderen Organisationen, Institutionen, Vereinen u.s.w. vor Ort. Es geht um die Vermittlung eines neuen Bewusstseins: Was ist Gewalt, was ist gewaltfreie Erziehung? Insbesondere soll auch und gerade der „strukturelle“ Hintergrund bzw. die strukturelle Komponente sichtbar und eine Diskussion um „strukturelle Gewalt“ angestoßen werden. ■ Im Blick auf die eigene Arbeit sehen die Projektmitglieder ihre eigenen Erwartungen unterschiedlich erfüllt. Das Projekt insgesamt wird als gut, die Arbeit in der Projektgruppe wird methodisch wie inhaltlich als bereichernd bewertet. Dagegen erweist sich die Zusammenarbeit mit anderen Trägern vor Ort zum Teil als nur zögerlich und von Ängsten um die Verteilung von Zuschüssen geprägt. Damit wird deutlich: Vernetzung wird als hilfreich und wichtig erfahren, zugleich wird aber auch spürbar, dass deren Erfolg nicht zuletzt von einer ausreichenden Finanzierung abhängig ist. Im Blick auf die öffentliche Wirkung des Projektes sind vor allem die durchgeführten 42 PROJEKTBESCHREIBUNG Fachtagungen hervorzuheben. Drei konnten durchgeführt und mit ihnen die Öffentlichkeit erreicht werden. Insbesondere die Fachtagung zum Thema „Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege“ stieß auf große Resonanz und konnte zur Bewusstseinsschärfung beitragen. Insgesamt wurden freilich hier die Erwartungen nicht erfüllt, und die Gründe liegen zum teil sicher auch daran, dass aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel sowohl die Wahl der Referenten als auch der Werbewege erheblich eingeschränkt war. Dies gilt vor allem auch für die ausgefallene Fachtagung sowie für die ausgefallene Abschlusstagung. Hier zeigt sich offensichtlich die Diskrepanz zwischen der verbalen Aufgeschlossenheit der politisch Verantwortlichen bei gleichzeitiger Unbeweglichkeit im politischen Alltag (gesellschaftliche Rahmenbedingungen; weiches Thema). ■ Entsprechend der z.T. unterschiedlichen Erwartungen sind auch die Folgerungen, die aus diesem Projekt gezogen werden, unterschiedlich, wenngleich – und das wird als besonders wichtig hervorgehoben – die Richtung die gleiche ist. Im Blick auf die eigene Arbeit ist überwiegend der Wille festzuhalten, der Bedeutung des Themas entsprechend „hartnäckig“ daran zu bleiben, es in anderen Kontexten sinnvoll einzubauen (s.o. „niedrigschwellige“ Angebote) und „Quereinstiege“ zu nutzen. Vor allem in der Jugend- und Familienbildung sollte es seinen Platz behalten und hier insbesondere auch in der Vernetzung von Familie und Schule bzw. Familie und Kindertagesstätte u.s.w. Die Projektarbeit ergab hierfür etliche positive Denkanstöße, die zu weiteren Planungen motivieren und führen. Vor allem im Zusammenhang mit einem Projekt in der Tagespflege konnte nicht nur eine weitere Fachtagung im Sommer 2002 angestoßen werden, sondern die verbandliche Organisation von Tagespflege in Rheinland-Pfalz. Das im Rahmen des Projekte entwickelte Curriculum zur gewaltfreien Erziehung in den Qualifizierungslehrgängen für Tagespflegepersonen in Neustadt wurde bereits in Ludwigshafen und Bad Dürkheim übernommen und wird demnächst auch in Speyer eingeführt. Übereinstimmend wird festgestellt, dass künftige Projektarbeit ohne bessere finanzielle Ausstattung sowie einen längeren Projektzeitraum ins Leere läuft. Konkrete, ergebnisorientierte Arbeit, zumal mit dem Anspruch der politischen Bildung ist ohne diese nicht möglich. Flankierend hierzu müsste der persönliche Kontakt zum Zuschussgeber intensiviert und die Teilnahme seiner Kontaktperson an Projektgruppensitzungen angestoßen werden. Insgesamt wird jedoch befunden, Projekte seien sinnvoller, wenn sie von „unten“ angestoßen und von „oben“ entsprechend ihrer gesellschaftlichen Bedeutung denn auch gefördert und unterstützt werden. ERGEBNISSE 43 Von den politisch Verantwortlichen wird eine klare und konsequente Position in der Familienpolitik eingefordert. Konkret heißt dies: Wer Familie zum Politikthema macht, muss konsequenterweise auch die notwendigen Rahmenbedingungen sowohl im Blick auf Kinderbetreuungsmöglichkeiten als auf Elternunterstützung (finanziell, praktisch, ideell) bereitstellen. Und in diesem Kontext ist insbesondere für die Chancen der Vernetzung der hier Beteiligten die politische Bildung wesentlich – sofern sie aufgrund der materiellen und personellen Ausstattung dieser Aufgabe gerecht werden kann. Anmerkungen 1 Opladen 1996-1998. 2 Außerhalb von AKSB und GEMINI hat die Arbeitsgemeinschaft für katholische Familienbildung e.V. (AKF) am 15.09.1999 mitgeteilt, dass sie an einer Mitarbeit an dem Projekt interessiert sei. 3 Vgl. Laszlo A. Vaskovics/Heike Lipinski (Hrsg.), Familiäre Lebenswelten und Bildungsarbeit, 3 Bde., Opladen 1996-1998. 4 Zu den Ergebnissen des Schwerpunktes vgl. Werte und Normen – Konflikte und Gewalt. Konzepte, Analysen, Erfahrungen für die politische Jugendbildung (= aksb-werkstatt 1), Bonn 1999. 44 Andreas Borchers Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelder zur Erleichterung familialen Erziehungshandels und zur Prävention von Gewalt und Erziehung Udo F. Schmälzle Gewaltfreie Erziehung: Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes E x p e r t i s e n 45 46 EXPERTISEN Andreas Borchers Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelder zur Erleichterung familialen Erziehungshandelns und zur Prävention von Gewalt in der Erziehung 0. Vorbemerkung Es scheint mir notwendig, als Vorbemerkung zu einer Expertise über Gewalt in der Erziehung herauszustellen, dass Familien in erster Linie und weit überwiegend die Orte sind, in denen die weit überwiegende Zahl der Kinder und Jugendlichen Geborgenheit und Angenommensein erleben, wo sie Solidarität und gegenseitigen Respekt erfahren und wo sie Möglichkeiten der kompromissfähigen Auseinandersetzung und der Toleranz erlernen. Der vorherrschende Erziehungsstil hat sich im letzten Jahrhundert deutlich gewandelt von einem autoritativen zu einem eher kooperativen Umgang miteinander. Dennoch: Auch heute werden viele Kinder und Jugendliche in der Familie geschlagen, werden seelisch misshandelt oder müssen andere Formen von Gewalt erfahren. Oder sie müssen Gewalt gegen andere Familienmitglieder miterleben. Die Kindheitsforschung hat nachgewiesen, dass dies eine Belastung nicht nur für die Gegenwart, sondern für ihr gesamtes weiteres Leben ist. Gerade vor diesem Hintergrund ist die Prävention von häuslicher Gewalt, von Gewalt gegen Kinder ein dringendes Thema, das nicht zuletzt in der Änderung des BGB und des KJHG seinen Ausdruck findet. Diese Gesetzesänderungen korrespondieren mit einer Sichtweise, die Kinder zunehmend als eigene Rechtspersonen mit eigenen Rechten wahrnimmt (die sie dem Gunde nach schon immer waren). Die vorliegende Expertise geht davon aus, dass Gewalt gegen Kinder kein Ausdruck von elterlicher Macht und Stärke, sondern im Gegenteil sehr häufig ein Zeichen von Schwäche und von Überforderung darstellt. Gewalt wird von den Eltern in der Regel nicht POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 47 (mehr) als „Selbstverständlichkeit“ dargestellt, sondern nachträglich aus einem Gefühl von Hilflosigkeit oder Überforderung heraus begründet, einhergehend mit dem Gefühl des „Das-habe-ich-nicht-gewollt“. Gleichwohl werden die Folgen für die kindliche Entwicklung noch häufig unterschätzt. Diese Sichtweise hat Folgen in Bezug auf gewaltpräventive Handlungsmöglichkeiten, die dadurch eröffnet werden. Einerseits werden damit Möglichkeiten der Unterstützung der einzelnen Familien durch Bildung und Beratung eröffnet, wie sie auch in der Neufassung von § 16 KJHG angelegt ist. Andererseits kann und soll darüber hinaus die gesamte Lebenssituation der Familien in den Blick genommen werden. Denn die Rahmenbedingungen, unter denen Familienleben stattfindet und unter denen Familien ihre Aufgaben wahrnehmen (können), beeinflussen die Belastungen und den Stress, die sich auf das Alltagsleben aller Familienmitglieder auswirken. Die vorliegende Expertise geht auf diese Rahmenbedingungen familialen Lebens ein. Vor diesem Hintergrund können Handlungsansätze aufgezeigt werden, die nicht (nur) bei der einzelnen Familie ansetzen, sondern darüber hinaus auch auf strukturelle Verbesserungen abzielen. 1. Gewalt in der Erziehung: Definitionen und Erscheinungsformen Diskussionen um Gewalt in der Erziehung stehen unter der Gefahr, dass aneinander vorbei geredet wird, weil von unterschiedlichen Begriffen und Verständnissen ausgegangen wird. Es werden die gleichen Worte verwendet, aber mit unterschiedlichen Bedeutungen. Dies betrifft den Begriff Gewalt ebenso wie das Bild von Familie. In diesem Abschnitt soll deshalb zur Begriffsklärung beigetragen werden. Hinweis an die Bildungsarbeit: Eine Klärung dieser Begriffe ist auch insgesamt in der Gesellschaft hilfreich und würde die Prävention von Gewalt unterstützen. Als Gewalt kann grundsätzlich jede aktive Handlung bezeichnet werden, die auf die Durchsetzung der eigenen Ziele bei einer anderen Person ausgerichtet ist, ohne Rücksicht auf damit verbundene physische oder psychische Schädigungen zu nehmen. „Aktiv“ meint sowohl tatsächlich ausgeführte als auch angedrohte Handlungen. In einem weiteren Sinn kann „Handlung“ auch Duldung und Unterlassung mit einschließen. 48 EXPERTISEN Die Grenzziehung zwischen „noch nicht schädigend“ und „gewaltsam misshandelnd“ ist allerdings fließend. Gewalt ist ein äußerst unscharfer Begriff, der in unterschiedlichen Zusammenhängen und von unterschiedlichen Personen verschieden verwendet wird. Nun muss es keinen einheitlichen Gewaltbegriff geben. Was unter Gewalt zu verstehen ist, ist in hohem Maße kulturell definiert. Mit Veränderungen der Alltagskultur, aber auch wissenschaftlichen Erkenntnissen verändert sich zwangläufig unser Verständnis von Gewalt. 1.1 Abgrenzung von Gewalt Unklarheiten bestehen schon in der Grenzziehung dessen, was noch (bzw. schon) als Gewalt gilt: ■ Unangemessen enge Auslegung – Dies ist beispielsweise der Fall, wenn darunter ausschließlich körperliche Misshandlung verstanden wird und andere Formen, die der psychischen Gewalt zuzurechnen sind (z.B. Erniedrigungen und Beschimpfungen) und die nachweislich massiv negative Folgen für die Entwicklung des Kindes haben, ausgeblendet bleiben. Hinweis an die Bildungsarbeit: Empirische Untersuchungen zeigen, dass in der Allgemeinbevölkerung und auch bei vielen Eltern ein solcher, auf physische Gewalt beschränkter Gewaltbegriff vorherrscht. – Eine unangemessen enge Auslegung liegt ebenfalls vor, wenn Gewalt sich ausschließlich auf besonders extreme Formen beschränkt – wobei unklar bleibt, was denn der leicht verharmlosend so genannte ‚Klaps’ eigentlich ist. Problematisch bei einem unangemessen engen Gewaltbegriff ist das Ausblenden anderer Formen von Gewalt und von deren Folgen. ■ Unangemessen weite Auslegung – Problematisch ist, wenn alle Formen von Sanktionierung bzw. Bestrafung (z.B. weniger Taschengeld, temporäres Fernsehverbot, kurzzeitiger Stubenarrest) als Gewalt bezeichnet werden. Erziehung erfordert das Festlegen und Einhalten klarer Grenzen. Bei Überschreitungen müssen den Kindern die Konsequenzen ihres Handelns verdeutlicht werden. Um Grenzen durchsetzen zu können, benötigen Eltern grundsätzlich auch Möglichkeiten zur Sanktionierung. – In der Fachdiskussion wird gelegentlich von ‚struktureller Gewalt’ gesprochen. In Anlehnung an Galtung (1975) sind damit Bedingungen gemeint, die verhindern, dass Menschen sich so entwickeln können, wie dies eigentlich möglich wäre.1 Es POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 49 gelingt allerdings nur schwer, diesen Begriff konkret zu fassen und zu operationalisieren. Dies wäre aber notwendig, um ihm praktische Relevanz zu geben. Entsprechend ist umstritten, ob bzw. inwiefern von struktureller Gewalt überhaupt gesprochen werden kann. – Problematisch bei einer unangemessen weiten Auslegung des Gewaltbegriffs ist der mögliche inflationäre Gebrauch, der zu einer tendenziellen Aufweichung des Begriffs führt. Wenn alles zu Gewalt wird, verliert der Begriff an Schärfe und nicht zuletzt an Relevanz. ■ Abgrenzungen und Wechselwirkungen – Nicht nur selbst als Opfer, sondern auch als Zeuge können Kinder von Gewalt in der Familie betroffen sein. Aus der gewaltpräventiven Arbeit ist bekannt, dass es für Kinder äußerst belastend ist, Gewalt in der Ehe bzw. Gewalt gegen Frauen mit ansehen bzw. mit erleben zu müssen. Bei der Prävention von Gewalt in der Erziehung steht dies zwar nicht im Zentrum, darf aber gleichwohl nicht vernachlässigt werden. – Schließlich darf nicht vergessen werden, dass Kinder auch zum Opfer von Gewalt von Gleichaltrigen bzw. von anderen Kindern und Jugendlichen werden können.2 1.2 Erscheinungsformen von Gewalt Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht stellt unterschiedliche Formen von Gewalt gegen Kinder dar: ■ Körperliche Misshandlung wie Schläge, Schütteln, Stöße, Verbrennungen u.a.m. Die Auswirkungen auf den kindlichen Organismus hängen von der Intensität der Gewalthandlung und von seinem Entwicklungsstand ab. Manche Folgen sind nicht sichtbar, in einigen Fällen werden Folgen erst nach Jahren sichtbar (z.B. durch Retardierung). ■ Vernachlässigung, die dann vorliegt, wenn andauernd oder wiederholt Grundbedürfnisse des Kindes gänzlich oder in einem Maße unbefriedigt bleiben, dass es in seinem Wohlergehen und seiner Entwicklung beeinträchtigt oder gefährdet ist. Dies bezieht sich sowohl auf körperliche Bedürfnisse (Ernährung, Pflege) als auch auf psychische (Zuwendung, Schutz). Die Vernachlässigung kann sowohl als aktives und bewussten Handeln als auch unbewusst oder aufgrund mangelnder Einsicht bzw. unzureichenden Wissens erfolgen. ■ Psychische Misshandlung, z.B. Einschüchterung und Ängstigung, Drohungen, Herabsetzen, Isolieren, langanhaltender Liebesentzug. Die Folge ist eine massive Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung sowohl in seelischer als auch in körperlicher 50 EXPERTISEN Hinsicht. Die Formen psychischer Misshandlung werden noch oft zu gering beschätzt und bagatellisiert. Bildungsarbeit kann hier aufklärerisch wirken und insbesondere auf die Folgen hinweisen. ■ Sexuelle Misshandlung, d.h. die Einbeziehung eines Kindes in eine sexuelle Aktivität, zu der es aufgrund seines Entwicklungsstandes noch kein Einverständnis geben kann, weil es die Tragweite nicht erfasst. Schädigend ist hier auch die damit verbundene Verpflichtung des Kindes zur Geheimhaltung, die oft durch Drohungen erzwungen wird. In der Kriminalstatistik sind 2 von 1.000 Mädchen und immerhin auch 2 von 3.000 Jungen unter 14 Jahren als Opfer sexueller Kindesmisshandlung erfasst. Die Täter sind fast ausschließlich männlich. ■ So genanntes. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, d.h. das Hervorrufen von Krankheiten oder Krankheitsanzeichen beim Kind (z.B. Erstickungsanfälle, Verletzungen, Vergiftungen) in der Absicht, (medizinische) Hilfe zu bekommen (BMFSFJ 1998: 108ff). Diese einzelnen Formen der Gewalt sind nicht isoliert zu betrachten, sondern sie treten oftmals in Verbindung auf. Und: Je mehr Gewalt angewendet wird, desto häufiger kommen andere Sanktionsformen hinzu (Bussmann 1995: 246). Beachtung verdienen darüber hinaus die Rahmenbedingungen der elterlichen Gewalthandlungen (z.B. als Strafe für eine Handlung des Kindes). Werden sie vom Kind als ‚grundlos’ und willkürlich wahrgenommen, dann sind die psychischen Auswirkungen besonders schädigend und wirken sich zusätzlich negativ auf die Entwicklung des Selbstvertrauens aus. 1.3 Verbreitung von Gewalt in der familialen Erziehung Nach den Ergebnissen von Befragungen von Jugendlichen ist körperliche Bestrafung in der Erziehung weit verbreitet. Nach den Ergebnissen einer Befragung der Universität Bielefeld von 2.400 Jugendlichen im Alter von 13 bis 16 Jahren haben 82 % Ohrfeigen, 44 % deftige Ohrfeigen und 31 % eine Tracht Prügel erfahren. Als nicht-körperliche Sanktionen werden berichtet: Jeweils zwei Drittel der Jugendlichen hatten Fernsehverbot oder Ausgehverbot, die Hälfte wurde zu Hause schon niedergebrüllt, jeweils ein Drittel berichtete von Kürzung des Taschengeldes oder Anschweigen. Nach den Schülerbefragungen des KFN sind (nur) 43 % der unter 13-Jährigen nie Opfer elterlicher Gewalt geworden. 30 % haben leichte Züchtigungen erfahren, 17 % schwere POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 51 Züchtigungen. Die verbleibenden 10 % berichten von leichten oder schweren Misshandlungen (wie prügeln, zusammenschlagen, mit der Faust schlagen, treten). Abgegrenzt auf die letzten 12 Monate sind 58 % nie Opfer von Gewalt geworden; im gleichen Zeitraum wurden 8 % schwer gezüchtigt sowie 7 % misshandelt (Pfeiffer et al. 1999: 10ff). In der Perspektive der Eltern kommt Bussmann bei einer Typologisierung zu dem Ergebnis, dass 24 % einen relativ stark gewaltbelasteten Erziehungsstil haben, bei dem eine Tracht Prügel und darüber hinaus auch andere Sanktionen häufiger vorkommen. Über die Hälfte der Eltern (59 %) bezeichnet er als „konventionell“; in dieser Gruppe kommen leichte oder deftige Ohrfeigen vor. 11 % der Eltern verzichten weitestgehend auf Körperstrafen, 6 % haben einen nahezu sanktionsfreien Erziehungsstil (Bussmann 1995 und 2000). 1.4 Gewaltbereitschaft und -akzeptanz: Multikausales Bündel von Faktoren Gewaltbereitschaft und gewalttätiges Handeln von Eltern können nicht monokausal erklärt werden. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze und Differenzierungen, die mittlerweile als abgesichert gelten. Sie setzen auf unterschiedlichen Ebenen an, so dass es also nicht „die“ Ursache von Gewalt gibt (und entsprechend auch nicht „die“ Gegenstrategie geben kann). Psychologische Erklärungen gehen insbesondere von den Kompetenzen der Eltern aus, z.B. im Umgang mit Stress, Umgang mit Aggressionen, Problemlösungskompetenz bzw. einem Gefühl von Hilflosigkeit. Diese Faktoren stehen im Zusammenhang mit dem Selbstbewusstsein bzw. Selbstvertrauen. Gewalt kann insofern bei zu geringen elterlichen Kompetenzen auftreten; Handlungsansätze ergeben sich mit der Stärkung von Erziehungskompetenzen, Beratung, Therapie usw. In diesem Zusammenhang wird häufig darauf hingewiesen, dass Menschen, die in ihrer eigenen Kindheit Gewalt erleben mussten, später mit größerer Wahrscheinlichkeit Gewalt gegenüber generell weniger abgeneigt sind, überdurchschnittlich oft selbst Gewalt anwenden sowie Gewalt bei anderen eher akzeptieren. Insgesamt ergibt sich daraus ein Kreislauf der Gewalt, der durchbrochen werden muss. Der Zusammenhang von kindlicher Gewalterfahrung und späterer Gewaltanwendung ist wissenschaftlich gut belegt. Gleichwohl ist es nur begrenzt möglich, Wahrscheinlichkeiten 52 EXPERTISEN zu benennen, mit denen dieser Kreislauf fortgesetzt wird. Kaufman/Zigler gehen nach Auswertung unterschiedlicher Studien vorsichtig davon aus, dass etwa ein Drittel von denen, die als Kind physische Gewalt, sexuellen Missbrauch oder extreme Vernachlässigung erfahren mussten, später eine dieser Formen von Gewalt an ihren eigenen Kindern ausüben. (Sie gehen ferner davon aus, dass bei der restlichen Bevölkerung die Wahrscheinlichkeit der Gewaltausübung bei etwa 5% liegt.) Das bedeutet aber auch: Die Mehrzahl von denen, die als Kind das Opfer von Gewalt wurden, werden dieses Verhalten voraussichtlich nicht fortsetzen. Hier besteht die Gefahr einer zusätzlichen Stigmatisierung: Eltern, die als Kind Gewalt erleiden mussten, dürfen nicht als ‚potenzielle Gewalttäter’ abgestempelt werden. Vielmehr ist zu fragen, durch welche Bedingungen der „Kreislauf der Gewalt“ durchbrochen werden kann. Ein weiterer wesentlicher Einflussfaktor sind die Rahmenbedingungen familialen Lebens. So wie in psychologischer Perspektive beispielsweise Stress- und Problembewältigungskompetenzen im Blickfeld stehen, können in sozialstruktureller Perspektive diese stressauslösenden bzw. problematischen Situationen betrachtet werden. Die Rahmenbedingungen, unter denen Familienleben stattfindet, sind häufig geprägt durch strukturelle Rücksichtslosigkeiten, durch ungünstige und divergierende Zeitstrukturen, durch eingeschränkte Möglichkeiten, im Alltag und insbesondere in Belastungssituationen angemessene Unterstützung zu erhalten. Auf diese Aspekte wird im folgenden Abschnitt näher eingegangen. Damit hängen auch soziale Unterschiede in Bezug auf Gewaltanwendung zusammen. Nach der Untersuchung von Pfeiffer et al. (1999) berichten Schülerinnen und Schüler des BVJ am häufigsten und Gymnasiasten am wenigsten, von elterlicher Gewalt betroffen gewesen zu sein. Auch Bussmann hat eine überdurchschnittliche Gewaltbelastung in unteren Bildungsschichten festgestellt; dieser Zusammenhang ist allerdings nicht allzu stark ausgeprägt. Dabei können – neben anderen Faktoren – äußere Belastungen des Familienlebens eine wesentliche Rolle spielen. Auf keinen Fall allerdings kann Gewalt lediglich bestimmten sozialen Schichten zugeschrieben werden. Die Untersuchungen bestätigen durchgängig eben auch, was z.B. aus der Beratungspraxis bekannt ist: Dass grundsätzlich in allen gesellschaftlichen Schichten in der Erziehung Gewalt ausgeübt wird. Gewaltpräventive Angebote dürfen deshalb auch keine gesellschaftliche Gruppe auslassen. POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 53 Weitere Unterschiede beruhen auf kulturellen Differenzen, z.B. sozialen Milieus (Vester), die durch unterschiedliche Traditionen nachhaltig geprägt sind.3 Auch Immigranten sind durch die Kultur ihrer Herkunftsländer beeinflusst, in der andere, in der Bundesrepublik nicht (mehr) akzeptierte Regeln vorherrschen können.4 Für die Bildungsarbeit ergibt sich daraus die Notwendigkeit, entsprechend differenzierte Angebote zu entwickeln und anzubieten, die auf den jeweiligen kulturellen Hintergrund eingehen. 2. Familienleben heute Ein angemessenes Verständnis von Gewalt in der Erziehung setzt ein zeitgemäßes Familienbild voraus. Allerdings gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Familienbilder, und auch die Tatsache, dass jeder Familienleben aus eigener Erfahrung kennt, macht die Verständigung darüber nicht einfacher, sondern erschwert sie eher noch. Derzeit wird Familie oftmals gleichgesetzt mit Privathaushalten von Eltern mit (minderjährigen) Kindern („Familie ist, wo Kinder leben.“). Diese Sichtweise geht über die in der Vergangenheit verbreitete Beschränkung auf die sog. ‚Kernfamilie’ (verheiratete Eltern und ihr(e) Kind(er) in einem Haushalt) hinaus und bezieht unterschiedliche Haushaltsformen wie Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien und Adoptivfamilien selbstverständlich mit ein. Vom Begriff der Familie ist der des Haushalts zu trennen (allzu häufig wird beides vermischt). Der Haushalt ist definiert durch das Zusammenleben und -wirtschaften. Es gibt heute nur noch vergleichsweise wenig Mehrgenerationen-Haushalte. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Generationen einer Familie zu: Es gibt zunehmend mehr Vier- und sogar FünfGenerationen-Familien. Auch die Drei-Generationen-Familie war noch vor hundert Jahren die Ausnahme und ist erst seit ca. fünfzig Jahren weit verbreitet (Lauterbach 1995). Ein zeitgemäßer Familienbegriff berücksichtigt, dass sich Familienleben nicht nur über kleine Kinder definiert, und hat ebenfalls die älteren Menschen (GroßelternGeneration) und ihre erwachsenen Kinder (sog. Sandwich-Generation) im Blick. Die mittlere Generation ist oftmals doppelt in soziale Netzwerke eingebunden: Die (erwachsenen) Kinder werden auch nach ihrem Auszug aus dem elterlichen Haushalt weiterhin unterstützt, gleichzeitig beginnt für die eigenen, hochbetagten Eltern oftmals 54 EXPERTISEN die Phase der Pflegebedürftigkeit (Borchers 1997). Insbesondere die sog. „jüngeren Alten“ verfügen nach ihrem Ausstieg aus dem Erwerbsleben zunehmend über – oftmals übersehene – Ressourcen (Zeit, Geld, Kompetenzen und Erfahrungen), die sie z.B. in die Betreuung ihrer Enkel einbringen können und zunehmend auch einbringen (BMFSFJ 2001; Borchers 1998). Familienleben, das über die Generationenbeziehungen definiert wird, findet heute in hohem Maße über die Grenzen des Haushalts hinweg statt. Denn auch für die in anderen Haushalten lebenden Familienmitglieder werden wesentliche Leistungen der Unterstützung, der Betreuung, Versorgung und Pflege, des Kontakthaltens oder des Austauschs erbracht. In einer solchen Sichtweise findet Familienleben in einem familialen Netzwerk statt. Die neben stehende Abbildung verdeutlicht diese Sichtweise. 2.1 Wandel im System Familie Im Zuge der demographischen Entwicklung dünnen die verwandtschaftlichen Netzwerke immer mehr aus. Der seit langem zu beobachtende Rückgang der Geburtenzahlen hat Auswirkungen nicht nur auf die Eltern-Kind-Beziehungen (mehr Einzelkinder, weniger Geschwistererfahrungen usw.). Denn damit nimmt gleichzeitig die Zahl der weiteren POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 55 Verwandten wie Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins, Schwägerinnen und Schwäger usw. ab. Die Verwandtschaftsnetze werden kleiner. Damit sinkt auch das Potenzial, aus diesem Kreis Unterstützung zu unterhalten. Die Vielzahl familialer Lebensformen nimmt zu. Stark ansteigend ist die Zahl der Haushalte von Alleinerziehenden. Häufig leben hier Kinder bei der Mutter; allerdings steigt auch die Zahl der alleinerziehenden Väter überdurchschnittlich. In Haushalten von Alleinerziehenden können jedoch auch Kinder bei beiden leiblichen Eltern wohnen; sind diese nicht verheiratet, gelten sie nämlich in der Statistik als Alleinerziehend. Eine steigende Zahl von Scheidungen geht einher mit einer zunehmenden Zahl von neuen Partnerschaften und Wiederheirat. Auch dies hat Auswirkungen auf Verwandtschaftsnetze. Mit dem neuen Partner bzw. der neuen Partnerin kommen neue Onkel und Tanten, Großeltern usw. hinzu; gleichzeitig stehen die alten Beziehungen in der Gefahr abzubrechen. Die Netzwerke müssen sich insgesamt auf die neue Situation, die neue Unsicherheiten ebenso wie neue Chancen mit sich bringt einstellen. Familien können sich darüber hinaus immer weniger auf die Unterstützung aus dem sozialen Umfeld in Nachbarschaft oder aus dem Kollegenkreis am Arbeitsplatz verlassen. Mit der Auflösung traditioneller ‚sozialer Milieus’ (Vester) fallen Bindungen weg, die im Alltagsleben und in Krisensituationen entscheidende Stützungsfunktionen übernommen hatten. Gerade sozial belastete Familien sind von diesen Auswirkungen sozialer Modernisierungsprozesse krisenhaft besonders betroffen. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels verändert sich zwangsläufig auch die Binnenstruktur der Familien. Die Pluralisierung gesellschaftlicher Werte und Lebensstile schlägt sich in einer zunehmenden Notwendigkeit nieder, die Regeln für das familiale Leben und das Erziehungshandeln zu klären. Das Zusammenleben der Eltern verändert sich, die Partnerrollen müssen neu austariert werden. Die Anforderungen an die Partnerschaft ändern sich, häufig steigen sie. Dies geht häufig mit sehr hohen Erwartungen an die eigenen Leistungen als Eltern einher. Traditionelles Erziehungswissen wird entwertet (oder ist nicht verfügbar). Professionelle Informationen, Bildung, Beratung und Unterstützung gewinnen an Bedeutung. Sie führen aber auch leicht zu einer zusätzlichen Verunsicherung der Eltern, (insbesondere wenn unterschiedliche Aussagen getroffen werden). 56 EXPERTISEN 2.2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der familialen Erziehung und „strukturelle Rücksichtslosigkeiten“ Familien sind in der Regel in der Lage, ihre Aufgaben eigenständig zu bewältigen. Sie erbringen eine Vielzahl von Leistungen für sich selbst und für die Gemeinschaft, die anders gar nicht erfüllt werden könnten, wie z.B. ■ Erfahrung von Angenommensein, emotionale Geborgenheit. ■ Raum zur Entfaltung der Persönlichkeit. ■ Wirtschaftliche Absicherung. ■ Kindererziehung und -betreuung. ■ Betreuung und Pflege von Behinderten und Kranken. ■ Unterstützung von älteren und pflegebedürftigen Menschen. ■ Verpflichtende Solidargemeinschaft der Generationen und Geschlechter im Alltag und in Notsituationen. ■ Eingebundensein in Freundeskreise, Nachbarschaften; keine Isolation und Vereinzelung. ■ Bereitschaft zum freiwilligen Engagement in Initiativen, Gruppen und Vereinen. Auf diese Leistungen sind nicht nur die Familien selbst, sondern die Gemeinwesen insgesamt angewiesen. Sie könnten von keiner anderen Institution in vergleichbarer Weise erbracht werden. Familien wirken damit wie eine kleine – und dabei äußerst effiziente – soziale Infrastruktur. Dies gilt für alle Familienformen und Familienphasen gleichermaßen. Familien können grundsätzlich diese Leistungen erbringen, und sie wollen es auch. Sie wollen nicht, dass ihnen die Aufgaben abgenommen werden. Damit sie dies leisten können, ist es zuallererst notwendig, dass sie nicht durch ein strukturell rücksichtsloses Umfeld daran gehindert werden. Franz-Xaver Kaufmann hat den Begriff der „strukturellen Rücksichtslosigkeiten“ geprägt (1995: 174ff). Er versteht darunter die Tatsache, dass in der Gesellschaft eine weitgehende Indifferenz gegenüber Kindern und ihren spezifischen Bedürfnissen besteht und dass die elterlichen Leistungen nur ungenügende Anerkennung finden. Familie und Kinder gelten weitestgehend als Privatsache. Daraus resultiert eine Gleichgültigkeit, die im Ergebnis verhindert, dass familienindifferente bzw. familienfeindliche Regelungen in der Wirtschaft, im staatlichen Bereich, im Bildungswesen und im Bereich der sozialen Dienste abgebaut werden. POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 57 Im Folgenden soll auf drei Bereiche, die für das Alltagsleben von Familien von zentraler Bedeutung sind, eingegangen werden: das Erwerbsleben, die Situation der Kinderbetreuung sowie Wohnen und Wohnumfeld. ■ Anforderungen aus dem Erwerbsleben Der massive Strukturwandel der Wirtschaft von der Agrargesellschaft über die Industriegesellschaft zur wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft geht mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Änderungen einher. Berufliche Qualifikationen werden immer schneller entwertet. In allen Lebensbereichen gehen Sicherheiten verloren. Im Erwerbsleben entstehen neue Gestaltungsmöglichkeiten, aber ebenso neue Anforderungen. Stichpunkte hierzu sind: ❐ Fortschreitende Flexibilisierung der Arbeit, die zunehmende Beweglichkeit bei den Arbeitszeiten und Arbeitsorten erfordert. ❐ Zunehmende Bedeutung von lebenslangem Lernen, Flexibilität im Denken und Handeln. ❐ Wachsende Bedeutung von sozialen Kompetenzen. ❐ Steigende Mobilitätsanforderungen, die eine starke Belastung für die sozialen Netzwerke darstellen. Im Zuge der Globalisierung wächst der Druck auf die Unternehmen. Der Arbeitsmarkt ist seit langem unausgeglichen, und vermutlich wird auf lange Sicht keine Vollbeschäftigung erreicht werden können. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Beschäftigten. Die Unternehmen und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen sich unter kaum noch überschaubaren internationalen Marktbedingungen in einem härter werdenden Wettbewerb behaupten. Auch familienpolitisch ist von Bedeutung, dass durch das zunehmende Ausmaß ungesicherter Arbeitsverhältnisse, die Umgehung tarifvertraglicher Regelungen und bestimmte Formen von Arbeitszeitflexibilisierung erheblicher Druck auf den einzelnen Arbeitnehmer entsteht. Dies hat direkte Rückwirkungen auf die sozialen Netzwerke in den Familien, Nachbarschaften und Freundeskreisen. Der Verlust von Sicherheiten führt zu einem enormen Anpassungsdruck, um die wirtschaftliche Absicherung der Familie leisten zu können. Die Veränderungen erfordern stetig zunehmende Integrationsleistungen, die Zeit und Kraft kosten. Lebensläufe nehmen zunehmend den Charakter von „Patchwork-Biographien“ an, gekennzeichnet durch: ❐ Entscheidungen unter Unsicherheitsbedingungen, was insbesondere das Eingehen langfristiger Verpflichtungen erschwert. Hierzu zählt auch eine Entscheidung 58 EXPERTISEN für Kinder. Oder – auf anderer Ebene – die Entscheidung, einen großen Kredit für den Kauf von Wohneigentum aufzunehmen. ❐ Schwierige wirtschaftliche Absicherung. Neben Problemen in der Gegenwart (zu denen nicht zuletzt auch eine eingeschränkte Kreditwürdigkeit zählt) ergeben sich langfristige Folgen für die Rentenansprüche. ❐ In den Partnerschaften führen diese Unsicherheiten und Veränderungen zu Lebensstilfragen und Belastungen, bspw. wenn getrennte Haushalte notwendig werden. Auch innerhalb der Partnerschaften müssen die Rollenmuster und Aufgabenverteilungen ständig neu austariert werden, die partnerschaftliche Solidarität steht ständig auf dem Prüfstand. Am Beispiel der Telearbeit kann der Einbruch der Arbeitswelt in die familiale Privatheit verdeutlicht werden (vgl. hierzu Glade 2000 und 2001). Mit der Ausbreitung der PCTechnik und der Vernetzung werden zunehmende Möglichkeiten geschaffen, Arbeitsaufgaben auch zu Hause zu erledigen. Telearbeit umfasst neben Teleheimarbeit (Arbeit ausschließlich am heimischen PC) und alternierender Telearbeit (Arbeit im Betrieb und zu Hause im Wechsel) beispielsweise auch die Arbeit in Nachbarschaftsbüros in Wohnungsnähe. Sie bietet für die Beschäftigten eine Reihe von Vorteilen und Chancen, z.B. ❐ Zeitersparnis durch den Wegfall von Wegezeiten, ❐ freiere Zeiteinteilung, ❐ stärkere Eigenverantwortlichkeit und ❐ bessere Arbeitsmöglichkeiten für Menschen in peripheren Wohngebieten. Gleichzeitig entstehen neue Risiken: ❐ Gefahr der Selbstausbeutung (z.B. Mehrarbeit, Nichteinhaltung von Schutzfristen bei Krankheit), ❐ Auflösung von Zeitstrukturen (z.B. Arbeit am Abend oder am Wochenende), ❐ Schwierigkeiten der Trennung von Arbeits- und Familienleben und ❐ Risiko der sozialen Isolation. Darüber hinaus stellen sich oftmals Fragen der innerfamilialen Arbeitsteilung, weil Telearbeit eine gleichberechtigtere Beteiligung beider Partner ermöglichen kann. Diese ergibt sich aber keineswegs von selbst. Bei der Einführung und bei Änderungen der Anforderungen ist ein innerfamilialer Dialog erforderlich. POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 59 ■ Kinderbetreuung Eltern stehen unter dem ständigen Druck, ihre Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit vereinbaren zu müssen. Die ist grundsätzlich eine Aufgabe für Frauen und Männer, für Mütter und Väter gleichermaßen. Familien verteilen innerfamilial die Aufgaben der Kinderbetreuung, Haushaltsführung, notwendigen Unterstützung von Hilfebedürftigen (z.B. bei Krankheit oder Behinderung) usw. Die innerfamiliale Rollenverteilung folgt noch immer häufig traditionellen Mustern. Das Engagement von Vätern bei der Familienarbeit ist nach wie vor eher gering. Die Erwartungen von Frauen und Männern liegen auseinander. Nach der Männerstudie der katholischen und evangelischen Kirchen zählen (je nach Wertung kann man sagen ‚nur’ oder ‚immerhin’) 20 % zu den neuen Männern, die eine deutliche Bereitschaft zur Veränderung des Rollenverständnisses anstreben (Zulehner/Volz 1998). Doch auch wo der Wunsch besteht, kann die Umsetzung schwierig sein, z.B. weil ❐ das Einkommen des Vaters höher als das der Mutter ist und das Geld gerade in der Familienphase mit Kindern im Haushalt dringend gebraucht wird. ❐ es gesellschaftlich noch zu wenig akzeptiert ist, wenn sich Väter mit großem Engagement der Familie widmen – und sich in anderen Bereichen, z.B. im Beruf, weniger engagieren. ❐ die Regelungen am Arbeitsplatz nicht die Vereinbarkeitsfrage für Väter im Blick haben und z.B. kaum Teilzeitarbeitsplätze für Männer angeboten werden. Das Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen ist insgesamt nicht ausreichend. In Deutschland arbeiten 19 % der Beschäftigten Teilzeit; von den Frauen sind es 37 %, von den Männern 5 %. Die Nachfrage ist größer, und der Blick in andere EU-Staaten wie insbesondere die Niederlande (Teilzeitquote 39 %) zeigt, dass grundsätzlich eine Ausweitung möglich ist5. Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit der Eltern ist eine gesicherte Kinderbetreuung. Das Angebot ist nach wie vor insgesamt nicht hinreichend: ❐ Das Angebot an Krippenplätzen für die unter 3-Jährigen ist sehr gering: In den westlichen Bundesländern stehen lediglich rund 3 Plätze für 100 Kinder unter 3 Jahren zur Verfügung, in den östlichen Bundesländern sind es 36 Plätze (BMFSFJ 2002: 328). Insbesondere in den alten Bundesländern übersteigt der Bedarf das Angebot. ❐ Für das Kindergartenalter wurde ein quantitativ weitgehend hinreichendes Angebot aufgebaut. Problematisch kann es für Familien dennoch werden, etwa wenn die Kindertagesstätte in Ferienzeiten schließt oder die täglichen Öffnungszeiten 60 EXPERTISEN nicht mit den Arbeitszeiten der Eltern in Einklang gebracht werden können (Siegmund 1998). ❐ Für die Schülerinnen und Schüler im Grundschulalter stehen nicht genügend Betreuungsplätze zur Verfügung, etwa in Horten oder schulischen Angeboten (z.B. verlässlichen Grundschulen). Derzeit gibt es für 100 6- bis unter 10-Jährige in den westlichen Bundesländern lediglich 6 Plätze, in den östlichen Bundesländern 48 Plätze (BMFSFJ 2002: 328). ❐ Die nachschulische Betreuung der über 10-Jährigen muss ebenfalls sichergestellt werden. Hierfür keine verlässlichen Regelungen zu haben, kann für Eltern äußerst belastend sein. Diese Altersgruppe wird in der öffentlichen Diskussion bislang noch weitgehend übersehen. Wo eine angemessene institutionelle Betreuung der Kinder nicht gewährleistet ist, werden die Lücken häufig durch das familiale oder weitere soziale Netzwerk gefüllt, z.B. durch die Großeltern, andere Verwandte, Nachbarn und Freunde. Dieses ist aber weniger selbstverständlich und muss von den Familien oftmals aufwändig organisiert werden. ■ Wohnen und Wohnumfeld Für Familien hat die Situation in der Wohnung und im Wohnumfeld eine hohe Bedeutung. Kindliches Leben spielt sich in hohem Maße in der elterlichen Wohnung ab. Straßenkindheit, früher die Regel, gibt es heute kaum noch. Die zunehmende ‚Verhäuslichung’ von Kindheit ist vor dem Hintergrund von zunehmend eingeschränkten Spiel- und Erlebnismöglichkeiten im Wohnumfeld zu sehen. Daraus folgen häufig Einschränkungen der motorischen und sozialen Entwicklung der Kinder, steigender Medienkonsum und Konflikte in der Familie. Zeitlicher Stress entsteht, weil im Zuge der ‚Verinselung’ von Kindheit immer größere Wege zurückgelegt werden müssen, wenn Freunde besucht werden sollen. Für die Eltern bedeutet dies einen hohen Zeitaufwand; dieser ist besonders hoch, wenn der ÖPNV nicht bedürfnisgerecht ausgebaut ist. Konzepte für familien- und kinderfreundlichen Wohnungs- und Städtebau liegen vor (z.B. Rohr-Zänker 2001; IES 1996; Flade/Greif 1996). Dennoch erleben Familien eine Vielzahl ‚struktureller Rücksichtslosigkeiten’ in ihrem Wohnraum und Wohnumfeld, z.B. ❐ zu enge, schlecht geschnittene, zu teure Wohnungen; ❐ Mangel an geschützten Spielmöglichkeiten im Wohnumfeld; ❐ schlechte ÖPNV-Anbindung; ❐ unsichere Schulwege; POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 61 ❐ Umweltbelastungen durch Lärm, Staub, Abgase; ❐ kinderunfreundliche Nachbarschaften; ❐ fehlende Treffpunkte für Jugendliche; ❐ fehlende Versorgungsmöglichkeiten im Quartier; ❐ mangelhafte Infrastruktur. Die Wohn- und Wohnumfeldbedingungen unterscheiden sich kleinräumig sehr stark. In sozial belasteten Stadtteilen kommt es für die Familien zu kumulierten Anforderungen, wenn bestehende Belastungen durch hohe Arbeitslosigkeit und ungenügende Ausstattung mit sozialer und kultureller Infrastruktur durch eine ungünstige Wohnsituation nicht abgemildert, sondern im Gegenteil noch verstärkt werden (Hurrelmann 1998). Fazit: Stress für das System Familie. Ungünstige äußere Rahmenbedingungen und strukturelle Rücksichtslosigkeiten belasten den Alltag und wirken bis in die Familien hinein. Belastungen und Stress wirken sich auf alle Familienmitglieder und das Zusammenleben aus. Zeitliche Belastungen entstehen, weil der Strukturwandel in der Arbeitswelt hohe Anpassungsleistungen erfordert, die häufig im Gegensatz zu den Notwendigkeiten des Familienlebens stehen. Gemeinsame Zeitstrukturen geraten unter Druck. Schlechte ÖPNVAnbindung frisst Zeit. Die Anforderungen aus dem Erwerbsleben und die Angebote der Kinderbetreuung sind häufig nicht aufeinander abgestimmt. Die Öffnungszeiten von Behörden, Ärzten, Einkaufsmöglichkeiten usw. harmonieren damit ebenfalls nicht. Vor diesem Hintergrund zählt „Hektik und Zeitdruck“ zu den häufigsten Belastungen des Familienlebens (Laux/Trapp/Vogel 1996; Oberndorfer 1996). Finanzielle Belastungen entstehen, weil die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach wie vor ungelöst ist: wenn Erwerbstätigkeit eingeschränkt oder darauf verzichtet werden muss, weil keine familienfreundlichen Beschäftigungsmöglichkeiten bestehen oder die gleichzeitig notwendige (Kinder-)Betreuung nicht gewährleistet ist. Auch die „Kinderkosten“ sind nicht zu unterschätzen: Der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen hat in seinem jüngsten Gutachten errechnet, dass allein die direkten Geldaufwendungen eines Ehepaares für ein Kind bis zum vollendeten 18. Lebensjahr bei insgesamt 154.000 DM in den alten bzw. 92.000 DM in den neuen Bundesländern liegen.6 Psychische und emotionale Belastungen entstehen, weil eine Diskrepanz zwischen den Lebensplänen und der Lebenswirklichkeit entsteht. Familien sind konfrontiert mit sinkenden 62 EXPERTISEN Selbsthilfepotenzialen und dem Verlust gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten. Zunehmende Gestaltungsspielräume in einigen Lebensbereichen gehen einher mit Orientierungsproblemen. In den Familien bestehen uneingelöste Anforderungen an die Geschlechtersolidarität, insbesondere im Hinblick auf Engagement und Betreuungskompetenzen der Männer. 3. Gesellschaftliche Handlungsziele und -möglichkeiten Wer in der Kindheit Gewalt erleben musste, ist mit größerer Wahrscheinlichkeit Gewalt generell weniger abgeneigt, wird entsprechend eher Gewalt gegen seine Kinder ausüben und Gewalt bei anderen eher akzeptieren. Dies ist in individueller Perspektive, wie oben dargestellt, keine Zwangsläufigkeit; aufgrund der erhöhten Wahrscheinlichkeit wird hier dennoch von einem ‚Kreislauf der Gewalt’ gesprochen. Gewaltprävention zielt darauf ab, diesen Kreislauf nachhaltig zu durchbrechen. Deshalb sollte sie alle Menschen – Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene, Eltern, ältere Menschen – im Blick haben. Gewaltprävention darf sich nicht nur an Personen richten, die in der Vergangenheit schon Gewalt ausgeübt haben, und/oder die Opfer von Gewalt geworden sind (unter der Annahme, dass diese besonders gefährdet sind, selbst Gewalt auszuüben). Denn Gewalt gegen Kinder kann viele Gründe und Ursachen haben. Deshalb gibt es grundsätzlich keine Bevölkerungsgruppe, die ausgelassen werden sollte. Die Gesetzesänderungen grenzen entsprechend auch nicht ein.7 Mit der Ergänzung des § 16 KJHG hat die Familienbildung eine zusätzliche besondere Aufgabe bekommen, die sich selbstverständlich an alle Familien richtet. 3.1 Ansätze von Gewaltprävention Der Begriff Prävention ist historisch stark geprägt von medizinischen bzw. gesundheitlichen Vorgaben. Er bezeichnet „Verfahren, die an den Prozessen bzw. Bedingungen für die Entstehung von Krankheiten und sozialen Problemen ansetzen.“ (Bauer 1992: 1547) Nach Caplan können die unterschiedlichen Ansatzpunkte von Prävention unterschieden werden nach ■ primärer Prävention, die vorbeugend einsetzt und auf den Erhalt oder eine Verbesserung von Bedingungen oder Verhaltensweisen ausgerichtet ist, in der Regel ohne dass eine konkrete Gefährdung nachgewiesen werden kann. Hierzu gehören z.B. all- POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 63 gemeine Informations-, Aufklärungs- und Werbekampagnen sowie Kompetenzförderung und persönlichkeitsfördernde Maßnahmen; ■ sekundärer Prävention, die sich speziell an definierte „Risikogruppen“ wendet. Eine frühzeitige Intervention soll bestimmtes potenzielles Verhalten verhindern. Zur sekundären Prävention gehören zielgerichtete Aufklärungsmaßnahmen und konkrete Unterstützungsangebote für bestimmte Zielgruppen; ■ tertiärer Prävention, die auf Täter und Opfer zielt. Die Ziele der tertiären Prävention liegen darin, weiteres Gewalthandeln zu verhindern. Tertiäre Prävention umfasst insbesondere Unterstützungsmaßnahmen zur Rückfallprophylaxe.8 Des Weiteren wird zwischen Verhaltensprävention, die die individuelle Handlungsfähigkeit im Blick hat, und Verhältnisprävention, die auf eine Verbesserung der Strukturen und Bedingungen zielt, unterschieden: ■ Verhaltensprävention greift vorrangig auf psychologische und erziehungswissenschaftliche Erklärungsansätze zurück. Sie setzt auf eine Stärkung der individuellen Ressourcen und zielt auf einen Wandel persönlicher Verhaltensweisen ab. Die Verhaltensprävention kann vor dem Problem stehen, dass die Personen in der Zielgruppe zunächst davon überzeugt werden müssen, dass sie Probleme haben (könnten). Damit stellt die Erreichbarkeit der Anzusprechenden eine besondere Aufgabe dar.9 ■ Eine strukturbezogene Verhältnisprävention basiert im Wesentlichen auf sozialwissenschaftlichen Erklärungsansätzen. In der Gewaltprävention liegt der Ausgangspunkt in der Erkenntnis, dass belastete und ‚gestresste’ Familien überdurchschnittlich von Gewalt betroffen sind. Verhältnisprävention kann vor diesem Hintergrund als anwaltschaftliche Sozialpolitik interpretiert werden, die auf eine familien- und kinderfreundliche Gestaltung des Lebensumfelds der familialen Netzwerke ausgerichtet ist. Sie agiert damit in Zielsetzung und Strategie in den Handlungsfeldern der Sozialpolitik. 3.2 Ziele von Familien- und Kinderfreundlichkeit Stress und Belastungen im Alltag führen dazu, dass Kinder und Jugendliche häufiger gewalttätig behandelt werden. Im Sinne von Verhältnisprävention sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen familien- und kinderfreundlicher zu gestalten. Die Ausrichtung auf Familien- und Kinderfreundlichkeit sollte sich an folgenden Handlungszielen und Kriterien orientieren: ■ Stärkung der Leistungsfähigkeit der Haushalte mit Kindern. 64 EXPERTISEN ■ Stärkung der Leistungsfähigkeit der Familiennetze (haushalts- und generationsübergreifende Netzwerke). ■ Stärkung von Nachbarschaften, Selbsthilfestrukturen, Freiwilligen-Engagement. ■ Entlastung der Familien von strukturellen Rücksichtslosigkeiten. ■ Vorhandensein von Entfaltungs- und Lebensräumen für Kinder und Jugendliche. ■ Vorhandensein von Möglichkeiten zur Mitbestimmung und Mitwirkung von Kindern, Jugendlichen und Familien. ■ Hilfe und Unterstützung in Notlagen. Eine derart verstandene Familien- und Kinderpolitik ist nur als Querschnittsaufgabe zu verwirklichen. Das Handbuch der örtlichen und regionalen Familienpolitik (IES 1996) belegt, wie umfassend die Handlungsfelder verstanden werden müssen und zeigt Ansatzpunkte in den Bereichen ■ Wohnen und Wohnumfeld ■ Arbeitswelt ■ Betreuungsangebote für Kinder ■ Gesundheitliche Förderung und Hilfen ■ Soziale und kulturelle Familienarbeit ■ Bildungswesen ■ Beratung und Selbsthilfeförderung Eine Darstellung der Handlungsoptionen in den einzelnen Bereichen würde an dieser Stelle zu weit führen; auch sind sie für die Bildungsarbeit unterschiedlich relevant. Unmittelbar deutlich wird hier aber schon der übergreifende Charakter, den die Gestaltung familien- und kinderfreundlicher Umwelten zwangsläufig hat. Diese Aufgabe ist nicht in das bloße Belieben der handelnden Akteure gestellt, sondern kann sich auf unterschiedliche gesetzliche Grundlagen stützen. Zu nennen sind insbesondere Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes („Ehe und Familien stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.“), das KJHG / SGB VIII (insbes. § 1.3 und § 81), das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderkonvention) und weitere Gesetze und Normen, z.B. BauGB (insbes. § 1.5 zur Berücksichtigung sozialer und kultureller Bedürfnisse bei der Bauleitplanung und § 3 zur Bürgerbeteiligung), DIN-Normen (Barrierefreiheit u.a.) und Länderrichtlinien (z.B. erweiterte Kinderbeteiligung). POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 65 Bei der Ausgestaltung von Familien- und Kinderfreundlichkeit kommt der örtlichen und regionalen Ebene besondere Bedeutung zu. In kleinräumiger Betrachtung können die spezifischen Bedürfnisse der Familien und ihrer Mitglieder differenziert bestimmt und Handlungsmöglichkeiten entwickelt werden, die sich direkt auf das Alltagsleben von Familien auswirken. Im Nahraum können Familien direkt angesprochen und beteiligt werden. Bürgerbeteiligung bei der Entscheidungsfindung ist hier ebenso möglich wie Wecken, Einbinden und Unterstützen von freiwilligem Engagement. 4. Möglichkeiten vernetzten Handelns Die Querschnittsaufgabe Familienpolitik kann nicht von einzelnen Ämtern, Institutionen oder Einrichtungen allein angemessen umgesetzt werden. Der übergreifende Charakter setzt Kooperationen voraus. Familienbezogene Dienste und Angebote können eine wesentliche Rolle in diesen Netzwerken einnehmen. Alle Akteure müssen sich auf die zunehmend komplexeren Lebenssituationen und Bedürfnislagen von Familien einstellen. Es muss damit gerechnet werden, dass ■ die Isolation der Familien in der Gesellschaft zunimmt. ■ die Anforderungen in der Erwerbstätigkeit unverändert hoch bleiben oder teilweise steigen. ■ der Bedarf an integrierten Betreuungsangeboten steigt. ■ Bildungsangebote verstärkt mit Beratung verknüpft werden müssen, und zwar nicht nur im psycho-sozialen Bereich, sondern auch im Sinne einer weitergehenden Bürgerberatung. ■ eine stärkere Vernetzung von Bildungsangeboten mit Angeboten der Beratung und Betreuung notwendig wird. ■ die Ansprache neuer Zielgruppen wichtiger wird (z.B. „soziale Unterschicht“, Angehörige anderer Kulturkreise), die aus Sicht der Erwachsenenbildung oftmals ‚lernungewohnt’ sind. Diese Ausdifferenzierung der Bedürfnislagen erfordert eine zunehmende Differenzierung von familienbezogenen Diensten. Damit steigt gleichzeitig die Notwendigkeit zu vernetztem Handeln. Die folgende Abbildung zeigt, dass eine Vielzahl von familienbezogenen Diensten und Angeboten in den 66 EXPERTISEN Bereichen Bildung, Beratung und Betreuung sowie Hilfen zur Verfügung steht. Die einzelnen Bereiche überlappen sich. Die Erfahrungen aus der familienbezogenen Arbeit zeigen sehr häufig, dass die Angebote für Hilfe und Unterstützung viel zu wenig bekannt sind. Dies gilt nicht nur gegenüber den Familien, denen die Inanspruchnahme der vorgehaltenen Angebote dadurch erschwert wird. Es bezieht sich auch auf die Anbieter anderer Leistungen, die, wenn sie mit spezifischen Problemlagen konfrontiert werden oder gezielt in präventive Angebote weiterleiten wollen, nicht an die bestehenden zuständigen Dienste und Einrichtungen vermitteln können. Neben einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit der einzelnen Einrichtungen können örtliche Übersichten wie Familienwegweiser, Familienratgeber oder Familienberichte hier Klarheit für Familien und Anbieter schaffen sowie Kooperationen nachhaltig unterstützen. Bereits die Erstellung einer solchen Übersicht kann dazu genutzt werden, Kooperationsstrukturen aufzubauen. Handlungsbeispiele: ■ Der Landesverband Familienbildung Baden-Württemberg e.V. hat Angebote aus den aktuellen Programmen der Familienbildungsstätten (2001) zum Thema „Häusliche Gewalt / Konfliktlösung in der Familie“ zusammengestellt. ■ Die Stadtverwaltung Potsdam hat in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis „Gewalt in der Familie“ einen „Wegweiser Gewalt in der Familie“ herausgegeben. Betrachtet man die Einrichtungen der Familienbildung, so ist festzustellen, dass sie über ein breites Spektrum von Kooperationspartnern verfügen (Schiersmann 2000). Fast alle kooperieren mit anderen Bildungseinrichtungen, die Mehrzahl darüber hinaus mit Ämtern und Behörden, Kirchengemeinden, Kindergärten und Beratungsstellen, schließlich werden auch Wohlfahrtsverbände, Selbsthilfeinitiativen, Schulen, Vereine u.a.m. genannt. Neben dem Erfahrungsaustausch werden gemeinsame Bildungsangebote durchgeführt und die Programme abgestimmt; dieses nicht zuletzt, um Konkurrenz zu reduzieren oder zu vermeiden und um die materiellen und personellen Ressourcen zu erhöhen. Mehr als die Hälfte der Familienbildungsstätten kooperiert auch mit dem Ziel der Vermittlung von Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die Möglichkeiten sind damit aber nicht ausgereizt. Gerade in einem tabuisierten Bereich wie der innerfamilialen Gewalt ist es schwierig, überhaupt Zugang zu betroffenen Familien zu gewinnen, um ihnen Informationen und Kompetenzen vermitteln zu kön- POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 67 nen. Bildungseinrichtungen müssen sich die Zugangswege aktiv erschließen. Der Aufbau von Kooperationsstrukturen mit anderen Bildungs-, Beratungs- und Betreuungseinrichtungen kann dafür eine wesentliche Voraussetzung sein. Neben dem mangelnden Wissen voneinander betonen Bildungseinrichtungen oft weitere (mögliche) Hindernisse und Stolpersteine. In der Tat können auch negative Erfahrungen vorliegen, insbesondere wenn ■ die Grundlagen unklar sind (z.B. unangemessene Zielvorstellungen, unklare ‚Spielregeln’, Ängste vor Vereinnahmung). ■ die personellen und/oder materiellen Ressourcen allzu knapp sind. ■ Konkurrenzen nicht überwunden werden können. ■ die Mitgliederbindung (z.B. Konfession) aus Sicht der Einrichtung, aus Sicht möglicher Kooperationspartner oder aus Sicht der Familien dominiert. Im Interesse der Gewaltprävention ist der Aufbau von örtlichen und regionalen Netzwerken sinnvoll, um Zugangswege zu den Familien in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen zu finden und um Angebote machen zu können, die einander optimal ergänzen. Für die Verhaltensprävention und die Verhältnisprävention sind teils unterschiedliche, teils einander überschneidende Wege gangbar. 68 EXPERTISEN 4.1 Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel Der Aufbau von Kooperationsstrukturen zwischen verschiedenen Institutionen, Einrichtungen und Diensten setzt grundsätzlich die Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel voraus. Dieses wird bei der Orientierung an der Verhaltensprävention und Verhältnisprävention entsprechend unterschiedlich ausfallen: ■ Auf der Ebene der einzelnen Familien besteht das Ziel darin, Gewalt gegen Kinder (und gegebenenfalls weitere Familienmitglieder) präventiv zu verhindern. ■ Bei der Verhältnisprävention stehen die Stärkung der familialen Netzwerke, die Verbesserung der Lebensbedingungen von Familien und der Abbau struktureller Rücksichtslosigkeiten im Mittelpunkt. 4.2 Klärung der Aufgaben Diese übergeordnete Zielsetzung ist zu präzisieren. Bei der Gewaltprävention gehört dazu die Verständigung über den Gewaltbegriff und die verschiedenen Formen von Gewalt. Auch die unterschiedlichen Zielgruppen, die unterschiedliche Wege der Ansprache und unterschiedliche Angebote erfordern, sind dabei zu thematisieren. Dabei sollten auch lebensräumliche Bezüge (z.B. Einzugsbereiche von Kooperationspartnern; Ballung von Problemlagen in bestimmten Quartieren) berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund können die Aufgaben konkretisiert und kleinräumig verortet werden. Für die Verhältnisprävention ist eine Bestandsaufnahme über Angebote und Bedarfe von Familien in unterschiedlichen Familiensituationen sinnvoll, um auf dieser Basis möglichst konkret umsetzbare Handlungsbedarfe und -ziele abzuleiten. Informationen aus der Sozialplanung können dafür wichtige Hinweise liefern. Insbesondere ein Kinder- und Jugendbericht oder ein Familienbericht kann dafür eine wesentliche Hilfe darstellen. 4.3 Arbeitsformen und Arbeitsteilung Vor dem Hintergrund der Zielsetzung und Aufgabenfindung lassen sich angemessene Arbeitsformen finden. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass die Beteiligten ihre Kontakte und Kenntnisse einbringen. Daraus ergibt sich ein kooperativ-arbeitsteiliges Vorgehen. Das Spektrum der Arbeitsformen reicht ■ vom Aufbau auf Dauer angelegter Kooperationsstrukturen, die davon ausgehen, dass POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 69 die Aufgaben auch mittelfristig nicht bewältigt werden können und die Prävention von Gewalt gegen Kinder sowie die Gestaltung einer familienfreundlichen Umwelt dem Grunde nach Daueraufgaben sind, ■ über mittelfristige, mit einer Ergebnisfestlegung versehenen Zusammenarbeit, z.B. runde Tische zum Erfahrungsaustausch, Arbeits- und Projektgruppen zur Bestandsaufnahme und Entwicklung von Konzepten, ■ bis hin zu kurzfristigen oder einmaligen Kooperationen, die dem Kennenlernen und der ersten Kontaktaufnahme dienen oder nur eine sehr begrenzte Aufgabe verfolgen. Erfahrungen zeigen, dass es sinnvoll ist, zu Beginn die Ansprüche und Erwartungen nicht zu überfrachten. Als Einstieg sollten also Anlässe geschaffen werden, die einen eher einmaligen (z.B. Familienfeste; einmalige Bildungsangebote, die die Akteure und Familien ‚vor Ort’ ansprechen) oder kurzfristigen Charakter haben. Sollte es gelingen, Interesse an gemeinsamer Weiterarbeit zu wecken, kann der Aufbau mittel- oder längerfristiger Kooperationen folgen. Denkbar sind sowohl zeitlich als auch thematisch begrenzte Kooperationen und Bündnisse. Beispiel: ■ Für das „Bremer Bündnis für eine gewaltfreie Erziehung“ haben sich der Deutsche Kinderschutzbund LV Bremen, das Evangelische Bildungswerk und der Frauengesundheitstreff Tenever zusammengeschlossen, um gemeinsam öffentliche Veranstaltungen und Aktionen mit gewaltpräventivem Charakter durchzuführen. 4.4 Kooperationspartner und Beteiligte am Netzwerk Die Frage möglicher Kooperationspartner stellt sich nach Klärung der Zielsetzung und Inhalte sowie der Arbeitsformen. Grundsätzlich sollte der Kreis möglicher Partizipienten vorab nicht zu eng gefasst werden. Um ein Netzwerk zur Unterstützung von Familien auf lokaler Ebene aufzubauen, ist an folgende mögliche Kooperationspartner zu denken: ■ Kommunalpolitik und Verwaltung, z.B. Parteien, Ämter (Jugendamt, Sozialamt usw.), politische Gremien, Kultureinrichtungen, Volkshochschulen. ■ Freie Träger mit ihren unterschiedlichen Einrichtungen und Angeboten, z.B. Kinderund Jugendhilfe, Jugendverbände, Beratungsstellen. ■ Initiativen, Gruppen, Vereine und Verbände, z.B. Selbsthilfegruppen, Elterninitiativen, Bürgerinitiativen, Freizeitgruppen. 70 EXPERTISEN ■ Weitere örtliche Institutionen wie Kindertagesstätten, Schulen, Kirchengemeinden, (Kinder-)Ärzte, Polizei und (Familien-)Gerichte, Wohnungsgesellschaften usw. Gerade die Verhältnisprävention bietet Ansatzpunkte, den Kreis möglicher Interessenten und Akteure weit zu fassen. Häufig wird etwa übersehen, dass beispielsweise auch Seniorenvereinigungen Ansprechpartner und Bündnispartner für Fragen von Familien- und Kinderfreundlichkeit sein können, etwa bei Barrierefreiheit oder der Gestaltung des ÖPNV. Bereits bestehende informelle Kontakte sollten genutzt werden und können den Einstieg in die Vernetzung erleichtern. Es ist aber notwendig, sich einen Überblick über die lokal agierenden möglichen Kooperationspartner zu verschaffen, damit sich nicht ein (unnötig begrenzter) Kreis zusammenfindet, der von außen als ‚geschlossener Zirkel’ wahrgenommen wird. 5. Ansatzpunkte für die Bildungsarbeit Im Sinne der präventiven Ziele lassen sich zwei Perspektiven für die Bildungsarbeit formulieren: ■ Perspektive A: Gewaltpräventive Arbeit mit Familien. ■ Perspektive B: Mitarbeit an einem gewalt-ablehnenden gesellschaftlichen Klima. 5.1 Perspektive A: Gewaltpräventive Arbeit mit Familien In der direkten Ansprache von Familien sind unterschiedliche, einander in einigen Bereichen auch überschneidende Handlungsansätze möglich. ■ Mit einem primärpräventiven Ansatz geht es um allgemeine Information (Umgang mit Aggressionen, kindliche Entwicklung, gesetzliche Bestimmungen usw.) und um Kompetenzstärkung im Umgang mit Stress und Konflikten, auch im Rahmen von praktischen Übungen. ■ Im Rahmen der Sekundärprävention sollen ‚gewalt-gefährdete’ Familien gestützt werden; die Maßnahmen überschneiden sich mit denen der Primärprävention. ■ In der Tertiärprävention geht es um die Arbeit mit Familien mit Gewalterfahrungen (Gewalt gegen Kinder, Gewalt gegen Frauen). Dabei stellt sich besonders die Frage der Abgrenzung zur Beratung sowie zur Intervention. Wie oben dargestellt, ist das Wissen und die Kenntnis anderer verfügbarer Angebote eine wichtige Voraussetzung POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 71 für eine enge Kooperation; diese wiederum ist notwendig, um die Bildungseinrichtungen nicht zu überfordern. Eine besondere Herausforderung ist das Erreichen der Eltern. Angesichts der nicht erst seit der Gesetzesnovelle bestehenden gesellschaftlichen Tabuisierung – über Gewalt in der Familie wird nicht gesprochen – stellt sich die Frage des Zugangs zu den Familien in besonderer Weise. Hinzu kommt, dass prinzipiell keine gesellschaftliche Gruppe ausgelassen werden sollte. Bei den Zielgruppen sind also besonders zu nennen ■ Frauen und Männer ■ Eltern und Nicht-Eltern ■ Sozial belastete Familien ■ Migrantenfamilien Für den Zugang zu den Familien ist eine Kooperation mit anderen Einrichtungen angezeigt, die einen breiten Querschnitt der Kinder und Eltern erreichen, insbesondere Kindergärten, Horte, Krabbelgruppen, Krippen, Schulen, Einrichtungen der Jugendhilfe. Ansätze hierzu liegen vor, sie sind auszubauen und weiter zu entwickeln. Notwendig sind insbesondere offene Angebote und zugehende Angebote. Beispiel: ■ In der Region Ebermannstadt/Forchheim haben die Landvolkshochschule Feuerstein, der Familienbund der Deutschen Katholiken und die Diözesanstelle Familie ein Elternhilfe-Netzwerk „Mach halt vor Gewalt“ aufgebaut. Ziele sind Gewaltprävention, Kontakte, Bereitstellung familienunterstützender Hilfsangebote, Bewusstseinsbildung und Verbesserung der sozial- und familienpolitischen Verhältnisse. Im Rahmen eines vielgestaltigen Angebots werden in einem Elterncafe bei Kaffee und Kuchen Informationen und Unterstützung angeboten; für Kinderbetreuung ist gesorgt. Wichtig ist eine umfangreiche Pressearbeit, die für Bekanntheit sorgt. 5.2 Perspektive B: Mitarbeit an einem gewalt-ablehnenden gesellschaftlichen Klima Einrichtungen der Erwachsenenbildung und Familienbildung können einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der sozialen Netzwerke von Familien und zum Abbau von struktu- 72 EXPERTISEN rellen Rücksichtslosigkeiten leisten. Mit der strukturellen Unterstützung gelingenden Familienlebens tragen sie im Sinne der Verhältnisprävention zur Ablehnung von Gewalt in der Familie bei. Ein Ansatzpunkt für die Bildungsarbeit liegt in der Initiierung von und der Mitwirkung in lokalen Netzwerken zur Schaffung einer familien- und kinderfreundlichen Umwelt: Bildungseinrichtungen können beispielsweise offene Abende zu familienbezogenen Themen unter Einbeziehung der örtlichen Politik und Verwaltung durchführen und durch ihre Kontakte zu fachlichen Experten kompetent gestalten. Derartige Veranstaltungen oder Veranstaltungsreihen können den Ausgangspunkt für weitergehende und auf Dauer angelegte Aktivitäten bilden. Darüber hinaus können sie qualifiziert an der Schaffung der Voraussetzungen für die Beteiligung von Familien mitwirken. Derzeit ist bundesweit eine zunehmende Bedeutung von Bürgerbeteiligung, Mitwirkung und Mitverantwortung festzustellen. Auf allen Ebenen, bei den Familien ebenso wie in Politik und Verwaltung, besteht hierfür eine große Offenheit und Bereitschaft. Sie äußert sich allerdings mit veränderten Motiven und Ausprägungen; traditionelle Formen von Engagement und Mitwirkung haben mit dem Bedeutungsverlust traditioneller Milieus an Bedeutung verloren. Für die Bildungsarbeit ergeben sich neue Ansatzpunkte, denn sie kann Interesse wecken, Möglichkeiten entwickeln und aufzeigen sowie Kompetenzen und Befähigungen für Engagement fördern. Neben Angeboten für die Familien besteht die Möglichkeit der Schulung von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Anmerkungen 1 Begrifflich besteht eine gewisse Nähe zur ‚strukturellen Rücksichtslosigkeit’ (vgl. Abschnitt 2.2). Strukturelle Gewalt bezieht sich etwa auf ungleiche Machtverhältnisse und Ressourcen sowie ungleiche Lebens- und Bildungschancen. So wichtig die Berücksichtigung dieser Grundlagen auch ist, so scheint es dennoch fraglich, ob es angemessen ist, hier unmittelbar von Gewalt zu sprechen. 2 Nach der Statistik des BKA etwa waren von den erfassten Tatverdächtigen zu sexuellem Missbrauch von Kindern immerhin 16 % unter 18 Jahren. 3 Aus der Autoritarismus-Forschung ist z.B. bekannt, dass ein Aspekt auch die Sprache sowie schichtspezifische ‚Kulturen’ sein können, mit der das Sprechen über Gewalt unterschiedlich tabuisiert ist POLITISCHE UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHE HANDLUNGSFELDER… 73 (vgl. z.B. Jaerisch 1975). Dies kann zu verzerrten Ergebnissen führen, da die Befragungsergebnisse über Sprache vermittelt gewonnen werden. 4 So hat Pfeiffer in türkischen Familien überdurchschnittliche Gewaltbelastungen festgestellt. 5 Angaben für 1999; Quelle: Eurostat 6 Angaben für Ehepaare mit einem Kind. Hinzu kommt der hier unberücksichtigte elterliche Zeitaufwand. Wird dieser bewertet und werden die öffentlichen Aufwendungen hinzugenommen, liegt die Summe der Gesamtaufwendungen bei 716.000 bzw. 551.000 DM (alte/neue Bundesländer). Die Eltern tragen hiervon etwa zwei Drittel. Quelle: Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen des BMFSFJ 2001: 153ff. 7 Neufassung des §1631 Abs. 2 BGB: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Die Neufassung des §16.1 SGB VIII ergänzt die Leistungen der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie: „Sie sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können.“ 8 Ausführlicher dargestellt sind diese Ansätze in der Expertise von Schmälzle „Gewaltfreie Erziehung: Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes“. 9 Wo die Ansprache nicht direkt gelingt, kann Schlüsselpersonen, die den Kontakt herstellen und Ansprechbarkeit ermöglichen, besondere Bedeutung zukommen. Die Schulung dieser Personen kann eine wichtige Aufgabe für die Bildungsarbeit darstellen. Literatur Bauer, Rudolph (Hrsg.) (1992): Lexikon des Sozial und Gesundheitswesens. München, Wien. Borchers, Andreas (1998): Soziale Netzwerke älterer Menschen. 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Der Schüler hat dieses Programm begriffen und geht zur Lehrerin und ihrem „sozialen Geschwalle“ auf Konfrontationskurs. Begriffen haben es auch Betrofzene und potenzielle Opfer. Die Angst vor Gewalt treibt alte Menschen und Behinderte noch mehr in das soziale Abseits. Die Bereitschaft zur Gegengewalt wächst, verstärkt durch ein politisches Programm gegen den Terrorismus, das auf Gewalt setzt, Menschen, Länder und Regionen dämonisiert und glaubt, mit Waffengewalt die Wurzeln des Bösen ausrotten zu können. Verselbstständigt sich der Hass? Erleben wir mit dem Ende des sozialen Leitbildes ein weiteres Risikopotenzial, das neben Gen- und Atomtechnik das Projekt der Moderne gefährdet? Hier stellt sich die Frage, was wir bis heute als Kirchenleute, Wissenschaftler, Politiker und Journalisten von diesem geheimen Lernprogramm im „circle of violence“ begriffen haben, vor allem, wie wir ihn – bewusst oder unbewusst – ständig am Leben erhalten. Wird dieser Teufelskreis der Gewalt nicht durchbrochen, weil alle – mehr als wir vermuten – davon leben? G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 77 1. Wahrnehmung von Gewalt als Grundlage einer gewaltfreien Erziehung Die gegenwärtige Diskussion des Gewaltproblems zeigt, dass es bei Wissenschaftlern und Praktikern bereits bei der Analyse zu keinem Konsens kommt. Trotz steigender Gewaltdelikte banalisieren Berichte den gegebenen Gewaltkonflikt mit der Frage, ob das, was früher eine „Bubenrauferei“ war, die Jugendliche unter sich regelten, heute von den Erwachsenen zu einem Gewaltdelikt hochstilisiert werde. Aus soziologischer Perspektive signalisiert das Gewaltproblem einen Generationenkonflikt. Die Erwachsenen, z.B. Eltern, Lehrer und Polizei, mischen sich zu stark in das Leben des heutigen Jugendlichen ein und lassen ihn nicht genügend an der Lösung seiner eigenen Probleme arbeiten. Eckert (1993, 84), Soziologe an der Universität Trier, vermutet, das die Skin- und Fascho-Gewalt ein Phänomen jugendlicher Identitätsverwirrung darstellt und verweist auf die „Rocker“ früherer Jahre, die von ihren „Bräuten“ gezähmt wurden. Er geht nicht auf die harten Fakten der Gewalt ein, die heute auch von Frauen ausgeht. Seine „Bräute“ mischen in der Zwischenzeit mit. Ehefrauen, die ihre Männer schlagen ebenso. Das „Fazit“ von Pfeiffer und Wetzels (2001, 139), dass Jugendgewalt „primär männlich“ sei, verleitet dazu, sich nicht adäquat mit den spezifischen Formen der Gewalt auseinander zu setzen, die von Frauen ausgeht. Sicher ist, dass die Gewalt in der Familie statistisch primär eine Gewalt von Männern gegen Frauen darstellt. Klar ist aber auch, „dass Frauen bei Kindesmisshandlungen bemerkenswert häufig (nach der Gewaltkommission) ‚polizeilich in Erscheinung treten’ (sie tragen die Hauptlast der Kindererziehung) und auch bei der Gewalt gegen Alte ist jeder dritte Täter weiblich (Frauen tragen die Hauptlast der Pflege)“ (Rückert/Gehrmann 1995, 18). Wenn die Fakten der Gewalt bereits so schwierig wahrzunehmen sind, dann ist es nicht verwunderlich, dass beim Versuch der Diagnose die Beurteilung von Sachverhalten und Ursachen noch weiter auseinanderfällt und im dritten Schritt, mit der Suche nach Handlungskonzepten, die große Sprachlosigkeit beginnt. 1.1 Tabuisierung und Verdrängung Die Tatsache, dass wir im Vergleich zu den USA und Japan so wenig Gewaltforschung betrieben haben, hängt mit der Tabuisierung dieses Themas zusammen. Die Gewaltkommission (Schwind/Baumann, Bd. II, 133ff) geht ausführlich auf diese Forschungsdefizite ein. Diese Tabuisierung begleitet die Gewaltdiskussion bereits seit den 70er Jah- 78 EXPERTISEN ren. Weis (1993, 123ff) schildert in einer Fallstudie zu der Schule, in der ein Schüler zum ersten Mal auf einen anderen geschossen hat, die Verdrängungsdynamik, die nach der Tat zu überwinden war. Die Ereignisse in Erfurt haben erneut bestätigt, dass sich Staat und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland dem Gewaltproblem nur unter dem Druck erlebter Opfer von Gewalt stellen. Das Gewaltproblem wurde lange Zeit bagatellisiert und verdrängt. Behörden und Schulleitung sind eher zurückhaltend, wenn es darum geht, offen über die Gewaltprobleme in Schule und Gesellschaft zu sprechen. Sie fürchten um den guten Ruf ihrer Schulen. Die Diskussion und Problematisierung des Gewaltverhaltens beginnt hierzulande meist erst dann, wenn es Opfer gegeben hat. Dazu ein Beispiel: Nach zwei Jahrzehnten Verdrängung wurde in der am 3. Februar 1992 vom ZDF ausgestrahlten Sendung „Zündstoff“ zum Thema „Gewalt in der Schule“ von Gabriele Kraiker und Wolfgang Konerding die folgende, bisher noch verheimlichte Studie einer Hamburger Schulbehörde von 1974 veröffentlicht, nach der alle befragten Lehrer übereinstimmend angeben, dass sich im Verhalten der Schüler untereinander eine zunehmende Verrohung mit folgenden Erscheinungsformen abzeichnete: ■ Werfen von Knallkörpern auf Mitschüler. ■ Mehrere Schüler vergreifen sich an einem Einzelnen; Größere prügeln Kleine. ■ Gegenseitiges Anspucken. ■ Gegenseitiges Kleiderzerreißen. ■ Es wird in Manteltaschen uriniert u.a.m. ■ Brutale Schlägereien. Kampfmethode ist das Würgen. ■ Bandenbildung zum Zweck der Terrorisierung oder Erpressung. Korte (1993, 76f) greift die Frage nach den „Belangen der Gemeinschaft und den Gestörten“ auf, wenn auf solche Ereignisse nicht reagiert wird. Krumm (1993, 186) hat schon sehr früh über die Forschungsergebnisse an norwegischen (Olwans 1991) und englischen Schulen (Tattum/Herbert 1990) berichtet, die durch eine systematische Einschaltung der schulischen Öffentlichkeit in kürzester Zeit die Gewaltakte in der Schule reduzieren konnten. Im Bereich der „Gewalt in Familien“ bilden Verschleierung und Verschweigen immer noch den Regelfall. In zwei Dritteln der Fälle von so genannter „häuslicher Gewalt“ muss nach den Angaben des Bayerischen Landeskriminalamtes die Polizei wieder ohne Anzeige abrücken, da sich Opfer und Täter bereits wieder „geeinigt“ haben und oft sogar gegen die Ordnungshüter tätig werden. Was sich unter dem Tatbestand „häuslicher Gewalt“ jedoch verbirgt, zeigt die Statistik des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, das G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 79 1995 eine Untersuchung zu „Opfererfahrungen in engen sozialen Beziehungen“ veröffentlichte, die auf einer repräsentativen Stichprobe von 5.711 Deutschen beruhte: ❐ „Fast sechzehn Prozent der Bevölkerung waren in den letzten fünf Jahren Opfer von ‚körperlicher Gewalt in engen sozialen Beziehungen’ geworden. ❐ Über achtzig Prozent der Opfer von physischer Gewalt standen dem Täter nahe. ❐ Rund zehn Prozent aller Befragten zwischen sechzehn und sechzig waren in ihrer Kindheit mindestens einmal massiv von ihren Eltern misshandelt (gewürgt, mit der Faust geschlagen) worden. ❐ Rund siebzig Prozent waren körperlich gezüchtigt worden (vom Ohrfeigen bis zum Schlagen mit einem Gegenstand). ❐ Von den Frauen zwischen Zwanzig und Sechzig sind 6,1 Prozent mindestens einmal von Familienangehörigen vergewaltigt oder genötigt worden. Hochgerechnet sind das rund 1,4 Millionen Frauen in Deutschland. ❐ Fast jede fünfte Frau ist als Kind einmal Opfer von sexuellen Übergriffen gewesen. ❐ 6,2 Prozent der Mädchen hatten bis zum Alter von vierzehn Jahren sexuelle Missbrauchserfahrungen mit Körperkontakt. Jeder fünfte Täter war der Vater oder Stiefvater seines Opfers.“ (Rückert/Gehrmann 1995, 18) Auf der Grundlage dieser Forschungen macht sich jeder, der Gewaltverhalten verniedlicht oder vertuscht, mitverantwortlich, wenn Menschen weiter Opfer von Gewalttätern werden. 1.2 Auf den Spuren eines Faszinosums: Das Schicksal gewaltfreier Erziehungsperspektiven in einer Kultur der Gewinner Die Analyse von Gerichtsbeschlüssen, literaturkritische Untersuchungen zu Siegermythologien in der Dichtung und Literatur und erst recht die analytisch-therapeutische Literatur belegen, dass bis heute der Täter und nicht das Opfer die Wahrnehmung bestimmt und dass von der Antike bis in die Gegenwart – wie Bettelheim (1980) und Wertheimer (1986) belegen – nicht tötungshemmende Bewusstseinsbildung durch Beschreiben von Affekten wie Bedauern, Scham, Mitleid und Trauer, sondern Aggression, Provokation, Kampf, Tötung und Schändung im Mittelpunkt stehen. Wo liegen die Ursachen dafür, dass Gefühle wie Mitleid, Empathie und Scham als Defekte degradiert werden? Gewaltverhalten beinhaltet immer einen aggressiven, vom Gegenüber nicht erlaubten Zugriff auf dessen physische oder psychische Existenz (vgl. Schwind/Baumann 1990, Bd. I, 35f; Bd. II, 8f). In diesem Zugriff werden bereits Regeln des begrenzten und kontrollierten Macht- 80 EXPERTISEN kampfes, in dem Menschen zunächst einmal Stärken und Schwächen, Kompetenzen und Kompromisse ausprobieren und ausloten verletzt, indem z. B. die physische Intimdistanz, das Tabu und das Verbot, den anderen unerlaubt zu berühren, nicht mehr beachtet werden. Die perverse Faszination, die vom unerlaubten Zugriff auf den Körper des Anderen bis hin zum Tötungsakt ausgehen kann, muss scheinbar in der Unwiderruflichkeit und Endgültigkeit dieses Aktes bestehen. In diesen Siegermythologien leben die Allmachtsphantasien des Menschen auf, nämlich der Wunsch, unbesiegbar zu sein und sich unbesiegbar zu machen. In diesen Allmachtsphantasien macht ein Täter sich zum Absolutum. Seine Stärke wird zum Gesetz. Er macht sich zu so etwas wie Gott, gewissermaßen zum Götzen. Wenn dies von einem Menschen, von einer Nation, von einer Rasse oder von einer Religion vollzogen wird, muss der Mitmensch zum Opfer werden. Wenn wir die Siegermythologie so betrachten, ist es eine Götzenmythologie. Der Mensch verabsolutiert sich selbst im Überlebenskampf und vergisst dabei, dass er selbst nur Geschöpf ist und als solcher Bruder oder Schwester für jeden anderen Menschen und für jedes andere Geschöpf darstellt. Identität und Selbstwertgefühl können auf dieser Grundlage nur durch Kampf und Sieg entstehen und müssen in immer neuen Kämpfen bestätigt werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn heute von Gewalttätern zu hören ist: „Ich schlage, also bin ich!“ In diese neue, von der Gewaltfaszination geprägte Lebenswelt von Jugendlichen aus der rechtsradikalen Szene führt Bill Buford (1992) in seinem Buch „Geil auf Gewalt“ ein. Bei einem Vortrag in München (1993, 10) stellte er fest: „Gewalt ist eine der am intensivsten erlebten Erfahrungen …, die Erfahrung absoluter Vollständigkeit.“ Farin und Seidel-Pielen (1993) dokumentieren in ihren Materialbänden mit Interviews, Reportagen und Praxisberichten aus der Jugendszene: „Ohne Gewalt läuft nichts!“ (Farin/Seidel-Pielen 1993) Gabi Rückert (1995, 21) berichtet auf der Grundlage von Gerichtsgutachten zum Thema Gewalt in der Ehe von einem Mann, der seine Frau vergewaltigt, um die Angst in den Augen der Frau zu erleben: „Die zweite Frau in Müllers Leben, die einen Namen trägt, heißt Uschi und steht für seine einzige Liebesbeziehung. ‘Da war ich verliebt. Ich war ein halbes Jahr mit ihr zusammen, bevor ich mit ihr geschlafen habe … Ein Jahr nach der Geburt des Kindes beginnt Müller, seine Frau zu prügeln. Er zwingt sie unter Schlägen zum Geschlechtsverkehr. Immer hat er getrunken, das weckt den Unhold, der in ihm schläft. ‘Solange das mit der Liebe neu war, war alles sehr schön’, sagt Müller. ‘Aber es war nie meine Erfüllung. Die Erfüllung für mich ist die Macht und die Angst in den Augen der Frau.’ Eines Tages geht der Mann mit dem Fleischermesser auf seine Frau los. ‘Pass auf, du Schlampe, jetzt kriege ich dich! Ich mach’ mit dir, was ich will.’“ Sexualität maskiert sich in der Aggressivität und umgekehrt. Sutterluty (1998, 30) verfolgt bis in G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 81 die Sprache der Jugendlichen die Semantik des Gewalt- und Sexualaktes: „Ficken“ ist ein Synonym für „jemand zusammenschlagen“, „auf ihn eintreten“ oder „einstechen“. Analytisch betrachtet erleben wir bei dieser Mixage aus Aggressivität, Sexualität und Allmachtsphantasien die Kollision unbewältigter Bedürfnisse, die den Täter überschwemmen, das reflexive Potenzial ausschalten und ihn blind machen für das Opfer. Von dieser Mixage aus Aggressivität und Sexualität geht eine eigentümliche Faszination aus. 1.3 Das Geschäft mit dem Faszinosum „Gewalt“ In Kunst und Literatur resultieren bis heute die wirkungsvollsten Effekte aus der Thematisierung des Gewaltproblems. Der audiovisuelle Medienspektakel produziert schizophrene Doppelbotschaften am laufenden Band. Im manifesten Protest spricht doppelzüngig das Faszinosum Gewalt zu uns. Solche Berichterstattung reproduziert nach Kunczik (1998) Gewalt. Sicher ist, dass die medialen Berichterstattungen von den Fronten des Golfkrieges, von den Stammesfehden rechter und linker Politgangs, von den abgefackelten Ausländer- und Asylantenwohnungen und den Horrorszenen in Schulen und Kindergärten das Gewaltproblem eher anstacheln und bestehende Ohnmachtsgefühle verstärken. Ohder (1992, 65) spricht vom „Fremdbild“, das Medienberichte vom gewalttätigen Jugendlichen konstruieren und beweist mit exakten Analysen zur Berliner Tagespresse, dass dieses Bild nicht nur ein fremdes, sondern ein gemachtes und verfälschtes ist. Vertreter der Presse gingen sogar so weit, dass Jugendlichen beim Phototermin Schlagwerkzeuge in die Hand gedrückt wurden. Selektive, Tatsachen verzerrende und panikmachende Berichte zur Jugendgewalt fördern Gewaltverhalten und Gewaltbereitschaft. „Jugendliche, die ständig mit einem bestimmten Fremdbild konfrontiert sind, beginnen sich diesem anzunähern, werden ‘innerlich’ zu dem, als was sie ‘von außen’ qualifiziert werden.“ (Oder 1992, 65) Stadler stellt in der Neuen Zürcher Zeitung (21.02.1993) schlicht fest: „Wir sind des Mordes schuldig.“ Umgekehrt bestätigt Oliner in seiner Untersuchung unter „Retterinnen und Rettern“ im Holocaust, dass der Verzicht auf die körperliche Züchtigung in der Erziehung der Herkunftsfamilie, also der Verzicht auf Gewalt in der Familie den höchst signifikanten Indikator darstellt, der den „Retter“ von dem „Nichtretter“ unterscheidet (Oliner/Oliner 1988). Das Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Konflikte gewaltfrei gelöst werden, lässt sich auf der Grundlage dieser Forschungsergebnisse erreichen, wenn Kinder und Jugendliche in Familie und Schule erleben und erfahren, wie Konflikte im Dialog gelöst werden. Das Züchtigungsrecht der Eltern und die Anwendung körperlicher Gewalt in der Familie (vgl. Bussmann 2000; Albrecht 1994; 82 EXPERTISEN Coester 1996; Schneider 1987; Vaskovics 1999; Woog 1998) ist damit nicht nur im Kontext von Elternrecht und Kinderwohl zu diskutieren. Der Verzicht auf die physische Gewalt und Praxis einer gewaltfreien Erziehung in Familie und Schule sichert für eine Gesellschaft die entwicklungspsychologischen Konstitutionsbedingungen für prosoziales Verhalten, Empathie und Toleranz (Martin 199; Schubarth 2000). 1.4 Die Bedeutung medialer Gewaltdarstellungen Gewaltdarstellungen in den Medien korrespondieren mit erlebter und praktizierter Gewalt auf der Straße, in Politik, Schule und Familie. Die Medien lassen etwas wirklich werden, was in uns selber wirklich ist. Gewalt in den Medien berührt den nicht, der selbst der Versuchung widerstehen kann, eigene Interessen und Bedürfnisse in den gegebenen Beziehungsfeldern und Alltagssituationen mit Gewalt durchzusetzen. Gewaltverhalten und Gewaltbereitschaft im Alltag werden sich nicht dadurch verändern, dass die Gewalt aus der Welt der Medien in einem neuen Bildersturm eliminiert wird. Gewalt in den Medien korreliert mit der Funktionalisierung und Entzauberung der Lebenswelt von Jugendlichen und Erwachsenen im Kontext universeller technischer Machbarbeitsphantasien. „Man konzentriert sich auf Reizsteigerung und Realitätserweiterung … Auf dem Markt bestehen kann nur, was bei den Rezipienten ‘ankommt’, was ihren Nerv trifft“ (Paus-Haase 2000, 240). Die Inhalte der Medien werden sich verändern, wenn die Zahl der Menschen wächst, die in Familie, Schule und Gesellschaft an Spannungen und Konflikten ohne den Einsatz von psychischer und physischer Gewalt arbeiten. Die Medien sind der Spiegel unserer eigenen Innenwelt. Bettelheim (1980, 212) beschrieb schon sehr früh den Befund, dass das Vorrücken der Gewaltszenen „in den objektiv berichtenden Nachrichtensendungen“ ein Anzeichen dafür ist, „wie weitverbreitet die Faszination durch Gewalt und das Bedürfnis nach imaginärem Abreagieren aggressiver Neigungen sind“ (Bettelheim 1980, 212). Die Frage nach der Wirkung der Medien wirft uns auf uns selbst zurück. „Das Verhalten von Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit Gewalt spiegelt lediglich die bei den Erwachsenen vorherrschenden Muster wider.“ (Bettelheim 1980, 212) In den Medien wird Lebenswelt simuliert und konstruiert. Die Simulation von möglichen Lebenswelten geschieht genauso in der Literatur, in Mythologien und Religionen. Der Unterschied besteht darin, dass der Verbreitungsgrad und die Intensität der Vermittlung von heutigen Medienprodukten nicht mit der Reichweite von Platons „Politeia“, den Utopien eines Augustinus in der „Civitas Dei“, der „Wolfsanthropologie“ eines Thomas Hobbes oder den Theorien zum „Übermenschen“ in Nietzsches Zarathustra vergleichbar sind. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 83 Henk Hoekstra (1992, 70) beschreibt die neuen Kommunikationsformen, die mit der audiovisuellen Sprache möglich sind, so dass ein Film oder Videoclip in kürzester Zeit mit seiner Botschaft in die unterschiedlichsten Kulturen eindringen kann. Mit Pierre Babin stellt er fest: „Bild und Wort sind … eine neue Ehe eingegangen“. Film und Fernsehen sind heute die Geschichtenerzähler. „Nach der Ablösung der Wort- durch die Schriftkultur erleben wir gegenwärtig mit der Mediatisierung das Anbrechen einer neuen audiovisuellen Kultur.“ (Hoekstra 1992, 70) Kennzeichen dieser Kultur ist die unbegrenzte Simulation von Lebenswelten in Computerspielen, Videoclips, Vidoproduktionen und Filmen und eine weder mit der Wort- noch Schriftkultur vergleichbare Multiplizierbarkeit dieser virtuellen Lebenswelten. Es ist unbestritten, dass diese audiovisuelle Revolution nicht folgenlos bleiben und der Snobismus der 80er Jahre über die Harmlosigkeit der Medien überwunden werden muss. Die Menschenbilder, die in den Medien entwickelt werden, bleiben nicht ohne Folgen, genausowenig, wie der „Übermensch“ von Nietzsche ohne Folgen geblieben ist. Ich will jedoch mit aller Klarheit bestreiten, dass die Medien die eigentliche Ursache für die Gewaltbereitschaft und das Gewaltverhalten in unserer Gesellschaft sind. Ich will ferner bestreiten, dass es möglich ist, über Verbote von Medieninhalten das Gewaltproblem in einer Gesellschaft lösen zu können. Bettelheim führt solche gewaltorientierten Feldzüge gegen die Gewalt ad absurdum: „So läuft es am Ende darauf hinaus, dass wir Gewalt mit Gewalt unterdrücken und damit unseren Kindern beibringen, dass es unserer Meinung nach keine vernünftige oder intelligente Art gibt, mit ihr fertigzuwerden. Dabei würden dieselben Eltern bei anderer Gelegenheit der Ansicht zustimmen, Unterdrückung sei die untauglichste Art, mit Trieben umzugehen.“ (Bettelheim 1980, 210) Es ist unbestritten, dass neue Gesetzesbestimmungen bezüglich rassistischer, gewaltverherrlichender oder jugendgefährdender Programme durchgesetzt werden müssen und dass wir uns in der Gesellschaft, was den Kinder- und Jugendschutz angeht, hier in einem Vollzugsdefizit befinden. Empirische Forschungen belegen, dass Medienkonsumenten ganz unterschiedlich mit dem umgehen, was sie sehen. Es gibt nicht nur Hinweise für das Vorbildlernen durch das, was Kinder und Jugendliche in den Medien sehen. Gewaltdarstellungen können bei Kindern und Jugendlichen, die in Familie, Schule und Gesellschaft gewaltlose und prosoziale Vorbilder und Wertmaßstäbe erleben, ein Gegengift gegen Gewaltbereitschaft und Gewaltverhalten in dem Sinne provozieren, dass Kinder und Jugendliche lernen, sich abzugrenzen. Gefährdet sind die Gruppe der Vielseher von medialen Gewalt- 84 EXPERTISEN darstellungen und verstärkt solche, die in einem Milieu leben, in dem die in den Medien virtuell dargestellten gewaltorientierten Handlungsweisen real praktiziert werden (Sturm 1981, 137-148). Jo Groeber (1988, 479) fasst die Ergebnisse der internationalen Studie von Rowell Huesmann (1986) folgendermaßen zusammen: „Für die interkulturelle Studie lässt sich zusammenfassend festhalten: ❐ Aggression steht in systematischem Zusammenhang mit dem Verhalten der Eltern. Dies zeigt sich interkulturell. Eltern sind zunächst die wichtigste Sozialisationsinstanz. ❐ Aggression weist universal über die Zeit eine hohe Stabilität auf. ❐ Belege für eine langfristige Senkung von Aggression durch Gewaltdarstellungen finden sich in keinem Land. ❐ Das Ausmaß der Wirkung von Fernsehgewalt auf aggressives Verhalten ist kulturabhängig. Deshalb lassen sich amerikanische Befunde zu diesem Bereich nicht ungeprüft auf andere Länder übertragen. ❐ Gewalt in der konkreten Umwelt, normative Heterogenität und ein eher homogenes, gewaltbezogenes Programm tragen zu einem reziproken Prozess der Aggressionsentwicklung bei. ❐ Der Anteil der Medien an diesem Prozess hängt von ihrer Dominanz gegenüber den anderen Faktoren ab. Er kann kulturspezifisch vergleichsweise hoch sein.“ Diese These wird noch plausibler und einsichtiger, wenn wir sein „Modell zu kurzfristigen und langfristigen Wirkungen von Mediengewalt“ betrachten. Gewaltdarstellungen in Medien, die mit dem Gewaltverhalten in der Familie korrelieren und homogen sind, verstärken und potenzieren das Gewaltpotenzial. Kinder, die das Gegenteil zur Mediengewalt in der Familie erleben, sind nicht so gefährdet. In ihnen wird durch die Gewaltdarstellungen der von Michael Charlton und Klaus Neumann (1990) beschriebene „innere Dialog“ ausgelöst, in dem das Kind virtuelle Medienwirklichkeit und primäre Familienwirklichkeit in Bezug setzt und vergleicht. Wer wirklich an der Wurzel des Gewaltproblems arbeiten und Gewaltbereitschaft abbauen will, muss sich auf die Alltags- und Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen in Schule und Familie einlassen und dort der Frage nachgehen, wie mit oder ohne Gewalt gelebt wird und welche Erfahrungen Kinder, Jugendliche und Erwachsene dort mit der Gewalt machen. Die Phantasien und Bilderwelten, die Kinder und Jugendliche in der Auseinandersetzung mit ihrer Welt selber produzieren, sind wichtiger als die fremdproduzierten Geschichten, welche in den Bildteppichen der Medien erzählt werden. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 85 2. Was macht die Menschen zu dem, was sie sind? Zur Stifterfunktion anthropologischer Leitbilder Zum 10. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto entwickelt Bertrand Russel (1953) ein Forschungsprogramm, das bis heute Humanwissenschaftler beflügelt und durch die Gewaltproblematik neu an Aktualität gewonnen hat. „Menschen haben eine außerordentliche Fähigkeit zu brutaler Grausamkeit. Und ich glaube, es ist die Pflicht eines jeden denkenden Menschen, nicht nur über Grausamkeit entrüstet zu sein und den Wunsch zu hegen, die Täter abzuhalten – das ist natürlich wesentlich –, sondern es gibt darüber hinaus etwas, das man meiner Meinung nach tun müsste, nämlich die Wurzeln der Grausamkeit, die Wurzeln der Verfolgung, die Wurzeln des Barbarismus in der menschlichen Seele aufzuspüren, dasjenige, das die Menschen veranlasst, böse zu sein, wo sie auch anständig sein könnten. Dies ist vor allem ein wissenschaftliches Problem. Die Lösung der Probleme müsste zeigen, was die Menschen zu dem macht, was sie sind.“ Die Fragen nach den Ursachen der Gewalt und nach dem Gewaltbegriff durchziehen wie ein roter Faden die Gewaltliteratur. Spätestens beim Ringen um das Verständnis menschlicher Aggressivität, ob in uns der „Urmensch“ (S. Freud) fortlebt und der Mensch ähnlich wie das Tier auf Aggression und Kampf festgelegt ist, oder ob der Mensch als soziales Wesen auf Kommunikation und Kooperation angelegt ist, wird deutlich, dass die heutige Erwachsenengeneration einen echten Konsens zu anthropologischen Grundwerten und Leitideen nie hatte oder wieder verloren hat und der nachwachsenden Generation nach Gronemeyer (1993) einen „moralischen Trümmerhaufen“ hinterlässt. Wir Erwachsene muten der nächsten Generation die Entwicklung von Lebensentwürfen zu, ohne dass wir selbst überzeugend so leben, dass die Ressourcen für die nächste Generation nicht systematisch zerstört werden. Dabei geht es heute neben der Sicherung der ökologischen genauso stark um die Sicherung von sozialen und spirituellen Ressourcen. Wenn wir dabei die Analysen eines Rapoport mit den Büchern des Apokalyptikers Gronemeyer vergleichen, dann besticht bei Rapoport die analytische Tiefenschärfe und ein systematisches Denken, das Fakten aus der Soziologie, Psychologie und Kulturgeschichte gleichermaßen ernst nimmt und nicht sofort zum Klagepsalm instrumentalisiert, in dem bei Gronemeyer (1993, 211) „die Zerstörung der äußeren und inneren Natur beweint wird“. Während Rauchfleisch (1992) und mit ihm die meisten Autoren mit einem Erklärungsmodell zum Phänomen menschlicher Aggressivität arbeiten, verbindet Rapoport (1990, 194ff) Aggressions- und Frustrationstheorien mit den Ergebnissen aus der Lerntheorie 86 EXPERTISEN und Soziobiologie. Die Frage nach den Ursachen der Gewalt muss nicht in einer abgehobenen Theoriedebatte und praxisvergessenden Grundlagendiskussion versanden. Die IstAnalyse zu den Wurzeln der Gewalt eröffnet durchaus Handlungsperspektiven. 2.1 Der Mensch: Bestie oder Gott? Erklärungsmodelle und Analysen von Sozialwissenschaftlern entstehen nicht im wertfreien Denklabor. Es stellt sich die Frage nach den latenten oder manifesten anthropologischen Leitbildern, die solchen Erklärungsmodellen zugrunde liegen (Schmälzle 1993, 43ff). Diese Leitbilder vermitteln ethische Grundorientierungen. Ihnen kommt im Sinne Foucaults (1973, 29) „Stifterfunktion des Subjekts“ zu, ja mehr noch, bei der Konstruktion von sozialer Wirklichkeit werden die anthropologischen Leitbilder und ethischen Grundorientierungen der Sozialwissenschaften – wiederum im Sinne Foucaults – zum „Dispositiv“, das soziale Wirklichkeit definiert. Wenn z.B. Sigmund Freud 1917 „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ schreibt und dabei den Mythos vom „Urmenschen“ entwickelt, der „in unserem Unbewussten“ mit seinem Aggressionstrieb fortlebt und betont, dass „unser Unbewusstes die Tötung nicht ausführt“, dann konfrontiert uns Gewalt von Kindern und Jugendlichen mit diesem Unbewussten in der Gesellschaft. Das mythische Konstrukt des Urmenschen wird handlungsleitend. Ist die Gewalt von Kindern und Jugendlichen ein Reflex auf die Gewaltbereitschaft der Erwachsenen? Lebt in der Jugendgewalt die Wolfsanthropologie der Moderne auf, die wir seit Generationen mit uns herumschleppen? Wertheimers Buch zur „Ästhetik der Gewalt“ (1986) betreibt bereits seit der Mitte der achtziger Jahre diese „Archäologie des Wissens“ im Sinne von Foucault und zeigt auf, dass wir realpolitisch und künstlerisch in einer Tradition der Gewalt stehen: „Der literarische Text, das Kunstwerk im Schnittpunkt von Affirmation und Provokation, spricht am deutlichsten im Moment der Tötung … Der Akt des Tötens und Getötetwerdens wird zum Prüfstein der Existenz.“ (1986, 10) Wertheimer beschreibt die neue Wesenswirklichkeit, die den Menschen zwischen Tier und Gott, zwischen Bestie und Idol verortet und als oberste Handlungsmaxime von ihm den Sieg erwartet. Leser, die mit der subjektiven Auswahl der Texte nicht zufrieden sind und tiefer in die Archeologie von Gewaltbereitschaft und Aggressionsverhalten eindringen wollen, sollten auf die Bücher von Anatol Rapoport zurückgreifen. Sie öffnen in der Tat die Augen für die „Ursprünge der Gewalt“ (1990). In dem Buch „Frieden: Eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ kommt Rapoport zu dem Schluss, dass die Friedensidee „während mindestens achtundzwanzig Jahrhunderten schlief“ (1991, 239). G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 87 Die amerikanischen Sprachwissenschaftler Lakoff und Johnson (1980, 4f) haben bis in die sprachlichen Metaphern des Alltags hinein das Muster einer auf Kampf und Sieg abgestimmten Kultur nachgewiesen: „‘Er griff jeden schwachen Punkt in meinem Argument an.’ ‚Seine Kritik hat genau getroffen.’ ‚Ich habe seine Argumente zunichte gemacht.’ ‚Du stimmst nicht zu? Dann schieß mal los!’ ‚Wenn du diese Strategie wählst, wird er dich fertigmachen.’“ Im Alltag laufen tagtäglich „verbale Schlachten“ ab, die Persönlichkeit zerstören, den Respekt und die Toleranz vor dem Anderen und dem Fremden leugnen und „durch das Konzept Krieg strukturiert sind … In diesem Sinn ist die Metapher ARGUMENT ALS KRIEG eine der Metaphern, von und mit denen wir in unserer Kultur leben. Sie strukturiert die Handlungen, die wir beim Argumentieren ausführen.“ 2.2 Der Mensch als Ware Gerda Zellentin beschreibt die Faszination, die bis heute von der Sozialphilosophie und sozialdarwinistischen Anthropologie eines Thomas Hobbes ausgeht. Er beschreibt den Menschen als Mangelwesen: Der Mensch ist des Menschen Wolf, das heißt, Konkurrenz, Konflikt und Mangelerfahrungen bestimmen das soziale Verhalten. Zellentin bemerkt dazu: „Die Folgerichtigkeit, mit der Hobbes (1976, 76f) diese These zu beweisen sucht, ist faszinierend. Bis auf den heutigen Tag zieht seine Anthropologie die Sozialwissenschaftler an, weil sie einigermaßen verlässliche und präzise Voraussagen über menschliches Verhalten erlaubt.“ Diese Faszination fordert aber auch bis heute ihren Preis. Sie reproduziert ständig die von Hobbes vertretene Wolfsanthropologie und Siegermythologie, deren letztes Ziel es ist, „an erster Stelle zu stehen“, und wer nicht bereit ist, zum Kampf anzutreten, über den sagt Hobbes: „Das Rennen aufgeben heißt Sterben.“ Der Konflikt zwischen Menschen, deren Interesse sich auf das gleiche Objekt und das gleiche Ziel richtet, ein Ziel, das nicht von allen erreicht werden kann, ist nur dadurch möglich, „dass der Stärkere es allein erreichen muss und dass durch den Kampf entschieden wird, wer der Stärkere ist.“ Die Verdinglichung und Materialisierung des Menschen zur Ware im Arbeitsprozess, die Verdrängung von gewaltlosen, an Solidarität und am Teilen orientierten Konfliktmodellen, die Festlegung des Menschen auf den Kampf bei der Konfliktlösung, diese sozialdarwinistischen Positionen bestimmen den Bodensatz unserer Kultur der Gewinner. Die 88 EXPERTISEN Arbeit am Gewaltverhalten von Kindern und Jugendlichen wird zur Farce, verfehlt die notwendige Wurzelbehandlung und verkommt zur Symptombehandlung, wenn dieser fundamentale Wertkonflikt nicht immer im Blick ist. Dieser Konflikt wird gegenwärtig auf dem Rücken von Schule und Familie ausgetragen. Dabei ist festzustellen, dass sich zweckrationale Prinzipien und Zielvorgaben immer stärker auch im Bildungsbereich ausbreiten. Die Beziehungen zwischen Lehrern, Schülern und deren Eltern, ja sogar die Beziehungen im Primärbereich der Familie werden zunehmend von den Prinzipien der Zweckmäßigkeit, der Funktionalität und der Verwertbarkeit bestimmt. Lyotard stellt für die Schule resignierend fest, dass Wissen für Verkauf und Wettbewerb erworben wird (1986, 24). Wenn Wilhelm Heitmeyer in seiner vielzitierten Analyse den Leser, der nach Handlungsperspektiven fragt, mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit von „tiefgreifenden Einschnitten in zentrale Abläufe dieser durchkapitalisierten Gesellschaft“ (1986) entlässt, hat er vermutlich die angesprochene Wurzelbehandlung Blick. Was konkret zu tun ist, bleibt bei ihm offen. Die Suche nach den Ursachen von Gewaltverhalten und Gewaltbereitschaft, nach Erklärungsmodellen und Deutungsansätzen menschlicher Aggressivität wurde in der Zwischenzeit zum Tummelplatz für Theoretiker und Analytiker aus allen Disziplinen. Wenn wir uns die Frage nach einigermaßen verlässlichen Urteilen stellen, die zudem durch empirische Befunde abgesichert sind, schmelzen Theorien und Wissensbestände zusammen wie der Schnee unter der Frühlingssonne. 2.3 Zur Reichweite verschiedener Erklärungsmodelle Was Gewaltverhalten zu einem Problem für die Gesellschaft macht, wird ganz unterschiedlich begründet. Struktur- und funktionsbezogene Erklärungsmodelle setzen bei sozialen Störungen im Zusammenleben an oder gehen von den Normen aus, die in der Gesellschaft gelten. Auf diesem Hintergrund spricht Schneider (1991, 18) von „sozialer Desorganisation: Gewalt entsteht, wenn Gemeinschaft und zwischenmenschliche Beziehungen zerfallen“. Heitmeyer (1992, 109) vertritt gleichlautend die These, „dass Desintegration ein zentraler Aspekt zur Klärung von Gewalt darstellt“. Beide Autoren versuchen damit das Gewaltproblem auf dem Hintergrund makrosoziologischer Erklärungsmodelle zu deuten. Ich habe Zweifel, ob die Desintegrationshypothese den entscheidenden Schlüssel zur Erklärung und Lösung des Gewaltproblems liefert. Knauf (1993, 4) stellt ähnliche Fragen: „Die Plausibilität solcher Deutungsansätze beruht auf ihrer Konkretheit, Eindeutig- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 89 keit und ihrer Kombinierbarkeit mit unseren Alltagserfahrungen; ihre Schwäche liegt in der Unterstellung eines eindimensionalen Wirkungszusammenhangs. Die Suche nach komplexeren Erklärungen für die Gewaltbereitschaft ist schwierig, weil in solchen Erklärungen unter anderem auch auf das Grundsatzproblem der Entstehung, Wahrnehmung und Definition von Formen und Stilen sozialer Verhaltensweisen eingegangen werden müsste.“ Merton (1973) macht warnend darauf aufmerksam, dass solche diffusen Deutungsmuster und Analyseraster konsequenterweise auch zu falschen und einseitigen Lösungskonzepten führen und bestehende Ohnmachtsgefühle noch verstärken. Der Forschungsbericht „Fremdenfeindliche Gewalt“, der unter Federführung von Eckert (1993, 133) für die Deutsche Forschungsgemeinschaft durchgeführt wurde, grenzt sich ebenfalls unter Berufung auf Merton von der Desintegrationsthese ab und verweist auf die Schwäche des „sozialstrukturellen Erklärungsmusters …“ Die Menschen reagieren auf konflikthafte, widersprüchliche oder anomische Strukturen und Situationen nicht uniform, sondern unterschiedlich, je nach konkret verfügbaren Handlungsmöglichkeiten, Kompetenzen und Gelegenheitsstrukturen. „… Nur für einen Teil der fremdenfeindlichen Gewalttäter sind eigene Desintegrationserfahrungen festzustellen: also etwa Schulabbruch, Arbeitslosigkeit, defizitäre Familienstrukturen, Beziehungslosigkeit.“ Bereits die Analyse von Täterbiographien konfrontieren uns mit dem Phänomen personal verantworteter Lebensgestaltung und Wertentscheidung von einzelnen Menschen. Der Therapeut Udo Rauchfleisch (1992, 23) setzt sich kritisch mit den Autoren auseinander, die davon ausgehen, „dass Aggression eine Mensch wie Tier angeborene primäre, von innen her zur Entladung drängende Kraft sei“ (z.B. Lorenz, Freud und Klein). Er verweist auf die Kritik Kohuts am Freudschen destruktiven Aggressionskonzept und erläutert dessen These zur primär nicht destruktiven Aggression. Kohut schreibt dieser Aggression in der Entwicklung des Menschen die notwendige und positiv zu wertende Funktion der Abgrenzung zwischen Person und Umwelt zu, die fundamental für die „Etablierung eines Identitätsgefühls“ (ebd. 25) wird. Solche Differenzierungen fehlen in der gegenwärtigen Gewaltdiskussion. Vielfach endet der Versuch, durch die Arbeit an theoretischen Erklärungsmodellen Handlungskonzepte zur Lösung des Gewaltproblems freizulegen, in einer fachspezifischen und abgehobenen Theoriedebatte und Grundlagendiskussion, die aktional versandet und nicht zum Handeln führt. Knauf (1993, 6) liefert eine vorläufige Zusammenfassung von Ergebnissen dieser Arbeit an Erklärungsmodellen: 90 EXPERTISEN „Zentrale Bedeutung in den charakterisierten Erklärungsansätzen haben ❐ die menschliche Triebstruktur, die vor allem dann zum Zuge kommt, wenn Normen und soziale Sinnstrukturen fehlen oder zu schwach ausgeprägt sind, ❐ die Erfahrung von psychischer Verletzung und Diskriminierung (Frustration), die aggressive (Ersatz-)Handlungen provozieren (Dampfkesseleffekt), die soziale Akzeptanz von Gewalt im sozialen Umfeld, aber auch die öffentliche Beachtung, die aggressives Verhalten erfährt, ❐ die Vermittlung von Verhaltensmodellen (etwa in den Massenmedien), die Gewaltanwendung als etwas Naheliegendes und Attraktives darstellen.“ Knauf betont die Notwendigkeit der Kombination verschiedener Erklärungsmodelle und kommt zu dem Urteil, dass dieser Vergleich noch nicht geleistet sei. Dem ist nicht so. Rapoport (1990, 195) entwickelt ein Erklärungsmodell, in dem Aggressions- und Frustrationstheorie, ferner die Theorie des sozialen Lernens und der kognitiven Dissonanz in Beziehung gesetzt werden. Die Kombination dieser Erklärungsmodelle aus der Sozialpsychologie liefert Ansätze zur Entwicklung von Handlungskonzepten. 2.4 Gewalt erzeugt Gewalt – Frieden erzeugt Frieden Gewalt ist kein Naturprodukt. Der Mensch muss seine existenziellen Überlebensbedürfnisse ohne die Instinktsteuerung des Tieres strukturieren. Die Verletzung physischer, psychischer und sozialer Bedürfnisse löst Frustrationen und aggressive Ersatzhandlungen aus. Dabei entwickelt jedes menschliche Wesen vom Kleinkindalter an ein breites Repertoire von Reaktionsmöglichkeiten (Mienenspiel, Beißen, Kratzen, Schreien …). Das Ernstnehmen dieser Bedürfnisse im Kleinkindalter schafft Vertrauen und Selbstwertgefühle. Ihre Verletzung und Verdrängung disponiert zu Misstrauen, Angst und Aggressivität. An diesem Punkt beginnen die Überlegungen von Galtung (1993, 51f) und anderen Friedensforschern (Gugel/Jäger 1994; Goss/Goss-Mayr 1983; Goss-Mayr 1998; Schäfer 1998; Voß 1999). Er kritisiert, dass wir nur nach den Ursachen von Gewalt und deren Auswirkungen fragen, aber nicht umgekehrt die Frage nach den Ursachen des Friedens und dessen Folgen stellen. Das Faszinierende an den Ausführungen von Galtung ist auf der einen Seite die schonungslose und erdrückende Beschreibung des Gewaltpotenzials und die Tatsache, dass er auf der anderen Seite nicht mutlos wird, eine Gegentypologie unter den Stichworten Frieden und Kooperation zu entwerfen. Die Beschreibung des Gewaltpotenzials ist mit den Begriffen Ökozid, Suizid, Homizid, Genozid, Strukturozid umfassend. „Die Typologie des G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 91 Friedens ist genauso umfassend. Negativer Frieden ist die Abwesenheit von Gewalt; natürlicher Frieden ist Kooperation, nicht Kampf zwischen den Arten. Direkter positiver Frieden besteht aus verbaler und physischer Zuwendung, gut für Körper, Geist und Seele; an alle Grundbedürfnisse gerichtet (Überleben, Wohlergehen, Freiheit und Identität). Liebe ist der Inbegriff davon, eine Vereinigung von Körper, Geist und Seele. Und die Integration von Körper, Geist und Seele bedeutet inneren Frieden.“ Galtung gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, nur eine Typologie des Friedens zu entwickeln. Sein Blick richtet sich schon auf eine Friedenstheorie mit entsprechenden Hypothesen: „Gewalt jeglicher Art erzeugt Gewalt jeglicher Art. Frieden jeglicher Art erzeugt Frieden jeglicher Art. Positiver Frieden ist der beste Schutz gegen Gewalt.“ Die Befunde der Aggressionsforschung weisen darauf hin, dass die wirksamste Methode, aggressive und gewaltbezogene Verhaltensweisen zu lernen, darin besteht, dass Modellpersonen wie Väter, Mütter, Lehrerinnen und Lehrer ihre Forderungen mit psychischem und physischem Druck bei Kindern und Jugendlichen durchsetzen. Die Gewaltkommission stellt in ihrem Endgutachten fest: „Die empirisch nachgewiesenen Beziehungen zwischen Gewalterfahrung und eigener Gewalttätigkeit beruhen auf Lernprozessen … Ebenso wie Gewalt an gewalttätigen Modellen gelernt wird, kann eine gewaltlose Konfliktlösung am besten an konsequent gewaltlosen Vorbildern gelernt werden. Sie müssen dem Kind im Elternhaus und in der Schule vorgelebt werden. Die Gewaltlosigkeit der Erziehung ist wesentlicher Bestandteil der Erziehung zur Gewaltlosigkeit.“ (Ohder 1992, 168f) Pädagogische Arbeit am Gewaltverhalten und der Gewaltbereitschaft kann damit in Schule und Familie auf einer soliden empirischen Grundlagenforschung aufbauen. Hass, Sadismus, Destruktivität und Zerstörungswut sind nicht das Resultat angeborener Verhaltensweisen, sondern Ergebnis interaktionsgebundener und entwicklungsspezifischer Lernprozesse. Pädagogische Arbeit muss nach Festinger (1976) bei den Bedürfnissen und Lebenssituationen ansetzen, die in der Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen gewaltbelastet sind und damit „gewaltfördernde Lernprozesse …, gewaltbegünstigende Einstellungen und gewaltarme Verhaltenstechniken“ auslösen. Udo Rauchfleisch konkretisiert individuell-lebensgeschichtliche und gesellschaftliche Faktoren, die in solchen Lernprozessen wirksam werden. „Lebensgeschichtliche Ursachen sind vor allem Bedingungen, die dem Kind Gefühle von Leere und Ohnmacht vermitteln, eine Atmosphäre von Stumpfheit und Freudlosigkeit schaffen und das Kind innerlich ‘erfrieren’ lassen. Die gesellschaftlichen Bedingungen, welche die Entwicklung des Sadismus fördern, sieht Fromm vor allem in einer Sozietät, die auf ausbeuterischer 92 EXPERTISEN Herrschaft beruht sowie Unabhängigkeit, Integrität, kritisches Denken und Produktivität ihrer Mitglieder hemmt.“ Bis in die gerichtsmedizinischen, kriminologischen und psychiatrischen Berichte bei der Strafverfolgung von Gewaltakten hinein lassen sich täterfixierte Verzerrungen in der Wahrnehmung von Gewalt nachweisen. Der Täter wird dabei in den Mittelpunkt gerückt, Situation und Bedingungen des Gewaltakts werden ausgeblendet. Folge ist, dass „der stumme Zwang sozialer Verhältnisse“, der gewaltauslösend wirken kann, gar nicht mehr gesehen wird. Das Gewalt- und Misshandlungsproblem wird nach Gelles als „Problem individueller Devianz, der Täter als der ganz andere, in primitivsten Formen als das Ungeheuer, der Abartige“ verstanden, nämlich „als der, der aufgrund spezifischer, als naturveranschlagter Charakterradikaler mit anderen Menschen sich nicht vergleichen lässt: als der Un-Mensch par excellence. Offenbar spielt hier eine Rolle, dass dieses Ausgrenzen mit gegenaggressiver Tendenz eine wichtige seelische Funktion hat: Es entlastet von eigenen gewaltsamen Strebungen, die dem ‘Täter’ aufgeladen werden, damit man ihn dann (als Sündenbock) in die Wüste schicken kann.“ (zit. nach Büttner/Nicklas u.a. 1984, 25f) Im Mittelpunkt steht der brutale, physische und lebensvernichtende Gewaltakt, von dem sich jeder demonstrativ abgrenzen kann. Das Vergessen des Opfers und die Fixierung auf den Täter sind wiederum die Folgen der Faszination., die Taten begleitet, mit denen ein Mensch seinen Mitmenschen zum Opfer macht. 3. Konsequenzen für die Bildungsarbeit Der Peyrefitte-Report (Hobe 1990, 88f) macht deutlich, dass wir mit Verdrängung und Tabuisierung den Signalwert des Gewalthandelns verschlafen. Er spricht nicht dem Dramatisieren das Wort, sondern fordert den Dialog. „Gewalt erscheint weniger als ‘Schrei der Stummen’, sondern eher als Sprache derer, mit denen kein ausreichender Dialog geführt worden ist oder werden konnte.“ Die Autoren dieses Berichtes gehen sogar so weit, dass sie dem konkreten „Gewalthandeln“ die Funktion beimessen, dass es „auf Schwachstellen in unserem Zusammenleben“ aufmerksam macht. Was hat nun die Literatur Erziehern und Eltern anzubieten, die am Gewaltproblem arbeiten wollen? Es gibt Autoren, die sich der Handlungsperspektive radikal verweigern oder nur noch in Ausbliken thematisieren. Für Eibl-Eibesfeldt müssen Leute wie Albert Schweitzer, G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 93 Bertrand, Russel, Bruno Bettelheim, Walter Benjamin und überhaupt alle Vertreter, die aus christlicher oder humanistischer Intention gesinnungsethisch und verhaltensändernd am Gewaltproblem arbeiten wollen, „Pop-Soziologen“ sein, weil sie Aggression aus dem Milieu erklären. Gronemeyer fragt deshalb mit Recht, ob auf „den Baseballschläger des Jugendlichen“ in Zukunft „mit der biologischen Keule“ geantwortet wird. Während sich die Wissenschaft immer noch mit dem Rätsel menschlicher Aggressivität beschäftigt, gibt es an der Basis runde Tische von Betroffenen, Antigewaltarbeitsgruppen in Schulen und Stadtteilen und Lehrerinnen und Lehrer, die konkret der Gewalt wehren. Die Religionslehrerin, von der ich eingangs berichtete, hat durch ihre besonnene und klare Reaktion nur über das Gespräch einige aus der rechtsradikalen Gruppe zum Nachdenken gebracht, zumindest die, die sich an der von der Schülermitverwaltung organisierten Anti-Gewalt-Demo beteiligt haben. Wenn Gronemeyer meint, gegen Gewalt sei noch kein Kraut gewachsen, so ist schlicht festzustellen, dass schon einige Kräuter wachsen, so ist ihm mit K.O. Hondrich (2002) zuzustimmen, der in seinem neuen Buch ebenfalls darauf hinweist, dass der „Keim für Gewalt“ im Alltag immer neu gelegt wird. Verletzbar sind und bleiben die Menschen, wie der 11. September 2001 gezeigt hat, in allen zivilisatorischen Schutzhüllen, besonders aber in den allerengsten Beziehungen. Deshalb liegt nichts so nahe zusammen wie Liebe und Gewalt. In der Liebe sei sie machthaltig (zwischen Eltern und Kind) oder machtfrei (zwischen Partnern), sind wir im Inneren und im „Äußeren verletzlich“. Trotzdem müssen wir lernen, mit dieser Gewalt, die aus uns selber kommt zu leben, das heißt an der Bereitschaft zu arbeiten, dem Anderen die Freiheit zuzugestehen, die wir für uns selbst beanspruchen und immer wieder in Tapferkeit all denen gegenüberzutreten, die sich selbst zum „Absoluten“ erheben. 3.1 Konzepte gegen Hass und Gewalt Die Empfehlungen der Gewaltkommission (Schwind/Baumann 1990, Bd. II, 426) leiden darunter, dass „die physische Gewalttätigkeit (sei es gegen Personen, sei es gegen Sachen gerichtet)“ in das „Zentrum der Analyse“ gerückt wird. Damit dominieren Handlungsperspektiven zur Intervention nach geschehener Tat. Fragen der Prävention bleiben ohne Antwort. Hinzu kommt, dass sich die Arbeit der Gewaltkommission letztlich auf den Staatsschutz konzentrierte. Um so erstaunlicher ist, dass die Gewaltkommission weder analytisch noch praktisch eine Antwort auf Rechtsradikalismus und Fremdenhass gab. Gerade die Arbeit am Rechtsradikalismus und Fremdenhass macht deutlich, dass der Gewaltbegriff nicht restriktiv zu begrenzen ist, sondern so entgrenzt werden muss, dass 94 EXPERTISEN das Gewaltpotenzial von Türkenwitzen deutlich wird. Bielicki (1993, 188) zeigt deutlich die Grenzen der Interventionen gegen rechtsradikale Gewalttäter. Es sind Menschen mit „mörderischen Hassgefühlen“. Die notwendige Härte staatlicher Gewalt muss das „fehlende innere Leitsystem“ ersetzen. Aber was ist, wenn nicht nur bei einzelnen dieses Leitsystem ausfällt? Freud bezeichnete es als „Schicksalsfrage der Menschenart“, den Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb des Menschen unter Kontrolle zu bekommen. Japan, das als das sicherste Land der Welt auch von der Jugendgewalt eingeholt wird, geht andere Wege. Es sucht nach einem Bericht von Professor Toshiko Ito, Mil (1998) in der „Erziehung des Herzens“ ein Rezept gegen Jugendkriminalität. „Im Mai 1997 lag vor einem Schultor in Kobe der Kopf eines 11-jährigen Knaben, dessen Mund bis zu den Ohren durchgeschnitten war und dessen Augen ausgestochen waren. Diese brutale Tat erschütterte Japan zutiefst. Als sich sechs Wochen später ein 14-jähriger Junge als Täter herausstellte, entsetzte sich das Land von neuem. Der Täter gestand zudem, dass er Mitte März ein Mädchen ermordet und ein weiteres Mädchen verletzt hatte. Das soziale Umfeld des Jungen war gleichgültig oder abweisend und er beging die Bluttaten, um von einem ‘durchsichtigen Wesen’ zu einem ‘sichtbaren Wesen’ zu werden.“ Der Zentrale Bildungsrat des Kultusministeriums (ZBR: chûô kyôiku shingikai) beschäftigt sich mit einem Programm zur Erziehung des Herzens von Kindheit an. In den Mittelpunkt rücken dabei die Erziehung zur Achtung vor dem Leben (Ethik) und die Beachtung der Gesetze und Verordnungen (Normenbewusstsein). Toshiko erwähnt in diesem Zusammenhang, dass in Japan zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg wieder über den Religionsunterricht an den Schulen nachgedacht wird, der als Nährboden der Faschisten und Nationalisten abgeschafft wurde. 3.2 Prävention mörderischer Hassgefühle und destruktiver Aggressivität Langfristig stehen wir vor der Aufgabe, ethische und psychologische Barrieren zu schaffen, die verhindern, dass der Mensch weiter zum Opfer des Menschen wird. Der Mensch, der die Fähigkeit entwickelt, mitzuleiden, der Unverletzlichkeit fremden Lebens achtet, degeneriert nicht und beweist nicht seine Lebensuntüchtigkeit, sondern er sichert Leben. An diesem Bewusstsein müssen wir arbeiten, wenn wir im Menschen so etwas wie „Tötungshemmung“ aktivieren wollen. Im Vorwort zum Buch „Mit Gewalt leben“ schildert der Autor, wie bei Straßenkindern in São Paulo im Binnenkreis räuberischer Kindergruppen nicht das Faustrecht des Stärkeren letztes Prinzip ist, sondern die Verantwortung für die ganz Kleinen (Schmälzle 1993, 8). G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 95 Die Arbeit an Fremdenhass und Gewalt leidet gegenwärtig unter einem Karussell von Theorien und Konzepten. Dabei wird über Theorien, Dokumente und Gremien vielfach Innovation von oben nach unten versucht. Solche Theorielawinen und Papierfluten erdrücken und demotivieren vielfach Menschen, die an der Basis an dem Problem arbeiten wollen. Zu fordern ist eine Innovation von unten, indem gruppen- und netzwerkspezifisch Problemdefinitionen erarbeitet und Handlungsalternativen erprobt werden. In der Wissenschaft kämen wir sicher weiter, wenn solche Basisprojekte Grundlage theoretischer Arbeit wären. Im Mittelpunkt weiterer Projekte und Überlegungen müssen die Handlungsfelder in Schule und Familie stehen. Ohne Interventionen im Schulbereich und in der Familie gibt es keine Lösung des Gewaltproblems. Es ist erstaunlich, wie praxis- und erfahrungsvergessen bislang über das Gewaltproblem psychologisiert und politisiert wird, ohne Wissensbestände und evaluierte pädagogische Konzepte aus der Sozialforschung zur Kenntnis zu nehmen. Dabei zeigen eigene Forschungen, wie bereits an der Basis Netzwerke zwischen Familien, Schulen und Einrichtungen der Jugendhilfe entstehen, in denen Eltern, Lehrer und Jugendliche nicht nur defensiv auf das Gewaltproblem reagieren, sondern offensiv und präventiv Menschen helfen, am inneren Leitsystem zu arbeiten und das Gewaltproblem von innen zu lösen. Die Ergebnisse des von der AKSB auf den Weg gebrachten Kooperationsprojektes zeigen, dass Aggressivität in den meisten Fällen das verschlüsselte Signal für den Wunsch nach mehr Beziehung darstellt (Schmälzle 1993). 3.3 Hilfen für gewaltbelastete Familien Honigs (1990, 351) Sondergutachten zur Gewalt in der Familie macht darauf aufmerksam, dass der an der Körperverletzung orientierte Gewaltangriff „im Subsystem Familie zwischen Sexualität und Aggression“ verschwimmt. Kinder werden aus Liebe geschlagen, sexuelle Ausbeutung wird als Zuwendung maskiert. Dies macht Prävention im Bereich der Familie schier gar unmöglich. Die Opfer sind Frauen. Dazu ein Beispiel aus einer Dokumentation des „Weißen Kreuzes“ ( Espay 2000, 4): 96 EXPERTISEN Beispiel: „Die Eheleute M. sind seit fünfzehn Jahren verheiratet. Sie haben keine Kinder. Bevor sie heirateten, waren sie ein Herz und eine Seele. Nach ihrer Hochzeit setzte eine Klimaveränderung zwischen ihnen ein: Herr M. ließ seine Frau mit der Hausarbeit allein und überließ ihr nur einen schmalen Geldbetrag für die Haushaltskasse, während er selber die Beine hochlegte und für seine Interessen eine Menge Geld ausgab. Hatten die Eheleute M. in ihrer Verlobungszeit noch intensive Gespräche über ihre Beziehung geführt, reduzierte sich ihre Kommunikation bald auf das tägliche Einerlei und erschöpfte sich schließlich in zermürbenden Auseinandersetzungen über Geld- und Haushaltsprobleme. Analog zum Eheklima entwickelte sich ihr sexuelles Miteinander: Sie kamen nur noch sporadisch zusammen. Wenn Herr M. betrunken nach Hause kam, das Trinken hatte er sich mit zunehmender Distanz zu seiner Frau angewöhnt, versuchte er, sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, oft mit Gewalt. Sie wehrte sich gegen seine Übergriffe, aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit aber ohne Errfolg. Da Frau M. ihrem Mann zuliebe kurz nach der Hochzeit ihre Arbeitsstelle aufgegeben hatte, verlor sie allmählich den Kontakt zu anderen Menschen. Sie hatte niemanden, mit dem sie über ihre bedrückende Situation hätte reden können.“ Honig stellt fest, dass alle Welt von Prävention familialer Gewalt „redet“ und „schreibt“, wir jedoch konkret außer bei der „Prävention sexueller Gewalt an Kindern“ mit therapeutischen und pädagogischen Konzepten zur gewaltfreien Lösung von Familienkonflikten „Neuland“ betreten (ebd. 356f). Gewaltverhalten im Kindergarten ruft nach einer pädagogischen und therapeutischen Antwort. Sie kann nur in Kooperation und Kommunikation zwischen Familien, Kindergärten, Schulen und entsprechenden Fachkräften gefunden werden. Prävention von Gewalt in Schule und Familie ist damit identisch mit Beziehungsarbeit. Honig beschreibt für die Familie vier Felder: „Es geht um die Veränderung von Einstellungen und von Handlungs-/Konfliktlösungsmustern, um die Veränderung von belastenden Bedingungen des Familienlebens, schließlich um die Veränderung von Hilfestrukturen.“ (Ebd. 357) Er ist sich darüber im klaren, dass solche Prävention „Neuland“ bedeutet. Sie scheiterte bereits am Zugang zu den betroffenen Familien. In der Zwischenzeit haben Frauen und Mütter dieses Neuland selbst betreten. Das Netzwerk für die Opfer der Männergewalt haben Feministinnen geknüpft. Das „Berliner Interventionsmodell gegen häusliche Gewalt“ (BIG) von Helga Hentschel organisiert nach amerikanischem Muster die Kooperation zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht, Frauenhäusern, Kinderschutz, Beratungsstellen, Männergruppen, Sozial-, Gesund- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 97 heits- und Jugendämtern. Die Arbeit dieser Frauen hat sich gelohnt. Sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung sind in der Zwischenzeit ein Offizialdelikt, d.h. wenn Opfer Anzeige erstatten, muss die Justiz diese Anzeige verfolgen, selbst wenn die Opfer später diese Anzeige zurückziehen: „Wer eine andere Person mit Gewalt durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an derem Täter oder einem dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft (§ 177 StGB, Abs.1).“ Dieses Gesetz stellt zwar einen Rahmen dar, der hoffen lässt, dass sich Männer Zurückhaltung auferlegen. Wenn wir jedoch auf der Grundlage der aktuellen Männerstudie von Haas (2001) wissen, dass die Ursachen für das Gewaltverhalten von Männern in der Kumulation von Gewalterlebnissen in der eigenen Kindheit liegen, dann muss die Gewaltprävention dann einsetzen, wenn es darum geht, familiare Beziehungskonflikte und Erziehungsdefizite zu lösen, sprachfähig zu werden, um sich im Konfliktfall abzugrenzen und zur eigenen Würde zu stehen. Die Möglichkeiten einer präventiven Familienbildung sind bis heute nicht genügend erkannt und ausgereizt. Diese pädagogische Arbeit muss nach dem Urteil der Gewaltenquete-Kommission (Schwind/Baumann, Bd. I, 78) bei den Bedürfnissen und Lebenssituationen ansetzen, die in der Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen gewaltbelastet sind und damit gewaltfördernde Lernprozesse, gewaltbegünstigende Einstellungen und gewaltarme Verhaltenstechniken auslösen. Auch diese Arbeit hat bereits begonnen. In dem Buch „Mit Gewalt leben“ wird die generationsübergreifende Arbeit auf Familienseminaren geschildert und aufgezeigt, wie in den vergangenen 20 Jahren das Gewaltproblem im Netzwerk von Schule und Familie thematisiert wurde. Büttner und Nicklas werden in ihrem Buch „Wenn Liebe zuschlägt“ ganz konkret. Sie zeigen spielerische Möglichkeiten auf, um den Sumpf familialer Gewalt auszutrocknen. Die Konzepte liegen auf dem Tisch. Der „Runde Tisch“ von Eltern, Lehrern, Erziehern in Schulen und Kindergärten könnte zu dem Ort werden, von dem aus in gemeinsamer Verantwortung daran gearbeitet wird, dass Kinder und Jugendliche so in unsere Welt hineinwachsen, dass sie im Sinne von Fromm das Entsetzen über Isoliertheit, Machtlosigkeit und Verlorenheit in dieser Welt überwinden und unsere Welt mit ihren Risiken in Verantwortung übernehmen. Sie er- 98 EXPERTISEN warten mit Sicherheit nicht, dass wir ihnen alle Probleme lösen. Sie erwarten jedoch die Partnerschaft und Ehrlichkeit der Erwachsenengeneration. 3.4 Prävention von Gewalt: zwischen Utopie und Resignation In der Drogen- und Verkehrserziehung (Feser 1981) wurden schon sehr früh auf breiter Basis präventive Konzepte und Programme zum Schutz von Kindern auf der Straße und zur Vorbeugung des Drogenmissbrauchs entwickelt und evaluiert. Dieses Wissen und die Erfahrung mit präventiven Programmen aus der Gesundheitserziehung können für die Prävention von Gewalt genutzt werden. Präventive Konzepte werden in verschiedenen Gutachten der Gewaltkommission vorgestellt. Henriette Haas (2001), Professorin für angewandte Kriminologie in Lousanne, befragte 21347 Rekruten und 7900 Nichtrekruten aus dem Jahr 1997 in der Schweiz: Haben Sie selber während der letzten 12 Monate folgendes getan: Jemanden beleidigt durch Worte oder Gesten? Jemanden eingeschüchtert? Jemanden bedroht mit der Waffe? Jemanden geschlagen, geohrfeigt? Jemanden verprügelt? Jemanden gefesselt? Auf jemanden mit dem Messer eingestochen?1 Auch Haas übernimmt aus dem Bereich der Drogenprävention das erprobte Vier-SäulenModell. Prävention, Repression, Therapie und Schadensverminderung müssen im Verbund eines Maßnahmepaketes organisiert werden, das wir in diesem Abschnitt bis zu einer typologischen Matrix weiter entwickeln wollen. Haas ergänzt das Vier-SäulenModell mit einer fünften: der Wiedergutmachung im Rahmen außergerichtlicher TäterOpfer-Mediation. Dem vielschichtigen Phänomen Gewalt ist ebenso vielschichtig zu begegnen und nicht mit weitschweifigen, aber handlungsblinden Theorien auszuweichen, weder auf die in der Politik und Rechtsprechung so gerne favorisierte Theorie menschlicher Willensfreiheit noch auf Erklärungsansätze, die von soziokultureller und biologischer Determiniertheit ausgehen. Prävention von Gewalt – dies wird die Hauptaufgabe im Bildungsbereich darstellen – setzt sich damit zum Ziel, langfristig durch Arbeit an Einstellungs- und Verhaltensstrukturen die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass es überhaupt nicht zur Schädigung von Leib und Leben durch Gewalt kommt. Feser macht für den Bereich der Drogenerziehung darauf aufmerksam, dass es gelungen ist, bereits mit Kleinkindern Risikosituationen vorweg zu nehmen und angemessenes Drogenverhalten mit Kindern einzuüben. Diese Feststellung gilt sicher noch verstärkt für eine Erziehung zur Gewaltlosigkeit. Präventive Maßnahmen und Zieldefinitionen sollten klar von therapeutischen oder päd- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 99 agogischen Interventionen unterschieden werden. Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet zwischen einer Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention. Die Entwicklung von Zielen und Maßnahmen zur Gewaltprävention sollte von diesen Grundlagen der Sozial- und Gesundheitserziehung ausgehen und sich ganzheitlich in ein entsprechendes Sozialisationskonzept einfügen. Primärprävention setzt sich zum Ziel, durch psychologische und pädagogische Maßnahmen ein Einstellungs- und Verhaltensrepertoire aufzubauen, das sich an einer gewaltfreien Konfliktlösung orientiert. Das friedenspädagogische Konzept von Galtung (1993) ist hier einzuordnen. Ein wichtiges Feld der Primärprävention eröffnet sich in der Arbeit an wert- und normbildenden Kommunikationsstrukturen in einer plural verfassten Gesellschaft. Das Leitziel einer gewaltlosen Konfliktlösung kann nur in einem lebendigen Vermittlungsprozess von Generation zu Generation übernommen und internalisiert werden. Primärprävention sichert damit die Grundlagen eines gewaltfreien Zusammenlebens von Menschen. Sekundärprävention konzentriert sich auf Risikogruppen und Risikosituationen. Dabei geht es z.B. um Familien, in denen es bereits zu Gewalttaten gekommen ist, oder um Familien, die sich in einer akuten Konflikt- und Krisensituation befinden. In der Schule geht es z.B. um solche Schüler und Schülerinnen, die durch Leistungsversagen auffallen und erfahrungsgemäß besonders gewaltgefährdet sind. In der Jugendarbeit sind in diesem Zusammenhang regionale Aspekte zu berücksichtigen und in den Stadtteilen Maßnahmen und Dienste zu entwickeln, die einen sozialen Brennpunkt darstellen. Tertiärprävention konzentriert sich auf Täter und Opfer, die einmal in konkrete Gewaltereignisse verwickelt waren, Ereignisse, die juristisch, therapeutisch oder pädagogisch zum Abschluss gebracht wurden, bei denen jedoch eine Nachsorge erforderlich ist, wie sie sich bei allen Formen von sexueller Gewalt als notwendig erwiesen hat. Ziel dabei ist, Spätfolgen unter Kontrolle zu nehmen und dafür zu sorgen, dass keine neuen Gewalttaten entstehen. Dazu gehört auch die Förderung von Selbstregulations- und Eigengestaltungskräften. Eine Zielgruppe ist dabei besonders zu berücksichtigen, nämlich die ehemaligen Opfer von Gewalt, die dagegen zu immunisieren sind, neu Opfer zu werden. Diese recht trennscharfe Unterscheidung von Maßnahmetypen der Weltgesundheitsorganisation ist zu fundamentalen Dimensionen in Bezug zu setzen, in denen ganz konkrete inhaltliche und zielgruppenspezifische Maßnahmen anzusiedeln sind. Wir un- 100 EXPERTISEN terscheiden dabei eine intrapersonale, eine interpersonale und eine strukturelle Dimension. Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidung ergibt sich folgendes Schaubild zu präventiven Maßnahmen bei der Gewaltverhütung. 3.5 Die Verantwortung von Religion und Kirche Udo Rauchfleisch (1992, 237) stellt in seinem Buch „Allgegenwart von Gewalt“ zur Grunderfahrung von gefolterten, misshandelten und verfolgten Menschen fest, „dass ihnen ein Überleben am ehesten dann gelungen ist, wenn sie der furchtbaren Sinnlosigkeit der gegen sie gerichteten Gewalt einen politisch oder religiös determinierten Sinn, ein ‘Nein’ entgegenzusetzen vermochten. Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass wir überhaupt weitere Strategien zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gewalt entwickeln können.“ Welche Kraft und welches Widerstandspotenzial aus dem sicher oft deformierten und missbrauchten christlichen Glauben wachsen können, hat sich in den KZs gezeigt und zeigt sich gegenwärtig in den Basisgemeinden der Elendsviertel der Dritten Welt. Die Relevanz dieses christlichen Widerstandspotenzials haben wir für die Lösung des Gewaltproblems und die Auseinandersetzung mit dem sozialen Verrohungs- und Verelendungsprozess der westlichen Industrienationen kaum diskutiert. In keiner der mir bislang bekannten Gewaltkommissionen waren Theologen vertreten. Darüber lohnt es nachzudenken. Die Ambivalenz des Verhältnisses von Religion und Gewalt und speziell des Verhältnisses von Kirche und Gewalt wird auch in der Theologie diskutiert (Baudler 2001; Lohfink 2001), die gleichwohl wichtige Beiträge zur Friedenserziehung geleistet hat und auf ein breites Spektrum kirchlicher Präventions- und Interventionsmöglichkeiten Zugriff hat, was im Themenheft der Katechetischen Blätter (2001, Nr. 4) „Ernstfälle ethischen und sozialen Lernens“ überaus deutlich wurde (Sieg 2001; Brodkorb 2001; Scholten 2001; Scheidler 2001; Laible 2001). Wertheimer (1986, 125ff) schildert die Gewalt im Zeichen von Kreuz und Schwert. Sexualität, Religiosität und Machtstreben sind für ihn Triebfedern und Wirkungsfelder menschlicher Aggressivität. Nicht nur die Religionskritik befasst sich mit diesen Themen. Sie werden in der Zwischenzeit selbstkritisch und fragend aus dem Binnenraum von Kirche und Theologie gestellt. Thilo (1983) greift als Theologe und Analytiker Fragen wie „Aggression und Religion“ und „Sexualität und Religion“ auf. Kirchmayr und Haack (1990, 67ff) fragen nach den Wurzeln „christlicher Gehorsamslust“. Mitten hinein in die theologische Grundlagendiskussion führt der Band mit den Vorträgen zum Girard-Kongress in Salzburg, der von Niewiadonski und G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 101 102 EXPERTISEN Palaver (1992) herausgegeben wurde. Im Mittelpunkt steht dabei die These von Girard (1982, 216ff), dass Jesus nicht als Opfer stirbt, sondern gegen alle Opfer. Jesus musste nach Girard sterben, weil er mit seiner radikalen Gewaltverzichtsforderung unerträglich wurde. Das Leiden und Sterben Jesu enthält eine andere Botschaft und stützt das Programm eines Galtung: Gewalt erzeugt Gewalt! Frieden erzeugt Frieden! Das Programm unseres christlichen Gottes ist nicht das Kampfprogramm (Baudler 1994, 267ff). Nur müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Philosophie eines Thomas Hobbes ihren Wurzelgrund in einer Zeit hat, in der sich Christen verschiedener Konfessionen in endlosen Kriegen unter Berufung auf den christlichen Glauben und mit dem Segen ihrer Kirchen die Köpfe einschlugen und sich gegenseitig eliminierten. Giegerich ging auf dem Kongress der Tiefenpsychologen in Basel zur Gewaltproblematik noch einen Schritt weiter. Er versucht, „die Geschichte der verschiedenen Tötungen, Traumen und Brüche“ im christlichen Abendland nachzuzeichnen, an denen die christliche Religion immer beteiligt war. „Man pflegt die Hexenverbrennungen heute moralisch zu verdammen“, schreibt er und lehnt dieses Urteil, das von einem „externen Standpunkt“ aus denkt, für den Psychologen ab. Mit analytischer Tiefenschärfe stellt er fest, „dass die Existenz der heutigen Psychologie sich unter anderem auch dem tötenden Tun der Inquisitoren verdankt … Die Tötung der Hexen war nicht einfach ein Tun an gleichgültigen anderen draußen, sie war, indem sie dies auch war, zugleich ein Tun am eigenen höchsten Wert, am Selbst, an der Seele. In den Hexen hat sich die Seele als die heidnische, die sie war, selbst ausgemerzt.“ (Giegerich 1992, 220) Giegerich stellt sich den historischen Fakten dieser Gewaltakte und sucht ihre Bedeutung für die Sinnkonstruktion der Gegenwart. Es lohnt sich, weiter zu denken. Die Psychologie verdankt ihre Existenz im eigentlichen Sinn nicht den Hexenprozessen, sondern einer Kirche, die mit ihrem damaligen Selbstverständnis und ihrer Theologie diese Gewaltexzesse erst möglich gemacht hat. Ohne die Inquisition wären in dieser Weise keine Hexen und Ketzer verbrannt worden. Wir können diesen Gedanken Giegerichs auf andere Bereiche übertragen und müssen dann feststellen, dass sich nicht nur die Psychologie mit ihrem Verständnis der Seele diesen Gewaltexzessen verdankt, sondern das gesamte Projekt der Moderne, in dem auf der Grundlage religionskritischer Postulate Mündigkeit immer gegen die faktische Entmündigung durch die Kirche eingefordert wurde, in diesen religiös begründeten Gewaltakten wurzelt. Die Geschichte der Hexenverbrennungen holt damit nicht nur die Psychologie, sondern noch viel stärker uns als Christinnen und Christen ein. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 103 Unser Beitrag in der Kirche zur Gewaltproblematik beginnt damit, dass wir uns der eigenen Gewaltgeschichte stellen. Der Griff zur Gewalt hat dazu geführt, dass die Kirche mit der Tötung von Menschen nicht nur ihr eigenes Gottesbild verleugnet und zerstört hat, nämlich des Gottes, der sich im Leiden, Sterben und der Auferstehung seines Sohnes zur Gewaltlosigkeit bekannte und nur so als der Gott zu identifizieren war, dessen Wesen im Neuen Testament dann mit Liebe beschrieben wurde. Dieses Reden vom Gott der Liebe und der Versöhnung, der zwar immer noch verbal bezeugt, aber aktional mit dem Scheiterhaufen verleugnet wurde, hat wohl am meisten unter diesen tödlichen Doppelbotschaften der Kirche gelitten und tut dies bis auf den heutigen Tag. Solche in der Religion wurzelnden Gewaltakte sind damit eine der Ursachen dafür, dass Gott in der Moderne nicht mehr gedacht, Religion unter Verdacht gestellt wurde und die Vordenker zum Projekt der Moderne ihre religiösen Wurzeln gekappt und den Tod Gottes angesagt haben. Jedenfalls sind Hobbes und Nietzsche als Protagonisten der Moderne mit ihrer Mystifizierung von Kampf und Stärke auf diesem Hintergrund neu zu verstehen. Gerade die Lektüre von Nietzsche zeigt, welche Kraft es diesen Denker gekostet hat, gegen Gott zu denken und den Tod Gottes anzusagen. Dass es ihm nie gelungen ist, die religiösen Wurzeln gänzlich zu kappen, zeigt sein Gedicht „Dem unbekannten Gott“. Der Gottesverlust der Moderne blieb nicht ohne Folgen. Mit diesem Verlust begann eine Götzendämmerung, die heute mehr und mehr durchschaut und beschrieben wird, interessanterweise weniger in der Theologie, sondern mehr in Dichtung und Literatur. Einen Markstein in dieser Literatur zur Götzendämmerung stellt die Rede von Martin Walser bei der Verleihung des Büchnerpreises 1981 dar. Auch er greift die Frage auf: Woran stirbt Gott? Für Walser ist aus dem Menschen ein „Daumenlutscher“ geworden (Walser 1984, 173f): „Der die Welt beschimpfende Daumenlutscher ist unser Muster. Dem Daumenlutscher stirbt ein Gott. Er ist sein eigener Gott. Nicht die Leere der Gottlosigkeit ist sein Horror, sondern der Nächste, der Nebenmensch. Wie er sich selber Gott ist, so ist ihm der Nebenmensch die Hölle. Solidarität bzw. Mitleiden wird verdächtigt … Wenn ich also an mir feststelle, dass ich mich am liebsten durch Teilnahmslosigkeit leidlos hielte, ahne ich, dass ich so wahrscheinlich dem ersten Gebot des jetzt herrschenden Gottes gehorche: Kultur der Teilnahmslosigkeit. Das entlastende Gerechtigkeitsprinzip unseres Gottes: Vor der Leistung sind wir alle gleich und nach der Leistung sieht man, was einer bringt. Das ist der Klartext unseres Gottes. Wir wählen einen Gott nicht ab, weil er nicht hilft. Wir haben ihn dazu gewählt, dass er unsere Unfähigkeit zu 104 EXPERTISEN helfen legitimiert. Unser Gott brüllt andauernd durch die Gegend: du hast es dir selber zuzuschreiben. Dem Leidenden salzt das das Leiden, dem Genießenden den Genuss! Bürgertum und Christentum haben sich zu einer gigantischen Unterhaltungsfirma zusammengetan, deren alles niederwalzende Entsorgungskapazität jedem Horror gewachsen ist … Unser Gott wird interdisziplinär gewartet. Und die Warte werden gewartet von Wittgenstein, Linguistik und Anästhesie. Vokabulare schwärmen aus und lassen keine Blüte unbesucht. Es dürfte eigentlich nichts mehr schief gehen. Büchners Empfindlichkeit liegt nur noch unterm Mikroskop. Ergriffen, wenn auch skeptisch, studieren wir die Feinfühligkeit dieser Moralmembran; die Entzündbarkeit dieses Gewissensnervs. Anstatt einen Gott sterben zu lassen, der Leiden zulässt, hätte Büchner, wie wir, mitarbeiten sollen an einem Gott, der Leidende einschüchtert. Armer Büchner. Aber ein eingreifendes Präparat bleibt er. Und ein vorwurfsvolles.“ Mit Büchner macht Walser in diesem bewegenden Text allerdings das gesamte Projekt der Moderne zum „Präparat“. Könnte es sein, dass die Moderne mit dem Verlust von Religion und Gottesdenken den Anderen, das Du, den Nächsten verloren hat? Könnte es sein, dass die größte Gefährdung gegenwärtig vom Menschen ausgeht, der sich selbst zum Gott wird und damit zur Quelle von neuer Gewalt und neuem Leid? Die Siegermythologien eines Hobbes und Nietzsche sind Götzenmythologien. Wertheimer hat sie in der Literatur entlarvt und Walser als Literat in ihren konkreten Auswirkungen beschrieben. Die Untersuchungen zum Gewaltverhalten zeigen überdeutlich, dass die perverse Faszination, die von Gewalt- und Tötungsakten ausgeht, etwas mit der Verletzung der Intimdistanz, des Berührungstabus zu tun hat: Ich habe Gewalt über dich! Ich bin stärker! Identität und Selbstwertgefühl können auf dieser Grundlage nur durch Kampf und Sieg entstehen und müssen in immer neuen Kämpfen bestätigt werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn heute von Gewalttätern zu hören ist: „Ich schlage, also bin ich!“ und in der Philosophie bereits räsoniert wird: „Ich hasse, also bin ich!“ Der Hass verselbständigt sich. Wenn wir der Diagnose von Hans Magnus Enzensberger folgen, sind serbische Heckenschützen, französische Vorstadt-Desperados und marodierende Skinheads erst die Protagonisten eines latenten Gewaltpotenzials, das sich aus einem irrationalen Hass speist und beim konkreten Gewaltakt nicht mehr unterscheiden kann, was Menschen und Sachen zerstört und was zur eigenen Selbstzerstörung führt. „Die Kämpfer wissen sehr wohl, dass sie nur verlieren können, dass es keinen Sieg gibt. Sie tun alles, was in ihrer Macht steht, um ihre Lage bis ins Extrem zu verschärfen. Sie G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 105 wollen nicht nur die anderen, auch sich selber in den ‚letzten Dreck’ verwandeln.“ (Enzensberger 1994, 314) Wenn die These stimmt, dass das gegenwärtig erlebte Gewaltpotenzial im Gottes- und Religionsverlust der Moderne Wurzeln hat, dann verbindet sich mit dieser These eine zweite: Die Wiederentdeckung des Glaubens an den Gott, den Jesus Vater nennt, schützt den Menschen vor sich selbst und schützt die Menschen voreinander. Der Mensch, der sich von Gott geliebt weiß und nicht, um mit Giegerich zu sprechen, „in die eiskalte Leere“ (1992, 227) eines entgötterten Himmels schaut, findet zu sich selber und zum Anderen zurück und wird fähig, den Hass, der aus ihm kommt und der ihm entgegenschlägt zu überwinden. Die Geschichte des Christentums zeigt, dass immer dann der verfluchte Teufelskreis der Gewalt durchbrochen wird, wenn Einzelne, Gruppen und erst recht eine ganze Institution sich in den Dienst dieses Liebenden Gottes stellen, indem sie auf Gewalt verzichten. Dies begann am Schandpfahl des Kreuzes, setzte sich in den Christenverfolgungen fort, ließ einen Franz v. Assisi durch Kreuzzugsheere hindurch bis zum Sultan vordringen und brachte auf den Philippinen und in der ehemaligen DDR Panzer zum Stehen. Der Gott, zu dem Jesus ‚Vater’ gesagt hat und an den wir als Christinnen und Christen glauben, muss nicht mehr totgesagt werden, wenn in der Kirche, in Gemeinden, Orden und Familien wieder gewaltfrei gelebt wird. Für Rauchfleisch ist dies die Grundlage für das Widerstandspotenzial des Christentums. Giegerich (1992, 227) kann vermutlich dieser Utopie nicht folgen: „Wenn der noch gegenständlich, als Gegenüber vorgestellte höchste Gott ganz verdampft ist, … blickt man in eiskalte Leere. Die ganze Welt ist entgöttert und ordinär geworden.“ Vor solchen Aussagen wird Theologie nicht kapitulieren. Bei christlichen Mystikern ist der „Blick in die eiskalte Leere“ schon immer Grunderfahrung für eine neue Gottesgeburt gewesen. Spiegel (1993) erinnert in dem Buch „Mit Gewalt leben“ an die Konsequenzen jüdischchristlicher Gotteserfahrung: „Selig, die keine Gewalt anwenden, denn sie werden das Land erben“ (Mt 5,5). Das letzte Wort haben auf diesem Hintergrund nicht Interventionen, die wiederum Gegengewalt provozieren. In den Mittelpunkt rückt der lange Weg einer „gewaltfreien“ Erziehung, auf dem wir mit Kindern und Jugendlichen – und sie mit uns – so umgehen, dass sie für ihr eigenes Handeln Verantwortung übernehmen und den „Anderen“ als Partner erleben. Es gibt nicht nur die Ambivalenz zwischen Gewalt und Religion. Diese Ambivalenz gründet in der noch subtiler zu befragenden Ambivalenz zwischen Erotik, Religion und Ge- 106 EXPERTISEN walt (Bataille 1994). Dem Blick in die „eiskalte Leere“ hat der christliche Glaube den Gott entgegenzusetzen, den Luther einmal als „Backofen von Liebe“ beschrieben hat, den Gott, dessen Erfahrung jegliche Rationalität übersteigt. Die Begegnung mit ihm wird zum „totalen Ereignis“ schlechthin. Wie lange werden die christlichen Kirchen und Theologien noch brauchen, bis sie wieder in Kult und Liturgie die menschliche Sensucht nach dem Totalen, nach der Übertretung, nach der – im Sinne Freuds – ozeanischen Entgrenzung und Verschmelzung mit dem Absoluten erahnen lassen und feiern? Zilleßen (2001, 221) träumt davon, dass Religion dies leisten kann: „Die Sehnsucht nach dem Totalen ist menschlich. Wohin mit dieser Gewaltfaszination der Sterblichen? Wo kann das Tabu des Totalen so übertreten werden, dass das soziale Leben nicht zerstört, sondern bestätigt ggf. verändert wird? Es bedarf (mit Bataille) Orte der Unterbrechung des Alltags, Orte der Unterbrechung der Rationalität, nicht ihrer Aufhebung (ihrer Suspendierung).“ Das Widerstandspotenzial der Religion umfasst mehr als den kategorischen Imperativ: „Du kannst! Denn du sollst!“ Der Glaube sagt uns: „Du lebst, wenn du liebst!“ Menschen, die nicht mehr lieben können, sind laut Gabriel Marcel schon tot. Was bleibt für sie mehr als zu sagen: Ich schlage, also bin Ich! In dem unvollendeten Theaterstück „Das Unergründliche“ lässt Gabriel Marcel (1961, 340) Edith, die ihren Geliebten verloren hat, sagen: „Die einzige Religion, die für mich in Frage kommt, ist die Religion, die uns in eine andere Welt einführt, in der die armseligen Schranken, die die Wesen aus Fleisch und Blut trennen, in Liebe und Barmherzigkeit verschwinden.“ Zu allen Zeiten haben Menschen mit dieser Sehnsucht und diesem Glauben im Herzen Gewaltmenschen und Gewaltregime in Kirche und Welt überlebt. Das wird auch in Zukunft so bleiben. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 107 Anmerkungen 1 Insgesamt wurden 156.076 unterschiedlich schwere Delikte berichtet. Den harten Kern bildeten 341 Männer mit schweren Gewaltdelikten wie Raub, Körperverletzung, Erpressung, Nötigung. Sexuelle Übergriffe gaben 12 % der Rekruten zu. Literatur Bataille, Georges, Die Erotik, München 1994. Baudler, Georg, Töten oder Lieben. Gewalt und Gewaltlosigkeit in Religion und Christentum, München 1994. Baudler, Georg, Ursünde Gewalt. Das Ringen um Gewaltfreiheit, Düsseldorf 2001. Bettelheim, Bruno, Gew–lt - eine gern verleugnete Verhaltensweise, in: Erziehung zum Überleben, Stuttgart 1980, 207-223 (veränderter und erweiteter Nachdruck aus den Annals of the American Academy of Political and Social Science 364,1966, 50-59). Bielicki, Julian S., Der rechtsextreme Gewalttäter. Eine Psychoanalyse, 1993. Buford, Bill, Geil auf Gewalt, München-Wien 1992. Buford, Bill, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 11, 15./16. Mai 1993, 10. 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Warum Marginalien keine Marginalien sind, in: ZPT, 2001, Nr. 3, 218-221. 112 Gewaltfreie Erziehung – Eine Herausforderung für die politische Bildung Gewaltfreie Erziehung – Theorie und Praxis eines sozialpädagogischen Leitbildes Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege Zwischen Prävention und Intervention F a c h t a g u n g e n 113 114 4.1 F AC H TAG U N G E N Gewaltfreie Erziehung – Eine Herausforderung für die politische Bildung 27. Oktober 1999 in Bonn 4.1.1 Lukas Rölli Zusammenfassung 1. Ziel der Tagung, Beteiligung und Konzeption Die Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (AKSB) veranstaltete die Fachtagung „Gewaltfreie Erziehung: Eine Herausforderung für die politische Bildung“ vom 27. Oktober 1999 mit dem Ziel, interessierten Einrichtungen aus unterschiedlichen Trägerzusammenschlüssen der politischen Bildung Gelegenheit zu geben, die politische und gesellschaftliche Problematik des Themas „Gewaltfreie Erziehung“ zusammen mit Experten zu erörtern und den inhaltlichen und didaktischen Rahmen eines möglichen gemeinsamen Projektes zum Thema „Gewaltfreie Erziehung in der politischen Bildung“ zu beraten. Hintergrund war der von den Fraktionen der Regierungsparteien im Sommer 1999 eingebrachte Gesetzesentwurf zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung (BT Drucksache 14/1247) und die damit verbundenen Überlegungen für ein Aktionsprogramm „Gewaltfreie Erziehung“ im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Das Interesse von Einrichtungen der politischen Bildung an dem Thema war überraschend groß: 47 Einrichtungen aus unterschiedlichen Trägerzusammenschlüssen (AKSB, Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten, Deutscher Volkshochschul-Verband, Verband Ländlicher Heimvolkshochschulen Deutschlands) hatten ihr Interesse an der Tagung und an einem allfälligen trägerübergreifenden Projekt angemeldet. An der Fachtagung nahmen 34 Vertreterinnen und Vertreter von Bildungseinrichtungen der genannten Trägerzusammenschlüsse aus ganz Deutschland teil. Die Tagung war in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil sollten anhand von drei Referaten mit anschließender Diskussion die Kenntnisse über den Diskussionsstand zum The- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 115 ma „Gewaltfreie Erziehung“ vertieft und die politische Dimension des Themas in Bildungsveranstaltungen erörtert werden. Im zweiten Teil sollte der von der AKSB vorgelegte Entwurf eines Konzeptes für ein trägerübergreifendes Projekt in Arbeitsgruppen beraten und im Plenum diskutiert werden. 2. Vertiefung der Kenntnisse, Erörterung der politischen Problemstellung In einem Einführungsreferat beschrieb der Tagungsleiter, Lukas Rölli, drei gesellschaftliche Entwicklungen, die in den vergangenen rund 30 Jahren zu einer stark veränderten Einstellung gegenüber Gewalt in der Familie geführt haben: die erhöhte Sensibilität gegenüber Gewalt in der Familie, die Veränderung der Erziehungsstile und die Erschwerung der Rahmenbedingungen für die familiale Erziehung. Soziologische Untersuchungen zeigten, dass körperliche Strafen in Form von deftigen Ohrfeigen oder einer Tracht Prügel in rund einem Viertel aller Familien nach wie vor häufig angewandt würden. In den meisten Untersuchungen zum Thema Gewalt in der Familie werde der enge Zusammenhang zwischen der unter dem Stichwort der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ zusammengefassten ungünstigen Rahmenbedingungen familialer Erziehung und dem Auftreten von körperlichen und seelischen Misshandlungen betont. Das Expertengespräch mit dem Münsteraner Familienrechtler Prof. Dr. Holzhauer befasste sich mit dem Verständnis von zentralen Begriffen im Zusammenhang mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen für die familiale Erziehung. Prof. Holzhauer wies insbesondere auf die ungenügend scharfe Definition des Begriffes „Gewalt“ hin und betonte, dass die Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechtes nicht ohne Auswirkungen auf die strafrechtliche Beurteilung von Fällen der Körperverletzung in der Familie bleiben könne. Die ausgewogene Darstellung unterschiedlicher Rechtsauffassungen und deren historischer Entwicklung wurde von den Teilnehmenden sehr positiv aufgenommen. In der Diskussion mit dem Referenten wurde die unterschiedliche Verwendung des Gewalt-Begriffes in pädagogischen, psychologischen, soziologischen und juristischen Kontexten deutlich. Trotz Differenzen zwischen steuerungsoptimistischen und steuerungspessimistischen Einschätzungen der Wirkung von familienrechtlichen Normen wuchs bei den Teilnehmenden die Erkenntnis, dass die Erarbeitung klarer, eindeutig handhabbarer Begriffe im Umgang mit dem Thema „Gewalt in der Erziehung“ von zentraler Bedeutung ist. Für die familienorientierte politische Bildung wurde hier ein klares Defizit festgestellt. 116 F AC H TAG U N G E N Frau Heike Lipinski stellte in ihrem Referat Perspektiven für den Umgang mit dem Thema „gewaltfreie Erziehung“ in der politischen Bildung vor. Sie griff dabei auf die Erfahrungen aus dem AKSB-Projekt „Familie im sozialen Wandel“ zurück, das sie geleitet hatte. Folgende fünf Themenfelder eignen sich nach Ansicht von Frau Lipinski für die politische Bildung: ■ Klärung von Wertoptionen im Verhältnis Staat – Familie – Erziehung. ■ Information über die Verbreitung von „Gewalt“ in den Familien und über den Umgang von Gesellschaft und Staat mit diesem Phänomen. ■ Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt in der Erziehung. ■ Auseinandersetzung mit den Folgen von Gewalt in der Erziehung. ■ Aufzeigen von konkreten Handlungsmöglichkeiten und Motivation zum persönlichen Handeln. Frau Lipinski betonte, dass der Transfer von Erkenntnissen in den eigenen Lebenskontext der Teilnehmenden eine wichtige Leistung der politischen Bildung sein müsse. Bei der konkreten Umsetzung der Themen in Bildungsveranstaltungen wies sie auf die Wichtigkeit von zielgruppenspezifischen Werbemaßnahmen und auf den Nutzen von Kooperationen mit Vereinen und Initiativen hin. Die Ideen von Frau Lipinski wurden von den Teilnehmenden sehr zustimmend aufgenommen. In der Diskussion wurde auf die besondere Problematik von Aussiedler- und türkischen Migrantenfamilien hingewiesen. Die Erziehung in diesen Familien sei häufig gewaltbelastet; die Betroffenen seien aber nur G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 117 schwer ansprechbar. Bisherige Erfahrungen hätten gezeigt, dass die Bereitschaft zur Reflexion des eigenen Verhaltens am ehesten gegeben sei, wenn diese Gruppen allein angesprochen werden. Ein ähnliches Problem könne sich auch bei der Ansprache von Jugendlichen stellen. Verschiedene Teilnehmende wiesen darauf hin, dass es sinnvoll sein könne, das Thema „Gewalt in der Erziehung“ im Rahmen von übergeordneten Veranstaltungsreihen etwa zu „Erziehung“ aufzugreifen. 3. Perspektiven für ein trägerübergreifendes Projekt Der von der AKSB vorbereitete Konzeptentwurf für ein trägerübergreifendes Projekt wurde in drei Gruppen jeweils unter verschiedenem Blickwinkel beraten: A) Projektziel und Themenfelder der Bildungsveranstaltungen, B) Zielgruppen, Veranstaltungsformen und Evaluationskriterien, C) Arbeitsstruktur des Projektes. Die Ergebnisse wurden im Plenum vorgestellt und kurz diskutiert. 4. Ergebnis der Fachtagung Es ist auf der Fachtagung gelungen, unter den beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen das Bewusstsein für die rechtliche und politische Problematik der Forderung nach gewaltfreier Erziehung in der Familie zu wecken. Alle Teilnehmenden waren sich einig, dass die Eindämmung von „Gewalt“ in der Familie ein wichtiges gesellschaftspolitisches Anliegen sei, zu dessen Verwirklichung politische Bildung einen wertvollen Beitrag leisten könne. Aus der Breite des Themenfeldes und der Verschiedenheit möglicher Zielgruppen ergeben sich zahlreiche Fragen, für die keine fertigen Lösungen vorliegen und die in einem trägerübergreifenden Projekt sinnvoll gemeinsam bearbeitet werden könnten. Auf der Fachtagung wurde deutlich, dass eine genügend große Zahl von Bildungseinrichtungen ein ernsthaftes Interesse an einem solchen trägerübergreifenden Projekt hat. Auf der Grundlage der Beratungen während der Fachtagung hat die AKSB deshalb das Konzept „Familie und Gewalt: Menschen würdig erziehen!“ erarbeitet. 118 F AC H TAG U N G E N 4.1.2 Lukas Rölli (Zusammenfassung des Einführungsreferats) Der gesellschaftliche und politische Rahmen für die Beschäftigung mit dem Thema „Erziehung ohne Gewalt“ in der politischen Bildung Der am 23. Juni 1999 von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung schlägt für § 1631 Absatz 2 folgenden Wortlaut vor: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Bereits vor zwei Jahren wurde § 1631 im Rahmen der Kindschaftsrechtsreform neu gefasst: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“ Zur Begründung der Reform in der Bundestagsverhandlung vom 30. Juni 1999 wurden vier Ziele genannt: ■ Es geht um die „Abschaffung des gewohnheitsrechtlichen Züchtigungsrechts in ganz unmissverständlicher Weise“, aber nicht darum, die Anwendung elterlicher Gewalt gegen Kinder strafbar zu machen. ■ Auf elterliche Gewaltanwendung, auch wenn sie noch unterhalb der Ebene der Strafbarkeit liegt, soll reagiert werden können. ■ Elterliche Gewaltanwendung soll sanktioniert werden und gleichzeitig soll geholfen werden, dass sie nicht mehr geschehen muss. ■ Elterliches Versagen soll nicht verboten oder bestraft werden, aber Eltern sollen dazu gebracht werden, die Würde ihrer Kinder wiederherstellen. Was ist der Auslöser für diese Gesetzesänderung? Hat Gewalt zugenommen? Vieles deutet darauf hin, dass dies nicht der Fall ist, dass es vielmehr die Einstellung zur Gewalt ist, die sich in der Gesellschaft verändert hat. Drei gesellschaftliche Entwicklungen scheinen dabei von zentraler Bedeutung: eine veränderte Sensibilität gegenüber Gewalt, veränderte Erziehungsstile und erschwerte Rahmenbedingungen für die familiale Erziehung. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 119 1. Veränderte Sensibilität gegenüber Gewalt in der Familie Die Zurückdrängung des Züchtigungsrechts auf einen immer engeren Personenkreis ist ein langfristiger sozialgeschichtlicher Prozess. Beispielhaft einige Stationen: 1794 gab es im Preußischen Landrecht noch ein „Recht der mäßigen Züchtigung des Ehemannes gegenüber der Ehefrau“ das zwar 1812 gestrichen aber eigentlich erst 1900 durch das BGB abgeschafft wurde. 1871 wurde im Reichsstrafgesetzbuch die Prügelstrafe abgeschafft (1923 auch für Strafgefangene). Das Züchtigungsrecht gegenüber Hausangestellten und Lehrlingen wurde im Laufe des 19. Jahrhuinderts eingeschränkt. Im 20. Jh. gab es lange Auseinandersetzungen um das Züchtigungsrecht in der Schule; erst 1977 wurde bundesweit ein einheitliches Verbot von Körperstrafen in der Schule erlassen. Das Kindeswohl tritt seit den 70er Jahren immer stärker in den Mittelpunkt der Gesetzgebung: Bei der Reform des Familienrechts 1979 ging man in § 1631 terminologisch von „elterlicher Gewalt“ zu „elterlicher Sorge“ über; 1989 wurde die UN-Konvention über Kinderrechte verabschiedet, die Gewalt und Misshandlung ächtet. Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern hat sich bis heute erhalten. Dass es dabei zu inakzeptablen Auswüchsen kommen kann, darüber wurde bis vor etwa 30 Jahren nicht gesprochen: Noch der Dritte Familienbericht von 1979 erwähnt Gewalt in der Familie mit keinem Wort. Es war zuerst die Frauenrechts-, dann die Kinderrechtsbewegung und schließlich die Alarmierung durch rechtsextreme Gewaltauswüchse unter Jugendlichen und erschütternde Fälle von Kindesmisshandlungen, die die Gesellschaft sensibel für das Thema Gewalt in der Familie machten. Neueste kriminologische Untersuchungen (Christian Pfeiffer, Peter Wetzels)zeigen, dass tatsächlich ein Zusammenhang zwischen familialer Gewalterfahrung und Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen besteht. 2. Veränderte Erziehungsstile Erziehungsstile haben sich zuerst im Bereich der öffentlich verantworteten Erziehung verändert: Reformpädagogen bringen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wende zu einer kindzentrierten Pädagogik, die sich allerdings nur sehr langsam durchsetzt. Die familiäre Erziehung ist davon nicht unbeeinflusst; sie wird aber stärker noch durch Individualisierungsprozess, Wertwandel und durch den Rückgang der Kinderzahl beein- 120 F AC H TAG U N G E N flusst. Die Folgen: erhöhte Bedeutung von Elternschaft und damit verbundene Erwartungen an sich selbst; besonders ausgeprägt beim Typ der „modernen Eltern“ (nach Schülein). Hier führt der Wandel von Pflicht- und Akzeptanz- zu Selbstenfaltungswerten (Klages) zur Veränderung vom „Befehls- zum Verhandlungshaushalt“ (de Swaan). Ein solcher Erziehungsstil ist nur in Familien mit ein bis zwei Kindern praktizierbar. Der Generationenkonflikt, der für die 50er und 60er Jahre noch typisch war, ist heute kaum mehr vorhanden. Dennoch ist körperliche Züchtigung weiterhin ein weit verbreitetes Erziehungsmittel. Vgl. die folgenden beiden Grafiken nach einer Studie von Kai-D. Bussmann im Rahmen eines Teilprojektes des Sonderforschungsbereichs 227 an der Universität Bielefeld1: Grafik 1 3. Erschwerte Rahmenbedingungen für die Erziehung in Familien Die hohen Erwartungen, die Eltern an sich selbst stellen, führen allein schon oft zu Überforderung. Durch die Isolation, in der viele Familien leben, wird die Belastung der Eltern verschärft; Konfliktsituationen häufen sich. Hinzu kommen ungünstige äußere Rahmenbedingungen, die treffend als „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ (F.-X. Kaufmann) bezeichnet werden: finanzielle Schlechterstellung von G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 121 Grafik 2 Familien mit Kindern, schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf, verstärkte Rollenkonflikte, erhöhte Anforderungen an Eltern durch das Bildungssystem und das Freizeitverhalten Jugendlicher u.a.m. Nicht zu unterschätzen ist auch die Wirkung von Gewaltdarstellungen in den Medien. Die Eindämmung von missbräuchlicher Gewalt gegenüber Kindern ist ein unumstrittenes Ziel in unserer Gesellschaft, dem sich alle Parteien und gesellschaftlichen Gruppen anschließen. Der Zehnte Kinder- und Jugendbericht schlägt drei Handlungsfelder für eine wirkungsvolle Prävention von Gewalt in der Familie vor: ■ Veränderung der Einstellungs- und Handlungsmuster in der Gesellschaft ■ Veränderung der wirtschaftlichen und sozialen Lage von Familien mit Kindern ■ Erhöhte Anforderungen an ein Hilfesystem für betroffene Kinder und ihre Familien Alle drei Handlungsfelder haben eine starke politische Dimension: Es geht um die Frage nach dem Verhältnis von Familie und Staat, nach Zielen und Maßnahmen einer familienund kinderfreundlichen Sozialpolitik und nach Möglichkeiten zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Netzwerke zur Prävention von Gewalt. Viele Experten meinen, die Abschaffung des Züchtigungsrechtes sei ein geeignetes Mittel zur Unterstützung dieser drei Handlungsfelder. 122 F A C H TA G U N G E N 4.1.3 Lukas Rölli (Expertengespräch mit Heinz Holzhauer – Zusammenfassung) Rechtliche und politische Implikationen des Rechtes auf eine gewaltfreie Erziehung 1. Grundgesetzlicher Rahmen von Erziehung in der Familie In der Formulierung von Art. 6, Abs. 2 GG („Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern“) wird ein ausgesprochener Steuerungspessimismus deutlich. Die familiale Erziehung wurde als ein vorgegebener Naturzustand angesehen, der nicht erst durch den Staat geschaffen werden muss. Im Gegensatz zur Weimarer Verfassung wurden im Grundgesetz absichtlich keine Erziehungsziele genannt. Der Steuerungspessimismus wird heute von „linken“ Verfassungsrechtlern nicht geteilt. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 123 2. Familienrechtliche Bestimmungen des BGB Die familienrechtlichen Bestimmungen zu „Erziehung“ lassen sich in ein Koordinatensystem mit vier Dimensionen einordnen: Personensorge Vermögenssorge rechtliche Sorge tatsächliche Sorge In Fragen der Vermögenssorge ist der staatliche Einfluss traditionell groß (ursprünglich Sorge um Waisen). Fragen der Personensorge wurden in früheren Zeiten nicht staatlich, sondern informell durch die Kirchen oder die Nachbarschaft geregelt. 1979 ging der Gesetzgeber vom Begriff „elterliche Gewalt“ zu „elterliche Sorge“ über. Die etymologische Herkunft des Begriffes „Gewalt“ (lat. auctoritas, nicht violentia) von „walten“ ist aus dem rechtlichen Bewusstsein weitgehend verschwunden. In der Reform der §§ 1626 und 1627 des BGB werden Ansätze zu einer staatlichen Mitbestimmung der familialen Erziehungsstile deutlich. 3. Begriffsbestimmung von § 1631 Abs. 2 BGB Derzeitige Fassung von § 1631 Abs. 2: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“ „Würde“: Der durch das christliche Menschenbild geprägte Begriff „Würde“ hat durch das Grundgesetz eine hohe rechtliche Bedeutung gewonnen. In vielen seiner Anwendungsbereiche wurde früher mit dem Begriff „Ehre“ argumentiert, der stärker gruppenspezifisch geprägt war. „Entwürdigend“ ist ein für die Charakterisierung von Erziehungsmaßnahmen geeigneter Begriff. Er weist auf den kommunikativen Charakter des Erziehungshandelns hin und macht die Wirkung auf das Selbstwertgefühl des Kindes zum entscheidenden Kriterium. Der Begriff ist nicht starr, sondern er bleibt dehnbar. „Misshandlung“: Der Begriff „Misshandlung“ setzt voraus, dass es eine Vorstellung über rechtes Handeln gibt. „Unzulässig“: Das Wort „unzulässig“ kommt aus dem Öffentlichen Recht und suggeriert eine Art von öffentlicher Beaufsichtigung. Es macht die punktuelle Kontrolle über die Beachtung einer vorgegebenen Grenze erforderlich und schließt die Möglichkeit staatlicher Intervention ein. 124 F AC H TAG U N G E N 4. Rechtspolitische Absichten hinter dem Gesetzesentwurf Es geht den Initiatoren der Gesetzesänderung v.a. darum, das „elterliche Züchtigungsrecht“ unmissverständlich abzuschaffen. Bisher gibt es keine Rechtsvorschrift, die dieses Gewohnheitsrecht der Eltern, das seinerseits nirgendwo positiv benannt wird, verneint. 5. Folgen eines Rechtes auf gewaltfreie Erziehung Im Strafrecht wirkt das gewohnheitsrechtliche Züchtigungsrecht bis jetzt als Rechtfertigungsgrund, um bei einem vorliegenden Straftatbestand der Körperverletzung eine Strafe auszuschließen. Das BGB kennt keine solchen Rechtfertigungsgründe. Der Misshandlungs- und der Gewaltbegriff im Strafgesetzbuch und im BGB sind deshalb nicht identisch. Eine Reform von § 1631 Abs. 2 in der geplanten Form würde das gewohnheitsrechtliche Züchtigungsrecht abschaffen und hätte durch den Wegfall dieses Strafausschließungsgrundes auch eine Auswirkung auf das Strafrecht. Die Einführung des Begriffes „Gewalt“ resp. „gewaltfrei“ in das BGB ist sehr fragwürdig, da diese Begriffe weitgehend offen gehandhabt werden und nicht klar genug umrissen sind. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 125 4.1.4 Heike Lipinski Gewaltfreie Erziehung – Perspektiven für die politische Bildung 1. Ist Erziehung Privatsache? Erziehung von Kindern wird in Deutschland noch weitgehend als Privatsache angesehen. Sie wird zwar auch von staatlichen Institutionen wahrgenommen, die Hauptverantwortlichkeit liegt jedoch im familialen Bereich. Dies trifft insbesondere für kleinere Kinder bis zu drei Jahren zu. Dieses Verständnis spiegelt sich auch in der sozialpolitischen Ausgestaltung wieder. Beispiele hierfür sind: mangelnde Betreuungsangebote für Kleinkinder unter 3 Jahren, das dominante Prinzip der Halbtagesschule, Erziehungsgeld nicht in der Funktion als Lohnersatzleistung u.ä. Das dies nicht prinzipiell so sein muss, zeigen Beispiele aus anderen europäischen Ländern (z.B. Schweden, Frankreich etc.). Trotz dieser zunächst offensichtlichen Trennung zwischen politischem und privatem Raum, dem auch die Kindererziehung zugerechnet wird, gibt es eine Vielzahl von Verflechtungen zwischen beiden Bereichen. Dabei gehe ich von einem systemischen Verständnis aus. Das heißt vereinfacht dargestellt, die Gesellschaft besteht aus verschiedenen Teilbereichen, (u.a. Wirtschaft, Politik, Familie etc.) die systemisch miteinander vernetzt sind und nicht unabhängig voneinander bestehen können. Diese Teilsysteme stehen in gegenseitigen Wechselbeziehungen. Aus diesem Verständnis folgt, dass Familie und damit Kindererziehung nicht unabhängig von Politik und Wirtschaft sein können. Ich möchte das kurz mit einigen Beispielen verdeutlichen: Wie die einzelne Familie ihr Familienleben und die Erziehung der Kinder ausgestaltet, ist nicht nur eine Frage des persönlichen Geschmacks, sondern immer auch Reaktion auf das Machbare in einem bestehenden individuellen und strukturellen Kontext. So fließt beispielsweise gesellschaftlicher Wertewandel in die Erziehung mit ein. Gesellschaftliche Werte, die in den fünfziger und sechziger Jahren bedeutsam waren, wie Fleiß, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit (und nach Inglehard unter den Begriff materialistische Werte zu fassen sind), wurden abgelöst durch hedonistische Werte, wie 126 F AC H TAG U N G E N Genuss, Freiheit, Selbstverwirklichung. Ein anderes Beispiel ist, dass unser wirtschaftliches System immer noch auf dem Prinzip beruht, dass hinter einer vollzeitarbeitenden Kraft, in der Regel der Mann, eine andere Person steht, in der Regel die Frau, die Haus und- Familienarbeit leistet. Struktureller Einflussfaktor auf Familie und Kindererziehung ist auch die gegebene oder nicht gegebene Möglichkeit der Vereinbarkeit von Familie und Berufstätigkeit. Der Staat setzt Rahmenbedingungen für Kindererziehung, auch wenn er keinen direkten Einfluss nimmt (durch Schaffung von Kinderbetreuungseinrichtungen, Gestaltung der Sozialversicherungssysteme, sozialpolitische Maßnahmen etc.). Im Gegenzug wirken Familie und Erziehung auf die Gesellschaft zurück. Viele individuell getroffene Entscheidungen bewirken die Reaktion der Politik und die Anpassung der Wirtschaft, der Einzelne ist nicht machtlos. Dass Familien auf die Gesellschaft zurückwirken, wird z.B. in der Debatte um Transferleistungen und Umverteilung zugunsten von Familien immer wieder deutlich. Familien leisten einen Beitrag für die Gesellschaft, vereinfacht gesagt: sie erziehen Kinder zu Menschen, die sich in diese Gesellschaft integrieren können, Sozialverhalten zeigen und Verantwortung übernehmen. Dies stellt einen Gewinn für die ganze Gesellschaft dar. Gelingt dies der Familie nicht, dann entstehen Sozialkosten, die die Gesellschaft tragen muss. An diesen wenigen Beispielen wird bereits die enge Verflechtung des Privatraums Familie und damit der Kindererziehung mit anderen gesellschaftlichen Bereichen und damit auch mit der Politik deutlich. Hieraus ergibt sich konsequenterweise, dass Familie und Kindererziehung unverzichtbar Thema der politischen Bildung sein müssen. Politische Bildung in diesem Themengebiet ist in katholischer Trägerschaft immer ein besonderes Anliegen gewesen. Diese Verantwortung ergibt sich aus der katholischen Soziallehre. Diese hat Ehe und Familie immer im Rahmen des gesellschaftlichen Kontextes begriffen und die geschilderten Wechselwirkungen mitbetrachtet. 2. Welche konkreten Themen kommen für die politische Bildung infrage? Erziehungsthemen werden in der Bildungsarbeit vor allem in der klassischen Familienbildung abgehandelt: Pekip, Spielgruppen, musikalische Früherziehung etc. Das Thema Gewalt in der Erziehung und dessen politische und gesamtgesellschaftliche Relevanz G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 127 sollte jedoch noch in einen anderen Rahmen gestellt werden. Das mögliche thematische Spektrum habe ich in sechs thematische Bereiche untergliedert, die aufeinander aufbauen und für Veranstaltungen der politischen Bildung aus meiner Sicht infrage kommen. Je nach Veranstaltungsform und Zielgruppe können alle thematischen Bereiche behandelt werden oder nur Ausschnitte. 2.1 Politische Bildung verdeutlicht Wertoptionen In diesem Themenkomplex wird sozusagen die Metaebene betrachtet. Der Staat hat in die Erziehung der Familien eingegriffen, indem er mit dem neuen Gesetz eine klare Grenze gezogen hat. Die Kindererziehung wird den Familien zwar nicht vorgeschrieben, aber es wird eine klare Richtlinie gegeben, wie es nicht sein sollte. Daraus ergeben sich verschiedene Diskursnotwendigkeiten über Fragen wie : ■ Ist der Staat berechtigt, in dieser Weise in die Erziehung einzugreifen? Nach einer Studie von Petri billigen nur 40 % dem Staat dieses Recht zu. Wie kann das Verhältnis von Familie, Staat und Erziehung definiert werden? ■ Wie ist der Zusammenhang zu den Grundwerten des Staates? An welchem Werteverständnis knüpft ein derartiges Gesetz an? Verortung im normativen Kontext: Welche anderen normativen Optionen gäbe es alternativ und welche Folgen hätten sie? Welches Menschenbild wird vorausgesetzt, welches Verständnis von der Würde des Menschen? ■ Wie ist dieses Verständnis in anderen Ländern? Die Klärung dieser Fragen kann den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen bilden. 2.2 Information über den Ist-Zustand Wenn man über die Problematik „Gewalt in der Erziehung“ diskutiert, sollte man ein Bild darüber gewinnen, inwieweit dieses soziale Problem verbreitet ist und mit welchen Gewaltphänomenen man es in welcher Größenordnung zu tun hat. Dabei sind aus meiner Sicht zwei Aspekte wichtig: ■ Klärung der Frage, was unter Gewalt gegen Kinder in der Erziehung zu verstehen ist: Zunächst kann man dazu neigen, diese Thematik auf offensichtliche körperliche Gewalt zu reduzieren. Es gibt aber vielfältige andere Formen von Gewalt, die genauso gravierende Folgen nach sich ziehen können: z.B. alle Formen emotionaler Gewalt, 128 F A C H TA G U N G E N Vernachlässigung, bewusster Liebesentzug, Mangel an Zärtlichkeit ebenso wie sexueller Missbrauch, strukturelle Gewalt wie Armut, fehlende Möglichkeiten den kindlichen Bewegungsdrang auszuleben, Leistungsdruck, überzogene Erwartungen etc. Gewalt ist immer da zu sehen, wo Menschen, in diesem Fall Kinder, in ihrem Leben gravierend verhindert oder behindert werden. ■ Klärung der Frage, welche Formen der Gewalt in welcher Größenordnung auftreten: Ist Gewalt generell ein Thema in der Erziehung, oder betrifft es nur bestimmte Gruppe von Familien? Wenn ja, sind diese Gruppen schicht- bzw. milieuspezifisch zu verorten? 2.3 Darstellung der Ursachen von Gewalt Hintergrund ist hier, dass man, um eine Veränderung oder Verbesserung herbeiführen zu können, zunächst begreifen muss, warum etwas so ist. Gewalt kommt nicht aus dem Nichts. Jeder Gewalttätigkeit gehen aufgestaute Aggressionen voraus, die in Enttäuschung, Frustration, Verletzung ihre Ursache haben. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass jede Kränkung und Enttäuschung, die nicht verarbeitet werden kann, zu einer erhöhten Aggressionsbereitschaft führt, die sich dann in Gewalt gegen Sachen, Menschen oder gegen sich selbst richten kann. „Wie alle Untersuchungen zeigen, können Kindesmisshandlungen nicht als individualisierte Fehlhandlungen von Eltern oder anderen erwachsenen Tätern gegenüber Kindern verstanden werden. Sie haben fast immer eine Verankerung im gesamten Familiengefüge, und diese hat wiederum eine soziale Korrespondenz im umfassenden Gesellschaftsgefüge (Honig 1989). Insbesondere die psychische Gewalt gegen Kinder und die psychosoziale Vernachlässigung bzw. Überforderung von Kindern haben eindeutig soziale Ursachen und sind nicht alleine auf psychische Ursachen zurückzuführen (Engfer 1995).“ (aus: Bründel/Hurrelmann, Einführung in die Kindheitsforschung, S. 285, Weinheim, 1996) Dieses Zitat verdeutlicht, dass die Ursachen sich in strukturelle Ursachen, die viele Familien betreffen und individuelle Ursachen, die nur die einzelne Familie betreffen, trennen. Allerdings muss man bedenken, dass beide Ursachenbereiche in der Analyse selten trennscharf sind. Man muss sich außerdem der Multikausalität bewusst sein, dass selten nur ein Faktor ursächlich ist, sondern dass Ursachen sich gegenseitig verstärken. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 129 2.3.1 Gesellschaftliche Ursachen Die Wahlmöglichkeiten der Lebensgestaltung des Individuums in unserer Gesellschaft sind längst nicht so frei, wie dies suggeriert wird. Der Einzelne, und damit auch die einzelne Familie stehen in strukturellen Rahmenbedingungen. Diese können günstig sein und das Familienleben positiv beeinflussen. Öfter ist es aber so, dass sie zu Stress und Überforderung der Familien führen. Stress gefährdet die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander. Wenn es keine Möglichkeiten der Kompensation gibt, führt dies schnell dazu, dass der Druck sich am wehrlosesten Glied der Kette entlädt. Stress, Demütigung und Verletzung (z.B. durch überfordernde Berufstätigkeit, Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungsnot, mangelndes Betreuungsangebot für Kinder, Doppelbelastung Familie/Berufstätigkeit, mangelnde Anerkennung von Familienarbeit, soziale Isolation der Familie etc. ), die Eltern erleiden, werden weitergegeben. Die Aggression kann aber genauso vom Kind ausgehen: Kinder, die unter schlechten strukturellen Bedingungen leiden z.B. in der Schule gehänselt werden, weil sie ärmlich gekleidet sind, reagieren aggressiv auf diese Demütigung. Dies kann zu Aggression und Provokation gegenüber den Eltern führen, diese reagieren ihrerseits mit Gegenaggression. Wandlung des Erziehungsverständnisses: Die Ansprüche, die an Eltern in Bezug auf die Erziehung ihrer Kinder gestellt werden, sind im Rahmen der Pädagogisierung der Kindheit immer höher geworden. Eltern haben in der heutigen Zeit die Aufgabe, die optimale Förderung des Kindes zu gewährleisten, es auf die Anforderungen der Gesellschaft vorzubereiten, alles zu tun, dass es im leistungsorientierten Umfeld bestehen kann. Überforderung stellt sich bei den Eltern ein, wenn sie diese Aufgaben nicht lösen können, wenn sie merken, sie können den selbst gestellten Erwartungen nicht gerecht werden oder ihr Kind sich nicht so entwickelt, wie sie sich das in ihrer Erwartungshaltung vorstellen. Mediale Gewalt: Kinder und Eltern erleben in den Medien, dass Gewalt ein probates Mittel der Auseinandersetzung ist und eingesetzt werden darf. Wenn die kritische Distanz zu solchen Darstellungen fehlt, kann das Aggression bei Kindern auslösen. 2.3.2 Individuelle Ursachen Man kann beide Ursachenkomplexe (individuelle und strukturelle) eigentlich nur analytisch, aber nicht praktisch voneinander trennen. In vielen Fällen sind individuelle Ursachen prädisponierend und die belastende soziale Situation der aktuelle Auslöser. Das Spektrum möglicher individueller Ursachen, d.h. solcher, die in der Biographie der einzelnen Familie ihren Grund haben, ist vielfältig. Es können hier nur einige Aspekte genannt werden. 130 F AC H TAG U N G E N Mangelnde Kommunikation in Beziehungen: Es ist leider immer noch so, dass Menschen nicht gelernt haben, Konflikte verbal zu lösen. Auf Männer trifft das immer noch in stärkerem Maße zu als auf Frauen. Dies wirkt in der Kindererziehung fort. Dort wo man sich mit Worten nicht mehr vermitteln kann, entsteht Aggression und es kann zur Gewalt kommen. Es besteht eine enge Verbindung zu den strukturellen Ursachen. Wer gelernt hat, über die Kränkung, die ihm z.B. durch den Verlust des Arbeitsplatzes entstanden ist, oder über die Überforderung, die durch die Doppelbelastung Haushalt-Familie entsteht, zu reden, kann Aggression auf diesem Wege bereits abbauen. Prägung durch die Herkunftsfamilie: In der Herkunftsfamilie werden Konfliktlösungsmodelle erlernt oder auch nicht. Wer Gewalt in der Kindheit selbst erlebt hat, neigt dazu, im Erwachsenenalter selber gewalttätig zu werden. Studien haben ergeben, dass viele Gewaltopfer, also Erwachsene, die selber von ihren Eltern z.B. geschlagen wurden, in der eigenen Familie wieder in dieses Muster zurückfallen. 2.4 Folgen von Gewalt Es besteht Konsens darüber, dass schwere Misshandlung ein Verbrechen am Kind ist. Keine Einigkeit besteht jedoch darüber, was „der kleine Klaps“, den viele immer noch für unverzichtbar halten, für Folgen hat. Der Kinderschutzbund hat erhoben, dass 70 % aller Eltern Prügel als probates Mittel der Erziehung ansehen. Bei den Folgen von Gewalt verhält es sich wie bei den Ursachen. Es gibt einen individuellen Anteil, dass heißt Folgen, die nur das Individuum betreffen, es gibt aber auch Folgen, die darüber hinaus auf die Gesellschaft wirken. Festzustellen bleibt: Geschlagene Kinder verhalten sich als Kinder und als Erwachsene aufgrund ihrer Gewalterfahrungen im Durchschnitt anders als diejenigen, ohne eine derartige Erfahrung. Ein Folgenkomplex von Gewalterfahrungen ist der ganze Bereich der psychischen und psychosomatischen Auswirkungen: z.B. Sprachstörungen, Allergien, Neurodermitis, Nägelkauen, Asthma, Süchte, Magersucht, Depression, autoaggressive Gewalt, übertriebene Sehnsucht nach Geborgenheit, Verhaltensprobleme, mangelhafte Sozialkompetenz, Störungen des Selbstwertgefühls, Orientierungsschwierigkeiten bezogen auf Werte etc. Insbesondere die letzteren Punkte sind als sehr bedeutend einzustufen, weil sich aus diesen individuellen „Störungen“ eine Reihe in die Gesellschaft hineinwirkende Folgeerscheinungen ergeben. Hierfür seien einige Beispiele genannt: G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 131 ■ Gewaltopfer werden zu einem hohen Prozentsatz wieder gewalttätig. ■ Gewalterfahrungen untergraben das Selbstvertrauen. Dies kann zu Angst vor Fremden und in Folge dessen zu Rassenhass und Fremdenfeindlichkeit führen. ■ Gewaltopfer haben Probleme, Werte für sich zu definieren. Dies führt zu einem fehlenden Unrechtsbewusstsein, zur Gewöhnung an „falsche“ Werte und zu einem sehr eingeschränkten Schuldbewusstsein. ■ Verhaltensstörungen aufgrund von Gewalterfahrungen führen zu Familien- und Beziehungsunfähigkeit. Dies kann zu Scheidungen und den damit verbundenen Problemen führen. ■ Mangelndes Selbstwertgefühl und die Suche nach Geborgenheit kann zur Flucht in die Sucht führen, in die Hände von dubiosen Cliquen oder Vereinigungen treiben, die scheinbar diese Geborgenheit bieten (z.B. rechtsradikale, kriminelle Gruppen, Graffitiszene, Drogenmilieu, Sekten). ■ Wenn Kinder aus Furcht vor Gewalt die Flucht aus dem elterlichen Zuhause suchen, geraten sie oft ins Bahnhofsmilieu großer Städte mit allen damit verbundenen Begleiterscheinungen wie Prostitution, Drogensucht, Kriminalität. Bei diesen Beispielen muss immer klar sein, dass es um Einzelschicksale geht. Man muss aber auch sehen, dass die Folgen in die Gesellschaft hineinreichen und damit alle betreffen, sei es in Form steigender Sozialkosten, steigender Krankenkassenkosten, Finanzierung von Arbeitsausfall, höheren Kosten für Polizei, höheren Kosten für Sozialarbeit etc. Ich will die Problematik nicht auf Kostenrechnungen reduzieren, aber sie sind ein Aspekt. Diese ersten vier Themengebiete, die ich ausgeführt habe, sind wichtig zur Information und Reflexion, können Bewusstseinsbildung in Gang setzen. Für politische Bildung halte ich aber zwei weitere Schritte für unverzichtbar: Betroffenheit und Lebensweltbezogenheit herstellen und aus dieser Betroffenheit heraus zum Engagement motivieren. 2.5 Transfer in den eigenen Lebenskontext ermöglichen Es ist für politische Bildung zu wenig, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Thema nur als abstrakte Information wahrnehmen und hinterher sagen, dass war interessant oder weniger interessant. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten das Gefühl haben, dass betrifft mich, dass hat mit mir und meiner Lebenswirklichkeit zu tun. Der Ansatz für diese Betroffenheit liegt im Bezug zur Lebenswelt der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, bzw. an dem Punkt ihrer Lebenswelt, an dem für sie das Thema relevant 132 F AC H TAG U N G E N ist. Dieser Schritt ist die Basis dafür, um in einem nächsten Schritt zum Handeln zu motivieren. Wie man diese Reflexion auf den Lebenskontext der Teilnehmerinnen und Teilnehmer anstößt, richtet sich nach den einzelnen Zielgruppen. 2.6 Konkrete Handlungsmotivation erzeugen und Hilfsangebote präsentieren Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen in Bildungsveranstaltungen zumeist mit einer starken Ergebnisorientierung. Gerade bei politischen Themen besteht die Gefahr, dass sie sich auf einer Ebene bewegen, die der direkten Einflussnahme der Teilnehmenden entzogen ist und sie keine Handlungsspielräume sehen. Es ist daher unverzichtbar, dass eine Bildungsveranstaltung im politischen Bereich auch konkret wird und den einzelnen Teilnehmenden zeigt, wo sie ansetzen können, wo sie konkret etwas positiv bewirken können. Es wäre fatal, wenn die Teilnehmenden am Ende der Veranstaltung das Gefühl haben, ich kann sowieso nichts tun. Es muss Aufgabe sein, aufzuzeigen, dass der Einzelne mit seinem Engagement, seinen Entscheidungen und seiner Lebensgestaltung Gesellschaft mit verändern kann. Diese Möglichkeiten für Veränderungen auf gesellschaftlicher und auf individueller Ebene sollten erarbeitet werden. Man kann sich vielfältige konkrete Anregungen, die initiiert werden könnten, vorstellen. Im folgenden sollen lediglich einige Beispiele genannt werden: ■ Aufzeigen der Möglichkeiten, strukturelle Verbesserungen für Familie auf politischer Ebene einzufordern; über Möglichkeiten der Einflussnahme informieren; Familien zur Lobbybildung anregen, damit sie selber politisch aktiv werden. ■ Wenn strukturelle Gegebenheiten nicht veränderbar sind, Hinweise geben, wie ein positiver Umgang damit möglich ist. ■ Hinweise, wie Gewalt gegen Kinder aussehen kann und welche Möglichkeiten des Eingriffs im konkreten Fall gegeben sind. ■ Erarbeiten von Kompensations- und Konfliktlösungsstrategien für Eltern (Wie kann ich Aggression abbauen, Aggressionsauslöser im Vorfeld vermeiden, Kommunikationsverhalten innerhalb der Familie verbessern? etc.). ■ Vorstellung pädagogischer Programme/Umgangsmöglichkeiten mit aggressiven Kindern ■ Ideen zur Bewusstseinsbildung (Organisation von Gesprächskreisen, Aktionstagen, Kampagnen in der Öffentlichkeit). ■ Information über bestehende Hilfsangebote, in denen man sich engagieren kann/die man nutzen kann. ■ Möglichkeiten im präventiven Bereich. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 133 3. Welche Aspekte sind bei der Umsetzung dieses Themas in die politische Bildung zu beachten? Einige didaktische Hinweise 3.1 Zielgruppen Für diese Thematik ist eine breite Palette möglicher Teilnehmerkreise vorstellbar, z.B. Multiplikatoren aus der Kommunalpolitik, Multiplikatoren aus der Sozialarbeit, Ehrenamtliche, in der Seelsorge tätige Personen, beim Jugendamt Beschäftigte, Ärzte, Pädagogen, Studenten, Familien in verschiedenen Konstellationen, Großeltern. Drei Prinzipien könnten bei der Auswahl der Zielgruppe bedenkenswert sein: ■ Generationenübergreifender Teilnehmerkreis: Wenn ganze Familien in eine Veranstaltung einbezogen werden, hat das den Vorteil, dass die einzelnen Mitglieder die Möglichkeit haben, gemeinsam und voneinander zu lernen und ein Thema von allen Seiten zu betrachten. Jeder findet außerdem andere Personen mit demselben Status (also andere Väter, andere Jugendliche etc.) mit denen eine Solidarisierung möglich ist. ■ Institutionenübergreifende Zusammenarbeit: So können z.B. Lehrer, Eltern und Schüler an einen Tisch geholt werden. ■ Keine ausschließliche Mittelschichtorientierung. 3.2 Wie mache ich das Thema attraktiv? Die Thematik „Gewalt gegen Kinder“ ist für potenzielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht unbedingt attraktiv. Es handelt sich immer noch um ein gesellschaftliches Tabuthema. Familien weisen diese Problematik eher von sich („Das kann bei uns nicht passieren“) und wollen sich weder präventiv noch aktuell damit beschäftigen. Gerade bei persönlicher Betroffenheit besteht eine große Hemmschwelle, sich damit auseinander zu setzen. Dazu einige Hinweise: ■ Man muss für die Werbung mehr Arbeitsaufwand einplanen und sehr gezielt vorgehen. Das Bedienen üblicher Verteiler reicht sicher nicht aus. Die Gefahr des Seminarausfalls sollte einkalkuliert werden, ebenso wie Wiederholungsversuche. ■ Es ist wichtig für die Veranstaltung eine gute Verpackung zu finden, z.B. thematische Elemente in den Rahmen einer anderen Veranstaltung einbauen (z.B. in ein Familienwochenende). Das Thema sollte möglichst unverfänglich und positiv formuliert wer- 134 F A C H TA G U N G E N den, zumindest wenn man Familien selbst erreichen möchte. Bei Multiplikatoren bietet sich eher eine Formulierung an, die die Dringlichkeit des Problems bewusst macht. ■ In der Ausschreibung sollte schon die Methode deutlich werden. Gerade bei einer Thematik, die in den eigenen Lebenskontext hereinreicht, besteht die Angst, dass die Veranstaltung stark in den Bereich der Selbsterfahrung hereinreicht. Hier sollte die Ausschreibung deutlich machen, dass es um Arbeit am Thema und nicht um die Klärung persönlicher Lebensschicksale geht. ■ Ein effektiver Weg der Teilnehmergewinnung ist die Kooperation, z.B. Jugendamt, Vereine, Gewerkschaften, Familienkreise. Die Teilnahme in der Gruppe fällt dem Einzelnen oft leichter. 3.3 Art der Veranstaltung Hierzu kann man keine pauschalen Aussagen treffen, da man von der jeweiligen Zielgruppe ausgehen muss. Es hat sich gezeigt, dass sich bei der Arbeit mit den Betroffenen, in dem Fall Familien selbst, eher längere Veranstaltungen anbieten, da hier die Zeit zum Austausch und zur Reflexion gegeben ist. Es kann ein Gruppenprozess angestoßen werden, der zu Handlungsmotivation führt. Für Multiplikatoren sind in Anbetracht der immer knapper werdenden Zeitbudgets wohl eher kürzere Veranstaltungen möglich, die Ausschnitte aus dem Themenkomplex bezogen auf die jeweilige Multiplikatorenfunktion aufgreifen. Eine methodische Vielfalt, abseits der klassischen Methode Referat und Diskussion ist für eine derartige Thematik in vielen Fällen sinnvoll. Vor allem Kleingruppenarbeit bietet sich an, weil die Angst der Teilnehmenden, sich zu äußern dann deutlich geringer ist als im Plenum. Problemlösungen können effektiver erarbeitet werden. Kreative Methoden sollten da eingesetzt werden, wo Sachverhalte zunächst schlecht verbalisierbar sind. Großer Wert sollte der Kennenlernrunde beigemessen werden, um bei dieser schwierigen Thematik zunächst einmal eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Freizeitelemente sollten eingeplant werden, weil ein persönliches Thema die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (zumindest wenn es sich um Familien, bzw. persönlich Betroffene handelt) erheblich beansprucht. Die freien Zeiten bieten für den Einzelnen auch Möglichkeit der Aufarbeitung und Reflexion und Möglichkeiten im kleinen Kreis intensiv weiter zu reden. Dies kommt auch den Bedürfnissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer entgegen, die der Kommunikation (Austausch mit anderen) im Durchschnitt einen ebenso großen Stellenwert wie der Information einräumen. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P O L I T I S C H E B I L D U N G 135 3.4 Persönlichkeitsbildung und politische Bildung Beide Bereiche werden oft sehr stark als gegenläufig angesehen, „die einen machen das, die anderen machen das“. Bei Themen, die Partnerschaft, Familie, Erziehung betreffen, kommen beide Aspekte in den meisten Fällen unverzichtbar zusammen. Würde man sich nur auf den politischen Aspekt beschränken, würde das Thema verkürzt betrachtet, weil zwar die gesellschaftlichen Ursachen von Gewalt zum Tragen kommen, aber nicht die individuellen. Damit fehlt ein stückweit der Bezug zum Leben der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Reduziert man das Thema nur auf den persönlichkeitsbildenden Aspekt, beschäftigt man sich lediglich mit individuellen Problematiken und übersieht, inwieweit gesellschaftliche Gründe relevant sind. Besonders problematisch wird es, wenn versucht wird, Probleme mit strukturellen Ursachen auf der individuellen Ebene zu lösen. Es ist für das Thema wichtig, an der persönlichen Ebene anzuknüpfen, aber auf ihr nicht stehen zu bleiben, denn das wäre für politische Bildung zu wenig. Nur wenn individueller und struktureller Kontext zusammen kommen, entsteht aus meiner Sicht bei diesem Thema ein sinnvolles Ganzes. Anmerkungen 1 Kai-D. Bussmann, Familiale Gewalt gegen Kinder und das Recht. Erste Ergebnisse aus einer Studie zur Beeinflussung von Gewalt in der Erziehung durch Rechtsnormen, in: Familie der Zukunft. Lebensbedingungen und Lebensformen, hrsg. von Uta Gerhardt/Stefan Hradil/Doris Lucke/Bernhard Nauck, Opladen 1995, 261-279. 136 4.2 F AC H TAG U N G E N Gewaltfreie Erziehung – Zu Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes 24./25. Oktober 2000 in Neu-Anspach (Taunus) 4.2.1 Lukas Rölli Zusammenfassung Die Fähigkeit, sozial verträglich mit den eigenen Aggressionen umzugehen, stellte der Darmstädter Pädagoge Prof. Manfred Gerspach als das eigentliche Ziel von „gewaltfreier Erziehung“ dar. Als entscheidend für die Ausbildung dieser Fähigkeit sieht er die ersten drei Lebensjahre des Kindes, in denen Eltern dem Kind vertrauensvolle Beziehungsräume eröffnen müssten. In der „strukturellen Gewalt“ einer kommerzialisierten Gesellschaft, die den Mensch immer mehr zur Ware mache, erblickt er ein wesentliches Hindernis für das Gelingen einer solchen Erziehung. Zur Frage nach gewaltfördernden kulturellen Einflüssen in Migrantenfamilien legte die Deutsch-Ägypterin Dr. Daoud-Harms aus Frankfurt a.M. überraschende Thesen vor, die sie aus ihrer Beratungstätigkeit mit auffälligen Schülern aus Migrantenfamilien beim Pädagogischen Institut Frankfurt a.M. gewonnen hat. Sie bestritt die weit verbreitete These, dass die Ausübung von Gewalt durch Männer in Migrantenfamilien kulturell bedingt sei. Statt dessen betonte sie, dass migrationsspezifische innerfamiliäre Konflikte und die Isolation ausländischer Familien die Gewaltbereitschaft erhöhten. Allerdings räumte sie in der Diskussion ein, dass ein kulturell beeinflusster, stark ausgeprägter Patriarchalismus diese Konflikte verschärfe. In einer guten Bildung sieht sie das beste Mittel zur Überwindung patriarchaler Haltungen. Mit dem Einfluss von Geschlechterrollen auf Erziehungsleitbilder und Erziehungshandeln befasste sich die Frankfurter Pädagogin Dr. Barbara Rendtorff. Sie wies auf die entwicklungspsychologisch grundlegend unterschiedlichen Erfahrungen in der Entwicklung der Geschlechtlichkeit bei Jungen und Mädchen hin. In der stärkeren Gefährdung der G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 137 psychosexuellen Position von Jungen/Männern sieht sie eine wichtige Ursache für deren erhöhte Aggressivität. Ähnlich wie Prof. Gerspach unterstrich sie die Bedeutung eines unzerstörbaren Beziehungsrahmens in der Erziehung, der das Austragen von inneren Widersprüchen ermögliche. Im Blick auf gesellschaftlich geprägte Rollenmuster beklagte Frau Rendtorff, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie heute viel zu sehr als ein persönliches Problem der betroffenen Frauen angesehen werde. Ein neuer Diskurs sei erforderlich, der dieses Problem als eine gesellschaftliche Aufgabe angehe. Vor allzu hohen Erwartungen an die Leistungsfähigkeit von Bildung bei der Veränderung von Erziehungsverhalten von Eltern warnte der Darmstädter Sozialpädagoge Prof. Dr. Achim Schröder. Bildungsarbeit müsse bei Erfahrungen der Teilnehmenden ansetzen, um dann Reflexionsprozesse anzuregen. Die Methode des Szenischen Spieles nach Ingo Scheller eigne sich besonders gut zur Anregung solcher Prozesse. Gesellschaftliche Aspekte des Themas Gewalt in der Erziehung würden dabei in der Regel selbstverständlich in die Analyse einbezogen. In der abschließenden Diskussion bemerkten die Referierenden übereinstimmend, dass die Anregung für ein Umdenken im Erziehungsverhalten der Bevölkerung nicht unter dem irreführenden Titel „gewaltfreie Erziehung“ erfolgen sollten, da dieses Schlagwort moralisierend wirke und falsche Erwartungen wecke. Statt dessen sollte verstärkt bei konfliktlösungsorientierten Konzepten der Friedenserziehung angesetzt werden. Die Fachtagung mit einer überschaubaren Anzahl Teilnehmender bot einen guten Rahmen für intensive Diskussionen zwischen Teilnehmenden und Referierenden. Von den Teilnehmenden wurde die Vermittlung von praktischen Erfahrungen der Bildungsarbeit aus dem Projekt vermisst. Angesichts der Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Fachtagung noch keine solchen Erfahrungen in der Projektgruppe vorlagen, war dies bei der ersten Fachtagung noch nicht möglich. In den Fachtagungen des Jahres 2001 sollte die Vermittlung von Projektzwischenergebnissen jedoch eine wichtigere Rolle spielen. Die Texte der Referate der Fachtagung wurden im Dezember 2000 in einer Dokumentation in der Projekthomepage der Fachöffentlichkeit zur Verfügung gestellt. 138 F AC H TAG U N G E N 4.2.2 Manfred Gerspach Zum Leitbild „Gewaltfreie Erziehung“: seine anthropologischen, moralischen, sozialen und pädagogischen Grundlagen 1. Allgemeine Aussagen über das Paradoxon von Erziehung und Gewaltfreiheit Erziehung wird immer mehr zum Mythos. Was die sozialwissenschaftliche Forschung in der letzten Zeit dazu anzubieten hat, geht von einer Machbarkeitsvorstellung aus, die ich nur noch als entfremdete Abbildung eines ökonomistischen Glaubensbekenntnisses natürlicher wie humaner Ressourcenausschlachtung aufnehmen will. Jedenfalls werden uns hier speziell zur Frage von Gewalt und Gewaltprävention Konzepte nahe gelegt, die von einer erstaunlich unwissenschaftlichen Naivität beseelt sind, wie man denkt, ohne einen Begriff vom Subjekt und seiner möglichen seelischen Deformationen auskommen zu können und ihm dennoch das Gute antrainieren will. Gar nicht reden will ich davon, dass immer dann nach bestimmten Erziehungsprogrammen gerufen wird, wenn eine gravierende soziale Problemstellung auf eine gesellschaftliche Situation ausgedehnter Ohnmacht verweist – denken wir nur, historisch gesehen, an den demokratischen Umerziehungsgedanken nach der Zerschlagung des NS-Faschismus. Heute ist es offensichtlich das Erstarken auffälliger, also antisozialer Verhaltensweisen bei Kindern und Jugendlichen, das uns allgemein Kummer bereitet. Wir können inzwischen bei den 2- bis 18-Jährigen von einer Prävalenz von bis zu 7 % ausgehen, dass sie Störungen des Sozialverhaltens bzw. eine erhöhte Aggressivität aufweisen. Depressionen werden bei bis zu 17 % in dieser Altersgruppe prognostiziert, Angststörungen bei mehr als 10 % (vgl. Petermann, Petermann 2000). Wie dem zu begegnen sei, das scheint schwer zu beantworten. Zwar gilt ein unmittelbarer Zusammenhang einer erstarkten ‚Gewaltkultur’ mit familialen Faktoren als gesichert (vgl. Holtappels u.a. 1999, Martin 1999, Schubarth 2000), doch über den Transfer, wie denn nun das Anwachsen eines Aggressionspotenzials im Einzelnen G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 139 vonstatten geht, existieren eher vage und oberflächliche Andeutungen. Dass aggressive, bzw. depressive oder ängstlich-neurotische Reaktionsweisen von Kindern und Jugendlichen etwas mit bestimmten Bedeutungen zu tun haben, die einer subjektiv verfälscht wahrgenommenen sozialen Situation entspringen und eben jenes Verhalten auslösen, wird in der Regel nicht thematisiert. Ohne diesen Bezug zu erkennen und zu verstehen, werden wir aber schwerlich einen Weg zu den inneren Verarbeitungsmechanismen des Einzelnen finden, der es uns gestattete, veränderte Interpretationsmuster zu entwickeln. Wer lediglich meint, Vorschläge zum Abbau von aggressiven und störenden Verhaltensweisen zu machen und in Trainingsprogramme umsetzen zu können, ohne auf den Sinnkontext erlebter Beziehungserfahrungen einzugehen, darf sich nicht wundern, wenn sein Konzept vielleicht in einer eng umgrenzten Laborsituation funktionieren mag, nicht aber draußen und ohne pädagogische Überwachung. Ebensowenig scheint es mir möglich, Eltern moralisch zum gewaltfreien Umgang mit ihren Kindern bewegen zu wollen, wenn sie innerlich dazu nicht bereit oder fähig sind. Wem selber nie wirklich mit Respekt und Einfühlung begegnet wurde, der kann kaum die persönliche Fähigkeit aufbauen, solches an andere weiterzureichen. Doch halten wir kurz inne und überlegen, was wir unter Gewalt verstehen wollen bzw. was gewaltfreie Erziehung kann oder auch nicht kann. Gewalt als theoretischer, empirischer und pädagogischer Leitbegriff lässt sich nicht auf körperliche Gewalt allein reduzieren (vgl. Martin 1999, Melzer 2000, Schubarth 2000, Holtappels u.a. 1999). Eine knappe Definition lautet: „Insgesamt kann Gewalt als eine zielgerichtete direkte Schädigung begriffen werden, die unter körperlichem Einsatz und/oder mit psychischen und verbalen Mitteln erfolgt und sich gegen Personen und Sachen richten kann“ (vgl. Melzer 2000, 9). Dabei erscheint die Abgrenzung vom Aggressionsbegriff problematisch, zumal es sehr differierende und sich zum Teil widersprechende Auffassungen darüber gibt. Melzer schlägt vor, Aggression für persönlichkeitsinterne Prozesse, Antriebs- und Verarbeitungsformen zu nehmen und den Gewaltbegriff einer umfassenden Leittheorie vorzubehalten (vgl. 2000, 8). Meist werden Gewalt und Aggression aber synonym verwandt und beinhalten jeweils neben der körperlichen auch verbale und psychische Faktoren (vgl. Schubarth 2000, 11). Angeheizt durch die mediale Vermarktung wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, dass die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen explodiere. Ernsthafte Studien relativieren dies 140 F AC H TAG U N G E N aber: Insgesamt ist ein leichter Anstieg an gewalttätigem Verhalten unter Jungendlichen zu verzeichnen, und wir müssen in etwa von folgenden Zahlen ausgehen: von 1972 bis 1995 eine Zunahme bei Schlägereien Einbrüchen von von 5% 1% auf auf 12,5 %; 5,3 %; Bandenzugehörigkeit von 6% auf 16,0 %. Allein für die Population der Hauptschüler ergeben sich noch höhere Werte. Für alle Schüler gilt, dass 3 – 4 % von ihnen zu einer härteren Tätergruppe zu rechnen sind, wobei interessanterweise Täter und Opfer oft der gleichen Gruppe zuzurechnen sind. Der starke Zuwachs von Raub- und schweren Körperverletzungsdelikten der 14- bis unter 21-Jährigen ist überwiegend solchen Jugendlichen zuzurechnen, die sozialen Randgruppen angehören oder aus Familien kommen, die von Armut bedroht sind. Fast ausschließlich weisen sie ein sehr niedriges Bildungsniveau auf (vgl. Pfeiffer 1999). Die offiziell registrierte Jugendgewalt wie auch die Opferzahlen junger Menschen ist seit Mitte der 80er Jahre um mehr als das Dreifache angestiegen. Allerdings hat sich jener Anteil von Jugendlichen, die eine hohe Anzahl von Delikten zugeben, kaum erhöht. Überdies überwiegen verbale Attacken, bzw. in der aktiven Ausübung wie der Opfererfahrung mildere Aggressionsformen. Die Mehrheit der Jugendlichen – in Ost- wie Westdeutschland – ist aber altruistisch und gemeinschaftsorientiert eingestellt, sind 75 % aller Kinder und Jugendlichen überhaupt nicht in derlei Händel verstrickt. Insgesamt kann man also nicht, wenn man den empirischen Befunden Glauben schenkt, von einer dramatischen Zuspitzung der Lage ausgehen. Insofern ist aus ethisch-pädagogischer Sicht ein Balancieren zwischen Nicht-Dramatisieren und Nicht-Bagatellisieren gefragt, denn es gibt kaum objektivierbare Maßstäbe, wann eine Gewaltsituation als gravierend zu bezeichnen wäre. Die Erziehungswissenschaft kann keine Normen liefern, die klar vorgeben, was zu tun sei, sie vermag allein „Selbstbeobachtungskriterien“ liefern (vgl. Melzer 2000, Tillmann 1999, Schwind u.a. 1999, Lösel u.a. 1999, Schubarth 2000). Ohne eine differenzierte Sicht auf die Dinge werden wir nicht weiterkommen. Insbesondere Scherr (1993, 1994, 1999) wendet sich gegen die gängige Annahme einer unspezifischen Gewaltbereitschaft, die einer speziellen Täterpersönlichkeit zuzurechnen sei, frei nach dem Motto: Schlechte Verhältnisse machen schlechte Manieren. Die Vorstellung radikalisierter arbeitsloser Jugendlicher entspricht wohl eher einem bürgerlichen Vorurteil als G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 141 dass es einer empirischen Überprüfung standhielte. Die Jugendlichen aber, die sich für schäbig bezahlte Lohnarbeit verdingen und dementsprechend vom sozialen Abstieg bedroht sind, dürfen in einer ernsthaft geführten Diskussion ebensowenig übersehen werden wie jene Gewalttäter aus dem linksliberalen Elternhaus. Der asynchrone und rasante Kultur- und Strukturwandel trägt sicherlich dazu bei, dass „Desintegrations- und Verunsicherungspotenziale zunehmen, die Gewalt zu einer wichtigen Option der Bearbeitung solcher Problemlagen werden lassen“ (vgl. Schubarth 2000, 43). Auch bieten Kinder, die in einem restriktiven Klima erzogen werden, am meisten Angriffsfläche für aggressivere Gleichaltrige (vgl. Rostampour, Melzer 1999, 183). Überdies können ein wechselhafter, vernachlässigender und indifferenter Erziehungsstil, autoritäre Eltern-Kind-Beziehungen und machtbetonte Formen sozialer Kontrolle als familieninterne Risikofaktoren für das Auftreten von Aggressivität gelten (vgl. Kühnel, Matuschek 1999, 269). Ebenfalls ist in Klassen, in denen Kinder aus bestimmten Sozialschichten dominant vertreten sind, die Gewalt entsprechend höher oder niedriger – es gibt ein Gefälle von den Gymnasien zu den Förderschulen für Erziehungshilfe und Hauptschulen. „Die bloße Schichtzugehörigkeit als Individualmerkmal lässt jedoch keine Rückschlüsse auf das Gewaltverhalten zu“ (vgl. Melzer 2000, 12).1 Nicht zuletzt die Resilienzforschung belegt, dass die Aufsummierung von Risikofaktoren kein abschließendes Urteil über den Einzelfall zulässt. Es ist nicht ein spezifischer Erziehungsstil im Sinne einer Erziehungstechnik – „wenn man darunter all das verstehen will, was Eltern sagen, wenn sie danach gefragt werden, wie sie ihre Kinder erziehen, worauf sie besonderen Wert legen, wie sie mit Konflikten umgehen, wie sie sie beruhigen, belehren, belohnen, bestrafen (…)“ – der die menschliche Entwicklung entscheidend beeinflusst. Viel stärkere prognostische Relevanz weist die „frühe Beziehungsqualität“ auf, wie sich die Eltern in bestimmten Interaktionssituationen zeigten. Hier gelingt zunehmend ein empirischer Nachweis von signifikanten Zusammenhängen zwischen den frühen Beziehungsqualitäten und Merkmalen der späteren emotionalen und psychosozialen Entwicklung (vgl. Göppel 1997, 279). Defizitäre Sozialisationsbedingungen also pauschal als unmittelbares Verursachungsmoment aggressiven oder delinquenten Verhaltens ins Feld zu führen übersieht den „interaktiven Charakter von Gewaltphänomenen“ (vgl. Scherr 1993, 329). Auch die These vom viel zitierten Zerfall sozialer Strukturen reicht empirisch gesehen als monokausaler Erklärungsversuch vermeintlich zunehmender Gewaltbereitschaft nicht allzu weit. 142 F A C H TA G U N G E N Die damit verknüpfte Annahme, die allgemeine Not zur postmodernen Individualisierung stürze die heutigen Jugendlichen in ein Sinnchaos, löse sie aus traditionellen Familien- und Klassenbanden heraus und liefere sie zunehmender Hilflosigkeit aus, erweist sich aus Sicht einer soziologischen Subjekttheorie als äußerst fragwürdig, vernachlässigt sie doch „wesentlich sozial typische Ereignisse“ wie etwa Erfahrungen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt und ignoriert „die alte Frage nach der sozialen Ungleichheit“, die sich beileibe noch nicht erledigt hat (vgl. Scherr 1994, 176). Ein wichtiger Aspekt gesellschaftlicher Ursachen von Gewalt ist sicherlich mit der Chiffre von der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ bzw. der „Winner-Loser-Kultur“ benannt: ein Drittel gehört zum produktivistischen Leistungskern, dem Rest gelingt es nicht, den Bedingungen gesellschaftlichen Erfolges gerecht zu werden (vgl. Scherr 1993, Pfeiffer, Wetzels 1999). Jugendliche, die zur letzten Kategorie zählen, sind gegenüber akademisch gebildeten Jugendlichen selbstredend benachteiligt. Bei den Sprösslingen des Bildungsbürgertums geht es um Sprachfähigkeit und Einfühlungsvermögen, hier aber wird Gewaltfähigkeit zum Kriterium der Zugehörigkeit zur Altersgruppe. Männliche Jugendliche dieser Gattung machen einen überproportionalen Anteil an der Gruppe registrierter Gewalttäter aus (vgl. Scherr 1999). Die Gewaltbereitschaft dieser jungen Männer ist ein „statistisches Normalphänomen“ (Scherr 1993, 333), es macht wenig Sinn, über eine allgemeine Gewalteskalation zu lamentieren. Schichtspezifische Sozialisationsprozesse spielen also eine gewichtige Rolle für das Auftreten jugendlich-männlicher Gewalt, eine lineare Zuordnung vorzunehmen wäre aber fatal. Zwar müssen wir realisieren, dass in den Klassengesellschaften der Länder der westlichen Hemisphäre eine Dominanz der Mittelklasse existiert, die den Angehörigen der sozioökonomischen Unterschichten die nötigen Mittel zur Erreichung der von ihnen definierten kulturellen Ziele versagt. So fühlen sich die Jugendlichen der Unterschicht zwar an die Mittelklassennormen gebunden, sie erleben aber gleichzeitig immer wieder Versagungen, Beschränkungen und die Unmöglichkeit, die vorgegebenen Ziele zu erreichen (vgl. Rauchfleisch 1999, 20 ff). Aber dissoziale Eigenschaften sind nichts Statisches. Sie stehen für einen dynamischen Entwicklungsprozess, an welchem nicht nur das betroffene Individuum, sondern auch die Gesellschaft beteiligt ist.2 Zur Frage der Entstehung von Gewalt gibt es heute zahlreiche, oft konkurrierende Theorieansätze (vgl. Schubarth 2000, 64 f, Martin 1999, 21 ff). U.a. wird wie folgt argumentiert: G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 143 ■ Aggression entsteht reaktiv durch Frustration (Frustrationstheorie), ■ Aggression beruht auf Lernvorgängen (Lerntheorie), ■ Aggression erfolgt auf der Basis eines Aggressionsmotivs als Folge der Interaktion von Person und Situation (kognitive Motivationstheorie), ■ Aggression ist der Versuch, ein bedrohtes Selbst zu schützen (psychoanalytische Theorie), ■ Aggression ist die Folge biologischer Vorgänge im Organismus (soziobiologische Theorie), ■ Aggression ist abhängig vom kognitiven, moralischen und psychosozialen Entwicklungsstand (entwicklungspsychologischer Ansatz), ■ Aggression ist die Folge von Modernisierungs- und Desintegrationsprozessen (Individualisierungstheorie), ■ Aggression ist eine Form „produktiver Realitätsverarbeitung“, Nichtanpassung von Kompetenzen und gesellschaftlichen Anforderungen (sozialisationstheoretischer Ansatz). So plausibel sich das mitunter auf den ersten Blick anhört, so problematisch wird es aber, wenn man sich die jeweiligen Konsequenzen für die Prävention anschaut. Da wird verlangt nach – der Kanalisierung der aggressiven Impulse, – der Verstärkung erwünschten Verhaltens, – Entspannungsübungen, – Herauslösen aus antisozialen Gruppen, – der Förderung von Partizipation, – der Vermeidung von Etikettierung, – dem Abbau patriarchalischer Strukturen, – einer gerechteren Chancenverteilung, ohne dass geklärt wäre: Geht das überhaupt? Welche Persönlichkeitsdeformationen stehen einem solchen Programm entgegen, wird hier nicht Sozialpädagogik mit Sozialpolitik verwechselt, was sind letzten Endes die implizit wirkenden normativen Vorstellungen der Pädagogen, die solche Modelle entwerfen? Damit wird es nötig, einen Blick auf die jeweiligen anthropologischen Vorannahmen zu werfen, die mehr implizit als explizit die Theoriebildung bestimmen. Mit Heinrich Roths These, dass der Mensch ein sowohl aggressionsfähiges wie erziehungsbedürftiges Wesen ist, kann man noch allemal konform gehen (vgl. Martin 1999, 84 ff). Was aber folgt aus 144 F AC H TAG U N G E N dieser Erkenntnis? Muss die Tatsache, dass die aggressiven Tendenzen kulturell überformt werden können, zwangsläufig dazu führen, zu verstärkter Verhaltenskontrolle durch rigide Regelsetzung zu greifen? Muss also am Ende Erziehung in erster Linie als Gegenwirkung zur Eindämmung des Aggressionspotenzials gedacht werden? Wird da nicht der Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben? Umgekehrt gibt es kein kleineres Problem: Die Wertschätzungsphilosophie eines Carl Rogers geht vom Guten im Menschen aus, davon, dass man dies dem Heranwachsenden nur spiegeln müsse, damit es wachse. Ist es aber nicht unabdinglich für jeden gelingenden Erziehungsversuch, dass man dem Kinde, wenngleich wohldosiert, Versagungen zumutet? Das aber heißt oft Konflikt, Wut und Vernichtungsphantasien auf beiden Seiten. Wenn Aggressionen in diesem Dialog keinen Platz finden, kann man nicht lernen, sie allmählich so zu internalisieren, dass sie weder sadistisch noch selbstzerstörerisch agiert werden müssen. Mit gelingender Erziehung meine ich jenen Vorgang, bei dem Bindung und Autonomie in ein austariertes Verhältnis zueinander gesetzt sind: Keiner der Beziehungspartner sollte den anderen über Gebühr dominieren wollen, wohl aber sollte man sich, wie es Martin Buber (1925) ausdrückte, zeigen vor dem Kind und sich nicht durch ein Phantom vertreten lassen. Gelingende Erziehung nenne ich es, wen es einem Heranwachsenden ermöglicht wird, sich mit seiner mangelhaften Ausstattung zu versöhnen und ein befriedigendes persönliches und soziales Leben zu leben. Die anthropologische Grundfrage zentriert sich nämlich meines Erachtens um den Punkt, dass wir Menschen stets pendeln zwischen Größenphantasien, was wir alles zustande brächten, und tiefen Selbstzweifeln und Ängsten. Beide Regungen können Anlass mannigfaltiger aggressiver Durchbrüche sein. Der Mensch kompensiert seine natürlichen Schwächen, indem er Werkzeuge gebraucht, sich Institutionen, Sitten und Künste schafft und die Eingebungen und Erfindungen seines Geistes nutzt. Es gehört allerdings auch zur Widersprüchlichkeit des Humanen, dass aus der Erfahrung des Mangels oftmals ein wütendes Aufbäumen gegen das Unvermeidliche und damit ein Hang zur persönlichen Überschätzung resultiert. Der Mensch legt all sein Streben in die Begierde, die physische wie psychische Unzulänglichkeit, die vielfältige Abhängigkeit in seiner Phantasie dadurch ungeschehen zu machen, dass er sich künstliche Mächte schafft – er strebt nach Reichtum, Einfluss, Größe. Und also versucht er, sich die Natur wie seinen Nächsten untertan zu machen, und das Dilemma ist, dass es ihm immer besser gelingen will. Zwar wird er von seinen Idealen geleitet, G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 145 aber mehr noch von seinem Ehrgeiz getrieben. Denn die menschliche Aggression ist dann am gefährlichsten, wenn sie von der Kraft der eigenen Grandiosität gespeist wird (vgl. Kohut 1975, 146 ff). Die Existenz der Aggression beim Menschen ist ursprünglich als gesundes Potenzial anzusehen. Nicht zuletzt seine Willens- und Schaffenskraft hat dort ihren Ursprung. Dass sie aber zuweilen aus dem Ruder läuft zeigt, wie wichtig es gerade aus pädagogischer Sicht ist, sich über die Hintergründe und Motive bestimmter Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale eingehender Gedanken zu machen. Eine anthropologische Selbstversicherung über die heimlichen Motive unseres Tuns, eine ethische Kritik, ein philosophisches Sinnieren unterbleiben aber zusehends in einer Zeit, die an erster Stelle den Zugewinn, die Lustmaximierung als ihr Ziel nennt. Wie immer wir die Dinge zu sehen belieben: Der Mensch ist und bleibt ein Mängelwesen, und dennoch oder gerade deshalb verfügt er über Kultur und Bildung. Kultur und Bildung sind ihm, dem instinktarmen Tier, zur zweiten Natur geworden. Und just hier taucht immer wieder ein pädagogischer Grundkonflikt auf: Bedarf es der Zucht und Disziplinierung, die wuchernde Triebnatur des Menschen im Zaum zu halten (vgl. Scheuerl 1992)? Oder haben anstelle jener pessimistischen Anthropologie eher jene Auffassungen recht, die wir schon in der Antike finden und die weniger die Mängel als seine besonderen Werte betonen, mit denen der Mensch von Hause aus ausgestattet sei? Ist also der Mensch, jener erste Freigelassene der Schöpfung, wie es bei Herder heißt, zum Kulturwesen prädestiniert, und oberste Pflicht der Pädagogik sei es, diese Werte ans Licht zu bringen, den zu Erziehenden also nicht einzuengen, sondern darauf zu hoffen, dass sie sich gleichsam von alleine entfalten? Mit Kants Worten ließe sich fragen: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwang?“ Denn die Erziehung des Menschen bewegt sich zwischen Strenge, Repression, Anpassung und Unterwerfung auf der einen, Vernunft, Freiheit, Humanität und Subversion auf der anderen Seite (vgl. Scheuerl 1992). Damit sind wir endlich beim Thema Erziehung angelangt. Erziehung soll dem Menschen zu Mündigkeit und Emanzipation verhelfen. Sie soll ihn befähigen, gestützt auf kritisches und selbstständiges Denken und Urteilen sowie Sinnorientierung, sein Leben so weit es geht, selbstbestimmt, vernünftig und verantwortlich zu führen. Weiterhin soll sie ihm die Ablösung aus jenen gesellschaftlich verursachten Abhängigkeiten gestatten, die subjektiv als übermäßige und unzulässige Einschränkung der eigenen Freiheits- 146 F A C H TA G U N G E N grade erscheinen (vgl. Gerspach 2000, 19 ff). Beides scheint unabdingbar an eine gewaltfreie Form von Pädagogik geknüpft. Gleichwohl tun sich hier mehrere Dilemmata auf: Zunächst gilt für Eltern wie professionelle Pädagogen gleichermaßen, dass Erziehung heute von einer abgründigen Destabilisierung heimgesucht ist. Die Auflösung sozialer, kultureller und moralischer Vorstellungen und Verhaltenssicherheiten wirkt sich auf die Erziehungsabsichten besonders dramatisch aus. Wer noch immer vorgibt, sich in seinem Handeln auf gesichertes pädagogisches Wissen stützen zu können, verliert an Glaubwürdigkeit. Weil eben die Mehrdeutigkeit und Unschärfe des Erzieherischen den Verlust jeglicher Klarheit heraufbeschwört, die den Menschen im Grundsätzlichen betrifft, gilt: Wir können den Erziehungsprozessen keinen überzeitlichen Sinn ,an sich’ zuerkennen, sondern sind gehalten, dem Sinn einer ethisch legitimierbaren Pädagogik nachzugehen. Hier deutet sich eine Dimension an, die weit über eine rein wissenschaftliche Bearbeitung hinausweist – das Ganze der Pädagogik hat einen wissenschaftlich nicht einholbaren Sinn (vgl. Mollenhauer 1991). Darüber hinaus bleiben wir stets einem Paradoxon verhaftet, auch und gerade, wenn uns die Suche nach dem Sinnhaften in der Pädagogik antreiben mag: So soll Mündigkeit G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 147 in einem Prozess erreicht werden, der zunächst die Unmündigkeit des Heranwachsenden zum Gegenstand hat, vor allem soll das erzieherische Herrschaftsverhältnis Vertrauen und Zuneigung ermöglichen (vgl. Lotz 1991). Hier zeigt sich eine große Schwierigkeit: Erziehung beinhaltet per se ein Abhängigkeitsverhältnis, das, wird es vom kleinen Kind endlich realisiert, immense Wut auslöst: Es erkennt schmerzlich, dass es auf die Liebe der physisch und psychisch überlegenen Eltern angewiesen ist und sie also schützen muss vor seinen zerstörerischen Phantasien; und es sieht, was es im Vergleich zu ihnen alles nicht kann, was wiederum Anlass einer mächtigen narzisstischen Kränkung ist, aus der sich erneut eine Menge Aggressionen speist. Umgekehrt ist das Kind auf Grund eben dieser mangelhaften Ausstattung anfällig für seelische Verletzungen, die ihm nur allzu oft von Seiten der Erwachsenen zugefügt werden. Aber selbst wenn die Eltern sehr liebevoll und empathisch mit ihrem Kind umgehen, lässt sich eben diese Ungleichheit nicht verleugnen. Die Kränkung ist da und bleibt erhalten. Sie macht Wut, und eine gewaltfreie Erziehung ist vielleicht die zu nennen, die es schafft, dem Kind einen sozial verträglichen wie subjektiv gedeihlichen Umgang mit seinen zerstörerischen Impulsen zu ermöglichen. Allerdings müssen wir einrechnen, dass Erziehung eine recht unzuverlässige Angelegenheit ist: Wie gerne wird sie unter Druck ausgehebelt, können Menschen in bestimmten Situationen zum Tier werden. Ethik und Vernunft sind eben deshalb seit den Tagen der Aufklärung programmatischer Auftrag, das Triebhaft-Bestialische, zu dem der Mensch sich hinreißen lassen kann, in soziale Formen zu gießen und also zu bändigen. Jüngst hat Zygmunt Baumann in seiner „Postmodernen Ethik“ (1995) indessen darauf hingewiesen, dass die Rationalität selbst es war, die Gewalt gegen jene Lebensformen legitimiert hat, die mit ihrer Hilfe als minderwertig eingestuft wurden. Sie ist ein zweischneidiges Schwert, wie nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um die Bioethikkonvention zeigt, wo unter der Hand behindertes Leben zur Disposition gestellt ist. Ethik ist zur gesetzlichen Regelung erstarrt, die die Verantwortung des individuell Moralischen auf dem Wege einer allumfassenden Bürokratisierung und Rationalisierung suspendiert hat. Insofern versteht Baumann den Holocaust als ein Projekt der Moderne, das den Einzelnen für sein Tun persönlich nicht mehr haftbar macht. Die Postmoderne schließlich hat alle großen religiösen und ideologischen Erzählungen zu Grabe getragen und damit endgültig jede individuelle Verantwortungsethik verabschiedet. Allein eine Re-Institutionalisierung persönlich zu tragender moralischer Verantwortlichkeit wäre 148 F AC H TAG U N G E N aber der Ausweg, denn, so Baumann, das moralische Gewissen ist „nur betäubt, nicht amputiert worden“ (S. 371). Seit Adornos Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ (1966) sind wir aufgefordert, jede Debatte über Erziehung so zu gestalten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole. Weil aber die Zivilisation selbst das Antizivilisatorische – eben die Gewalt – hervorbringt, ist dies ein fast unmögliches Unterfangen. Es sei denn, man lässt die Angst zu, wie es Adorno fördert. Erziehung soll nicht hart gegen sich selbst machen und damit Gewalt legitimieren, sondern gestatten, dass man die eigene Angst nicht verdrängen muss. Allein dadurch kann manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewusst verschobenen Angst gemildert werden. 2. Der Einfluss struktureller Gewalt auf die Erziehung Dennoch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Erziehung einen kleinen Beitrag leisten kann zur Frage, auf welche Weise dem Menschen ein „gekonnter Umgang mit Aggression“ möglich werde, um sogleich eine Formulierung von Mitscherlich einzuführen. Mitscherlich unterscheidet ungekonnte von gekonnter Aggressivität (vgl. 1969, 90). Erstere meint den regressiven zerstörerischen Durchbruch, letztere eine verfeinerte Form, die sich als ziel- oder sachgerechte Aktivität zu artikulieren versteht. Mitscherlich gehörte zu jenen Humanwissenschaftlern, die sich Ausgangs der 60er Jahre um die einschüchternden Erziehungsmomente des modernen Industriezeitalters bekümmerten. In Zusammenhang mit der neu entstehenden technisch-industriellen Umwelt ist danach ein Adaptationszwang aufgekommen, verbunden mit einem beträchtlichen Aggressionsüberschuss sowohl auf der Ebene des Gruppenverhaltens wie auf jener des individuellen Lebens. Vor allem in den Ballungsräumen der technischen Umwelt entsteht ein „bedrängendes Gefahrenmoment für das innere Gleichgewicht des einzelnen“ (vgl. 1969, 84). Das Selbst gerät in die Zwickmühle innerer Triebspannungen und einer äußeren Realität, die die gesellschaftliche Bewegung hin zur Industrialisierung durch „seelische Konfektionierung“ ergänzt. Mitscherlich folgert: „Es ist keine böse Absicht, wenn Mütter und Väter heute den Kindern nur mangelhafte Identifikationsmöglichkeiten bieten, vielmehr hängt dieser Mangel mit dem gesamtgesellschaftlichen Prozess des Übergangs von einer technisch-revolutionären Veränderung der Umwelt in eine andere zusammen“ (S. 97). G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 149 Begonnen mit dem Unsichtbarwerden der Väter und ihrer öffentlichen Entmachtung, den rapiden Veränderungen in der unmittelbaren Umgebung schon des Kleinkindes, der damit gesetzten affektiven Überforderung der Leistungsfähigkeit auch der Mütter wird es offenbar immer schwerer, verlässliche innerfamiliale wie gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die noch die Fähigkeit tradierten, Frustrationen und Triebaufschub zu ertragen, es sei denn, man bediene sich rücksichtloser Unterdrückungsmechanismen. Gehorsam ist aber ein schlechter Lehrmeister. Schon damals konnte Mitscherlich aufzeigen, dass eben deshalb die Triebbeherrschung misslingt, weil die nachwachsende Generation – nicht zuletzt unter Verwertungsgedanken – dazu verführt wird, gerade solche Triebe ungezügelt auszuleben, die im offiziellen gesellschaftlichen Wertekodex gleichzeitig abgewertet sind. Und auch wenn Aggressionsmeisterung eine der wichtigsten Aufgaben ist, deren „Erfüllung Erziehung und kollektive Bräuche übernehmen“ sollen, so wissen wir doch, „dass die Gesellschaft periodisch ihren Mitgliedern die Erlaubnis zur grausamen Unterdrückung und zur Tötung von Artgenossen, die zu tödlichen Feinden erklärt werden, gibt“ (S. 113). Insofern atmet Erziehung immer ein wenig „Kulturheuchelei“: „Manche Mörder haben zur falschen Zeit am falschen Platz gemordet“ (S. 115). Mitscherlichs Ausführungen verstehen sicher noch immer zu polarisieren. Vor allem der viel zu früh verstorbene Klaus Horn, damals Mitarbeiter am Frankfurter Sigmund-FreudInstitut, hat seine Thesen noch radikalisiert. Horn wendet sich gegen eine Psychologie, die den „gesellschaftlichen Einzelnen zum Ausgangspunkt des Redens über Gewalt“ mache und fortan den gesellschaftlich produzierten Gewaltzusammenhang verschleiere (vgl. 1996, 99). Vielmehr sei Gewalt als strukturelles ein gesellschaftliches Problem, und daher müsse es primär um eine „Analyse des Gewaltzusammenhanges zwischen Sozialstruktur und subjektiver Struktur“ gehen (S. 107). Und er folgert, dass das entscheidende Gewaltverhältnis des organisierten Kapitalismus nach wie vor die private Aneignung des Mehrwertes sei. Als logische Konsequenz ergibt sich mit Horn, dass die Frage nach einer rationalen, und das heißt letzten Endes: gewaltlosen Erziehung „nicht von der nach der vernünftigen Einrichtung der Gesellschaft getrennt“ werden kann (vgl. S. 25). Diese Aussagen entbehren auch heute nicht einer gewissen brisanten Aktualität. Indessen sei an dieser Stelle eine leise, kritische Bemerkung eingewirkt. Lag die Betonung dieser Zeitspanne auf dem sozialen Einfluss, dem sich der Heranwachsende ausgesetzt sah, so erfreut sich heute die Hervorhebung der genetischen Disposition wieder zuneh- 150 F AC H TAG U N G E N mender Beliebtheit. Wir erleben derzeit eine massive Rebiologisierung menschlicher und vor allem sozialer bzw. politischer Angelegenheiten. Alles scheint genetisch vorherbestimmt, der Mensch wird bald gänzlich seiner Entscheidungs- wie Erkenntnismöglichkeiten beraubt, so als ob sich das Zeitalter der Aufklärung dem Ende zuneige. Selbstredend gilt es anzuerkennen, dass es physikalisch-chemische Informationen gibt, die das menschliche Leben im Sinne von „Erbfaktoren“ genetisch codieren, nicht zuletzt um Erziehung vor überhöhten Erwartungen zu schützen. Aber die vielfältigem Kulturund Zivilisationsprozesse der Moderne mit ihrer immensen Wissens- und Technologieakkumulation haben dem Humanen eine Dispositionsvielfalt beschert, die jede genetische Determination zu überschreiben in der Lage ist (vgl. Treusch-Dieter 1996). Foucault schreibt: „Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht“ (1977, 171). Wir wissen schon lange, dass der Mensch nicht das rationale Wesen ist, für das ihn die Behaviouristen gerne gehalten hätten. Allein Freuds Erkenntnis vom Unbewussten und von der Macht der Affekte hat uns den komplexen Zusammenhang von Physiologie und Ratio vor Augen geführt. Psychoanalyse bedeutet Ernüchterung, weil sie unserem Ich offenbart, wie es an die Grenzen seiner Macht stößt. Das Ich ist nicht „Herr in seinem eigenen Haus“ (vgl. Freud 1917a). Diesbezüglich schätzt Lorenzer an Freud, dass er beziehungspsychologische Bedeutungen und neurophysiologische Vorgänge zusammendachte: „Psychoanalyse ist Naturwissenschaft und zugleich auch Analyse von Sinnstrukturen“ (1986, 1061). Aggressionen sind animalische Relikte, und sicherlich gibt es genetische wie phylogenetische Dispositionen, die z.B. auch geschlechtsspezifische Unterschiede aufweisen. Rein stammesgeschichtlich gesehen liegt die Vermutung nahe, dass Männer und Frauen in der Tat auf äußere Gefahren anders reagieren mussten. Während beim Angriff kriegerischer Horden die Männer getötet oder weggejagt wurden, wurden Frauen als Beute verschleppt. Es diente dem Überleben der Art, wenn Kleinkinder und Frauen diese Angriffe heil überstanden. Also mussten Frauen sich eher gefügig verhalten. Hier finden wir womöglich ein weibliches Erbe vor, auf seelische Belastungen anders zu antworten, als dies Männer tun, die in der Regel eher Aggressionen mobilisieren (vgl. Perry u.a. 1998). Ich denke, dass wir solche Überlegungen auf die unterschiedlichen Sozialisations- und Interaktionserfahrungen von Jungen und Mädchen beziehen müssen, um zu plausiblen Schlussfolgerungen zu gelangen. Denn schon mit männlichen Neugeborenen wird in der Regel anders herumgetollt. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 151 Der Mann als Sammler und Jäger richtete schon in der Vorzeit sein Interesse mehr nach außen und musste gegebenenfalls aggressiv auftreten dürfen. Die Frau als Hüterin des Heims und des Nachwuchses konzentrierte sich mehr auf das Innere. Auch mag es angehen, dass phylogenetisch betrachtet Männer mehr aggressives Potenzial benötigten: Sie mussten sich auf einen intrasexuellen Wettkampf mit ihresgleichen einlassen, schließlich können Männer viele Kinder zeugen, Frauen nur eine begrenzte Zahl von ihnen austragen (vgl. Euler 1999, 202 ff). Daraus aber global einen nicht vorhandenen familialen Sozialisationseinfluss abzuleiten, halte ich für fragwürdig. Dies kann nur dann als stimmig bezeichnet werden, wenn ich mich eines naiven Begriffes von Erziehung bediene. Wenn ich also von unmittelbar umgesetzten pädagogischen Absichten ausgehe – etwa nach dem Motto: repressive Erziehung macht Aggressionen, nicht repressive Erziehung verhindert sie – und ich dies über reine Verhaltensbeobachtung zu verifizieren oder falsifizieren suche. So einfach ist es zum Glück nicht. Hüten sollten wir uns vor einer lerntheoretisch verkürzten Sichtweise, so als sei Erziehung identisch mit einer elterlichen Instruktion, die in einem 1 : 1 - Verhältnis ihre Wirkung erziele. Auch die Idee pädagogischer Vorbilder, die das Kind imitiere, trägt nicht viel weiter (vgl. Bandura 1979, Euler 1999). Denn Welterkenntnis wie Selbsterkenntnis entspringt einem eigenständigen inneren Konstruktionsprozess, der sich vor dem Hintergrund von Erziehungsvorgängen abspielt (vgl. Piaget 1975, Leber 1995). Jedes heranwachsende Kind ist unabhängig von seinen Erziehungserfahrungen einem gewaltförmigen Anpassungszwang ausgeliefert, der die Dialektik äußerer Realität und innerer Reifungsprozesse geschuldet ist. Nach und nach entsteht daraus ein intelligenter Organisationszusammenhang, der es ihm auf immer komplexerer Ebene gestattet, systematische Verknüpfungen herzustellen, Handlungsschemata aufzubauen und Handlungen operational auszuführen. Dabei muss das Kind imstande sein, der ihm durch die aufgegebenen Rätsel aufbrechenden Verunsicherung standzuhalten und sein Gleichgewicht auf höherer Ebene neu zu finden. Dazu bedarf es eines gedeihlichen Erziehungsmilieus, welches von einer befriedigenden Beziehungserfahrung getragen wird, die Halten und Zumuten in ein austariertes Verhältnis setzt. Damit ist eine komplementäre Beziehung gemeint, in der vor allem das ganz junge Kind die Erfüllung seiner Bedürfnisse und die Entlastung von bedrängenden Erlebnissen „erwartet“. Der Erwachsene braucht also die Fähigkeit, zu erspüren, was das Kind z.B. gerade mit seinem Schreien meint und was es unmittelbar braucht. Daraus entwickelt 152 F AC H TAG U N G E N sich unter günstigen Bedingungen eine haltgebende Beziehung, ein fördernder Dialog, der weit über das Babyalter hinausreicht und dem Heranwachsenden hilft, innere wie äußere Spannungszustände zu ertragen und zu bewältigen (vgl. Leber 1988). So lernt der Mensch, unangenehme und bedrückende Affekte in sein Selbst-Erleben zu integrieren, ohne sich ihrer mittels gewaltsamer Übergriffe auf andere entledigen zu müssen. Ohne Zweifel kommt den biologischen Vorgaben eine gewichtige Bedeutung für das individuelle Schicksal zu. So entwickelt sich das Selbsterleben von Jungen und Mädchen unter dem Eindruck der eigenen Körperlichkeit und Psychosexualität unterschiedlich (vgl. Mertens 1994). Die infantile Sexualtheorie über den Besitz oder Nichtbesitz eines Penis, die von kleinen Kindern auf Grund ihrer kognitiven Unreife aufgestellt und im Grunde das ganze Leben über als Wahrheit genommen wird, entscheidet zudem nicht unerheblich über den Verlauf der persönlichen Geschichte und den dazugehörigen Umgang mit den eigenen Aggressionen. Allerdings geraten auch jene inneren Prozesse rasch unter den Einfluss gesellschaftlicher, d.h. vor allem patriarchalischer Lebenspraktiken. Das Schicksal biologischer Anlagen ist eben eng verkoppelt mit gesellschaftlich zugestandenen Lebenspraktiken („Jungen weinen nicht, Mädchen sollen brav sein“) bzw. innerfamilial erlebten Beziehungsformen, die sich selbst wieder brechen an gesellschaftlichen Adaptationszwängen, die oft mehr unbewusst als bewusst in die erziehenden Subjekte einsickern. Unter den gegenwärtig herrschenden Besitz- und Produktionsverhältnissen mit ihren umspannenden Technologisierungs- und Globalisierungtendenzen erleben wir eine zunehmende anonymisierte Enteignung der Subjekte von ihrer Subjektivität. Sie werden zu einer immer entfremdeteren Form der Anpassung an die Gesetze des Marktes gezwungen, ohne dass ihnen dieser Akt der Selbstpreisgabe noch wirklich ins Bewusstsein dränge, zumal offene Formen gewalttätiger Unterdrückung eher der Vergangenheit angehören und im Zuge der sogenannten Individualisierung und Pluralisierung jedem vorgemacht wird, er allein sei seines Glückes Schmied. Um also zu einigermaßen plausiblen theoretischen Annahmen über das Aggressive im Menschen zu kommen, die der Komplexität des Themas wirklich gerecht würden – aus denen wiederum eine angemessene praktische Konsequenz zu ziehen wäre – müssen wir uns folglich von der einzelnen Person weg und dem Begriff der Begriff der strukturellen Gewalt zuwenden, der sich rein biologistischen Auffassungen menschlicher Angelegenheiten aufs effektivste zu entziehen weiß. Ich meine damit jene gewaltförmigen Einwir- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 153 kungen auf den Einzelnen, die sich aus der Eigendynamik der herrschenden ökonomischen Gesellschaftsform speisen. Vor dem Hintergrund eines Wirtschaftssytems, das allem und jedem den Charakter eines Ware zuerkennt, die zu Markte getragen wird, gehen die Menschen miteinander verdinglichte Beziehungen ein: „Sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (Marx/Engels Werke Bd. 23, 88). Das Nicht-Wissen führt zu einer Mystifizierung der Warenwelt. Jeder Einzelne wird zum Produzenten seiner Ware Arbeitskraft, und bald verhält er sich zu sich selbst und zu den anderen wie zu einer Ware. Indessen bleibt diese Ökonomisierung zwischenmenschlicher Beziehungen unbewusst, wird dieses Wesen der bürgerlichen Gesellschaft verschleiert. Jenes auf rationaler Kalkulation beruhende Prinzip generiert die Universalität der Warenform sowohl in objektiver wie vor allem auch subjektiver Hinsicht und macht, dass die Selbstobjektivierung des Menschen – sein „Zur-Ware-Werden“ – zum Zeichen entmenschlichter und entmenschlichender Warenbeziehungen wird. Bis hinein in die tiefste physische und psychische Seite des Menschen reicht diese Rationalisierung der Welt: der Verstand selbst wird verdinglicht. Diese Erkenntnis hatte Georg Lukacs (1923) vor bald 80 Jahren. Bezogen auf den umspannenden aktuellen Trend neoliberaler Wirtschaftspolitik darf sie nach wie vor Gültigkeit beanspruchen. Erst jüngst hat Sennett (2000) aufgezeigt, wie der „neue flexible Kapitalismus“ mit seiner auf Kurzfristigkeit ausgelegten Ökonomie tiefsitzende Ängste erzeugt, die den Menschen weit über die Einflusssphäre seines Arbeitsplatzes hinaus heimsuchen. So spüren die Menschen das „Fehlen anhaltender persönlicher Beziehungen und dauerhafter Absichten“ (S. 131). Der Mensch wird zum getriebenen Menschen. Sennett folgert: „Die Gleichgültigkeit des alten klassengebundenen Kapitalismus war grob materiell; die Indifferenz, die der flexible Kapitalismus ausstrahlt, ist persönlicher, weil das System selbst weniger definiert ist, in seiner Form weniger lesbar“ (S. 202). Die Widersprüchlichkeit auf der erzieherischen Mikroebene wird ergänzt und vervollständigt durch ein anwachsendes Widerspruchspotential auf der sozialisatorischen Makro-Ebene. Wir erleben die Gefahr einer wachsenden globalen Entmündigung und Entwertung des Subjekts zugunsten der Funktionsfähigkeit machtvoller Systeme und Organisationen. Der Mensch wird fortschreitend ökonomisch funktionalisiert, was ihn mehr und mehr entwertet, seine Ohnmacht steigert, so dass er am Ende immer störanfälliger – und gewalttätiger – reagiert. Aus Soziologie und Medizin sind hierzu warnende Stimmen zu hören (vgl. Bourdieu 1999, Sigusch 1997). Denn der Mensch als handelndes Agens, als Subjekt, das die Dinge bewegt, erlebt tendenziell, nichts mehr bewirken zu können. 154 F A C H TA G U N G E N Das alles ist strukturelle Gewalt, die auf dem Einzelnen lastet; strukturell deshalb, weil sich ihr niemand entziehen kann, schlimmer noch: weil sie nur mehr wenigen als solche bewusst wird. Wer strukturelle Gewalt erlebt, und geschehe dies auch noch so diskret, der ist nicht frei von der Tendenz, jeden deformierenden Einfluss auf das, was an Regungen und Verhaltensweisen als legitim empfunden wird, zu tradieren. Erdheim sprach diesbezüglich von der gesellschaftlichen Produktion von Unbewusstheit. Jede Kultur gestattet gewissen psychischen Manifestationen den Zutritt ins Bewusstsein und verlangt, dass andere verdrängt werden. „Unbewusst muss all das werden, was die Stabilität der Kultur bedroht“ (vgl. Erdheim 1984, 192 ff). Der notwendig werdende „Prozess der Zivilisation“ verlangt denn auch, weil kollektive und institutionalisierte Verhaltensregelungen ausfallen, nach verstärkter individueller Selbstkontrolle und Disziplin, was durch eine verinnerlichte Moral zu steuern gesucht wird (vgl. Elias 1976). Gleichzeitig erleben wir einen umspannenden Niedergang an moralischer Kultur. Die bis dato ungesühnten kriminellen und semi-kriminellen Machenschaften so manchen law-and-order-Mannes werden einen weit verheerenderen Einfluss auf diesen Verflüchtigungsprozess haben, als bislang offenbar geworden ist. Allerdings ist dieser Prozess der Zivilisation im Zeitalter der Globalisierung entfesselter Marktinteressen, wie Eisenberg es sieht, in ein neues Stadium eingetreten. Die Verdrängung unliebsamer Triebregungen war ehedem der der Akkumulation des Kapitals gemäße Abwehrmechanismus. Die klassische Neurose entstand vor dem Hintergrund einer patriarchalischen Traditionsfamilie, in der der autoritäre Vater mit Macht die Unterwerfung unter sein Realitätsprinzip forderte. Der so Erzogene musste sein ganzes Lebensinteresse „unter Schmerzen in sich begraben“ und es projektiv in jenen verfolgen, die „nicht sichtlich Seinesgleichen sind“ (vgl. Eisenberg 2000a, 2000b). Heute finden wir eher ein Zuwenig als ein Zuviel an Verdrängung und aufgebürdeter Enttäuschung vor. Der flexible Kapitalismus verlangt denn auch, sich vom „analen Syndrom“ zu lösen und traditionelle Hemmungen abzulegen. Denn er bedarf eines allseits verfügbaren und wendigen Menschen, der sich von allen herkömmlichen Bindungen gelöst hat. So kommt es wie es kommen muss: „Unter den Realitätseinbrüchen der Gegenwart ist der familiare Binnenraum zusammengebrochen, die Eltern verblassen zu Statisten“. Viele Gewalterscheinungen bei Kindern Jugendlichen weisen keine Struktur mehr auf, erscheinen motivlos und zweckfrei – gerade im Westen Deutschlands, wo der gesellschaftliche Korrosionsprozess weiter fortgeschritten ist als im Osten, trifft man G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 155 nicht einmal mehr auf eine stichhaltige Begründung; es passiert einfach so. Zwar sind derlei Überlegungen empirisch noch nicht abgesichert, erscheinen jedoch plausibel. Psychodynamisch gesehen lässt sich die (braun eingefärbte) Wut des Autoritären vom frei flottierenden Hass des narzisstisch Gestörten unterscheiden. Dieser richtungslose Hass ist Produkt einer „Erziehungsverwahrlosung“, dementsprechend entlädt er sich individualisiert und ungerichtet. Keine feindliche Triebregung wird damit abzuwehren gesucht. Vielmehr ist er der Reflex auf eine ständig drohende psychische Fragmentierung. Es ist eine ganz und gar archaische Wut, die sich bei der kleinsten narzisstischen Erschütterung Bahn bricht. Die unkonturiert auftretende Gewalt ist das innerseelische Korrelat einer gesellschaftlichen Entfremdung, wo im Zeichen von Beziehungslosigkeit, Indifferenz und Kälte das Selbstgefühl nicht mehr erwärmt wird und jede Innerlichkeit erfriert. Zum einen schwindet das Monopol familiärer wie öffentlicher Erziehung, weil sie sich an der verpflichtenden Weitergabe konsensfähiger Regeln gehindert sieht. Zum andern nimmt die anonymisierte Einwirkung aufs Subjekt in unüberschaubarer Weise zu – abzulesen etwa an der massenmedialen Mediatisierung der Gesellschaft (vgl. Ferchhoff 1994). Damit wird die Stabilität der Kultur selbst bedroht, und das muss zwangsläufig zu einer Labilisierung des Subjekts führen. Der gesellschaftliche Modellierungsprozess des Einzelnen im Sinne der abendländischen Zivilisation verlangt nach einer besonders intensiven und stabilen Regulierung psychischer Prozesse. So führt die Umleitung und Verwandlung von nicht geduldeten Trieb- und Affektäußerungen immer häufiger dazu, dass Zwänge sich in Selbstzwänge umsetzen. Gesellschaftlich akzeptierte Kulturleistungen stehen dann unmittelbar neben seelischen Deformationserscheinungen (vgl. Gerspach 1998, 2000). Allein ein Bildungsverständnis, das ich insofern als subversiv bezeichnen möchte, als es vor allem die Fähigkeit zu selbstreflexivem Querdenken birgt, um damit zu erkennen, inwieweit wir bereits mit dem Virus der strukturellen Gewalt infiziert sind, kann diesen Einfluss tendenziell wieder aufheben. Diese Fähigkeit zu tradieren ist für mich die erste Voraussetzung gewaltfreier Erziehung. Und damit kehre ich zurück zum Verhältnis von biologischen und gesellschaftlichen Einflüssen. Nur wenn wir uns den diskreten und zu großem Teil unbewusst verlaufenden Sozialisationsprozessen zuwenden, werden wir verstehen, wie genetische Disposition und soziale Erfahrung eine je eigene Verbindung eingehen. In diesem Sinne sind Triebschicksale stets Beziehungsschicksale, sind Körperprozesse „in Beziehung zu“ zu sehen 156 F A C H TA G U N G E N (vgl. Lorenzer 1974, 178): „Wirksame Natur ist im Individuum immer schon strukturiert in bestimmten Interaktionsformen, in denen das Nichtidentische mit Gesellschaft in der körperlichen Ausgangslage steckt“ (S. 120). Horn hat es ähnlich gefasst: „Psychoanalytische Sozialisationstheorie hebt das materielle Substrat, das Körperliche menschlicher Natur als eine Größe hervor, die gesellschaftlich (in der Sozialisation) bearbeitet wird und doch in diesen Formen der Bearbeitung nicht aufgeht“ (1974, 168). Wichtig erscheint mir an diesem Punkt, dass die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis wie Selbsterkenntnis, in anderen Worten: zur Reflexion wie Selbstreflexion ihm einen Weg zeigt, sich von biologischen Zwangsläufigkeiten tendenziell zu emanzipieren. Der Mensch ist nicht passives Opfer seiner genetischen Ausstattung, auch wenn diese Annahme heute vielen in den politischen Kram passt, weil sie soziale Ungleichheit aus ihrer politisch-ökonomischen Fassung bricht. 3. Konzept für eine gewaltfreie Erziehung Eingedenk des soeben skizzierten gesellschaftlichen Einflusses auf die Genese des Einzelnen möchte ich dennoch mein Augenmerk weiterhin auf den familialen Mikrokosmos konzentrieren. Ich habe darauf hingewiesen, dass die These einer linearen Zuordnung gesellschaftlicher Risikofaktoren zur Manifestation individueller Gewaltbereitschaft nicht wirklich haltbar ist. Ohne den Blick für den Einzelfall zu schärfen, wird es uns nicht gelingen, zu verstehen, wann sich derartige Probleme tatsächlich einstellen und wann nicht. Und da komme ich nun auf einen zentralen Aspekt zu sprechen, der diesem Beziehungsrahmen sein charakteristisches Gepräge verleiht: Das Erleben des Einzelnen beruht sehr stark auf früh einsetzenden – stimmigen oder nicht stimmigen – affektiven Erfahrungen mit den primären Objekten, und diese Affektabstimmungen haben einen entscheidenden Einfluss auf den Umgang mit dem eigenen aggressiven Reservoir. Sie sind es, die dem heranwachsenden Menschen erste Orientierungshilfen in sozialen Bezügen geben – oder eben zu systematischer Realitätsverzerrung führen mit dem scheinbar einzigen Ausweg, aggressiv bzw. selbstzerstörerisch aufzutreten. Aggression ist eine biologische Reaktionsmöglichkeit, das eigene psychische Selbst gegen (reale oder vermeintliche) Drohungen zu verteidigen. Diese Fähigkeit entwickelt sich nach und nach vor dem Hintergrund intersubjektiver Erfahrungen in den ersten drei Le- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 157 bensjahren. Mehr und mehr gewinnt das Kind in dieser Zeit die Erkenntnis von den mentalen Zuständen in anderen Personen. Wenn die wichtigen unter diesen Personen – in der Regel Mutter und Vater – ohne Einfühlungsvermögen oder feindselig erfahren werden, ist die Erfahrung dieser mentalen Zustände schmerzhaft für das Kind. Seine reflexive Funktion, sich selbst und andere (selbst)kritisch betrachten zu können, wird nur unzureichend ausgebildet. Langfristig kann Aggression zum vorherrschenden organisierenden Einfluss beim Aufbau des Selbst werden. Im Grunde obliegt es der Pädagogik, im Rahmen einer Sicherheit gewährenden gutwilligen Beziehung einen intersubjektiven Prozess anzubahnen, der den Rückgriff auf aggressive Reaktionsweisen zu minimieren versteht und so das Selbst stärkt (vgl. Fonagy u.a. 1998, 125). Die Kernfrage lautet: Welche innerseelischen Vorgänge und Repräsentanzenbildungen vom eigenen Selbst und den Objekten3 finden in den frühen Erziehungsprozessen statt und welche Persönlichkeitsstrukturen werden in der Folge ausgebildet? Was hat etwa Gewaltbereitschaft mit dem eigenen Erleben zu tun? Ich möchte nun die Hintergründe für einen fürsorglichen Erziehungsrahmen schildern bzw. die Auswirkungen eines inkonsistenten frühen Milieus auf das kindliche Erleben umreißen. So können wir spätere problematische Verhaltens- und Verarbeitungsweisen besser verstehen. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass eine hinreichende bzw. unzureichende Auseinandersetzung mit der Umwelt und die (Un-)Fähigkeit, stimmige Objektbeziehungen einzugehen, in erster Linie auf dem jeweiligen Charakter der frühen Erfahrung beruhen (vgl. Gerspach 1997). Eine unzureichende Auseinandersetzung wäre jene, bei der es zu keiner angemessenen Konfliktregulierung im Sinne einer zulässigen Sozialverträglichkeit kommt. Am Ursprung vieler dissozialer Entwicklungen stehen „verinnerlichte pathologische frühkindliche Objektbeziehungen“ meist oral-aggressiven Charakters, wie es Rauchfleisch auf Grund seiner langjährigen theoretischen Forschungen und praktisch-psychotherapeutischen Erfahrungen befindet (vgl. 1999, 43). Die emotionale Unzuverlässigkeit der frühen Interaktionspartner schlägt sich später strukturbildend im Subjekt als „Struktur verhinderter Subjektivität“ nieder (vgl. Finger 1977, 155; vgl. auch Lorenzer 1977, 53). Wo die Mutter4 ihrem Kind keinen von gemeinsamer Affektabstimmung getragenen Dialog anbieten kann, bleibt die Interaktion beider leer und äußerlich. So hat die Mutter schon in ihr „imaginiertes Kind“ investiert, bevor es geboren wurde (vgl. Roedel 1986, 130). Nach Mannoni soll das geborene Kind seine Mutter für die Leere der eigenen Kindheit entschädigen (vgl. Mannoni 1972, 23). Durch die fortwährende Begegnung mit dem realen Kind werden die imaginierten Vorstellun- 158 F AC H TAG U N G E N gen der Mutter allmählich ersetzt. Die wachsende Erfahrung mit dem sich zunehmend eigenständig entwickelnden Kind, das Erleben der Differenz von wirklichem und phantasmatischem Kind, ermöglicht der Mutter ein allmähliches Aufgeben ihrer Projektionen (vgl. Mannoni 1980, 101). Ist allerdings die Unfähigkeit der Mutter vorherrschend, in der Beziehung zum Kind von eher primärprozesshaft gesteuerten Beziehungsangeboten zu reiferen, sekundärprozesshaften voranzuschreiten, wird eine Einigung auf eine für beiden Seiten befriedigend verlaufenden Beziehungsprozess verfehlt werden. Primärprozesshaft gesteuerte Beziehungsangebote sind verbunden mit ungehemmt und häufig unvermittelt abfließenden heftigen Affekten, sekundärprozesshafte dagegen beinhalten, dass sich Interaktion über Sprache vermitteln lässt. Die Unbeständigkeit der frühen Interaktionen hinterlässt dann eine Anfälligkeit für narzisstische Kränkungen5, die sich später in der Bereitschaft äußern wird, sich beim geringsten Anlass provoziert und zu einer heftigen Reaktion herausgefordert zu sehen. Unter hinlänglich befriedigenden sozialen Bedingungen kommt es für beide Seiten, Mutter wie Kind, zu einer emotional befriedigenden Interaktion, verbunden mit „guten“ wechselseitigen Phantasien6, die in eine gemeinsame Träumerei einmünden (vgl. Milani Comparetti 1986, Pedrina 1992). So entsteht eine dyadische Verschmelzung der inneren Vorstellungen und Phantasien des einen mit dem Verhalten des anderen Beziehungspartners. Vor dem Hintergrund dieser gedeihlichen Mutter-Kind-Interaktion erwächst auf Seiten des Kindes aus einer zunächst diffusen psychophysischen Welterfahrung eine konturierte Beziehungsfähigkeit zu seinen Objekten. Innerhalb dieses frühen Austausches stellt die Mutter ihrem Kind intuitiv ihre Phantasien und also ihre Welt zur Verfügung. Versteht sie es allerdings auf Grund einer eigenen Empathiesperre nicht, seine nach draußen gerichteten Signale positiv aufzunehmen, bleibt dessen Erfahrungsraum begrenzt, die Umwelt wird zur unklaren, leeren Bedrohung (vgl. Baumgart 1991, 797 ff). Eine zwar physisch anwesende, aber ihrem Kind nur gering verfügbare und zur empathischen Einfühlung unfähige Mutter, wie wir sie immer wieder in problematischen Beziehungsarrangements der Unterschicht und hier insbesondere der Randgruppe antreffen, wird kaum – höchstens mechanisch – auf seine Bedürfnisse eingehen können. Zu seiner affektiven Entlastung ist sie häufig nicht imstande. Die mit dieser G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 159 basalen Einschränkung zwangsläufig gesetzte Urkränkung hinterlässt beim Kind eine jederzeit abrufbereite, dem Gesetz des Augenblicks unterworfene Bereitschaft zu aggressiven Eruptionen. Sein absolutistischer, weil stets frustrierter Anspruch ans äußere Objekt lässt sich nicht für eine realistischere Selbsteinschätzung eintauschen, so dass es im Fortgang der Dinge nur noch darum gehen kann, dieses Objekt, wenn auch vergeblich, mit Macht zu beherrschen, um ihm die Erfüllung der ungestillten Wünschen abzutrotzen. Winnicott spricht von der Besorgnis der Mutter für ihr Kind, und er nennt diese Haltung „primäre Mütterlichkeit“ (vgl. 1976, 157). Die „genügend gute Mutter“ versucht, den Bedürfnissen ihres Kindes gerecht zu werden, womit sie seine Ängste bannt und seine Bemühungen um Individuation und Selbst-Werden unterstützt. Im gelungenen Wechselspiel beider kommt es zu einer Einigungssituation, in der sich befriedigende und versagende Momente die Waage halten und sich keiner vom andern dominiert sieht. Wir können in diesem Zusammenhang auch von einer „‘harmonischen Verschränkung’“ von Mutter und Kind sprechen (vgl. Balint 1970, 81). Im wahrsten, physischen Sinne des Wortes garantiert die Mutter das Halten des Säuglings (vgl. Winnicott 1990, 63). Diese mütterlichen Haltungen werden vom Kind verinnerlicht und bilden das Fundament seiner weiteren inneren Differenzierung von Selbst- und Objektrepräsentanzen (vgl. Trescher, Finger-Trescher 1992, 95). Somit habe ich kurz die Umrisse einer gedeihlichen, also gewaltlosen Erziehung skizziert. Gewalt verweist aber zwingend auf die Erfahrung von Hass. Es hängt von den jeweiligen erzieherischen Momenten im Rahmen der frühen Interaktionserfahrungen ab, wie mit diesem Affekt später umgegangen wird, d.h. ob sich Hass sozial verträglich kommunizieren lässt oder ob es beständig zu gewalttätigen Gefühlsdurchbrüchen kommen muss. Nach Auffassung der englischen Schule der Objektbeziehungspsychologie wird die Mutter als das erste Liebes- und Hassobjekt vom Säugling mit aller Kraft geliebt und gehasst. Zuallererst liebt das Kind seine Mutter dafür, dass sie seine Bedürfnisse befriedigt. Verspürt es aber Hunger, fühlt es sich unwohl oder tut ihm etwas weh, so schlägt dieses Empfinden urplötzlich um. Hass und Aggressionen kommen auf. Das Kind ist nun ganz von dem Impuls beherrscht, die Mutter zu zerstören, die doch das Objekt all seiner Begierden ist. Der Hass ist also ein grundlegendes Element der frühen Interaktionsmuster (vgl. Klein 1996, Lazar 1999). 160 F AC H TAG U N G E N Damit das Kind in dieser Zeit lernen kann, seine eigenen wie die ihm entgegengebrachten Affekte und Phantasien zu verdauen, muss die Mutter wie ein Container fungieren und diese Aufgabe zunächst stellvertretend übernehmen. Erlebt das Kind, dass sich die Mutter von seinen destruktiven Affekten nicht zerstören lässt, sondern diese zu containen versteht, wird ihm ein Weg gezeigt, sie unter der Vorherrschaft des verinnerlichten Bildes einer „guten Mutter“ in sein Selbst zu integrieren. So lernt es zunehmend, mit innerlich und äußerlich erzeugten Spannungszuständen autonom umzugehen. Autonomie bedeutet in diesem Sinne, eine klar konturierte Vorstellung von Ich und Nicht-Ich, d.h. von sich selbst und den Objekten, zu besitzen. Damit dieser Prozess von Selbst- und Objektbesetzungen gelingen kann, ist es notwendig, die Trennung vom Objekt zu realisieren. Sie wird zunächst als schwere narzisstische Kränkung erlebt, bedeutet sie doch den schmerzlichen Abschied von den eigenen Größenphantasien. Insofern stimmt es, dass das Objekt im Hass entsteht (vgl. Diebold 2000, 115). Die ersten Regungen des Kindes nennt Winnicott „erbarmungslose Liebe“. Damit ist gemeint, dass das Kind sein Objekt für dessen Befriedigungen ‚liebt’, es aber für die Versagungen ‚hasst’. Dennoch klingt dies befremdend, und Winnicott schränkt ein, dass die Persönlichkeit des Kindes noch nicht genügend integriert ist, als dass man von wirklichem Hass sprechen könnte. Alles, was der Säugling tut, wird noch nicht im Hass getan. Jeder „erbarmungslose Angriff auf das primäre Liebesobjekt“ wird von ihm in der Frühzeit nicht als solcher empfunden (vgl. Stork 1997, 55). Dennoch ist uns hier ein wichtiger Hinweis auf die konstitutiven erzieherischen Momente des Umganges mit Hass- und Gewaltphantasien gezeigt. Das sich entwickelnde Kind „braucht Hass, um zu hassen“ (vgl. Winnicott 1997, 45). Nur so kann es ihm gelingen, diesen Affekt später weder verleugnen oder abspalten noch ausagieren zu müssen. Deshalb befindet Winnicott: „Ich bin der Meinung, dass die Mutter das Baby hasst, bevor das Baby die Mutter hasst“ (1997, 43). Unterliegt dieser Impuls einer zensierenden Kontrolle, entwickelt er eine unbewusste Wirkung, die es beiden erschwert, die wechselseitigen Ambivalenzen angemessen austragen zu können. Das, was das Kind von Anfang an braucht, ist also keine sorgende und frustrationsvermeidende Mutter, sondern eine, die Frustrationen aushält und so zu transformieren versteht, dass sie für das Kind selbst zu bewältigen sind, ohne von übergroßen Ängsten befallen zu werden (vgl. Ermann 2000, 76; Lazar 1988). Ist die Mutter dagegen rein auf harmonische und konfliktfreie Situationen aus, werden von ihr alle Autonomiebestrebungen des Kindes übersehen, „wie auch die mit ihnen verbundene Aggressivität“ (vgl. Stork 1999, 262). G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 161 Gruen (1999) kritisiert, dass in unserer Kultur die natürliche Ambivalenz von Gefühlen nicht wirklich zugestanden ist. Wut, Hass und Ärger gelten als sozial unerwünscht. Im Zuge ihrer Abwehr produziert die gesellschaftliche Ideologie einseitig positive Vorstellungen vom Eltern-Sein. Wird aber eine Mutter vom aggressiven Teil ihrer Gefühlswelt abgeschnitten, hat dies zwangsläufig Auswirkungen auf die Interaktion mit ihrem Säugling und wird diesen in seiner Entwicklung zwangsläufig beeinflussen. Der Säugling spürt aber sehr wohl die ihm entgegengebrachten Gefühle, seien sie bewusster oder unbewusster Natur. So kann es leicht geschehen, dass die Mutter sich von den zerstörerischen Regungen ihres Säuglings bedroht fühlt und sich erschreckt abwendet oder ihrerseits das Kind mit Gewalt verfolgt. Jede Erziehung ist folglich vom Thema Gewalt infiziert. Gewaltfreie Erziehung wäre dann nicht in der Vermeidung von Hassgefühlen begründet, sondern allein in jener Form gültig, die es beiden Interaktionspartnern erlaubt, den Hass zu integrieren, ohne befürchten zu müssen, vom andern zerstört zu werden oder diesen zerstören zu wollen. Gelingt dies nicht in ausreichendem Maße, treffen wir später oft auf gewalttätige Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsstrukturen, die „versuchen, der Erfahrung von Beziehung zu entfliehen“. Es sind Menschen, bei denen aus der unbewussten Phantasie ein wahnhaftes System geworden ist – „als Antwort auf das Bedürfnis, sich von inneren Objekten durch äußere Gewalt zu trennen“. Hier wird der andere auch zu einem Container, aber in dem Sinne, das in ihm projektiv eigene unerwünschte und ängstigende Teile der Selbstrepräsentanzen eliminiert werden sollen (vgl. Perelberg 2000, 4 ff). Wenn Gewalt einer „reinen Abwesenheit von Beziehung“ gleichkommt (vgl. Reiche 2000, 27), dann 162 F A C H TA G U N G E N heißt das, dass gewalttätige Erziehung Beziehungslosigkeit symbolisiert. Sie verhindert, dass aggressive Regungen steuer- und kommunizierbar werden. Für eine gesunde Entwicklung des Kindes, die auch und zuerst die Integration feindlicher Impulse und Phantasien beinhaltet, ist nach Winnicott eine „vollkommene Umwelt“ nötig (vgl. Winnicott 1976, 158), wobei er sogleich eine wichtige Einschränkung vornimmt: Das Bedürfnis nach dieser absolut guten Umwelt relativiert sich sehr rasch, denn die genügend gute Mutter ist gut genug, dass das Kind allmählich lernt, ihre Mängel durch geistig-seelische Aktivität auszugleichen. Winnicott macht unmissverständlich klar, dass der Säugling auf eine mütterliche Fürsorge angewiesen ist, „die nicht auf dem Verstehen dessen beruht, was verbal ausgedrückt wird oder werden könnte, sondern auf mütterlichem Einfühlungsvermögen“ (1990, 51). Unter diesen Voraussetzungen kommt es zu gemeinsam geteilten euphorischen Zuständen von Mutter und Kind. Kohut weist darauf hin, dass dem primären Objekt insofern Wichtigkeit zukommt, als es „eingeladen ist, an der narzisstischen Lust des Kindes teilzunehmen und sie auf diese Weise zu bestätigen“. Das Kind benötigt die „narzisstische Speisung von Seiten der Mutter“, um sich in seinen Aktivitäten in den Reifungsphasen bestärkt zu sehen (vgl. Kohut 1975, 149). Sind diese mütterlichen Phantasien also ‘gutartig’, wird sich ein gedeihliches Wechselspiel ergeben. Im Rahmen dieses sich entwickelnden Dialoges wird es dem Kind immer besser gelingen, seine Hassgefühle so ins eigene Erleben zu integrieren, dass sie selbstreflexiv betrachtet werden können (vgl. Winnicott 1997). Ist dagegen die Mutter auf Grund eines uneingestandenen Ambivalenzkonflikts oder ihrer basal eingeschränkten Fähigkeit, gerichtete Phantasien über ihr Objekt ‘Kind’ zu entwickeln, nicht imstande, sich auf einen angeregten affektiven Dialog einzulassen, wird auch die Lust des Kindes zum Phantasieren geschmälert. Der erste Fall träfe etwa auf die Geburt eines behinderten Kindes zu, der zweite auf den Umstand, dass die Mutter selbst massive defizitäre Sozialisationserfahrungen, die bereits durch einen konsistenten Mangel an gemeinsam geteilter Begeisterung gekennzeichnet waren, erlebt hat. Jedesmal verarmt das Kind innerlich. Es spürt den Widerstand der Mutter und muss ihn zwangsläufig auf sich beziehen. Insbesondere, wenn wir diesem wechselseitigen Zur-Verfügung-Stellen von Phantasien, diesem unbewussten Dialog von Mutter und Kind, welcher für die Identitätsbildung des Kindes entscheidend ist, unsere Aufmerksamkeit schenken, eröffnet sich uns ein Weg zur dialogisch vermittelten Genese dessen, was wir später Persönlichkeit nennen. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 163 Bleibt das grandiose kindliche Selbst in seinem exhibitionistischen Drang ungesättigt, entsteht grenzenlose narzisstische Wut. Werden dem Kind in dieser Zeit seine elementaren Bedürfnisse nicht ausreichend gespiegelt und ist die Mutter nicht imstande, sich in seine Gefühle und Stimmungen empathisch einzufühlen, entsteht Angst vor Vernichtung. Die Integration libidinöser und aggressiver Strebungen, das heißt die Umwandlung des Narzissmus misslingt. Als Abwehr gegen diese Angst vor Vernichtung werden primitive Aggressionen mobilisiert. Das „Böse“ wird abgespalten und projektiv zum Merkmal eines äußeren Feindes verfremdet, den es jetzt mit Rachgelüsten zu verfolgen gilt. Die „narzisstische Wut versklavt das Ich“ (vgl. Kohut 1975, 235). Aus dieser basalen Ich-Einschränkung erwächst später die tiefe Unfähigkeit, sich auch nur ansatzweise in die Person einfühlen zu können, gegen die sich die eigene Wut richtet. Ein stark agierendes Verhalten, zu dem notabene auch jene diffuse Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen zu zählen ist, wird von dissozialen Menschen häufig zur „Reparation narzisstischer Krisen“ eingesetzt (vgl. Rauchfleisch 1999, 66). Gerade in der Adoleszenz bekommen Aggression und Omnipotenz eine neue Bedeutung. Winnicott schreibt dazu: „Der vierjährige Junge (…) träumt vom Tod seines Vaters, aber jetzt, mit vierzehn Jahren, hat er die Möglichkeit, zu töten. (…) Das Mädchen, das mit vier Jahren mit seiner Mutter identifiziert war, aber auch eifersüchtig auf die Empfängnisfähigkeit der Mutter, (…) kann jetzt, mit vierzehn Jahren, schwanger werden oder seinen Körper für Geld feilbieten“ (Winnicott 1990, 321). Durch den nun wirksam werdenden Triebschub öffnet sich der Jugendliche seinen frühkindlichen Ängsten und Wünschen (vgl. Schröder 1993, 104), und daher kann es immer auch zur Reaktivierung narzisstischer Kränkungen kommen. Erdheim folgert aus diesen Umständen, dass Möglichkeit und Wirklichkeit, Wunsch und Realität schärfer auseinandergehalten werden müssen. Je größer das Kind wird, „desto realisierbarer werden seine Wünsche, und umso gefährlicher wird die Realität“ (vgl. Erdheim 1993, 944). In dem Maße, wie sich ein Heranwachsender seiner zunehmenden Körperkraft versichert und gleichzeitig, obzwar oft mehr dumpf als von (Selbst-)Erkenntnis getragen, verspürt, wie er im Gegensatz zu so manch anderem nur geringe soziale Chancen erhält, sich in seinem weiteren Leben angemessen zu verwirklichen, in dem Maße kommt es zu einer Reaktivierung der narzisstischen Wut. Schon Bernfeld hat darauf verwiesen, dass für Jugendliche aus proletarischem Milieu, deren perspektivischen sozialen Lebenschancen von Anfang an minimiert sind, sich der zentrale Affekt in einer narzisstischen Kränkung konzentriert. Sie befinden sich in einer Tantalus-Situation, in der wie dereinst bei die- 164 F A C H TA G U N G E N ser tragisch von den Göttern bestraften Figur der griechischen Mythologie, die Gesellschaft zwar Reichtum in Hülle und Fülle zur Verfügung stellt, sie aber von seiner Verteilung weitgehend ausgeschlossen sind. Nicht innere Konflikte und Loslösung vom ödipalen Objekt ist ihr vorherrschendes Thema, sondern reale „Flucht vor und Aggression gegen alles, was diese Kränkung“ entstehen lässt (vgl. Bernfeld 1935, 634 ff; Müller 1992, 64 f). Diese politische Verortung der innerseelischen Prozesse ist dringend erforderlich, um nicht einer familialistischen und den sozialen Kontext völlig verkürzenden Sichtweise aufzusitzen. Insofern auch reklamiere ich Erkenntnisse der Psychoanalyse immer im Sinne eines gesellschaftskritischen Paradigmas. Denn noch immer gilt der Satz: „Psychoanalytische Reflexion und sozialkritische Überlegungen dienen der Emanzipation der Zielgruppen, d.h. heißt ihrer Befähigung zu selbstständiger, konstruktiver Mitwirkung an der Veränderung der eigenen sozialen Lage“ (vgl. Leber, Reiser 1972, 10). Fazit: Emanzipation, verstanden als Loslösung von infantilen Abhängigkeiten, Versöhnung mit den eigenen Mängeln und Integration der eigenen Feindseligkeit, ist ein hehres Ziel von Erziehung. Sie kann nur halbwegs gelingen, wenn Gewalt keinen Schatten auf die eigene Geschichte wirft. Anmerkungen 1 Zum einen müssen wir auch Lehrer als Träger von Gewalt in den Blick nehmen (vgl. Krumm, Weiß 2000, Gottschalch 2000), zum anderen ist die Schule als gesellschaftliche Institution noch immer von jenem heimlichen aggressiven Impuls umfangen, der Bernfeld zu folgendem Urteil verleitete: „Und ein Stück des uralten Sadismus, ein Schimmer jener Aggressionsorgie (…) verklärt sie noch heute“ (vgl. 1925, 79). 2 Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Thema von Missbrauch und Inzest, auf das ich hier leider aus Zeitgründen nur am Rande eingehen kann. Eingedenk der Tatsache, dass wir von einer recht großen Dunkelziffer ausgehen müssen, werden für deutsche Verhältnisse derzeit folgende Zahlen angegeben: „Ca. 25 % der Mädchen und ca. 11 % der Jungen bis 16 Jahren haben Missbrauchserfahrungen“ (vgl. Hirsch 1999, 20). 3 Objektrepräsentanzen entsprechen der Summe der Erfahrungen über die primären Objekte, Selbstrepräsentanzen der Summe der Erfahrungen über sich selbst (vgl. Muck 1991, 26). 4 Mit einer gewissen Häme wirft man der Psychoanalyse, und nicht ganz zu Unrecht, vor, sie G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 165 mythologisiere die Mutter-Kind-Beziehung. Vielfach ist ihre Mutter ein treu sorgendes Wesen, ohne dass bei ihr andere Bedürfnisse sichtbar würden. Durch die empirische psychoanalytische Säuglingsforschung wie auch Untersuchungen zur Rolle des Vaters hat in den letzten Jahren ein Wandel der Betrachtung eingesetzt. Mutter ist weitgehend als Metapher zu verstehen für die zentralen Beziehungspartner der frühen Lebenszeit. Gleichzeitig sei auf die Bedeutung des Vaters für den Aufbau stabiler innerpsychischer Repräsentanzen hingewiesen, was hier leider nur gestreift werden kann (vgl. Schon 1995). 5 Im folgenden wird noch öfter von Narzissmus oder narzisstischen Kränkungen die Rede sein. Der Begriff Narzissmus bezieht sich auf das seelische Erleben des Kindes hauptsächlich in der Zeitspanne des ersten Lebensjahres. An Hand der Beobachtung von Interaktionssequenzen eines sieben bis acht Monate alten Kindes mit seiner Mutter hat Mahler nachgewiesen, dass seine Beziehung mit der Mutter zu diesem Zeitpunkt weitgehend auf „Spiegelung“ beruht (vgl. Mahler u.a. 1980, 216). Dieses Spiegeln führt nach Lichtenberg zum frühen Aufbau eines „Kommunikationssystems von erstaunlicher, synchroner Unmittelbarkeit“ zwischen Mutter und Kind. Wie die neuere psychoanalytische Säuglingsforschung belegt, gilt der Blick des Kindes dem Gesichtsausdruck seiner Mutter, und auf seinem Gesicht spiegeln sich all die Empfindungen wider, die dort abzulesen sind (vgl. Lichtenberg 1991, 97). Das sich entwickelnde Selbst erwartet nach Kohut gar, dass es von seinen primären Objekten „widergespiegelt“ wird (vgl. 1975, 242). Kohut spricht davon, dass das Kind im Zuge seiner seelischen Ablösung „den Glanz in den Augen der Mutter braucht“, damit seine sich bildenden mentalen Funktionen und Aktivitäten genügend gespeist werden (S. 149). Wenn nun die frühe Lebenssituation von einem elementaren emotionalen Mangel beherrscht wird, in der sich das Kind nicht von seiner Mutter empathisch gehalten fühlt, misslingt eine stabile Unterscheidung des Selbst von seinen Objekten. Es entsteht eine tiefe narzisstische Kränkung, wenn das „Selbst-Objekt sich unerwartet weigert“ (S. 243). Ungenügendes Spiegeln von Seiten der Mutter führt dann bei ihm zur Ausbildung eines „primären Defekts“ (vgl. Kohut 1981, 23 f). Zurück bleibt eine narzisstische Wut, die immer dann reaktiviert wird, wenn eine äußere Bedrohung phantasiert wird. 6 Freud hat aufgezeigt, wie psychische Prozesse nicht allein auf das Bewusstsein reduzierbar sind und dass gewisse „‘Inhalte’ erst nach Überwindung von Widerständen dem Bewusstsein zugänglich werden“ (vgl. Laplanche, Pontalis 1972, 563). Unser Seelenleben ist „erfüllt mit wirksamen, aber unbewussten Gedanken“ (Freud 1912g, 433). Phantasien sind jene mehr unbewusst als bewusst imaginierten inneren Vorstellungen, die wir uns machen und die im Schnittpunkt von Beziehungsarrangements und dort aufkommenden Gefühlen und Affekten zusammenfließen. 166 F AC H TAG U N G E N Literatur Adorno, Th. W.: Erziehung nach Auschwitz. In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt 1973 (1966). Balint, M.: Therapeutische Aspekte der Regression. Die Theorie der Grundstörung. Stuttgart 1970. Bandura, A.: Aggression – eine sozial-lerntheoretische Analyse. Stuttgart 1979. 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G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 171 4.2.3 Mounira Daoud-Harms Gewaltfördernde und gewalthemmende kulturelle Einflüsse in Migrantenfamilien Der Einfluss soziokultureller Milieus auf die Erziehungsstile Die Formulierung des Themas lässt die Annahme zu, dass ein Zusammenhang zwischen kultureller Herkunft von Migrantenfamilien, ihren Erziehungsmethoden und Gewalt besteht. Und sicherlich gibt sie eine weit verbreitete Vorstellung in der Öffentlichkeit wieder. Vielleicht stimmen Sie mit mir darin überein: wenn wir von gewalttätigen Auseinandersetzungen auf den Straßen, in Kneipen, in Schulen oder in Familien, an denen Migranten beteiligt sind, aus den Medien erfahren oder sie selbst miterleben, dann neigen wir dazu, ohne dass es uns besonders auffällt, Gewalt mit kulturellen Eigenarten von Migranten zu verknüpfen. Dazu zwei Rundfunkmeldungen: Donnerstag, den 19.10.00: Bei einer Auseinandersetzung in einer Gaststätte wurde der Bruder des Wirts so schwer verletzt, dass er in der Klinik notoperiert werden musste. Freitag, den 20.10.00: Ein 27jähriger Türke hat seine Frau mit dem Messer schwer verletzt und sich danach selbst getötet. Eine repräsentative „Frankfurter Bürgerbefragung“ von 1997 hat ergeben, dass 48 % der Deutschen in Frankfurt Kriminalität und öffentliche Sicherheit für das größte Problem in der Stadt hielten. An zweiter Stelle nannten 21 % der Deutschen das Verhältnis zu den Ausländern. Für 18 % war es das größte Problem, dass es zu viele Ausländer gäbe. Erst danach folgten die Verkehrssituation, Arbeitslosigkeit, Drogen und Wohnungsbau. (Frankfurter Rundschau, 27.2.98) Migranten, Gewalt und Kultur sind so umfassende Begriffe, dass die Vermutung eines allgemeinen Zusammenhangs zwischen ihnen zu unbestimmt und nichtssagend wäre. In der jüngeren sozialwissenschaftlichen Diskussion ist wiederholt der Vorwurf erhoben worden, in den Untersuchungen und Veröffentlichungen über die sogenannte multikul- 172 F AC H TAG U N G E N turelle Gesellschaft würden kulturelle Konflikte durch die untersuchenden Sozialwissenschaftler konstruiert. Sie verdecken mit ihren vorgefassten Begriffen von angeblicher Einheitlichkeit abgegrenzter ethnischer Gruppen und ihrer Kulturzugehörigkeit die wirkliche Vielfalt kultureller und sozialer Verhältnisse von Herkunfts- und Einwanderungsgesellschaften.(vgl. Radke, Bommes, Nassehi) Um solcher Vorurteilsbildung nicht zu unterliegen, möchte ich für unseren Zusammenhang Kultur verstehen als alle Formen und Inhalte privater und öffentlicher Kommunikation in der Familie und in den Institutionen von Religion, Bildungswesen und Wissenschaft. Gewalt umfasst individuelle und kollektive Zwangsmaßnahmen bis zum Bürgerkrieg oder Krieg zwischen Staaten. Sie kann mit körperlichen Mitteln, mit oder ohne Waffen und sie kann psychisch ausgeübt werden. Max Weber beschreibt Gewalt als Mittel zur Ausübung von Macht und Herrschaft, also als Mittel, den eigenen Willen bei anderen auch gegen ihren Widerstand durchzusetzen. Als Disziplin bezeichnet er die psychisch verinnerlichte Bereitschaft, sich fremder Macht und Herrschaft zu fügen. (Weber 1960). Unser Staat beansprucht das Gewaltmonopol. Die tägliche Kriminalität beweist, dass er es nicht durchsetzen kann. Auch die legale Staatsgewalt selbst ist eine zweischneidige Sache. Ihre Ausübung nach Recht und Gesetz wird häufig verletzt und ist ständig vor den Gerichten umstritten. Die verfassungsmäßige Gültigkeit der Gesetze kann bis zur Formulierung des Grundgesetzes höchst zweifelhaft sein, wie die Auseinandersetzungen um das Asylrecht, das Ausländerrecht und das neue Staatsangehörigkeitsrecht zeigen. Die Durchsetzung eines fremden Willens auch gegen den Widerstand der Individuen ist ein konstitutives Element unserer Gesellschaft und reicht von der Erziehungsgewalt der Eltern und Lehrer in den Schulen bis zur Weisungsbefugnis der Unternehmer gegenüber ihren abhängig Beschäftigten. Erst jetzt soll das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung in der neuen Verfassung der Europäischen Union verankert werden. Migranten sind eine sehr vielfältige soziale Gruppe. Sie kommen aus ganz verschiedenen Nationen mit unterschiedlichen ökonomischen, politischen und sozialen Strukturen und Familienverhältnissen. Sie haben verschiedene persönliche Motive und Gründe für die Migration. Sie sind z.B. als Arbeitskräfte angeworben, vor politischer Verfolgung oder Kriegen geflüchtet oder als Familienmitglieder von anderen mitgenommen worden. Eines haben sie alle gemeinsam: sie haben ihre heimatlichen Lebenszusammenhänge verlassen und sich in ihnen unbekannte, andere gesellschaftliche Verhältnisse hinein gewagt. Wer sich entschließt, Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn, Sitten und Ge- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 173 bräuche, alles Vertraute und Aufgebaute, also ihre kulturellen Zusammenhänge aufzugeben, für den müssen familiäre, soziale, wirtschaftliche oder politische Verhältnisse so unerträglich geworden sein, dass eine andere Gesellschaft zu suchen zu einer Notwendigkeit wird. Solche Entscheidungen werden unter der Gewalt äußerer Verhältnisse und unter Leidensdruck getroffen und sind zugleich auch persönliche Entschlüsse. Sie setzen die Fähigkeit voraus, sich etwas Besseres vorzustellen, es mit eigener Anstrengung zumindest teilweise erreichen zu können, und die Hoffnung, der Not und der Bedrohung zu entkommen. Die Erfahrung von Zwang und Gewalt, Hoffnung und Leidensdruck, Risikobereitschaft und Handlungsfähigkeit sind offenbar Eigenschaften, die Migranten haben müssen. Und betrachtet man die Menschen, die aus Deutschland vor oder unter der Gewalt des NS-Regimes geflüchtet oder emigriert sind, fällt es nicht schwer, darunter bedeutende Persönlichkeiten mit solchen Eigenschaften auszumachen. Die mit der Einwanderung verbundenen gesellschaftlichen Prozesse sind darauf zu untersuchen, ob es einen Zusammenhang zwischen kulturellen Eigenarten und individueller oder sozialer Gewalt gibt. Da sich solche Prozesse über die Beziehungen und die Kommunikation von Individuen vermitteln, möchte ich Ihnen Ausschnitte aus vier Lebensgeschichten von Migranten vorstellen und die Zusammenhänge untersuchen, die von den Betroffenen offengelegt werden. 1. Lebensgeschichte A Im Rahmen meiner Beratungstätigkeit in der Lehrerfortbildung am Hessischen Landesinstitut für Pädagogik im Bereich Migration und Integration wurde ich von einer Lehrerin angerufen, die mir eine türkische Schülerin zur Beratung schicken wollte. Der Lehrerin fiel seit deren Einschulung in die fünfte Klasse des Gymnasiums vor etwa neun Monaten auf, dass sie sich in der Klasse isoliert, noch sehr verspielt ist, unkonzentriert dem Unterricht folgt, ihre Klassenkameraden und -kameradinnen kratzt und beißt, sich ihre Finger blutig kaut und Bleistifte und sonstiges Unterrichtsmaterial von Mitschülern verschwinden lässt. Sie erschien in der Beratung nicht allein, sondern brachte eine Freundin mit und fragte, ob diese mit reinkommen könne, alleine habe sie Angst. Nach ihrer Herkunft und familiären Situation befragt sagte sie, sie sei das jüngste von drei Geschwistern und habe noch weitere, die sie aber nicht kenne. Ihre Situation zuhause beschrieb sie als ganz toll, sie werde von Papa und Mama besonders verwöhnt und auch die beiden älteren Geschwister liebten sie über alles. Sie ginge mit dem Vater sehr oft 174 F AC H TAG U N G E N ins Kino und zu McDonalds. Die Frage, ob sie Probleme zuhause habe, verneinte sie. Warum sie ihre Freundin mitgebracht habe, erklärte sie damit, sie habe Angst vor mir. Auf die Frage, was ich ihr antun könnte, antwortete sie, das wisse sie nicht, ich könnte sie kratzen und beißen. Damit hat sie mich in ihr Thema hineingeholt. Ich erfuhr, dass sie ihre Klassenkameraden kratzte und biss, weil diese sie nicht liebten und mit ihr nicht spielen wollten. „Schließlich bin ich eine Türkin und sie sind ja alle viel älter.“ Sie war gerade 10 geworden. Am Ende des Gespräches erklärte ich ihr, dass alles, was wir hier besprochen hatten, unter uns bleiben müsste, ich würde weder den Lehrern noch den Eltern davon berichten. Sie möchte auch draußen nichts davon erzählen. Ob sie das einhalten könnte und ob sie noch einmal zu mir kommen wollte. In den darauf folgenden Stunden kam Selma regelmäßig zu mir. Ihre Geschichte stellte sie so dar: Sie lebt mit ihrer Mutter und zwei Geschwistern. Wo die Mutter arbeitet, weiß sie nicht. Der Vater ist Deutscher. Ihre Eltern haben sich wegen seiner Alkoholprobleme getrennt. Sie besucht ihren Vater zweimal in der Woche in seiner kleinen Schlosserwerkstatt. Dort wohnt er auch seit der Trennung, deswegen kann sie nicht beim ihm übernachten: „Die Mama will es auch nicht“. Sie hängt sehr an ihrem Vater und versteht nicht, warum die Mutter ihn „rausgeschmissen“ hat. Sie vertraut mir etwas an, was sonst niemand erfahren darf. Sie leidet seit einiger Zeit an Haarausfall. Die Mutter kämmt sie so, dass niemand es bemerkt. Sie möchte nicht mit auf Klassenfahrt ins Landschulheim, damit niemand die kahle Stelle beim Kämmen sieht. Ihre Mutter, die ich in meine Sprechstunde einlud, berichtete folgendes: Sie stammt aus einer größeren Stadt in der Türkei, ist die jüngste von 13 Geschwistern, hat ihre Mutter im Alter von 17 Jahren verloren und lebte danach alleine bei ihrem alten Vater. Obwohl sie ihn sehr liebte und ihn pflegen wollte, konnte sie das Leben mit ihm wegen seiner Trinkerei und Zudringlichkeit nicht ertragen und heiratete bald einen älteren, entfernten Verwandten, der sich als gewalttätig herausstellte und sie schlug. Trotzdem hatte sie zwei Kinder mit ihm. Da sie sich als muslimische Frau in der Türkei schwer scheiden lassen konnte, wie sie sagte, verließ sie ihre beiden Kinder und ihren Ehemann, flüchtete in eine andere Stadt und nahm dort eine Arbeit an, um sich dann von ihm scheiden zu lassen. Sie lernte bei der Arbeit einen anderen Mann kennen, erwirkte mit großer Anstrengung ihre Scheidung und heirate ihren Freund. Mit ihm lebte sie vier Jahre zusammen und bekam vier Kinder, fand aber auch bei ihm keine Ruhe vor Gewalt. Nachdem sie sich auch von ihm hatte scheiden lassen, verließ sie wieder die Stadt. Die Kinder wurden ihm zugesprochen. Im Urlaub in Frankreich lernte sie einen Franzosen kennen, und bekam mit ihm ein Kind, G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 175 verließ beide jedoch bald, weil auch dieser Mann sie geschlagen hat, und suchte über Freunde in Deutschland eine Arbeitsstelle. Hier lernte sie den Vater von Selma kennen, einen Deutschen, heiratete ihn, stellte aber bald fest, dass er Alkoholiker und ebenfalls gewalttätig war. Sie bekam von ihm drei Kinder, bis sie es schaffte sich dann auch von ihm zu trennen. Bevor sie zu mir kam, war sie zur Beratung und Therapie im Familienzentrum, das ihr bei der Trennung half. Sie wirkte entschieden, sogar hart in ihrer Art, und obwohl sie wusste, dass der Vater gut zu den Kindern war und dass gerade Selma an ihm hing, war sie entschlossen, sich auf keinen Fall mehr auf ihn einzulassen. Ohne Sie mit den psychoanalytischen Methoden meiner Arbeitsweise näher vertraut zu machen, kann ich nach vier Monaten Zusammenarbeit mit Selma Ihnen folgendes Ergebnis berichten. Zunächst überwand sie ihre Angst vor der Klasse, fuhr mit ins Landschulheim und löste sich aus der Isolierung. Kurze Zeit später berichtete sie, dass der Haarausfall gestoppt war. Das stärkte ihr Selbstvertrauen und verringerte ihre Angst. Nach und nach ließen ihre Aggressionen in der Klasse und ihr Beißen und Kratzen nach. Am Ende erkannte sie, dass sie von der Trennung der Eltern und vom Verlust der Freundinnen aus der Grundschule überfordert war. Die Entscheidung auf das Gymnasium zu gehen, war ein Wunsch ihrer Mutter gewesen. Dagegen setzte sie jetzt durch, auf die Realschule zu wechseln, wo ihre Freundinnen aus der Grundschule waren. „Wenn ich später aufs Gymnasium will, kann ich das immer noch.“ 2. Lebensgeschichte B Von einer Lehrerin einer Realschule wurde mir ein 13-jähriges türkisches Mädchen geschickt, das durch große Aggression ihren Klassenkameradinnen und Klassenkameraden gegenüber, Desinteresse am Unterricht und Frechheit ihren Lehrerinnen und Lehrern gegenüber aufgefallen war. Sie fehlte viel im Unterricht, hatte bereits das fünfte Schuljahr wiederholt, drohte auch im sechsten zu scheitern und wurde auf der Toilette mit einem Messer erwischt. Als sie mit ihrer Mutter zu mir in die Sprechstunde kam, nahm ich die Mutter als sehr energiegeladen, sehr bestimmt und genervt gegenüber ihrer Tochter wahr. Sie wiederholte, was die Lehrerin mir am Telefon bereits gesagt hatte und betonte, ihre Tochter könne und dürfe nicht nochmal sitzen bleiben. Die Tochter ihrerseits wirkte gelangweilt, stöhnte und machte unwillige Bemerkungen über das, was ihre Mutter gesagt hatte. Zu meiner Bemerkung, dass dieses Verhalten bei Kindern in diesem Alter nicht ungewöhnlich sei und dass viele Schülerinnen und Schüler mit ähnlicher 176 F AC H TAG U N G E N Beschreibung zu mir kommen, antwortete die Mutter, die ausgezeichnet Deutsch spricht: „Aber Sie können es nicht wissen, weil sie es nicht sehen, meine Tochter ist unbeschreiblich dick. So kann sie nicht bleiben. Sie frisst den lieben langen Tag.“. Ich fragte das Mädchen nach ihrem Gewicht und warum sie soviel essen würde. „80 Kilo“, sagte sie, und wendete sich unwirsch an ihre Mutter: „Was soll ich sonst tun!“. Ich vereinbarte mit Alfa, die übrigens sehr bereitwillig war, die nächsten Termine und bat die Mutter um ein Gespräch zusammen mit ihrem Mann. Das Auftreten der Eltern erregte im Institut Aufsehen und einer meiner Mitarbeiter fragte mich, mit was für Leuten ich inzwischen zu tun hätte. Der Mann sehe aus wie ein Zuhälter. Der Vater trat brummig auf, sprach schlecht deutsch, saß wie seine Tochter desinteressiert da und ließ seine Frau antworten, auch wenn die Fragen an ihn gerichtet waren. Auf meine wiederholte Bitte, er möchte etwas dazu sagen, war seine Antwort immer, er habe nichts zu sagen, seine Tochter brauche Hilfe, im Elternhaus sei alles in Ordnung, sie hätten genug Geld, genug Kleider und führen häufiger in Urlaub, was wollten sie mehr. In die nächste Stunde kam Alfa aufgeregt und wollte nicht mehr nach Hause zurück. Als ich sie fragte, warum und wo sie hin könnte, sagte sie, sie werde zu irgend einer Freundin gehen, sie fände schon eine. Der Vater habe sie geschlagen und das Streiten im Elternhaus halte sie nicht mehr aus. Aus der Familiengeschichte erfuhr ich von der Mutter, dass sie vor 18 Jahren aus der Türkei einen ihrer Brüder hier besucht hatte und bei ihm geblieben war. Hier lernte sie vor 15 Jahren ihren türkischen Mann kennen und heiratete ihn, weil sie als Mädchen hier nicht alleine sein wollte. Ihr Mann war selbstständig und hatte ein Geschäft in der Bahnhofsgegend. Sie half ihm zunächst im Geschäft. Zuerst verstanden sie sich gut und Alfa wurde geboren, doch dann stellte sie fest, dass er verschiedene Freundinnen hatte. Sie fing an ihm nach zu spionieren. Als er das bemerkte, schlug er sie so, dass sie in die Klinik musste. Da sie selbst finanziell in dem Geschäft eingebunden war und er ihr im Falle einer Scheidung kein Geld geben wollte, blieb sie bei ihm unter wiederholten Misshandlungen und Versöhnungen und bekam acht Jahre später ihre zweite Tochter. Sie sagte, ihre beiden Töchter würden viel miteinander streiten und Alfa würde die kleine immer schlagen. Sie sei ähnlich wie ihr Vater. In der weiteren Arbeit mit Alfa – ihre Mutter brachte sie immer mit einem luxuriösen Auto und wartete bis zum Ende der Stunde auf sie – erfuhr ich: sie trug immer das Messer mit sich und bedrohte die Mädchen und Jungen damit, sie rauchte auf der Toilette Zigaretten und Hasch und ärgerte die Mitschüler mit dem Laser-Pointer. Wenn sie im Unterricht fehlte, traf sie sich mit Mädchen- und Jungenbanden. Ihre Eltern würden sich nicht nur schlagen, sondern die Mutter würde sie auch einsetzen, um ihren Vater auszu- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 177 spionieren. Ihr Vater habe zwar das Geschäft, aber er arbeite auch im Zuhältermilieu, was sie ganz fertig mache. Sie sei von ihrer Mutter enttäuscht, die sie häufig gegen ihn aufhetze und einsetze und sich dann immer wieder mit ihm versöhne. Im Laufe der Beratung der Mutter erfuhr ich, dass sie bei einer Bank eine Arbeit annahm, um sich von ihrem Mann unabhängiger zu machen. Während unserer Zusammenarbeit verbesserte sich Alfa in mehreren Fächern von den Noten fünf und sechs auf zwei, stellte periodisch das Rauchen und übermäßige Essen ein, gab das Messer ab und war seltener aggressiv. Sobald eine Krise zwischen ihren Eltern auftrat, fiel sie wieder zurück. Alfa wollte bewusst und gegen den Willen ihrer Eltern das Klassenziel nicht erreichen, obwohl ihre Lehrerinnen immer wieder beteuerten, dass sie eine intelligente Schülerin sei. In der letzten Sitzung vor den Sommerferien teilte Alfa mir mit, dass sie doch auf die Hauptschule gehen werde, wo alle ihre Freundinnen und, wie sie sagte, Mitstreiterinnen seien. Nach den Sommerferien ist sie nicht mehr bei mir erschienen. 3. Lebensgeschichte C Ahmed wurde mir von einer Gesamtschule zugewiesen, als ein Junge der ständig erkältet sei und immer röchelte. Sein Deutsch sei kaum zu verstehen, obwohl er schon sehr lange in Deutschland lebt. Im Unterricht habe er das Niveau eines Lernhilfeschülers. Trotz zweijähriger Therapie bliebe er unverändert. Als ich Ahmed zum erstenmal traf, fiel mir seine ausgesprochen höfliche und defensive Art auf, die man aber nicht als Schüchternheit bezeichnen kann. Er war sehr ernst, offen, fast naiv und beantwortete meine Fragen ohne Scheu und Scham in einem auffallend schlechten Deutsch. Er gab seine häufigen Krankheiten und seine fehlende Konzentration im Unterricht als Grund an zu mir zu kommen. Auffällig in unserem Gespräch war, dass er nie die Schuld in der Schule oder bei den Lehrern suchte, sondern immer auf seine Unfähigkeit zurückführte. Als Ziel nach dem Abschluss der Schule gab er an, Arzt, vielleicht sogar Chirurg oder Anwalt zu werden, weil er gerne Menschen helfen wollte. In unseren Gesprächen erfuhr ich: Ahmed kam im Alter von vier Jahren mit seinen Eltern und seinem zwei Jahre älteren Bruder aus Tunesien nach Deutschland. Als ich ihn traf war er 13 Jahre. Seine Mutter und sein Vater kamen beide aus wohlsituierten Verhältnissen 178 F AC H TAG U N G E N und hatten sich freiwillig entschieden nach Deutschland zu kommen. Der Vater betreibt hier eine Autowerkstatt und exportiert Gebrauchtwagen nach Tunesien. Bei der Ankunft lebten die Eltern mit beiden Kindern in einer großen Wohnung und fuhren jedes Jahr zu den Großeltern und in ihr eigenes großes Haus nach Tunis. In einem dieser Urlaube stellte die Mutter fest, dass der Vater eine zweite Frau hatte. Als sie darauf bestand sich scheiden zu lassen, gab es eine schwere Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Vater mit einem Messer auf sie losging und sie sich nur retten konnte, indem sie Ahmed in die Arme nahm und als Schild benutzte. Sie kehrten dennoch zusammen nach Deutschland zurück. Über deutsche Gerichte hat die Mutter sich durchgesetzt und die Scheidung durchgebracht. Bedrohungen und Gewaltanwendungen seitens des Vaters haben sich auch nach der Scheidung häufig ereignet. Die Mutter musste mit beiden Kindern die große Wohnung verlassen, bekam Sozialhilfe und nahm dann eine Arbeit auf. In der zwei Jahre dauernden Beratung von Ahmed gelang es mir nur einmal die Mutter trotz häufiger Versuche zu treffen . Sie habe nie Zeit, müsse viel arbeiten und habe Angst, ihr Mann könne sie auf der Straße treffen. Ahmed könne mir ja alles erzählen. Ahmed träumte von American Football, konnte aber selbst und würde auch nie Gewalt anwenden, besonders nicht gegen Mädchen, aber auch nicht gegen Jungen, wofür er häufig gehänselt wurde. Er verehrte seine Mutter außerordentlich und konnte ihr gegenüber nie einen Widerspruch leisten: „Sie ist meine Mum“. Auch seinen Vater dürfe er nicht ablehnen, auch dann nicht, wenn er ihnen kein Geld gäbe und wenn er sie nicht mehr besuche: „Er ist mein Dad“. Bis kurz vor Ende der Beratung trug Ahmed auffallend langes Haar. Wirkte auf seine Lehrer und Mitschüler „sauber, aber verwahrlost“. Statt seine Hausaufgaben zu machen oder mit andern Kindern zu spielen, verbrachte er seine Freizeit mit der Mutter (sie war häufig arbeitslos) auf dem Sofa im Wohnzimmer und schaute stundenlang über Satellitenfernsehen ägyptische Filme. Seine Mutter nannte ihn „mein Mädchen“ und bis zu seinem 15. Lebensjahr schlief Ahmed zusammen mit ihr im Ehebett. Während der zweijährigen Zusammenarbeit gingen die Symptome seiner Erkältungskrankheit zurück und verschwanden schließlich ganz. Er gab seine Verleugnungen auf und erkannte seine Enttäuschungen und Aggressionen gegen seinen Vater. Er ließ sich die Haare kurz schneiden und verliebte sich in ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Er verteidigte sich erfolgreich gegen Hänseleien und beteiligte sich an einem Streich gegen Lehrer. Mir fiel auf, dass seine ernste Stimmung zurück ging und er häufig lachte und scherzte. Die Lehrer berichteten mir, dass er im Unterricht und in den Pausen viel offener und aktiver wirkte. Sein Verhalten hatte jungenhafte Züge bekommen. Er achtete mehr auf seine Kleidung, löste sich von seiner Mutter und richtete sich gegen G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 179 ihren Willen einen Schlafplatz im Wohnzimmer ein. In der 9. Klasse suchte er sich auf eigenen Wunsch einen Praktikumplatz in einer Automobilfirma. 4. Lebensgeschichte D Alexander wurde von seiner Lehrerin als gewalttätig bezeichnet und sollte die Schule verlassen, wenn die Beratung als letzte Chance nicht helfen würde. Sie fügte hinzu: „Ich selber glaube an sowas ja nicht. So einen kann man nicht am Gymnasium behalten.“ In die erste Beratungsstunde kam Alexander unwillig und aggressiv und meinte: „Es ist ja eh alles egal, die Ziege will mich nicht haben“ und sagte: „Gegen Lehrerinnen kann man eh nichts machen. Aber ich werde es ihr zeigen.“ Ich konnte Alexander überzeugen, dass es sinnvoll wäre in die Beratung zu kommen und dass wir beide über das, was wir hier besprechen, schweigen und niemand an der Schule etwas von mir erfahren würde. In den darauffolgenden Sitzungen kam Alexander, der für sein Alter relativ klein war, immer pünktlich und war mir gegenüber zuvorkommend. Die Tatsache, dass ich nicht sehen kann, schien Eindruck auf ihn zu machen. Er stellte mir viele Fragen zur Blindheit. Auf die Störung im Unterricht und auf die Schlägereien mit anderen Schülern angesprochen meinte er: „Man muss sich behaupten können und darf nicht schwach wie ein Säugling sein. Ich bin ja schließlich 14 und kein Baby mehr.“ Erst in den 90er Jahren war Alexander mit seiner Mutter aus der Nähe von Tschernobyl nach Deutschland gekommen, sprach jedoch ausgezeichnet Deutsch. Er wohnte mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder zusammen. Sein Vater würde immer zwischen Russland und Deutschland pendeln und viel mit ihm streiten. Er habe das Gefühl, der Vater möge ihn nicht. Die Begegnung mit seiner Mutter, einer sehr freundlichen Dame Ende vierzig, war sehr offen und brachte folgende Informationen. Mit 36 lernte sie Alexanders Vater kennen, er war 29, und sie war froh, dass er eine älter Frau heiraten wollte. Da er in einer höheren Stellung beim Militär arbeitete, sahen sie sich nicht häufig und sie durfte nie fragen, wohin er ging und wann er wieder käme. Zärtlichkeiten wurden wenig ausgetauscht. Nach der Geburt von Alexander begann er sie und seinen Sohn zu schlagen. Jähzornig war er nach ihrer Aussage schon immer. Da sie Angst vor seinen Zornausbrüchen hatte, dachte sie zwar immer an Scheidung, wagte aber nicht es auszusprechen. Erst als sie für sich die Chance sah als Spätaussiedlerin mit Alexander nach Deutschland zu kommen, konnte sie sogar seine Zustimmung zur Scheidung bekommen. Er durfte als Militärangehöriger nicht ausreisen, wollte aber nach seinem Ausscheiden ihr folgen. 180 F AC H TAG U N G E N Vor wenigen Jahren hat er das Militär verlassen. Wie sie berichtete, heiratete sie ihn in Deutschland wieder, weil Alexander einen Vater haben sollte. Er habe hier eine Autowerkstatt aufgebaut, die sie aber nie gesehen habe, würde immer zwischen Russland und Deutschland pendeln, aber sie wisse nicht genau, was er macht, und dürfe wieder nicht danach fragen. Sie habe trotz allem mit ihm ein zweites Kind bekommen. Damit hoffte sie ihn an sich binden zu können. Alexander müsse häufiger miterleben, wie sie von seinem Vater geschlagen wird. Und er hasse daher seinen Vater. Sie würde wegen ihres Alters von ihm gedemütigt und erniedrigt, sie müsse das aber alles ertragen, weil sie ja schließlich alt sei und hier kaum jemanden habe, dem sie sich anvertrauen könnte. Seitdem der Vater wieder häufiger bei der Familie ist, sei Alexander sehr verändert. Sein Vater schlage ihn oft wegen seines Verhaltens in der Schule, sperre ihn ins Zimmer und bedrohe ihn mit einer Pistole. Nach der Versöhnung dürfe er damit selbst schießen üben. Schließlich schenkte der Vater ihm zum Geburtstag eine eigene Pistole. Alexander erzählte mir ganz stolz, dass er diese Waffe besitze. Er übte damit in seinem Zimmer und wollte sie mit in die Schule nehmen, um sie seinen Freunden zu zeigen: „Sie sollen wissen wer ich bin.“ Die Mutter war darüber sehr erregt und beängstigt. Meine Hauptaufgabe bestand nunmehr darin ihn davon zu überzeugen, auf die Waffe ganz zu verzichten. Nachdem die Mutter sich bereit erklärt hatte ihm den Gegenwert in einer langfristigen Taschengelderhöhung zukommen zu lassen, gab er ihr die Pistole zurück. Während der dreimonatigen therapeutischer Arbeit ist es ihm gelungen, sein aggressives Verhalten in der Schule einzustellen. Er kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass er stark sein kann auch ohne Waffe und ohne Schlägereien. Seine Lehrerin kommt seitdem sehr gut mit ihm aus und findet ihn einen ihrer nettesten Schüler. 5. Auswertung Die Ihnen hier vorgestellten Geschichten zeigen Gewalt von Männern gegen ihre Frauen und Kinder. In keinem Fall lassen sich Zusammenhänge zwischen Gewalt und kulturellen Besonderheiten erkennen. ■ Die Männer stammen aus der Türkei, Tunesien, Frankreich, Deutschland und Russland. Nach den vorliegenden Berichten waren die in Deutschland lebenden Männer kleine Selbstständige und in ihrer wirtschaftlichen Existenz nicht unmittelbar ge- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 181 fährdet. Sie waren nicht bereit, ihre geschiedenen Frauen finanziell zu unterstützen. Als Religionszugehörigkeit ist nur der Islam für den tunesischen und die türkischen Männer bekannt. Die anderen sind in Ländern christlicher Religionstraditionen aufgewachsen. Ihr Bildungsstand ist nicht genau bekannt. In keinem der Herkunftsländer sind Alkoholmissbrauch und Gewalt von Ehemännern gegen ihre Frauen und Kinder anerkannt und positiv bewertet. ■ Die Frauen hatten eine abgeschlossene Schulausbildung in ihren Heimatländern, vergleichbar unserem Realschulabschluss oder dem Abitur, wirkten offen und interessiert, Hilfe von außen, Beratung und psychotherapeutische Unterstützung anzunehmen. Zwei waren berufstätig, die beiden anderen mehrfach von Arbeitslosigkeit betroffen. Sie lebten relativ anonym in kleinen Wohnungen in Hochhäusern, hatten wenig Kontakt zu ihren Nachbarn und kaum Freunde. Gesprächspartner waren hauptsächlich ihre Kinder. Drei der Frauen gehörten der islamischen Religion an, von der vierten ist nichts bekannt. Die muslimischen Frauen waren nicht verschleiert. Ihr Alltagsleben und ihre Erziehungspraxis waren nicht erkennbar religiös bestimmt. Religion wurde von ihnen gar nicht oder nur am Rande erwähnt und war kein leitendes Handlungsmotiv. Alle Frauen waren alleinerziehend und nahmen die Verschlechterung ihrer ökonomischen und sozialen Stellung in Kauf um sich von ihren Männern zu trennen. ■ Die Jugendlichen befanden sich alle im Pubertätsalter zwischen 10 und 14 Jahren. Diese Phase stellt eine Entwicklungskrise mit erheblichen psychischen Belastungen dar. Ihr aggressives und ihr defensives Verhalten (Rückzug und Passivität bei Ahmed) war nicht geschlechtsspezifisch geprägt. Weder das Verhalten der Eltern noch der Kinder kann mit religiösen oder moralischen Überzeugungen oder mit landestypischen Sitten und Gebräuchen erklärt werden. Wesentliche Bedingungen ihres aggressiven oder auch defensiven Verhaltens sind schwere Störungen und Konflikte in den familiären Beziehungen. Die Gewaltätigkeit der Väter, der Streit der Eltern und die Stellung der Kinder dazwischen untergraben das Vertrauen in die Zuwendung der Eltern, Enttäuschung und Ablehnung sind die Antwort. Damit sind hier schon in früher Kindheit die entscheidenden Voraussetzungen für die Bildung des Ich gestört. Das Kind muss die Fähigkeit erwerben, zwischen inneren Triebansprüchen, den wachsenden Anforderungen der Eltern und später der Schule und dann der Gesellschaft relativ sicher sich zu entscheiden, ohne sich selbst schweren Konflikten und Strafen auszusetzen. Gelingt das nicht, können aggressive Auswege aus problematischen sozialen Bedingungen gesucht werden. Die mangelnde psychische Stabilität und die Ich-Schwäche der Jugendlichen und Erwachsenen entsteht aus der Orientierungslosigkeit und 182 F AC H TAG U N G E N sozialen Isolierung und bei den Jugendlichen aus dem Verlust des Vaters als einer wichtigen Orientierungsfigur. Aus zahlreichen persönlichen Berichten von Migranten und aus der Literatur wird deutlich, dass sie alle, ob Diplomat, Professor oder Arbeiter, unter Schuldgefühlen leiden, ihre Heimat verlassen zu haben. Wenn sie ihre Kinder besonders in den Sitten und Gebräuchen ihrer Heimat erziehen und eine besondere Nähe dazu herstellen wollen, dann geschieht dies nicht, weil sie die hiesige Kultur ablehnen oder sich nicht integrieren, sondern weil sie ihre Schuldgefühle wieder gut machen wollen. Kein Chinese lebt in China so chinesisch wie in Chinatown, wie mir neulich ein Kenner sagte. Vorurteile und Einstellungen, die Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen bei Migranten auf angebliche Kulturgegensätze zwischen Herkunfts- und Einwanderungsländern zurückführen, verstärken die Isolation, verschärfen die sozialen Probleme und fördern die Aggressivität von beiden Seiten. Literatur Bommes, M: Die Beobachtung von Kultur. In: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1994, S. 205 - 226. Opladen 1996. Diehm, I./Radke, F. O.: Erziehung und Migration, Eine Einführung. Stuttgart/Berlin/Köln 1999. Dollase, R./Kliche, T./Moser, H.(Hrsg.): Politische Psychologie der Fremdenfeindlichkeit. Weinheim/ München 1999. Grinberg, L./Grinberg, R.: Psychoanalyse der Migration und des Exils. München/Wien 1990. Nassehi, A.: Das stahlharte Gehäuse der Zugehörigkeit. Unschärfen im Diskurs um die ‚multikulturelle Gesellschaft’, in: Nassehi, A. (Hrsg): Nation, Ethnie, Minderheit: Beiträge zur Aktualität ethnischer Konflikte. Köln 1997. Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1972. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 183 4.2.4 Barbara Rendtorff Geschlecht, Erziehungshandeln und Gewalt Ich möchte meinen Vortrag auf zwei unterschiedlichen Ebenen ansiedeln; zum einen auf der Ebene der konkreten Geschlechtserwartungen von Kindern an sich selbst bzw. von Eltern und Gesellschaft an Kinder und Jugendliche; und zum zweiten auf einer allgemeineren, abstrakteren Ebene, bei der es um die Frage der Anerkennung des Anderen als anders gehen soll. Und natürlich bleibt dann noch zu fragen, was beide miteinander und dem Aspekt ‘Gewalt’ zu tun haben. Die Erwartungen an Frauen und Männer, die Geschlechterleitbilder und die gesellschaftlichen Zuschreibungen von männlich und weiblich sind uns allen scheinbar gut bekannt, aber es verstecken sich darin Aspekte, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Und manche Unterschiedlichkeiten werden auch durch die forcierte Gegenüberstellung der Betrachtung von Mädchen und Jungen so verstärkt, dass man dadurch auf falsche Fährten gelockt wird. Grundsätzlich will ich noch vorausschicken, dass es keine nicht-geschlechtete (nicht sexuierte) Wahrnehmung eines Menschen gibt. Wir wissen beispielsweise aus sogenannten Baby-x-Versuchen, dass ein Säugling oder Kleinkind, wenn es als männliches ausgegeben wird, anders empfunden und behandelt wird – tatsächlich anders ‘gesehen’ wird, als wenn man dasselbe Kind als Mädchen ausgibt. Außerdem wissen wir auch, dass wir alle, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Verkäuferinnen und Verkäufer, Busfahrerinnen und Busfahrer usw. die Tendenz haben, freche, laute Mädchen anders (und i.d.R. ‘schlimmer’) zu empfinden als freche, laute Jungen, auf weinende Jungen anders zu reagieren als auf weinende Mädchen usw. Dahinter steht jenes Wirkungsgeflecht, das in der Geschlechterforschung mit dem Ausdruck „Zweigeschlechtlichkeit als kulturelle Konstruktion“ umschrieben wird. Diese Begrifflichkeit hebt darauf ab, dass unsere Gesellschaft in ihren elementaren Strukturen eine Binarität (Zweiwertigkeit) behauptet und ständig selbst erzeugt. Dabei werden immer zwei Pole gesetzt: aktiv-passiv, Geist-Körper, männlich-weiblich. Diese Ordnung 184 F AC H TAG U N G E N der Zweiwertigkeit ist nicht etwa nur beschreibend, sondern erzeugt selbst den Druck, sich selbst, die Gegenstände, die Welt, das Wissen zuzuordnen zu einer Seite, sich selbst zu definieren und Eindeutigkeiten herzustellen – auch da, wo man weder das Bedürfnis dazu empfindet noch es unbedingt nötig erscheint. Es wird gewissermaßen ‘Natur erzeugt’, die dann für wahr gehalten, an die ‘geglaubt’ wird. (Nehmen Sie als Beispiel festlegende, definierende Formeln wie ‘Ein Indianer kennt keinen Schmerz’, sprich: ‘Wenn Du weinst, bist Du kein richtiger Junge’.) Das Entweder-Oder ist ja überhaupt ein Kennzeichen des modernen Denkens, ein Mechanismus, der weitgehend unbewusst bleibt. Die Sicherheit, mit der wir solche Zuordnungen vornehmen, wird unterstützt durch unsere über Jahrhunderte gewachsene Fertigkeit, Dinge, Sachverhalte, Personen und uns selbst so weit zu vereindeutigen, dass sie/wir gut in diese Binarität hineinpassen. So kann man sagen, dass eine Art ‘kulturelles Gedächtnis’ entstanden ist, in dem dieses ‘Wissen’ aufbewahrt ist. Wie die mit dem Körper gemachten Erfahrungen ins Körperbild des Kindes, so schreiben sich auch hier Erfahrungen, Einstellungen, politische Argumentationen usw. in einen Katalog ein, der den Charakter einer ‘gemeinsamen Wahrheit’ erhält. Dieses ‘Gedächtnis’ gehört zum Fundament der kulturellen Verfasstheit unserer Gesellschaft, wird von den einzelnen Individuen je eigenständig angeeignet und in diesem Selbstzuschreibungsprozess zugleich immer aufs Neue bestätigt und erzeugt. Es ist dies also kein einfacher Kreislauf, da der Aspekt der aktiven Übernahme eben auch die Chance zur Veränderung enthält. Natürlich geht das alles nicht ohne Konflikte ab, im Gegenteil, aber da dieses kulturelle Gedächtnis weitgehend unbewusst und deshalb nicht verfügbar ist, erscheinen die Konflikte ganz überwiegend als etwas anderes, als sie tatsächlich sind. (Ein gutes Beispiel wäre hier die aktenkundige Tatsache, dass es bei jungen Mädchen eine auffallend hohe Rate fehldiagnostizierter Blinddarm-Operationen gibt, bei denen der Zusammenhang zur Menarche und den psychischen Problemen sich entwickelnder weiblicher Sexualität offenbar nicht bedacht worden war.) Wir müssen zudem berücksichtigen, dass diese Kultur der Zweigeschlechtlichkeit eine Hierarchie in sich birgt. Dass Männer und die dem Männlichen zugeordneten Aspekte (‘männliche Eigenschaften’) über Jahrhunderte für wichtiger, wertvoller und gesellschaftspolitisch angesehener gehalten wurden, zählt mittlerweile zum Allgemeinwissen und ist von seiten der Frauen(bewegungen) auch immer wieder kritisiert worden. Auf der bewussten Ebene gibt es da auch eine ganze Menge von Erfolgen zu verzeichnen – entscheidend ist aber letztlich die Frage, wie es gelingen kann, auch die unbewussten Einstellungen zu verändern. Denn das kulturelle G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 185 Gedächtnis hat zwei wesentliche Wirkungsweisen: es ist persistent, d.h. es hat die Tendenz zu beharren, unverändert fortzubestehen; und es ist performativ, d.h. durch immer wiederholtes Darüber-Sprechen werden die Einstellungen immer aufs Neue wiederbelebt und als „wahr“ bestätigt. Es muss uns also darum gehen, diese Wirkungsweise abzuschwächen. Interpretationen von kindlichem Verhalten und Selbstdarstellungen haben also (neben anderen) stets eine Geschlechterdimension. Ob wir wollen oder nicht, selbst wenn wir uns ausdrücklich bemühen, nur das Kind und nicht sein Geschlecht zu sehen, so zeitigt doch das kulturelle Gedächtnis seine Wirkung und erschwert unsere Versuche, die Geschlechterbilder zu verflüssigen. Im Bereich der kindlichen Entwicklung gibt es eigentlich nur zwei manifeste Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, die einen realen Kern haben und insofern nicht allein auf sozialisierende Einflüsse zurückgeführt werden können. Das eine ist die Tatsache des geschlechtlichen Körpers mit seiner unterschiedlichen genitalen Ausstattung. Über unmittelbare kindliche geschlechtliche Körpererfahrung wissen wir leider sehr wenig, doch kann man m.E. davon ausgehen, dass die unterschiedliche Lage der Genitalien auch ein unterschiedliches Körpergefühl bedingt, d.h. Mädchen und Jungen beziehen sich mit je unterschiedlichen Fragen auf ihren Körper und ihr Körperinneres. Der größte Unterschied wird wohl darin liegen, dass Mädchen sich selbst ein Bild ihrer Genitalien und des Körperinnen machen müssen, weil diese sich dem Blick nicht darbieten; es gibt weniger Gewissheit und mehr Interpretation. Auch die Sorgen und Phantasien um mögliche Gefährdungen des Genitales sehen unterschiedlich aus, je nachdem, ob man ein äußerliches oder ein innenliegendes Organ schützen und verteidigen muss. Ohne das hier weiter auszuführen wäre als ein zentraler Punkt noch aufzuführen, dass das männliche Genitale in unserer Kultur ja als das ‘wertvollere’ gilt. Kleine Jungen werden also (fälschlicherweise) in einer Position des ‘Habens’ fixiert (‘Sei doch froh, Du hast das bessere Teil erwischt’), kleine Mädchen werden über das (scheinbare) Nicht-Haben hinweggetröstet mit dem Verweis auf spätere Mutterschaft. Das macht beide unsicher und besorgt, aber auf sehr unterschiedliche Weise: Der kleine Junge meint, er müsse das, was er ‘hat’ schützen und verteidigen, das kleine Mädchen ist verunsichert durch die Botschaft, dass sie etwas Wichtiges ‘nicht hat’ und ist sich folglich unsicher darüber, wie sie das, was sie ja zweifellos doch ‘hat’, einschätzen und wertschätzen soll. Und natürlich sind darüber hinaus auch die Phantasien über die genitale Sexualität und die eigene Beteiligung an der Fortpflanzung höchst verschieden. Auch hier wird sich die 186 F AC H TAG U N G E N Erwartung von im eigenen Bauch wachsenden Babys in das Körperbild anders einschreiben als die in unserer Kultur an männliche Potenz geknüpften Bilder und Phantasien. Die reale geschlechtliche Unterschiedlichkeit erlangt ihre Bedeutung aber erst über Bebilderungen, über äußere und innere Bilder, die sich jeder Mensch von sich und anderen macht, und die sich herleiten aus dem „kulturellen Gedächtnis“ seiner Gesellschaft. Bedeutung wird erzeugt im Feld imaginärer Zuschreibungen, symbolischer Einordnungen und kultureller Interpretationen, und nicht zuletzt spielen dabei die Interpretationsspielräume der jeweiligen Eltern und Bezugspersonen eine große Rolle. Der zweite wichtige ‚reale’ Unterschied entspringt der Tatsache, dass die Mutter für das Mädchen ein gleichgeschlechtliches, für den Jungen aber ein gegengeschlechtliches Liebesobjekt ist. Denn auch wenn aktuelle Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen der Auffassung Vorschub leisten, Mutter und Vater seien dann austauschbar, wenn sie sich nur zu gleichen Teilen um die Versorgung des Säuglings kümmern würden, so ist dem aus psychoanalytischer Perspektive klar zu widersprechen. Ich gehe hier und im folgenden davon aus, dass Mutter und Vater (welches im strengen Sinne ‘Positionen’ sind, deren Platz auch von anderen, nicht den leiblichen Eltern, eingenommen werden kann) in der psychischen Entwicklung des Kindes unterschiedliche Aufgaben zukommen, dass diese beiden Positionen weder vermischt noch ersetzt werden noch einfach wegfallen können. Diese Tatsache führt dazu, dass die Autonomieentwicklung bei Mädchen und Jungen unterschiedliche Vorzeichen hat. Grundsätzlich ist jedes Kind (jeder Mensch) in seinem Triebgeschehen durch zwei wesentliche, einander widerstreitende und doch zusammengehörende Dynamiken geprägt: durch Symbiosewünsche und Autonomiebestrebungen, durch den Wunsch nach Verschmelzung und Fülle einerseits, und dem nach Trennung andererseits. Um Autonomie zu gewinnen, muss der Säugling zunächst einmal lernen, sich von der Mutter zu unterscheiden. Grob verkürzt wird hier angenommen, dass der Junge als gegengeschlechtliches Kind für die Mutter von vornherein ein ‘Anderer’ ist. Seine Autonomie-Entwicklung steht also unter dem Vorzeichen der Trennung – wobei das Trennende tendenziell überbetont wird und der kleine Junge häufig zu wenig in dem Kummer über diese Trennung, diesen Verlust an Ähnlichkeit begleitet wird. (Vielleicht ist die auffällige Tatsache, dass viele Mütter ihre kleinen Söhne mehr ‘bemuttern’ (beim Anziehen helfen usw.) und unselbständiger halten als ihre Töchter, auch eine Antwort auf diese Problematik.) Hier wäre ein zuverlässiger Vater wichtig, der dem Jungen Schutz G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 187 und Unterstützung und sich selbst als alternatives Objekt anbietet. Insofern ist das typische Problem der männlichen Entwicklung, dass die den Autonomiewünschen innewohnende Zwiespältigkeit zur Seite der Trennung hin aufgelöst wird und der Wunsch nach Bindung und Aufgehobensein ganz verloren oder zurückgewiesen wird, was dann später bei erwachsenen Männern als Beziehungsproblematik wieder auftaucht. (Dies ist im übrigen ein wichtiger Aspekt in der aktuellen Männerforschung, vgl. z.B. BauSteineMänner 1996; Conell 1999) Auf der Ebene des geschlechtlichen Körpers taucht diese Problematik des Getrenntseins dann als Besorgnis auf: die Attitüde kleiner Jungen, die bis an die Zähne bewaffnet, laut und raumgreifend durch den Kindergarten rennen, ist nicht so sehr als aggressive zu werten, sondern vielmehr als eine „kontraphobische“, also angstabwehrende Aktivität. Dazu kommt, dass alle Kinder eine Phase des Geschlechtsneids durchleben, in der sie vermuten, das Gegengeschlecht sei besser ausgestaltet und somit glücklicher dran als sie selbst. Die hierarchische Auffassung von männlich und weiblich gestattet es dem kleinen Jungen aber nicht, seinen Kummer darüber, dass er „nur“ ein Junge ist und nie eine Mama („wie die Mama“) sein wird, wirklich als Verlust zu betrauern. Die Tochter als gleichgeschlechtliches Kind ist für die Mutter nicht in derselben Weise (nicht ‘einfach’, nicht so eindeutig) ‘anders’, wie der Sohn es ist. Ihre Autonomie-Entwicklung ist von hoher Ambivalenz geprägt, ihre Wünsche, sich von der Mutter zu unterscheiden und zu trennen, sind verquickt mit der Befürchtung, diese Trennung werde die Mutter verletzen oder zerstören. Typisch für die weibliche Entwicklung ist entsprechend (1) die Schwierigkeit, sich zu konturieren und zu unterscheiden ohne Angst, und (2) die verbreitete Schwierigkeit, Trennung zu erleben (geschehen zu lassen), ohne sich als Person zerstört und getroffen 188 F AC H TAG U N G E N zu fühlen. Auch hier wäre übrigens ein Vater sehr hilfreich, der dem Mädchen helfen kann, Trennung und Unterscheidung von der Mutter zu empfinden, ohne sie ganz verwerfen zu müssen. Dazu kommt noch erschwerend, dass die Autonomiewünsche das Mädchen von der Mutter wegführen, während die Unsicherheit über die Beschaffenheit ihres geschlechtlichen Körpers sie angewiesen macht auf die Mutter, damit diese ihr versichern kann, dass ihr Körper intakt und gut geraten ist. M.E. geht diese Angewiesenheit auch zu einem guten Teil in Mädchen- und Frauenfreundschaften ein und gibt denen einige ihrer typischen Facetten. Nur am Rande soll darauf hingewiesen werden, dass das Erreichen einer sicheren, versöhnten Geschlechtsidentität offenbar ein so anfälliger Prozess ist, dass er auch bei vielen Erwachsenen noch nicht zum Ende gekommen ist. Es ergibt sich dann die neurotische Figur, dass die eigene Geschlechtsidentität von der Wahl des Liebespartners gestiftet wird. Da unsere Gesellschaft stark heterosexuell geprägt ist, wird das eigene Geschlecht als ‘gesichert’ empfunden, wenn das Liebesobjekt gegengeschlechtlich ist: ‘Ich liebe einen Mann, das bestätigt mir, dass ich eine Frau bin’ – und vice versa. Das hat natürlich eine tragische Kehrseite, denn die Umkehrung lautet ja: ‘Wer einen Mann liebt, kann nicht selbst ein Mann sein’, oder, nicht weniger dramatisch: ‘Wer keinen Mann liebt, hat nicht bewiesen, dass sie eine Frau ist’ (und vice versa) – Denkfiguren, die den Umgang mit Homosexualität und Bisexualität in unserer Gesellschaft außerordentlich stark beeinflusst haben und bei der Herausbildung geschlechtlicher Identität eine wichtige Rolle spielen. In diesem Zusammenhang wird auch die Tatsache interessant, dass die Zuordnung zum Feld des Männlichen deutlich rigider gehandhabt wird als im Bereich des Weiblichen. Mädchen wird eher gestattet, männliche Attribute auszuprobieren als umgekehrt, und ein ‘wildes’ Mädchen zieht eine andere Art von Abwertung auf sich als ein weicher Junge. Ohne das hier näher ausführen zu können, sei doch darauf hingewiesen, dass hier die Vermutung naheliegt, dass die männliche Position insgesamt die ‚gefährdetere’ ist, dass sie unsicher ist und stark verteidigt werden muss. Und gefährdet ist sie offenbar nicht so sehr von seiten der Frauen, als vielmehr von innen. Wenn Sie auf einem Schulhof in der Pause die Schimpfwörter sammeln würden, würden Sie unschwer feststellen, dass diejenigen in Bezug auf Mädchen eher um das ‚Nuttige’ kreisen, also um vermutete, angeblich ausschweifende heterosexuelle Aktivität bzw. um die Beschaffenheit ihres weiblichen Körpers, während die Schimpfwörter für Jungen viel mit Schwulsein zu tun haben und die heterosexuelle Komponente vor allem im Verbindung mit einem verbotenen Objekt auftaucht (z.B. der Mutter). G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 189 Kurz gesagt: Wenn die Unsicherheiten der Kinder im Entwicklungsprozess nicht aufgefangen werden können, sondern auf der Folie dessen, was ich das kulturelle Gedächtnis genannt habe, in eine bestimmte Form gebracht werden, dann wachsen die Kinder in Geschlechtspositionen hinein, aus denen sich nur sehr schwer und nur in Grenzen heraustreten lässt. Die männliche Position ist in unserer Kultur organisiert um Getrenntheit und Verteidigung, die weibliche um eine gewisse Unklarheit in Bezug auf den eigenen Körper und die Beziehung zur Mutter. Jetzt wechseln wir vorübergehend die Ebene. Unser Stichwort heute ist ja Gewalt bzw. die „gewaltfreie“ Erziehung. Ich denke, es wird weitgehend Konsens sein, dass mit „gewaltfrei“ nicht die Abwesenheit von Streit oder Aggression gemeint sein kann, denn das wäre ein ganz großes Missverständnis. Aggression ist als aktiver Triebanteil in den menschlichen Handlungen enthalten, gibt den aktiven Impuls ab zur Auseinandersetzung mit der Welt. Auch in der Sexualität ist eine ‘aggressiv’-aktive Komponente enthalten. In einer psychoanalytischen Perspektive unterliegt das Triebgeschehen „den Einflüssen der drei großen, das Seelenleben beherrschenden Polaritäten“: aktiv-passiv (die Freud als biologische bezeichnet), Ich-Außenwelt (als reale) und Lust-Unlust (als ökonomische), zwischen denen sich beständig ein dynamisches Geschehen entwickelt.1 Dabei kann die Dynamik nicht nach einer Seite hin aufgelöst werden, sondern besteht gewissermaßen als Mischungsverhältnis. Wie die vorher erwähnten gegensätzlichen Wünsche nach Aufgehobensein und Autonomie ist auch im Triebgeschehen der aggressive Aspekt mit allen Triebregungen notwendigerweise vermischt – erst die Entmischung, das Auseinanderfallen oder Zerbrechen des labilen Gleichgewichts lässt Aggression in Destruktion umschlagen. Destruktion ist also eine Folge einer fehlgeschlagenen Integration widerstreitender Aspekte im Ich – sei es, dass in der individuellen Lebensgeschichte dieses Menschen die Eltern ihre edukative Aufgabe nicht erfüllen konnten, oder sei es, dass das gesellschaftliche Umfeld ein Menschenbild hervorgebracht hat, das dieser Nicht-Integration Vorschub leistet (indem es z.B. Aggression stark tabuisiert, einen unerträglichen Unterwerfungsanspruch hat o.ä.). Auf jeden Fall ist die Integrationsleistung das Ergebnis eines Erziehungs- und Sozialisationsprozesses, eines ‘Aushandlungsprozesses’ zwischen Individuum und Gemeinschaft, so dass man sagen kann, dass Auseinandersetzung und „Streit die soziale Ordnung nicht zerstört, sondern bindet“.2 Dieser Prozess verläuft im übrigen jeweils unterschiedlich und führt zu jeweils individuellen ‘Mischungsverhältnissen’. Dabei kann man grundsätzlich festhalten, dass die Befähigung zum Aushalten bzw. Leben von Wi- 190 F A C H TA G U N G E N dersprüchen mit der inneren Sicherheit wächst, bzw. umgekehrt: je unsicherer jemand ist, desto größer die Bereitschaft zu Rigidität und Spaltungen (in gut oder böse, Freund oder Feind usw.) – sei es in Sekten, politischen Gruppen oder auf der Straße. Aggressive Akte, für die nach Begründungen gesucht wird, haben also gewissermaßen noch einen Appell-Charakter, sind immerhin ‘Formulierungsversuche’ und damit Versuche, das Geschehen, den Akt einzuordnen in irgendeine Logik, die sich an soziale Zusammenhänge immerhin anbindet. Hass oder ‘namenlose Wut’ ist dagegen eher ein Zusammenbruch, eine Auflösung, die objektlos ist, bei der das Individuum aus dem gegebenen Rahmen (der Familie, der Gruppe, der Gesellschaft mit ihren Normen und Vorstellungen) ganz herausfällt. Dass Aggressivität und Wut beide damit zu tun haben, dass die psychische Integrationsleistung widerstrebender Aspekte im „inneren des Menschen“ misslungen ist, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Frage, wie denn das gesellschaftliche Umfeld mit dieser Widersprüchlichkeit umgeht. Ganz sicher muss man davon ausgehen, dass der ‘Widerstreit der Gefühle’ für jedes Kind beunruhigend ist, dass folglich eine Strategie der Konfliktvermeidung (‘Streitet Euch nicht!’) ebenso falsch und nutzlos ist wie ein „sentimentaler“ Umgang (Winnicott) mit jugendlicher Aggressivität (‘Er hat’s nicht so gemeint’, ‘hat die Nerven verloren’, ‘kann jedem mal passieren’), sondern dass es vielmehr darum gehen muss, einen Rahmen zu errichten, der gewissermaßen unzerstörbar ist, in dem die ganze Widersprüchlichkeit sich zeigen kann und der ihr doch standhält. Eine Voraussetzung dafür ist die gegenseitige Anerkennung mit/in dieser Widersprüchlichkeit: d.h., dass jedes Individuum unerreichbar eigen ist, dass der andere (im überpersönlichen Sinne: der andere Mensch, ob Kind oder erwachsen) anerkannt wird als anders - nicht weil er ein Gleicher ist, sondern weil „der andere Mensch als Nächster Anderer bleibt in einer unaufhebbaren Trennung.“3 Die Erwartung einer Ähnlichkeit des Anderen ist ja gerade die Folie, auf der dann Aggression oder Hass sich artikulieren gegen diejenigen, die als unähnlich aufgefasst werden. Unverfügbarkeit des Anderen, Andersheit, Unerreichbarkeit – das sind die Grundelemente, die der Anerkennung des Anderen zugrunde liegen sollten, aber wir machen i.d.R. gerade im Erziehungsprozess das genaue Gegenteil: wir erwarten Ähnlichkeiten: zwischen Kind und Eltern (‘Du bist wie ich’), zwischen Kindern einer Klasse oder Altersgruppe, vergleichbare Interessen und Verhaltensweisen usw., und wir reagieren auf die wachsende Beunruhigung mit pädagogischen Maßnahmen, Therapeutisierung oder morali- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 191 schen Appellen. Das führt dazu, dass die empfundene Beunruhigung als unangemessen erscheint und um so mehr Angst auslöst – die Angst, aufgrund der Unähnlichkeit, die jeder Mensch spürt, um die jede und jeder weiß, herauszufallen aus der Gruppe und dem Denken, das uns umgibt. Jetzt fragen wir von hier aus erneut nach der Geschlechterdimension. Auch hier gibt es wieder zwei Ebenen. Auf der einen Ebene lässt sich jetzt leichter verstehen, warum Gewalt eine männliche Domäne ist. Das Aggressionspotenzial ist zweifellos bei Mädchen und Jungen gleich – allen Versuchen der Soziobiologie zum Trotz, Aggressivität auf den Hormonspiegel zurückzuführen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Angst- und Aggressionswerte bei Jungen/Männern mit der Höhe der Schulbildung zusammenhängen – Aggression ist ja nicht zuletzt ein Versagen der Sprache: „Gewalt ereignet sich, wenn die Sprache nicht mehr reicht, Spannungen zu erfassen und zu verarbeiten. Der Sprachlose ‘platzt’, und Hände und Füße übernehmen die Kommunikation.“4 Aber das Aggressionspotenzial wird bei Mädchen und Jungen unterschiedlich beantwortet und kanalisiert. Neben den gesellschaftlichen Geschlechterbildern, die z.B. deutlich weniger tolerant sind bei der Verknüpfung von Aggression und Weiblichkeit, kommt jetzt vor allem die vorne beschriebene Struktur zum Vorschein: Die Konzeption des Männlichen als getrennt macht Angst, die Festlegung auf Aktivität verschiebt die Aufmerksamkeit an die Peripherie (die Körpergrenzen, das Außen) und vermischt sich dort unbewusst mit der (phantasmatischen) Notwendigkeit der Verteidigung des Genitales. Je größer die Beunruhigung über die eigene Geschlechtlichkeit und über das eigene Aufgehobensein, desto rigider werden die Strukturen sein, die der Junge (oder Mann) sich sucht oder aufbaut, damit sie ihm Halt geben. Als psychosoziale Auffälligkeiten, die in Beratungsstellen erfasst wurden, überwiegen denn auch bei Jungen und männlichen Jugendlichen antisoziales und aggressives Verhal- 192 F AC H TAG U N G E N ten, bei Mädchen Trennungsängste, Angst vor Beziehungsverlust und Selbstwertprobleme5 – folglich werden auch in Kindertherapien mehr Jungen vorgestellt als Mädchen, deren Probleme „weniger lärmend und stärker nach innen gewandt“ sind.6 Bei Jugendlichen kehrt sich das Verhältnis dann um mit einer Zunahme v.a. von Essstörungen, psychosozialen Krankheiten und Depressionen bei weiblichen Jugendlichen.7 Bei jungen Männern werden Aggressivität und demonstrative, ‘laute’ Anpassungsprobleme eher vom gesellschaftlichen Männlichkeitsbild abgedeckt als bei Kindern, die überwiegend aus einer pädagogischen Perspektive als Wachsende und Werdende betrachtet werden, die noch nicht voll in die Geschlechterrollen eingetreten sind. Die sozialen Probleme junger Frauen erscheinen dagegen gesellschaftlich gesehen als kontraproduktiv, während ihre stumme Vorgeschichte mit Selbstunsicherheiten und depressiven Zügen in der Mädchenzeit nicht zuletzt pädagogisch betrachtet als unauffällig oder angepasst empfunden wurde. Wir sehen also zwei stereotype Erwartungen sich überkreuzen: In der Kinderzeit überwiegt als Forderung der Gesellschaft die Anpassung – folglich wird die laute Abweichung sanktioniert und als therapiebedürftig selektiert, aber das Verstummen (Brown/Gilligan) junger Mädchen fällt nicht weiter auf. Im Erwachsenenalter überwiegt als Forderung der Gesellschaft die aktive Teilnahme – und da werden Unsicherheit, Selbstzweifel und depressive Ichschwächen auffällig und gelten nun als therapiebedürftig, während aggressive Auffälligkeiten als (ein Stück weit) tolerierbarer Aspekt von Aktivität erscheinen. Ich hatte vorher gesagt, Unverfügbarkeit, Andersheit, Unerreichbarkeit seien die Grundelemente, die der Anerkennung des Anderen zugrunde liegen. Die Andersheit des Anderen können wir nicht erfassen, auch eine Mutter kann ihr Kind nicht in seiner „Wahrheit“ verstehen oder eine Lehrerin ihre SchülerInnen. Die Erwartung des VerstehenKönnens, also besser als das Kind zu wissen, was los ist oder was es will, ist selbst ein aggressiver, gelegentlich sogar gewaltförmiger Akt. Und der resultiert gerade daraus, dass das Aushalten der Andersheit des Anderen in unserer Kultur keinen Wert und keine Tradition hat. (Im übrigen steht dahinter die innere Differenz, Nicht-Vollständigkeit des Menschen selbst, die er bei sich selbst nicht erträgt und deshalb nach außen verschiebt. Aber das zu diskutieren, würde an dieser Stelle zu weit führen.) Deshalb ist „Gleichheit“ auch eine so problematische Devise: gleich sind wir vor dem Gesetz und vor Gott, in jeder anderen Hinsicht sind wir ungleich, mit anderen Worten: Gleich sind wir als unpersönliche, sozusagen abstrakte Personen, als Bürgerinnen und Bürger, Wählerinnen und Wähler, Schulpflichtige, aber als Individuen, als Menschen G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 193 sind wir unvergleichlich unterschiedlich. Mir scheint, dass sowohl in der Schule wie in den heutigen Elternhäusern die Tendenz besteht, diese beiden Ebenen zu verwechseln – womit nichts, aber auch gar nichts gewonnen ist. Die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Anderen macht ja auch deshalb große Angst, weil die eigene Unerreichbarkeit darin gespürt wird. Um den Anderen (ob Kind oder erwachsen) als anders, sogar als letztlich fremd, eigen und eigensinnig ertragen zu können, braucht es Verbindungen, die durch Orte, Regeln usw. gefestigt sind, die gewissermaßen unzerstörbar sind, die Differenz ertragen, ohne erschüttert zu werden – innerhalb derer dann Interessen, Tätigkeiten usw. als gemeinsame, in Grenzen je eigenwillig und unterschiedlich gestaltet werden können. Das ist m.E. die Qualität, um die es geht bzw. gehen muss, damit wir nicht weiterhin Mädchen und Jungen in ihren jeweiligen, streng begrenzten Geschlechterbildern einfangen und dadurch immer aufs Neue Unsicherheiten und falsche Antworten erzeugen. Sicherlich ist das keine Veränderung von heute auf morgen. Aber Gewalt entspringt ja nicht zuletzt gerade dem Versuch, „eine belastende Krisen- oder Konfliktsituation möglichst schnell zu lösen.“8 Bessere Strategien im Umgang mit Aggressivität zu entwickeln, geht nicht von jetzt auf gleich, auch gibt es dafür keine „richtigen“ pädagogischen Maßnahmen. Aber wenn wir die Beziehungen zwischen Menschen in dieser beschriebenen Weise verändernd angehen, werden sich für jeden Beteiligten neue Perspektiven eröffnen. Anmerkungen 1 Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale, in: Studienausgabe, Bd. III, S. 107 2 Vgl. Buchholz, Michael: Streit und Wider-Streit - Unbewußtheiten im kulturellen Kontext, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsyhiatrie 41/1992, Heft 1, S. 172 f. 3 Wimmer, Klaus-Michael: Von der Identität als Norm zur Ethik der Differenz. Das Verhältnis zum anderen als zentrales Problem einer pädagogischen Ethik, in: Käte Meyer-Drawe et al.: Pädagogik und Ethik, Weinheim 1992, S. 169. 4 Hanke, Ottmar: Gewaltverhalten in der Gleichaltrigengruppe von männlichen Kindern und Jugendlichen. Konzeptioneller Zugang - pädagogische Folgerungen, Pfaffenweiler 1998. 5 Vgl. Hopf, Hans H., a.a.O., S. 177 f. 6 Ders.: Aggression in der analytischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen, Göttingen 1998, S. 38. 194 F AC H TAG U N G E N 7 Vgl. ebd., S. 37 f. 8 Beck, Klaus J.: Jungen und Gewalt, in: Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit, Opladen 2000, S. 205. Literatur BauSteineMänner (Hg.): Kritische Männerforschung, Berlin 1996. Conell, Robert W.: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 1999. Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale, in: Studienausgabe, Bd. III. Buchholz, Michael: Streit und Wider-Streit – Unbewußtheiten im kulturellen Kontext, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 41/1992, Heft 1. Wimmer, Klaus-Michael: Von der Identität als Norm zur Ethik der Differenz. Das Verhältnis zum anderen als zentrales Problem einer pädagogischen Ethik, in: Käte Meyer-Drawe et al.: Pädagogik und Ethik, Weinheim 1992. Hanke, Ottmar: Gewaltverhalten in der Gleichaltrigengruppe von männlichen Kindern und Jugendlichen. Konzeptioneller Zugang -pädagogische Folgerungen, Pfaffenweiler 1998. Brown, Lyn M./Gilligan, Carol: Die verlorene Stimme. Wendepunkte in der Geschichte von Mädchen und Frauen, Frankfurt a.M. 1994. Beck, Klaus J.: Jungen und Gewalt, in: Männlichkeit und Gewalt. Konzepte für die Jungenarbeit, Opladen 2000. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 195 4.2.5 Achim Schröder Bildungsarbeit und „Gewaltfreie Erziehung“ – Ideen zur Umsetzung Wie man durch Bildungsarbeit die Herausbildung gewaltfreier Erziehung unterstützen kann 1. Einleitung Als ich bei der Vorbereitung auf mein heutiges Thema darüber nachdachte, wie denn Bildungsarbeit die Herausbildung von gewaltfreier Erziehung unterstützen kann, tauchten bei mir zunächst Zweifel auf, die ich an zwei Fragen erläutern möchte. Erstens stellt sich die Frage, wie denn Bildungsarbeit dort hineinwirken kann, wo es sich um innerfamiliäre Prozesse handelt. Die meisten Familien schotten sich hinsichtlich ihrer Art und Weise, wie sie mit Konflikten umgehen, nach außen möglichst gut ab. Zudem wird man mit Bildungsarbeit jene am wenigsten erreichen, bei denen Gewalt als Erziehungsmittel noch eine große Rolle spielt. In der Tat kann Bildungsarbeit keine Feuerwehrfunktion übernehmen und sie wird sich hauptsächlich an Multiplkatorinnen und Multiplikatoren richten und die in der beruflichen Erziehungsarbeit Tätigen. Diese werden dann – idealiter gedacht – den Umdenkungs- und Veränderungsprozess weitervermitteln. Bildungsarbeit hat vor allem dann Chancen, die Menschen in ihren Erziehungsfragen zu erreichen, wenn sie an ihren realen Erfahrungen und an ihren Nöten anknüpft. Sie hat dann Chancen, wenn sie auf einem Menschenbild fußt, dass die tagtäglichen Konflikte in der Erziehung einbezieht. Deshalb sollte es nicht in erster Linie um eine Kritik an der Erziehungsgewalt1 gehen, sondern um die Konflikte und Aggressionen, die das Aufwachsen begleiten und den Umgang zwischen Eltern und Kindern belasten. Meine zweite Frage ergibt sich aus den verschiedenen Wirkungsmöglichkeiten von Bildungsarbeit und Erziehung. Erziehung ist langfristig angelegt und es handelt sich um einen intersubjektiven Prozess, der sich über besondere Nähe herstellt und zur weiteren Ent- 196 F A C H TA G U N G E N wicklung auch Distanzierung benötigt. „Erziehung ist Beziehung“2, wie Buber das nannte. In der Erziehung entwickeln sich die Einstellungen und Haltungen in einem teilweise sehr nahen und identifikatorischen Kontakt zu der Bezugsperson. Bei diesem intersubjektiven Austausch haben wir es mit einer engen Verzahnung von emotionalen und kognitiven Lernprozessen zu tun. Bildungsarbeit ist demgegenüber verhältnismäßig kurzfristig. Wie kann Bildungsarbeit überhaupt Einstellungen erreichen, die gefühlsmäßig in tieferen Schichten verankert sind? Das ist sicher keine leichte Frage und ich werde sie vermutlich nicht gänzlich beantworten können. Aber ich möchte mich der Frage nähern, indem ich einige Zusammenhänge zwischen „Lernen und Erfahrung“ darstelle und an einem Lernverfahren zeige, wie auch innere Einstellungen durch Bildungsarbeit einbezogen und dadurch Lernprozesse ermöglicht werden können. 2. Konflikte im Erziehungsprozess Eine Erziehung ohne Konflikte ist nicht vorstellbar. Die verschiedenen Vorstellungen über Erziehung unterscheiden sich vor allem dahingehend, wie mit Konflikten umgegangen wird. Noch vor wenigen Jahrzehnten gingen die meisten Eltern von einem umfassenden Herrschaftsanspruch gegenüber ihren Kindern aus. Eigene Meinungen von Kindern sah man als Widerworte an und die Rechte der Kinder standen mehr oder weniger nur auf dem Papier. Konflikte wurden auf diese Weise unterdrückt bzw. mittels Autorität „gelöst“. Das änderte sich mit dem politischen und kulturellen Wandel in den 60er und 70er Jahren. Man wollte den alten autoritären Erziehungsstil und das damit verknüpfte Menschenbild loswerden. Die Ursache für viele gesellschaftliche Probleme – so auch die Gewalt – sah man in der Erziehung bzw. in dem vorherrschenden Erziehungsstil. Dafür steht besonders das Buch „Am Anfang war Erziehung“ (1983), in dem Alice Miller eine radikale Ursachenzuweisung an die Erziehung propagierte und damit auch große Hoffnungen bediente, es ganz anders machen zu können. Diese Gedanken fielen auf fruchtbaren Boden und haben zu einem Umdenken geführt, das keinesfalls nur die damals Engagierten erfasst hat. Bis weit in die Gesellschaft hinein änderte sich die Einstellung gegenüber Kindern. Man wollte sie nicht mehr gängeln und einschränken, man wollte sie fördern und gewähren lassen. Man wollte den G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 197 Kindern möglichst alles bieten und möglichst wenig verbieten. Sie sollten ihre Stärken und ihr Selbstbewusstsein entwickeln können. Es war ein Lernen in Freiheit angesagt. Heute, drei Jahrzehnte später, können wir uns die Durchschlagskraft dieser Vorstellung auch damit erklären, dass sie auf eine erstaunliche Weise zu dem passte, was man unter wirtschaftlichem Neoliberalismus versteht. Seit den 70er und 80er Jahren – zunächst in Amerika und England und dann später auch in ganz Europa – wurde die Schutzfunktion des modernen Wohlfahrsstaates abgebaut zugunsten einer allein an den Märkten ausgerichteten Ökonomie. Von Seiten der Wirtschaft hat man die sozialen Abfederungen solange als Hindernisse für eine Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt gebrandmarkt, bis auch sozialdemokratische Regierungen nachgaben und den Abbau betrieben. Wir haben es mehr und mehr mit einem „Kampf aller gegen alle“ zu tun. Jeder muss sehen, wo er bleibt, heißt es dazu im Volksmund. Und gesellschaftliche Anerkennung misst sich fast ausschließlich an dem Erfolg, ausgedrückt in Geldeinheiten. Diese Form des Wirtschaftsliberalismus wird zurecht als Sozialdarwinismus bezeichnet, weil dadurch das Recht des Stärkeren wieder vermehrt gesellschaftsfähig wird (Vgl. Butterwege 2000, Negt 2000). Das spiegelt sich in der Erziehung wieder, die bereits frühzeitig damit konfrontiert ist, dass die Konsumfreude der Kinder ständig angeheizt wird: durch Werbung, durch neue Produkte und durch Mechanismen, die auch schon unter den Kids dafür sorgen, dass demjenigen oftmals mehr Anerkennung zuteil wird, der mehr besitzt. Dazu möchte ich von einer kleinen Begebenheit erzählen, die ich kürzlich erlebt habe: Ich stehe montags morgens in einer kleinen Schlange vor der Bäckerei-Theke in einem Supermarkt, vor mir eine Mutter mit zwei Kindern, einem Kleinkind und einem ungefähr schulreifen Kind. Als sie an der Reihe sind, haut der etwa 6jährige Junge an die Glasscheibe und sagt: „Ich will Croissant mit Käse.“ „Es gibt aber nur ohne Käse,“ erwidert die Mutter. Dann packt die Verkäuferin so ein Teilchen ein. Der Junge ganz wild: „Ich will aber auch noch ein Brötchen mit Käse.“ Er springt herum und haut gegen die Scheibe. Die Mutter gibt nach und schaut etwas hilflos nach hinten. Ich blicke ihr verständnislos ins Gesicht, doch der Mann hinter mir springt ihr bei und sagt: „Die Fütterung der Raubtiere.“ Während der Junge nun sogar hinter die Theke rennt, um der Verkäuferin beim Brötchenschmieren über die Schulter zu gucken, sagt die Mutter halblaut vor sich hin und irgendwie für uns Zuschauer bestimmt: „Gleich setz’ ich sie zu Hause vor den Fernseher, dann ist Ruh’“. Dieses Beispiel steht für mich für eine Hilflosigkeit, die sich aus den verinnerlichten Ansprüchen ergibt, das Beste für das eigene Kind tun zu wollen und zugleich sich nicht 198 F A C H TA G U N G E N mehr zurechtzufinden mit dessen Bedürftigkeiten, die auf vielfältige Weise von der Konsum- und Medienwelt angestachelt werden. Man kann diesen Umgang mit Kindern – auch wenn mir das zynisch erscheint – als eine gute weil angemessene Vorbereitung auf die Anforderungen einer neoliberalen Gesellschaft begreifen. Es wird gelernt, sich durchzusetzen. „Früh übt sich…“. Inzwischen wird der gewährende Erziehungsstil mit verschiedenen Argumenten kritisiert. Viele Erwachsene haben sich, meint Hurrelmann, „aus der Rolle als Eltern oder Erzieher praktisch verabschiedet. Sie haben sich auf eine Position der ‚Nicht-Erziehung’ zurückgezogen, auf einen laufenlassenden, ‚permissiven’ Erziehungsstil, …“ (Hurrelmann in Raser 1999: 7). Sie haben die Sache aus der Hand gegeben und fühlen sich oftmals den dann laufenden Prozessen hilflos ausgeliefert. Der erneute Blick auf das, was Kinder und Jugendliche brauchen, hat den Begriff der Grenzen auf neue Art hoffähig gemacht. Kinder brauchen Grenzen, sie brauchen eine Struktur, sie brauchen einen Rahmen, der ihnen dabei hilft, sich zurechtzufinden. Und das heißt auch, die Kinder in ihren Wünschen und ihrem Handeln zu begrenzen. Die aktuelle Ratgeberliteratur ist voll von diesen Gedanken (Vgl. Rogge 1993 und 1995). Ahrbeck nennt es eine Täuschung, der man mit einem Erziehungsstil aufgesessen ist, der einseitig auf die ungestörte Entfaltung und Befriedigung kindlicher Bedürfnisse setzt. „Hinter einer primär auf narzisstische Wachstumsförderung bedachten, konfliktvermeidenden Erziehung verblassen unumgängliche Realitätsanforderungen“ (1997: 8). In dem man glaubte, auf eine Konfliktvermeidung setzen zu können und das mit einer allein positiven und damit einseitigen Entwicklungstheorie begründen zu können, habe man sich über sich selbst und über Erziehung getäuscht. Stattdessen stellt die Realität in der Familie und in der Gesellschaft Anforderungen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. „Erziehung hat immer das Ziel, dem Kind begreiflich zu machen, dass es Teil einer Gesellschaft ist und dass es auf den Anderen Rücksicht nehmen muss, obwohl sein ursprünglicher Trieb darin besteht, nur sein eigenes Bedürfnis und seinen eigenen Wunsch zu befriedigen. Jedes menschliche Wesen kennt zum Zeitpunkt seiner Geburt ausschließlich seine eigenen Bedürfnisse und hat als einziges Ziel, sich am Leben zu erhalten“ (Olivier 2000: 9). Konflikte zwischen Kindern und Eltern tauchen in allen Lebensaltern auf, es gibt reale handfeste Konflikte und es gibt solche, die sich in der Phantasie abspielen und auch von großer Bedeutung sein können. Die meisten Eltern spüren bereits im Säuglingsalter G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 199 ihrer Kinder, wie leicht ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse als Erwachsene und als Paar auf der Strecke bleiben, wenn sie sich nicht gegenüber den Wünschen und Anforderungen des Säuglings behaupten. Mit zunehmendem Alter der Kinder tauchen ständig neue Alltagsprobleme auf, die geregelt und teilweise gegen die Bedürftigkeiten der Kinder durchgesetzt werden müssen. Eine besondere Färbung bekommen die Konflikte im Pubertätsalter, wenn die Kinder ihre Eltern auf die eine oder andere Weise extrem herausfordern, um sich von ihren wichtigsten Bezugs- und Liebespersonen – nämlich den Eltern – innerlich ein Stück weit absetzen zu können. Die Verantwortung und die Weitsicht, wie man sie als Erwachsener hat, kann man von Kindern nicht in dieser Weise erwarten. Die Perspektiven sind notwendigerweise verschieden. Es gibt aber nicht nur Konflikte zwischen Eltern und Kindern. Es gibt auch Konflikte und Ambivalenzen im Kind. Kinder haben Phantasien, die sie glauben nicht haben zu dürfen. Das können sexuelle Wünsche und Phantasien sein, das können auch Vorstellungen sein, andere vernichten zu wollen. Daraus ergeben sich innere Konflikte und Schuldgefühle, die auch von einfühlsamen Eltern nicht aufgelöst werden können. Aber es ist wichtig, solche Konflikte als zum Leben gehörig zu kennen und als akzeptierbar zu behandeln. Kinder erleben tagtäglich, wie schwierig es ist, auf der einen Seite sich behaupten zu müssen und dazu auch hart, aggressiv und durchsetzungsfähig zu sein und auf der anderen Seite zu lieben und anzuerkennen, um selbst anerkannt zu werden und Bindungen zu ermöglichen. Der Widerspruch zwischen selbständigem Willen und Autonomie einerseits und schützender Bindung und Anerkennung andererseits wird oft als unlösbar empfunden und dennoch muss jeder Mensch lernen damit umzugehen (Vgl. Benjamin 1993: 93). Die mit den inneren Widersprüchen verknüpften Konflikte entladen sich schon im sogenannten Trotzalter nach außen, wenn das Kind mehr eigene Schritte machen möchte und zugleich große Angst vor der Loslösung hat. Es ringt mit sich und bringt seine Verzweifelung nach außen. Konflikte sind unumgänglich, und sie sind auch entwicklungsfördernd. „Innerpsychisch treibt der Konflikt die individuelle Entwicklung voran. In den zwischenmenschlichen Beziehungen und im gesellschaftlichen Leben ist es auch der Konflikt, der anzeigt, dass wir lebendig sind, uns entwickeln und verändern“ (Grüneisen 1998: 244). Deshalb brauchen Kinder konfliktfähige und konfliktbereite Eltern. Die Bildungsarbeit kann diese Konfliktfähigkeit stärken und damit zur Herausbildung von neuen pädagogischen Leitbildern beitragen. 200 F A C H TA G U N G E N 3. Lernen und Erfahrung Lernen geschieht nicht auf die einfache Weise, dass man etwas hört, es aufnimmt und es dann übernimmt. Beim Lernen gibt es immer einen Unterschied zwischen den Bildern, die mir vermittelt werden und meinem Selbstbild. Es gibt einen Unterschied zwischen den von außen auf mich zukommenden Bildern und den inneren Bildern, über die ich bereits verfüge. Diese Diskrepanz führt oft zu einer Konfrontation. Das Neue und Andere kann in das bestehende Eigene integriert werden, wenn es passungsfähig ist oder wenn es sich passungsfähig machen lässt und ich als Lernender auch die kognitive und die psychische Bereitschaft habe. Meine Fähigkeiten zum Lernen und meine Bereitschaft dazu hängen wiederum mit meiner Lebensgeschichte zusammen – meiner Vorgeschichte, meinen Erfahrungen im Umgang mit Anderen und meinen Erfahrungen im Umgang mit Lernstoffen. Lernprozesse sind in starkem Maße von der Person und der Persönlichkeit des Lernenden abhängig. Hat man bereits frühzeitig die Erfahrung gemacht, alleine zu sein? Hat man erlebt, dass jeder nur für sich ums Überleben kämpfen muss? Oder hat man Stützen erlebt und ist in einer kommunikativen Interaktion aufgewachsen? Hat man die Erfahrung gemacht, aufgehoben zu sein? Hat man erlebt, in Krisensituationen und bei existenziellen Ängsten nicht nur auf sich gestellt gewesen zu sein? G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 201 Die jeweiligen Erfahrungen prägen den Umgang mit Neuem und Anderem, dem man beim Lernen begegnet. Man kann die Diskrepanzen und Konfrontationen, die dadurch entstehen, entweder gut ertragen und das Neue sogar begierig aufnehmen oder man schottet sich eher ab und will sich den befürchteten Verunsicherungen möglichst wenig aussetzen. Das erste Lernen im Leben geschieht durch Erfahrung. Das kleine Kind erfährt, wie die Mutter oder der Vater sich sorgend zur Verfügung stellt und zeitweise auch nicht zur Verfügung steht. Das Kind erfährt das Ja und das Nein und viele Nuancen dazwischen. Das Kind erfährt, wie Vater und Mutter mit ihm kommunizieren und das in einem Alter, in dem das Baby noch gar nicht sprechen kann. Die neue Säuglingsforschung hat interessante Erkenntnisse über diese Kommunikation und die aktive Mitgestaltung durch das Baby zu Tage gefördert (Vgl. Dornes 1993). Das Baby ist in den ersten Lebensmonaten nicht einfach dem Von-außen-kommenden ausgeliefert, es beteiligt sich aktiv an der Erfahrungsbildung. Auch weit über die Säuglingsforschung hinaus hat die Vorstellung, dass der Mensch seine jeweiligen Wirklichkeiten zu großen Anteilen selbst konstruiert, mehr und mehr Anhänger gefunden. Die konstruktivistische Sicht fordert noch radikaler als andere Theorien, den Lernenden in seiner Subjekthaftigkeit ernst zu nehmen. Die Wirklichkeit ist nicht die Wirklichkeit, sondern sie ist die des jeweiligen Beobachters. „Der Mensch bildet demnach als Beobachter der Welt diese nicht einfach ab, sondern er konstruiert und erschafft das, was er zu erkennen glaubt, im Akt der Beobachtung selbst“ (Arnold u.a. 1999: 372). Für die Lehrenden komme es deshalb darauf an, meint Arnold, genügend große Gestaltungsspielräume für den Umgang mit Wissen zu ermöglichen. Der Lehrende müsse immer davon ausgehen, dass der Lernende mit dem Wissen nur etwas anfangen könne, wenn er es auf seine je eigenwillige konstruiere und re-interpretiere (Vgl. ebd.: 373) Doch auf welcher Basis konstruiert und re-interpretiert der Lernende? Wovon hängt es ab, auf welche Weise er das tut? Der Konstruktivismus berücksichtigt zu wenig die Voraussetzungen im einzelnen Subjekt. Die Subjekte sind nicht beliebig verschieden. Sie sind verschieden ausgestattet, sie wurden gefördert oder gebremst. Sie haben unterschiedliche basale Erfahrungen. Zumeist lassen sich Lernblockaden aus der eigenen Lebensgeschichte heraus erklären und verstehen. 202 F AC H TAG U N G E N Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die frühkindlichen und sozialen Prägungen bleiben aus meiner Perspektive sehr wichtig, aber sie werden heute nicht mehr so „determinististisch“3 betrachtet. Es zeigen sich mehr und mehr Möglichkeiten zu individuellen Korrekturen, Erweiterungen und Neukonstruktionen im Verlauf eines Lebens. Das gilt auch für die Erkenntnisse über die Adoleszenz, die bereits seit einigen Jahren nicht mehr nur als Zeit der Krise gesehen wird, in der sich eine Reihe von frühkindlichen Erfahrungen auf neue Weise durcharbeiten müssen, sondern als eine „zweite Chance“ im Leben eines jeden Menschen. Diese Zeit bietet eine Chance zu Neukonstruktionen in der Persönlichkeit auf besondere Weise (Vgl. Erdheim 1988: 194; Schröder/Leonhardt 1998: 28). Erfahrungen haben eine individuelle und eine kollektive Komponente. Mit der individuellen Komponente meine ich die biografische Erfahrung, das individuelle Sosein, mit meinen spezifischen Gedanken und Gefühlen, meinen Verarbeitungserfahrungen im Umgang mit Enttäuschungen, mit Konflikten, mit nicht erfüllten Wünschen und ebenso mit den großartigen Erfahrungen, mit beflügenden Erfahrungen, mit Liebes- und Näheerfahrungen, mit Glückserfahrungen. Erfahrungen haben zudem verschiedene kollektive Komponenten. Es gibt bestimmte Erfahrungen in einer Familie, die allen Mitgliedern gemeinsam sind, es gibt vergleichbare Erfahrungen innerhalb eines sozialen Milieus – mit Armut oder mit Reichtum, mit Religion und mit Weltanschauung, mit Infrastruktur und mit Wohnraum. Es gibt auf einer größeren Ebene ähnliche gesellschaftlich-kulturelle Erfahrungen, je nach dem ob man z.B. in Deutschland, Jugoslawien oder in einem asiatischen Land aufgewachsen ist. Die Erfahrungen mit ihren individuellen und kollektiven Komponenten stellen die Voraussetzungen dar, die im Subjekt vorhanden sind. Ohne Erfahrungen und Vorerfahrungen ist Lernen nicht denkbar. Wie bereits erwähnt, geschieht das erste Lernen durch Erfahrungen, – ich zitiere: durch „Erfahrungen mit der Umwelt, die über die Sinnesorgane vermittelt werden. Ohne menschliche Kontakte zur rechten Zeit lernen wir nicht sprechen. Wir sind von klein an auf Erziehung angewiesen“ (Biesenbaum 2000). Durch dieses Erfahrungslernen wird die Architektur des Gehirns erst geschaffen, meinen die heutigen Neurowissenschaftler. Somit hängt von diesem Erfahrungslernen ab, wie man später das Gehirn zum kognitiven Denken und Lernen benutzen kann. Lernen hat dann die größten Chancen, wenn es die individuellen und kollektiven Erfahrungen aufgreift, wenn es an den Erfahrungen andocken kann. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 203 Das ist eigentlich eine alte Weisheit. Aber sie geht immer wieder verloren. Derzeit spricht man viel von der Wissensgesellschaft und der Informationsgesellschaft und scheint wieder zu glauben, dass es vor allem um die Verfügbarkeit von Informationen geht. Es wird unterstellt, dass bei einer ausreichenden Verfügbarkeit über Informationen die Individuen diese nur zu adaptieren brauchen. Aber das können sie eben teilweise überhaupt nicht. Die Vorstellung, dass man sich nur über die Verfügbarkeit zu kümmern hätte, ist zuhöchst unsozial, weil diejenigen mit guten Voraussetzungen – hinsichtlich ihres Talents, ihrer biografischen Erfahrungen und ihrer materiellen Lage – haben auch die besten Möglichkeiten. Das sind eben die Gewinner und die anderen sind die Verlierer. Die Bildungsappelle richten sich unterschiedslos und scheinbar gleichberechtigt an jeden Einzelnen. Wissensaneignung ist jedoch „von Art und Qualität früher angeeigneten Wissens abhängig“ (Pollak 2000: 12) und verweist somit auf die ungleich verteilten Voraussetzungen. Das, was das Individuum an Bildung braucht und wie es das braucht, ist von daher sehr unterschiedlich. Die Bildungserfordernisse der Gesellschaft werden heute auf einer sachlogischen Ebene dargestellt, die den Raum für ganz unterschiedliche soziale Kompetenzen einschränkt und die individuellen Stärken und Schwächen entwertet. Pollak befürchtet dadurch eine Tendenz zur Entmündigung der Adressaten von Bildung. Es liegt bereits fest, was sie lernen sollen und wie sie es lernen sollen. Er schlägt deshalb vor, dass Mündigkeit wieder zu einem Leitbegriff von politischer Bildung werden soll. Hier sind Kompetenzen zu vermitteln, die zu einem Umgang mit der Gesellschaft und ihren aktuellen Erscheinungsformen befähigen. Dazu braucht es auch die kritische Reflexion der eigenen Person und ihrer Erfahrungen (vgl. ebd.: 14). Das, was man als Binsenweisheit bezeichnen kann, beim Lernen an den Erfahrungen der Individuen anzusetzen, wird oft nur unzureichend befolgt. Allerdings ist es auch nicht leicht, dieser Weisheit zu folgen. Denn die Erfahrungen, die uns prägen, sind uns nur teilweise bewusst. Dementsprechend gilt es, Lernprozesse so zu organisieren, ■ dass Erfahrungen darin auftauchen können, ■ dass Erfahrungen durch besondere Methoden angeregt werden, ■ dass die damit verknüpften Gefühle spürbar werden, ■ dass Erfahrungen sich auch geschützt fühlen und ■ dass Erfahrungen durch Neues angereichert und damit in Teilen umstrukturiert werden. 204 F AC H TAG U N G E N Wir können eine Bildung gegen Entmündigungsprozesse und für ein selbsttätiges Indie-Hand-nehmen nur initiieren, wenn wir an der Lebenserfahrung der Individuen anknüpfen und das heißt eben auch an deren Gefühlen. 4. Methode „Szenisches Spiel“ am Beispiel von Seminaren zur Gewalt- und Konfliktverarbeitung Das „Szenische Spiel“ ist eine Methode, die Ingo Scheller im Rahmen der Lehrerausbildung an der Universität in Oldenburg aus der Theaterarbeit und hier speziell der Brechtschen Lehrstückarbeit heraus entwickelt hat (Vgl. Scheller 1998). Das „Szenische Spiel“ eignet sich zur Reflexion und Aufarbeitung von alltäglichen Erfahrungen. Man stellt eine real erlebte Situation als Standbild szenisch nach und arbeitet daran. Man hält den Film, den man noch im Kopf hat, an und betrachtet unter Einsatz verschiedener Verfahrensweisen, was in dieser zugespitzten Situation geschehen ist und was die daran Beteiligten in ihrer jeweiligen Lage empfinden. Dabei kann die Position des Opfers, die Position des Täters, die Position des Sowohl-als-auch und die Position des Zuschauers oder Außenstehenden nachempfunden werden. Konkret läuft das in einem Seminar etwa so ab. Jemand hat eine Konfliktsituation erlebt und baut die Szene mit drei oder vier Personen auf. Die Haltungen der Personen einschließlich ihrer Mimik werden möglichst genau rekonstruiert. Der Protagonist der Szene – also der, der sie erfahren hat – modelliert die Spieler so lange, bis das Standbild die G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 205 erlebte Situation so wiedergibt, wie er sie erinnert. Nun befragt der Spielleiter die einzelnen Personen, die weiter im Standbild verharren, nach dem, was sie gerade tun, wie es ihnen geht und was sie empfinden. Durch dieses sogenannte Einfühlungsgespräch wird die Szene immer plastischer, die Erfahrungen werden lebendig. Die Befragung der Personen verschafft uns einen Zugang zu den inneren Haltungen in der jeweiligen Position. Diese Haltungen sind selbstverständlich subjektiv und dementsprechend vom einzelnen Spieler abhängig. Wenn beispielsweise die Position eines Opfers nacheinander von zwei verschiedenen Personen gespielt wird, werden zwar beide Personen die Opferposition zeigen und nachempfinden, aber sie werden diese Position auf verschiedene Weise empfinden. Wir sehen als Beobachter eines Standbildes also immer einerseits die Position einer Person innerhalb der Szene und andererseits das, was der jeweilige Mensch subjektiv daraus macht und dabei erlebt. Wir haben nun das Standbild vor uns und haben gehört, was in den Personen vorgeht. Jetzt arbeiten wir mit verschiedenen Reflexionsmethoden an dem Bild weiter, um andere Perspektiven zu sehen und alternative Lösungen durchzuspielen. Eine Methode dazu ist die Stimmenskulptur. Dazu wählt der Spielleiter eine Person im Standbild aus und fordert die Beobachter auf, dieser Person eine Stimme zu geben, sie etwas sagen zu lassen, was zu ihrer Rolle passt. Bald stehen drei, vier oder fünf Beobachter hinter der Person und wiederholen mehrfach ihre Aussprüche wie beispielsweise „Was soll ich nur machen?“ oder „Nichts wie weg von hier“. Auf diese Weise entfaltet sich das, was in der Person vorgeht oder vorgehen könnte. Auch hier kommt es uns wieder darauf an, die ganz unterschiedlichen subjektiven Sichtweisen und Gefühle zu entäußern und damit kennen zu lernen. Die Stimmenskulptur kann uns erste Hinweise darauf geben, wie einzelne Personen eine andere Haltung innerhalb der Szene einnehmen könnten. Weitere Anregungen erhalten wir dann, wenn wir eine Position im Bild durch eine andere Person aus der Beobachtergruppe übernehmen und spielen lassen. Nach einem solchen Rollentausch führen wir erneut Einfühlungsgespräche. Wir lassen dann die Szene auch mal kurz anspielen und treten aus dem Standbild im engeren Sinn heraus. Der Film läuft jetzt weiter, wir halten ihn wieder an und beginnen erneut und immer wieder in anderen Besetzungen. Für viele Konfliktsituationen gibt es keine einfachen Lösungen oder ganz andere Verhaltensweisen. Oftmals zeigen jedoch kleine Haltungsänderungen einzelner Personen, wie man dennoch anders mit der Situation umgehen könnte. An zwei Beispielen möchte ich das Arbeiten mit der Methode erläutern. 206 F AC H TAG U N G E N Erstes Beispiel Eine Studentin war als Erziehungsbeistand für einen Jungen tätig. Den Auftrag dazu hatte ihr das Jugendamt erteilt, das auf diese Weise eine ambulante erzieherische Hilfe auf den Weg bringen kann, um einem Kind oder einem Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen zu unterstützen (§ 30 KJHG). Die Studentin machte einen Hausbesuch und erlebte einen Streit zwischen der Mutter und dem Sohn, den sie betreute. Der Sohn wurde wütend und wollte die Mutter ins Gesicht boxen. Die Studentin stand daneben. Das war die Szene. Wir leuchteten mit unserem Verfahren die verschiedenen Personen und ihre Positionen aus: die Hilflosigkeit der Studentin, den Zorn des Jugendlichen und die möglichen Hintergründe der Situation bei Mutter und Sohn. Es schien zunächst überhaupt keine Idee in Sicht, wie man sich denn in so einer Situation verhalten könne. Doch durch die verschiedenen Einfühlungsversuche und Perspektivenwechsel und auch durch körperliche Haltungen, die die Beobachter zu der Szene einnahmen, entwickelte sich eine Vorstellung, wie man mit Körpersprache auf die Situation reagieren kann. Eine Voraussetzung für einen selbstbewussteren Umgang mit der Szene war, die eigene Hilflosigkeit zulassen zu können und als Teil der Situation zu begreifen. Die Studentin hatte ihre Untätigkeit in der Situation ihrer eigenen Unfähigkeit zugeschrieben. Für sie war es allein schon wichtig, die Ratlosigkeit auch bei den anderen im Seminar zu erleben, dann aber aus dieser Ratlosigkeit heraus doch noch eine akzeptable Haltung zu der Konfliktsituation entwickeln zu können. Zweites Beispiel Diese Szene spielte sich am letzten Tag einer 14tägigen Jugendfreizeit auf einem Hausboot in Holland ab. An Bord befanden sich noch drei Jugendliche und ein Sozialarbeiter. Die Küche war noch nicht geputzt, das war die Aufgabe von Tim. Der Sozialarbeiter geriet in einen Streit mit ihm. Unterdessen verließen die anderen beiden Jugendlichen das Schiff, denn der Reisebus war eingetroffen. Letztendlich beförderte der Sozialarbeiter den Jugendlichen mit „sanfter Gewalt“, wie er das nannte, in die Küche und zwang ihn zum Putzen. Beim Vorstellen der Situation einige Monate später im Seminar war der Sozialarbeiter immer noch sehr bewegt und hochgradig unzufrieden mit dem ganzen Verlauf. Die Einfühlungsgespräche ergaben Einiges über die Vorschichte zu diesem Streit. Tim empfand schon die ganzen Tage bei der Freizeit als Stress. Der Sozialarbeiter G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 207 kam mit allen Jugendlichen gut aus, nur Tim habe immer eine Sonderrolle gehabt. Welchen Hintergrund die Empfindungen und Verhaltensweisen von Tim wohl gehabt haben, können wir nicht wissen. Aber an Hand der verschiedenen Ideen, die einige Spieler und Beobachter des Standbildes einbrachten, konnte der Sozialarbeiter Erklärungen finden, die ihm passend erschienen. Tim hat offenbar nach dem Motto agiert „besser unangenehm auffallen als gar nicht.“ Er war anscheinend „in sich gefangen“, hätte sich gerne anders verhalten, konnte es aber nicht. Dementsprechend tauchten alternative Verhaltensideen für die Zeit vor der zugespitzten Situation auf. Beispielsweise hätte man mit ihm mal einen Tag allein verbringen können und auf diese Weise sich ihm persönlich widmen und ihn auf seine Weise anerkennen können. Diese und andere Ideen spielten wir ausgiebig durch. Am Ende ging der Sozialarbeiter aus der Reflexionsarbeit mit dem Gefühl heraus, zukünftig solche Konstellationen eher erkennen und anders damit umgehen zu können. Er kam in einen Kontakt zu anderen Umgangsweisen nicht über das reine Nachdenken und Reden, sondern innerhalb eines nachgestellten Raumes und mit lebendigen Personen. Hier in dem Raum und an den Personen konnte er die anderen Haltungen spüren und erleben. Das Faszinierende am „Szenischen Spiel“ als einem Verfahren zur Reflexion ist für mich, wie man mit inneren Haltungen arbeiten kann, ohne es auf eine therapeutische Weise zu tun. Das Verfahren ist klar strukturiert und bietet einen Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens – beispielsweise bei den vom Spielleiter vorsichtig zu führenden Einfühlungsgesprächen – kann jeder von sich in der Position erzählen. Dabei tauchen unweigerlich eigene Dispositionen und Erinnerungen zu einer Situation auf, die man in ähnlicher Weise vielleicht schon einmal schmerzlich erlebt hat. Hier wird niemand gedrängt, dieses alles zu erzählen. Darum geht es ja nicht. Wir leuchten Situationen aus und das mit Hilfe der Gefühle von jedem von uns. Das, was uns dabei zu uns selbst, zu unserer Lebensgeschichte und zu unserem Umgang mit Konflikten einfällt, bleibt bei uns selbst und wird nicht entäußert. Dazu ist die Position hilfreich, die man spielt, und hinter der man, soweit wie nötig, versteckt bleibt. Natürlich muss der Spielleiter auch spüren, wenn sich ein Spieler zu weit einlässt, sei es weil er das Seminar als Therapie missversteht, oder sei es weil er sich von anderen aus der Gruppe zu einer Entblößung gedrängt fühlt. Das Verfahren bietet eine Fülle von Übungen, die der Spielleiter entsprechend einsetzen kann, damit sich die Arbeit innerhalb eines schützenden und strukturierenden Rahmens bewegt. 208 F A C H TA G U N G E N Andererseits, und da komme ich auf meine Faszination zurück, fühlen sich die meisten Teilnehmenden bei diesen Seminaren von den nachgestellten und durchgearbeiteten Situationen deshalb so berührt, weil sie emotionale Anteile haben entdecken und erleben können, die mit ihren Lebensthemen zu tun haben, ihnen aber doch in Teilen verborgen waren. Das aktuelle Beziehungsarrangement wird in unseren Seminaren nachgestellt und im wahrsten Sinn des Wortes szenisch und das heißt auch bildlich und körperlich nach-empfunden (Vgl. Gerspach 1998: 148). In diesem Prozess tauchen frühere Erfahrungen und Gefühle wieder auf, sie werden reaktiviert. Vielfach waren Teilnehmende bei den Seminaren davon überrascht und teilweise erschrocken, wie sehr ihnen Macht- und Gewaltausübung in einer nachgespielten Situation Spass bereit habe. In der Aufbereitung solcher Erfahrungen bleiben wir nicht bei dem Erschrecken stehen, können vielmehr herausarbeiten, inwiefern solche Anteile auch zu uns gehören, obwohl wir sie oft verleugnen. Das erleichtert möglicherweise ein Einfühlen in einen Täter bei einer vergleichbaren Konflikt- und Gewaltsituationen. Dieses Einfühlen erweitert die eigenen Handlungsmöglichkeiten. 5. Abschließende Gedanken In der Begründung zu dem Gesetzentwurf zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung listet die Bundesregierung eine Reihe von flankierenden Maßnahmen auf, so auch Beratungsund Bildungs-Leistungen, die der allgemeinen Förderung der Erziehung in der Familie dienen. In der Begründung heißt es dazu: „Mit solchen Angeboten können den Eltern auch Wege aufgezeigt werden, wie Konfliktsituationen in der Familie ohne Gewalt gelöst werden können (Deutscher Bundestag 1999: 6). Ich hoffe meine Ausführungen haben deutlich gemacht, wie wichtig beim Suchen nach anderen Lösungen die Einbeziehung der jeweiligen Persönlichkeiten ist. Insofern wird es in vielen Fällen wenig nutzen, wenn andere Wege „aufgezeigt“ werden, man wird sie unter starker Beteiligung der betroffenen Personen und unter Einbeziehung ihrer inneren Haltungen entwickeln müssen - statt aufzeigen also gemeinsam entwickeln. Mit der vorgestellten Verfahrensweise ist ein Lernen auf mehreren Ebenen möglich. Man erweitert die eigene Deutungskompetenz, indem die Standbilder beobachtet und reflektiert werden. Die Rolle der Beobachter beim Szenischen Spiel ist nicht nur wichtig, damit die Spielerinnen und Spieler eine Rückmeldung durch die Außenperspektive be- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G – P Ä D A G O G I S C H E S L E I T B I L D 209 kommen, sondern auch für die Beobachter selbst, die ihre Wahrnehmung schärfen und ihre eigenen Deutungen mit denen der anderen vergleichen. Beim Deuten von Konfliktsituationen beziehen wir soziale und gesellschaftliche Hintergründe selbstverständlich mit ein, sodass hier am konkreten Fall gleichzeitig Persönlichkeitsbildung und politische Bildung betrieben wird. Hier kommen, wie es auch Lipinski für die Bildungsarbeit zu diesem Thema gefordert hat, „individueller und struktureller Kontext“ zusammen (1999: 11). Wer in einem Standbild mitspielt und sich auf die Einfühlungsgespräche, auf die Stimmenskulptur und auf den Rollentausch einlässt, erweitert seine Fähigkeiten zur Empathie und zur Perspektivenübernahme. Die Perspektive des Gegenübers einnehmen zu können, ermöglicht Fremdverstehen. Wir können mit dem vorgestellten Verfahren an tiefere Schichten unserer Erfahrungen herankommen und damit in Teilen neu strukturieren, weil wir die verschiedenen Sinne im Körper ansprechen. Gefühle und Haltungen, die ausgeblendet werden, weil sie Angst machen oder mit Verbotenem zu tun haben, können hier über andere Personen mit denen ihn eigenen Strukturen auf eine neue Weise gesehen werden. Einen anderen Umgang mit Konflikten lernt man nicht allein dadurch, dass man einen anderen Umgang sieht. Aber das Sehen und Erleben gibt Möglichkeiten, die, sofern man sich wirklich berührt fühlt, auch jenseits des Seminars weiterwirken und auf die eine oder andere Weise aufgegriffen werden können. Anmerkungen 1 Auch bei Deegener (2000) steht fast nur die Kritik im Zentrum. Er greift die Konflikte und Aggressionen zwar auf und warnt davor, sie durch Verbote zu unterdrücken, beschäftigt sich jedoch wenig mit der Frage, wie denn Erziehung Grenzen setzen und den Aufbau von psychischen Strukturen so unterstützen kann, dass sich sozialverträgliche Formen der Konfliktaustragung entwickeln. 2 Vgl. Preuschoff (1999) zit. bei Deegener (2000: 31). Das Buch von Raser (1999) trägt zwar den Titel „Erziehung ist Beziehung“, auf Buber wird jedoch nicht verwiesen. 3 Die deterministische Sichtweise bedeutet, dass die frühen Kindheitserfahrungen das Leben im wesentlichen bestimmen. 210 F A C H TA G U N G E N Literatur Ahrbeck, Bernd 1997: Konflikt und Vermeidung. Psychoanalytische Überlegungen zu aktuellen Erziehungsfragen, Neuwied. Arnold, Rolf u.a. 2000: Konstruktivistische Impulse für Lehren und Lernen. In: ausserschulische bildung, Heft 4/99, S. 372-376. Benjamin, Jessica 1993: Vater und Tochter: Differentielle Identifizierung. Ein Beitrag zur Heterodoxie der Geschlechter. In: Dies.: Phantasie und Geschlecht. Psychoanalytische Studien über Idealisierung, Anerkennung und Differenz, Basel und Frankfurt, S. 87-114. Deutscher Bundestag 1999: Drucksache 14/1247. Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/ DIE GRÜNEN. Entwurf eines Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung, S. 1-8. Biesenbaum, Hannegret 2000: Es gibt keine Wahrnehmung ohne Gefühl. Warum Neurowissenschaft und Pädagogik zusammenarbeiten sollten, Frankfurter Rundschau vom 24. August. Butterwege, Christoph 2000: Sozialstaat, Globalisierung und Herrschaft des Marktes. In: Sozialextra 7/8 2000, S. 38-42. Deegener, Günther 2000: Die Würde des Kindes. Plädoyer für eine Erziehung ohne Gewalt, Weinheim und Basel. Devereux, Georges 1984: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, Frankfurt (zuerst erschienen: 1967 in Paris). Dornes, Marin 1993: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen, Frankfurt. Erdheim, Mario 1988: Adoleszenz zwischen Familie und Kultur. In: Ders.: Die Psychoanalyse und das Unbewußte in der Kultur, Frankfurt, S. 191-214. Gerspach, Manfred 1998: Wohin mit den Störern? Zur Sozialpädagogik der Verhaltensauffälligen, Köln. Grüneisen, Veronika 1998: Lernen durch Erfahrung. In: Eckes-Lapp, Rosemarie/Körner, Jürgen (Hrsg.): Psychoanalyse im sozialen Feld. Prävention – Supervision, Gießen, S. 233-250. Lipinski, Heike 1999: Gewaltfreie Erziehung – Perspektiven für die politische Bildung. Vortrag bei der Fachtagung „Gewaltfreie Erziehung“ am 27.10. in Bonn. Dokumentation S. 5-11. Miller, Alice 1983: Am Anfang war Erziehung, Frankfurt (zuerst: 1980). Negt, Oskar 2000: Die Aufdinglichkeit der Sinne. Vom machtgeschützten Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft, in Frankfurter Rundschau vom 28. Juni. Olivier, Christiane 2000: Das innere Monster zähmen. Warum unsere Kinder Autorität brauchen, Freiburg (zuerst erschienen in Frankreich 1998). 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Mai 2001 in Neustadt an der Weinstraße 4.3.1 Dorothea Frey Zusammenfassung Während der Tagung gab es einen breiten Konsens darüber, dass dieses Thema der gewaltfreien Erziehung eine hohen Stellenwert einnehmen muss und besonders für die Tagespflege immer wieder eine Form für Erfahrungsaustausch und Möglichkeiten der Reflexion des eigenen Erziehungsverhaltens erforderlich sind zur Stärkung der Erziehungskompetenz. Das gemeinsame Fragen und Nachsinnen, was ist Gewalt, wo beginnt für mich Gewalt, das offene Benennen von Gewalttätigkeiten in der Familie hat einen großen Beratungsund Stärkungsbedarf für die in der Tagespflege Tätigen gezeigt. Viel öfter müssten Fortbildungsmöglichkeiten mit solchen Themenstellungen angeboten werden. Außerdem wünschen sich die Teilnehmerinnen berufsbegleitende Supervision. Der Bundesverband für Kinderbetreuung in Tagespflege e.V. hat den Impuls aus dieser Fachtagung aufgenommen und hat zugesagt, den Wortlaut des neu gefassten § 1631 Abs. 2 BGB in den bundesweiten Mustervertrag für Betreuungsverhältnisse aufzunehmen: „Kinder haben ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Ausgehend von der Tatsache, dass die überwiegende Zahl der gewalttätigen Übergriffe in der Familie und im sozialen Nahfeld von Männern ausgehen, war es ganz besonders wichtig für ein Tätigkeitsfeld, in dem fast ausschließlich Frauen tätig sind, die geschlechtsspezifische Sichtweise von heranwachsenden Jungen eindrucksvoll dargestellt zu sehen, um deren Bedürfnisse und Ängste besser verstehen zu können. In einer Arbeitsgruppe wurde der Frage nachgegangen, ob und wann Mitmenschen eingreifen sollten, wenn sie Zeuge oder Zeugin von Gewalt an Kindern werden. Die Teilneh- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 213 merinnen konnten in ihrer Präsentation ihrer Arbeitsgruppe allen eindeutig mitteilen, dass es vom Gesetz her richtig ist, wenn „Gefahr in Verzug“ besteht, das Kind einem Arzt vorzustellen. Dass es wichtig ist, in solchen Notsituationen von Kindern, auf Hilfe in Beratungsstellen aufmerksam zu machen und alle Beteiligten ohne Bewertungen zu unterstützen. Die Fachtagung hatte weiter die Intension, den Blick für die gesellschaftlichen Forderungen für das Gelingen von gewaltfreier, respektvoller Erziehung zu schärfen mit dem Augenmerk auf die Stärkung der Eltern bzw. Tageseltern. Hier wurde es als ein gesamtgesellschaftliches Problem dargestellt, dass die Väter auch bei großem Interesse an der Erziehung ihrer Kinder zu wenig Spielraum von Seiten der Arbeitgeber eingeräumt bekommen, um am Familienleben aktiver teilnehmen zu können. Es zeigten sich jedoch auch kleine positive Anzeichen in der Weise, dass immer öfter auch Väter in Teilzeitarbeitsverhältnissen beschäftigt sein könnten und sich bei der Betreuung der Kinder mit ihren Partnerinnen, die ebenfalls in Teilzeit weiter arbeiten, abwechseln können. Diese neuen Familienorganisationen sind eine positive Möglichkeit, mit den grundlegenden familiären Veränderungen der vergangenen Jahre umgehen zu können. In dem Maße, wie von den Familien Mobilität und Flexibilität gefordert sind, müssten auch die Unternehmen bereit sein, auf junge Familien durch Schaffung von flexiblen Arbeitszeitmodellen einzugehen. Die neue Kampagne des Bundesfamilienministeriums, die Väter ermutigt, ebenfalls in „Elternzeit“ zu gehen, wird als Schritt in die richtige Richtung empfunden, da zur Zeit erst 2 % der Männer die „Elternzeit“ in Anspruch nehmen. Tatsache ist, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach der Ankunft des ersten Kindes stark sinkt. Wegen fehlender qualifizierter Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder unter drei Jahren kommt es aus ökonomischen Überlegungen meist zur traditionellen Arbeitsteilung in den Familien. Dies belastetet die wirtschaftliche Situation der jungen Eltern erheblich. Aus diesen und vielen weiteren Gründen wachsen die Scheidungsraten und rutschen Mütter mit kleinen Kindern vielfach in die Sozialhilfe. Insgesamt sind Frauen immer öfter gezwungen, ihr Leben selbst zu finanzieren, dies sollte in kommunalpolitische Entscheidungen mit einbezogen werden. In dieser Situation können Tagesmütter und -väter das fehlende Puzzleteil im Gesamtbild von Vereinbarkeit, Familie und Beruf sein. Diese können besonders den Alleinerziehenden helfen, wieder berufstätig zu sein, von der Sozialhilfe wegzukommen und damit die Kommunen zu entlasten. 214 F AC H TAG U N G E N Abschließend wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass die Tätigkeit der Tagesmütter und -väter ein geschütztes, qualifiziertes Berufsbild mit Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten sein muss. Damit sie diese verantwortungsvolle Aufgabe mit messbarer Qualität auch professionell erfüllen können. Dies würde auch der Notwendigkeit einer respektvollen, partnerschaftlichen, gewaltfreien Erziehung Rechnung tragen und dieses Bemühen zu einem breiten gesellschaftlichen Austausch über Werte in der Erziehung in die öffentliche Diskussion bringen. Dies würde ein höheres gesellschaftliches Ansehen der Kindererziehung allgemein mit sich bringen und somit die Chancen auf partnerschaftliche, gewaltfreie Erziehung erhöhen. Werte wie: Kinderfreundlichkeit, Toleranz, Lebenslust, Freundlichkeit und allgemeines „Fair play“ zwischen den Kulturen, können ein familienfreundlicheres Klima in Deutschland schaffen. Frei nach dem Motto: „Familien sind unsere Zukunft“ – sie sollten ein Höchstmaß an Wertschätzung und Unterstützung erfahren. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 215 4.3.2 Kai-D. Bussmann Gesetzliches Gewaltverbot nach § 1631 Abs. 2 BGB in der Erziehung und Betreuung im familiären Betreuungssystem Internationaler Vergleich zum gesetzlichen Gewaltverbot 1. Kurze Geschichte der Prügelstrafe 1.1 Historisches Material Soziologen lehren uns, dass das generelle Gewalttabu noch nie in der Menschheitsgeschichte so hoch im Kurs stand und allgemein akzeptiert wurde wie heute. Diese Entwicklung lässt sich auch am Beispiel der Prügelstrafen und körperlichen Strafen dokumentieren. Die Erziehung im letzten bzw. nunmehr vorletzten Jahrhundert - ich meine das 19. Jahrhundert – lässt sich noch sehr treffend als „Prügelpädagogik“ bezeichnen. Das Ausmaß körperlicher Gewalt im Dienste der Erziehung erreichte ein für uns heute kaum begreifliches Ausmaß. Es existierte eine Kultur der Züchtigung im Dienste einer ordentlichen und sittsamen Erziehung. Eine Züchtigungskultur, die sicherlich auch zu damaliger Zeit nicht unwidersprochen geblieben ist. Vielfach wurde hier auf Rousseau als Wegbereiter einer humanen Pädagogik in der Mitte des 18. Jahrhunderts Bezug genommen, die auf Zwangsmittel wie Körperstrafen verzichten will. Teilweise konnte man für die Idee der gewaltfreien Erziehung bereits auf Klassiker der hellenistischen Zeit verweisen, wie Plato oder Plutarch. Dennoch bleib die Züchtigung das dominante Mittel in der Erziehung. Dies kann man für heutige Schulen überhaupt nicht und für Familien sicherlich nicht mehr in gleicher Weise sagen. Radbill verweist für England und Nordamerika darauf, dass alle bildlichen Darstellungen Pädagogen mit der Birkenrute in der Hand zeigten. Die Aufklärung setzte jedoch der hemmungslosen Ausübung von Gewalt im Dienste der Zurichtung von Men- 216 F AC H TAG U N G E N schen zunehmend Limitationen entgegen, weil sie alles menschliche Handeln dem Primat der Vernunft unterwarf. Im Zuge dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gerieten professionelle Disziplinen zwangsläufig zu den Apologeten vernünftiger Erziehungsmethoden, vor allem die Pädagogik und später die Psychologie. Eng damit zusammenhängend machte der Gedanke der Besserung von Menschen gleichzeitig in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen Karriere. Die Sanktionsmethoden wurden subtiler und richteten sich immer weniger auf den Körper als auf eine psychische Beeinflussung, wie man spätestens seit den Arbeiten von Michel Foucault zur Geburt des Gefängnisses weiß. Seitenblick: Am Ende des 19. Jahrhunderts löste sich immerhin das männliche Patriarchat von der legalen Züchtigung der eigenen Ehefrau. Das BGB sah ein solches Züchtigungsrecht nur noch für die eigenen Kinder vor! Wir befinden uns somit – historisch gesehen – in der letzten Etappe einer vollständigen Durchsetzung des Gewalttabus. Eine Etappe, in der die rechtliche Subjektstellung nicht nur für die Frau, sondern nunmehr auch für das Kind entdeckt und entwickelt wird. 1.2 Gegenwärtige Studien Eindeutige Hinweise auf diesen sozialen Wertewandel ergaben viele internationale Studien. In unserer Bielefelder bundesweit durchgeführten Untersuchung konnten wir ebenfalls eine signifikante intergenerationelle Abnahme der Häufigkeit bei allen Sanktionsarten feststellen. Tabelle 1 „Intergenerationeller Wandel von Sanktionsmustern“ offenbart eine deutliche Wanderungsbewegung von einer Generation zur folgenden und zwar insbesondere von schweren Gewaltformen zu leichten. Die Gruppe der „gewaltbelasteten Eltern“ ist als einzige etwa um die Hälfte geschrumpft. Alle anderen Gruppen sind dagegen größer geworden. Den größten Zulauf hatte die Gruppe der „sanktionsfreien“ Eltern, gefolgt von der „konventionellen“ Sanktionsgruppe. Bezieht man andere Studien mit in die Analyse ein, so kann es als gesichert gelten, dass zumindest im Bereich der schweren Körperstrafen ein merklicher Rückgang erfolgt ist. Straus und Gelles berichten für den relativ kurzen Zeitraum von 1975 bis 1985 im Bereich schwerer Gewalt (wie „Tracht Prügel“) über einen Rückgang von 47 %. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 217 Diese Entwicklung ist sehr erfreulich, aber es gibt keinen Grund für eine Entwarnung. Vielmehr hat sich die Gewalt in dem Gewand der kleinen alltäglichen Gewalt maskiert. Dies ist die neue Gefahr, der es zu begegnen gilt. 1.2.1 Maskierung der Gewalt in kleinen und anderen „Dosierungen“ Die Dominanz der kleinen Gewaltformen belegen sehr anschaulich die Ergebnisse aus unserer repräsentativen Befragung von 2.400 Jugendlichen und 3.000 Erwachsenen. Nach den Selbstreports der Jugendlichen stellt die Ohrfeige eine der am stärksten verbreiteten Sanktionen dar. Diese leichte Form der Züchtigung bildet sogar die häufigste Form der häuslichen Erziehungsstrafen (81,2 %). Der Vergleich mit anderen Strafen wie Fernsehverbot (66,7 %), Ausgehverbot (64,2 %), Niederbrüllen (52 %), Kürzung des Taschengeldes (34,5 %) und Schweigen (36,9 %) zeigt die herausgehobene Bedeutung der leichten Züchtigung im familialen Alltag. Aber auch schwere Formen wie deftige Ohrfeigen haben nach den Selbstreports der Jugendlichen immerhin 43,5 % und eine Tracht Prügel 30,6 % erfahren. Die Angaben von Eltern bewegen sich in ähnlichen Größenordnungen. Versucht man eine Gruppenbildung, so zeigt sich, etwa 20 % der Familien mit Kindern sind zu den gewaltbelasteten zu zählen. Ferner ergaben die Befragungen, 13,5 % der Befragten haben schon einmal den Verdacht einer Misshandlung in einer anderen Familie gehabt. Berücksichtigt man die nur sehr eingeschränkten Beobachtungsmöglichkeiten der Erziehung in anderen Familien, so zeigen diese Größenordnungen, dass sich hinter unserer Gruppe der „gewaltbelasteten Familien“ ein beträchtliches Maß an Gewalt verbergen kann. Nunmehr gilt der Blick den psychischen Gewaltformen und sog. Verbotssanktionen (Fernsehverbot). Der Ergebnisse der Jugend- und Erwachsenenbefragung zeigen eindrucksvoll, dass in der gewaltbelasteten Familiengruppe nicht nur schwere Züchtigun- F AC H TAG U N G E N 218 gen auftreten, sondern in dem gesamten abgefragten Sanktionsspektrum ein deutlich höheres Sanktionsniveau im Vergleich zu den drei anderen Gruppen erreicht wird, wie am Beispiel einer Form des Liebensentzugs untersucht worden ist. Tabelle 2 Gewalt in der Erziehung ist infolgedessen eher als Ausdruck eines repressiven und punitiven Erziehungsstils anzusehen. Wer viel schlägt sanktioniert auch sonst viel. Die sogenannte Ausweichthese, Katharsisthese, ließ sich in anderen Untersuchungen nicht bestätigen. Studien belegen insgesamt, dass bereits seit Generationen der Einsatz von Gewalt in der Familie mit psychischen und anderen Sanktionen hochgradig korreliert. Gewalt ist somit nicht das primäre Problem, sondern sie ist die Spitze eines Eisbergs eines generellen repressiven und hilflosen Erziehungsstils in vielen Familien. Nochmals kleiner Seitenblick: Dieses Ergebnis lässt somit hoffen; eine Senkung des Gewaltniveaus dürfte sich auf andere, nicht körperliche, Sanktionsformen ebenfalls sehr positiv auswirken. Die familiale Gewalt gegen Kindern hat sich somit in ihrer historischen Entwicklung maskiert – sie ist nicht verschwunden, sondern sie hat sich verkrochen. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 219 1.2.2 Neben der Maskierung der Gewalt erfolgt bei den Eltern eine gefährliche Immunisierung gegen Kritik Die pädagogische Aufklärung ist deshalb an ihre Grenzen geraten. So meine These. Analysiert man die Einstellungen zu pädagogischen Begründungen, so wird Gewalt in der Erziehung weniger gutgeheißen als abgelehnt. Insbesondere befürworten die Befragten überwiegend diskursive Erziehungsmuster. So waren 83,3 % der Eltern der Meinung, „Eltern sollten mehr mit ihren Kindern reden, als gleich eine lockere Hand zu haben“. Dagegen waren ur 37,9 % der Meinung, dass eine Ohrfeige besser sei, als mit dem Kind nicht mehr zu sprechen, und nur etwa mehr als ein Viertel (28 %) stimmten der Aussage zu, „manchmal sind ein paar Ohrfeigen der beste oder schnellste Weg, Kindern klare Grenzen zu setzen“. Diese Ergebnisse sprechen eindeutig dafür, dass Eltern weniger aus einer erzieherischen Überzeugung ihre Kinder züchtigen, als vielmehr aufgrund erlernter Verhaltensmuster. Hierfür spricht auch, wenn es zu Handgreiflichkeiten gekommen ist, dass diese stärker auf emotionale und affektive Gründe zurückgeführt werden als auf erzieherische Notwendigkeiten. So stimmte der Begründung „wenn Eltern die Hand ausrutscht, geschieht es oft aus Hilflosigkeit“, immerhin eine deutliche Mehrheit (60,2 %) der Eltern zu. Familiale Gewalt gegen Kinder erscheint heute mehr denn je den Beteiligten als Unfall, als Ausdruck eigener Schwäche und Überforderung. Alle – und zwar auch die gewalt- Tabelle 3 220 F A C H TA G U N G E N belasteten Familien – haben die Suppe des Anti-Gewalt-Diskurses ausgelöffelt und ziehen sich auf ein kaum noch rational angreifbares Rechtfertigungsniveau zurück. Da bleibt die Gewalt vermutlich noch viele Jahrzehnte nahezu unverändert hocken, wenn wir nichts tun. Aber was kann man tun? Die Problematik verschärft sich noch durch die spezifischen Ursachen von Gewalt gegen Kinder. Insbesondere die Gruppe der gewaltbelasteten Eltern erweist sich in dieser Hinsicht als Herausforderung. Es sind viele Hürden zu nehmen wie erzieherische Rechtfertigungsmuster, den „Kreislauf der Gewalt“ sowie familiale Normen und die allgemein verbreitete Vorstellung zur Privatheit der Familie. 2. Die Schwedische Strategie Schweden ist das erste Land, in dem ein absolutes Verbot elterlicher Körperstrafen in Kraft getreten ist. 1979 wurde in das dortige Elternrecht (Kapitel 6 § 2 Abs. 2) eine Bestimmung eingefügt, die Eltern eine körperliche Bestrafung oder sonstige kränkende Behandlung ihrer Kinder untersagt. Mittlerweile sind andere skandinavische Länder sowie Österreich 1989 dem schwedischen Beispiel gefolgt. Erfahrungswissen ist bislang nur für Schweden vorhanden, so dass ich mich auf die schwedischen Erfahrungen beschränke. Vor der Reform befanden sich die Schweden wahrscheinlich auf dem familialen Gewaltniveau, auf dem wir heute stehen. Wie konnte ihnen ein Zurückdrängen der Gewalt gegen Kinder gelingen? Das Fehlen eines expliziten rechtlichen Verbots wurde aufgrund der vorhergehenden halbherzigen rechtlichen Regelungen alsbald als Problem angese- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 221 hen. Mit dem Ziel, Eltern eine eindeutige Orientierung über die rechtlichen Grenzen erzieherischer Maßnahmen an die Hand zu geben, wurde deshalb 1979 ein explizites gesetzliches Verbot von Körperstrafen verabschiedet: „Das Kind darf weder einer körperlichen Bestrafung noch einer sonstigen kränkenden Behandlung ausgesetzt werden“. Es handelt sich somit um eine rechtliche Regelung, die den Interpretationsraum der Rechtsprinzipien stark einschränkt und ihnen eine eindeutige rechtliche Unterscheidung zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Erziehungsmaßnahmen an die Hand gibt. Mit dieser Rechtsreform wurden interessanterweise keine punitiven Intentionen verfolgt, sondern ausschließlich bewusstseinsbildende. Eine strafrechtliche Verfolgung war nur in Fällen von Misshandlungen vorgesehen. Diese Zurückhaltung gegenüber strafrechtlichen Interventionen wurde vor allem damit begründet, dass innerhalb der Elternschaft keine Märtyrer durch eine strafrechtliche Verfolgung geschaffen werden sollten. Man kann bereits an dieser Begründung erkennen, dass hier eine Rechtsnorm nur behutsam gegen verbreitete soziale Normen in der Bevölkerung durchgesetzt werden sollte. Hierzu musste daher aus rechtssoziologischer Sicht sichergestellt sein, dass die neu eingeführte rechtliche Unterscheidung in die gesellschaftlichen Kommunikationskreisläufe gelangte. Die schwedische Regierung löste dieses Problem durch eine in der schwedischen Geschichte beispiellose, großangelegte Informationskampagne. So wurden Broschüren in alle Haushalte verschickt und zusätzlich wurde für zwei Monate auf jeder Milchtüte das rechtliche Verbot abgedruckt. Auf diese Weise erreichte man jede schwedische Familie und erzielte eine außerordentlich hohe Rechtskenntnis. In einer 1981 durchgeführten Studie waren 99 % der Schweden über das Züchtigungsverbot informiert. Darüber hinaus wurde dieses Verbot in verschiedenen Fortbildungskursen für junge und angehende Eltern, die fast alle Eltern besuchten, fester Bestandteil im Lehrprogramm. Erfahrungsberichte können außerdem belegen, dass schwedische Kinder nicht nur ebenfalls über eine sehr hohe Rechtskenntnis verfügen, sondern ihre Eltern sofort an dieses rechtliche Züchtigungsverbot erinnern, wenn es notwendig sein sollte. Die Rechtsreform wurde innerhalb der schwedischen Gesellschaft nicht nur selbstverständlich, sondern sie wird auch im familialen Alltag gebraucht. Sie zirkuliert in den relevanten gesellschaftlichen Diskursen. Aus kommunikationstheoretischer Sicht scheint also in relativ kurzer Zeit ein optimaler Zustand erreicht worden zu sein. 222 F AC H TAG U N G E N Die Erfolge des expliziten schwedischen Verbots – trotz seiner bewussten Symbolik – können sich gleichwohl sehen lassen. 1980, ein Jahr nach dem Verbot von Körperstrafen, fand ein Vergleich mit der Situation in den U.S.A. statt. Er ergab einen deutlich geringeren Gebrauch von Körperstrafen mit etwa 50 % (51,3 %) in Schweden gegenüber knapp 80 % (79,2 %) in den U.S.A. Am stärksten ausgeprägt waren die Unterschiede im Bereich leichter Züchtigungsformen und geringer bei schweren Körperstrafen. Anmerkung: Wir liegen heute etwa auf dem Niveau der US-Amerikaner, wenn wir auf die Häufigkeit von Ohrfeigen abstellen (ca. 80 %, siehe oben)! Immerhin kann ergänzend auf die Statistik eines Stockholmer Krankenhauses verwiesen werden, wonach die Zahl der Fälle von Kindesmisshandlungen 1989 auf ein Sechstel des Niveaus von 1970 gesunken ist. Für den Zeitraum sechs Jahre nach der Einführung des Körperstrafenverbotes verweisen Gelles und Edfeldt auf Berichte von klinischen Pädiatern, die über keine Misshandlungsfälle in ihrer Praxis berichten können. Des weiteren wurde ein vorübergehender Anstieg der Meldungen über Kindesmisshandlungen bei den Sozialämtgern festgestellt, der auf die gestiegene Sensibilität in der Bevölkerung zurückgeführt werden kann. Ebenso wurde nur Anfang der achtziger Jahre von den schwedischen Sozialämtern häufiger eine Strafanzeige gestellt; ein Rückgang erfolgte aufgrund der später einsetzenden stärkeren Familienorientierung in der Sozialarbeit. Außerdem, vergleicht man die schwedische Lage mit unserer bundesdeutschen Situation, sind die Unterschiede zwischen beiden Ländern erheblich. Zieht man die Einstellungen (!) zu „leichten Ohrfeigen“ aus unserer zeitgleichen deutschen Untersuchung heran, so halten 40,7 % der befragten Erwachsenen diese für (eindeutig) „in Ordnung“. In Schweden sind es dagegen bei einer vergleichbaren Frage im gleichen Zeitraum nur 11 %. Verschiedene Studien kommen daher unter Abwägung aller Indikatoren zu der Vermutung, dass die Rechtsreform mit der pädagogischen Aufklärungsarbeit zumindest die intergenerationelle Weitergabe von gewaltförmigen Sanktionsmustern erheblich gebremst hat. Wichtig war es, das Körperstrafenverbot an andere Diskurse anzukoppeln und auf diese Weise in deren Kontext einzuführen. Im schwedischen Fall hatte das explizite Verbot mit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sowohl in den Massenmedien als auch in den (familialen-) pädagogischen Diskursen beigetragen. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 223 3. Gründe für ein rechtliches Verbot Aber, warum konnten die Schweden nur diesen Weg eines absoluten Verbots gehen? 3.1 Differenzierter Gewaltbegriff Die Antwort erhält man, wenn man sich darüber klar wird, wie die Züchtigung der Kinder heute trotz aller pädagogischen Weisheit funktioniert. Die Antwort gleich vorweggenommen. Gewalt ist nicht gleich Gewalt, oder die Gewalt gegen die eigenen Kinder gilt häufig nicht als Gewalt. Die Definition von Gewalt und die damit verbundene Stigmatisierung und Mobilisierung von äußerer Hilfe ist abhängig von den jeweiligen normativen Bewertungsmaßstäben. Ein Problembewusstsein setzt überhaupt voraus, dass es sich um Gewalt (!) gegen Kinder handelt. Wir haben Eltern danach gefragt, wie sie dieselbe gewaltförmige Handlung in verschiedenen Situationen und gegen verschiedene Personen bezeichnen würden. Berücksichtigen Sie bitte in der folgenden Gegenüberstellung, dass sowohl die Gewalt zwischen Erwachsenen wie auch zwischen Lehrern und Schülern verboten ist. Immerhin ist die körperliche Züchtigung von Schülerinnen und Schülern seit den siebziger Jahren Tabelle 5 224 F A C H TA G U N G E N durch Schulgesetze in den einzelnen Bundesländern untersagt. Es besteht in allen Bundesländern ein absolutes Verbot von Körperstrafen in der Schulerziehung, das keine Ausnahme kennt und keinen Auslegungsspielraum eröffnet. Vergleicht man die rechtswidrigen Gewaltausübungen miteinander, so zeigt sich, dass selbst schweren Züchtigungsformen in der Familie wie der Tracht Prügel ein geringerer Gewaltgrad zugeschrieben wird, als der Ohrfeige des Lehrers in der Schule oder eines Vorgesetzten im Betrieb. Im welchem Umfang die Etikettierung von Handlungen von ihrer Legitimierbarkeit abhängt, veranschaulicht auch ein innerfamilialer Vergleich zwischen erzieherisch begründeten und unbegründeten Körperstrafen. Eine Ohrfeige, die nur aufgrund der Gereitzbarkeit von Eltern erfolgt, wird deutlich stärker als Gewalt angesehen, als wenn sie auf den Ungehorsam des Kindes zurückzuführen ist. Der fehlende erzieherische Anlass führt sogar dazu, dass die leichte Körperstrafe einen noch stärkeren Gewaltgrad zugeschrieben bekommt als die gerechtfertigte Tracht Prügel. Über die Hälfte (51,0 %) sehen die Ohrfeige wegen der Gereiztbarkeit der Eltern als Gewalt an, gegenüber nur 37,2 % bei einer erzieherisch begründeten Tracht Prügel. Wir erkennen bereits hieran, wie wichtig die Bewertung einer Handlung ist. Die Auswirkungen der normativen Struktur einer Gesellschaft auf ihre Semantik zeigt sich indes nicht nur im Vergleich zwischen verschieden Gewaltformen, sondern auch in der Gegenüberstellung verschiedener Sanktionsgruppen. Allein bei der Definition der sexuellen Gewalt ist am ehesten ein Konsens zwischen den vier Gruppen zu erkennen. In den Bereichen der körperlichen und psychischen Einwirkung ist dagegen eine deutliche Abweichung der gewaltbelasteten zu den anderen Sanktionsgruppen erkennbar. Der signifikante Unterschied im Bereich der psychischen Einwirkung korrespondiert wiederum mit dem in den obigen Untersuchungen festgestellten häufigeren Einsatz psychischer Sanktionsformen in dieser Sanktionsgruppe, wie Schweigen. Der Vergleich aller drei Gewaltformen legt die Vermutung nahe, dass nur der Bereich des rechtlich eindeutigen unzulässigen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einem einheitlichen Gewaltbegriff führt. Nur in diesem Bereich ist ein für alle Gruppen gleicher Sprachgebrauch und somit auch gleiche normative Orientierung erkennbar. Die Abstinenz rechtli- G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 225 cher Unterscheidungen im Bereich psychischer und körperlicher Sanktionen in der Familie spiegelt sich in relativ weit auseinander driftenden Gewaltdefinition wider. Tabelle 6 Geht man einen Schritt weiter und fragt danach, was als Misshandlung angesehen wird, so werden die semantischen Diskrepanzen zwischen den Sanktionsgruppen deutlich. So definieren 16,2 % in der gewaltbelasteten Sanktionsgruppe diese schwere körperliche Züchtigungsform nicht eindeutig als Misshandlung, sondern ordnen sie im mittleren Bereich zwischen den Polen „Misshandlung“ und „keine Misshandlung“ ein, während es bei den anderen drei Gruppen nur etwa 3 % sind. Tabelle 7: Misshandlungsdefinitionen in den Sanktionsgruppen Noch gravierender fallen die definitorischen Unterschiede bei den anderen Beispielen aus, die häufig Vorstufen zum obigen Schweregrad sind. Schläge mit dem Stock erachten in der vierten Sanktionsgruppe nur 62,9 % der Befragten als Misshandlung gegenü- 226 F AC H TAG U N G E N ber etwa 90 % bei den anderen drei Gruppen. Bedenklich erscheint auch das Ergebnis zum vierten Fallbeispiel, bei dem Eltern dem Kind häufiger eine Tracht Prügel aufgrund ihrer leichten Reizbarkeit geben. Nur 63,6 % bezeichnen eine Tracht Prügel in einer gereizten Situation noch als Misshandlung, während der Anteil in den anderen Gruppen um mehr als 20 Prozentpunkte höher ist. Fazit: Die Wahrnehmung und Definition von Gewalt oder Misshandlung ist Spielball schlagender Eltern. Von der „Rechtsfreform“ der früheren Bundesregierung, dem Misshandlungsverbot, werden typische Gewaltkonstellationen gerade nicht erfasst. Wie auch die Pädagogik muss sich auch das Recht um eine klare Sprache bemühen, sonst sind alle Bemühungen wertlos. 3.2 Pädagogische Aufklärung (Selbstkontrolle) Die zuvor genannten Ergebnisse dienten dazu zu zeigen, die gegenwärtige Problematik kann nicht mehr allein mit pädagogischer Aufklärung angegangen werden. Eltern schlagen mehr denn je ohne rechte Überzeugung. Dies unterscheidet unser Jahrhundert von den vorhergegangenen deutlich. Und, sie können diesen Erziehungsstil auch weiter beibehalten, weil sie nicht in einen Widerspruch zu dem von ihnen selbst akzeptierten Gewaltverbot geraten. Ihre Gewalt gegen die eigenen Kinder ist für die meisten gar keine Gewalt. 3.3 Stimulierung der sozialen Kontrolle (Fremdkontrolle) 3.3.1 Publizität professioneller Ansprechpartner Aber noch einmal zurück zu den Schweden. Warum konnten sie nicht allein auf Aufklärung und auf ihr gut ausgebautes Netz an sozialen Hilfseinrichtungen bauen? Man könnte meinen, es könnte eine Stimulierung der informellen sozialen Kontrolle im Sinne einer Fremdkontrolle helfen, also ganz im Sinne der Selbstregulierungskräfte von Eltern, Kindern, Nachbarn und so weiter. Dies stellt sich jedoch als eine naive Hoffnung heraus. In unser Studie fragten wir unter anderem nach der Kenntnis möglicher Hilfs- und Beratungszentren im Falle familialer Probleme (also nicht nur bezogen auf Gewalt!). Beginnen wir mit der Darstellung der Ergebnisse aus einer offenen Frage (!) zu möglichen Beratungsstellen, die Kinder und Jugendliche ansprechen oder anrufen können, G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 227 wenn sie größere Probleme mit ihren Eltern haben. Als erstes fällt die mangelnde Publizität von professionellen Ansprechpartnern bei der Gruppe der Jugendlichen auf. Zwei Drittel der Jugendlichen konnten keine Angaben machen, während dies bei den Erwachsenen nur bei der Hälfte der Fall war. Jugendliche scheinen trotz ihrer besonderen Betroffenheit uninformierter und daher hilfloser zu sein. 3.3.2 Bereitschaft und tatsächliches Interventionsverhalten Aber wie steht es mit dem tatsächlichen Interventionsverhalten? Fragt man sowohl nach einem von den Befragten selbst eingeschätzten möglichen Verhaltensweisen als auch nach der tatsächlichen damaligen Reaktion bei denjenigen, die über einen Fall von Misshandlung berichten konnten, so zeigt der Vergleich zwischen Einstellungen und Verhalten interessanterweise, dass die geäußerten Interventionspräferenzen gegenüber nicht-professionellen Ansprechpartnern ungefähr dem tatsächlichen Verhalten entsprechen. Tabelle 8 Das wichtige Kernergebnis lautet – sieht man alle gewählten Ansprechpartner zusammen: Das Ausmaß der tatsächlichen sozialen Reaktion ist zwar relativ stark ausgeprägt, aber sie erfolgte in einer eher familiären Form! Die tatsächliche soziale Kontrolle ist primär eine zwischen Individuen, die eine institutionelle Einmischung zu scheuen scheinen. Bemerkenswert ist auch, dass die Bedeutung von eher informellen Institutionen wie Sorgentelefon oder kirchliche Beratungs- und Kinderschutzeinrichtungen genauso 228 F AC H TAG U N G E N gering ist wie die einer repressiv ausgerichteten Institution, der Polizei! Die Gründe hierfür können zwar unterschiedlich sein, aber man kann auch hier vermuten, dass es einen gemeinsamen Grund gibt. Tabelle 9 3.3.3 Die Privatheit der Familie und ihre Gewalt So betonte Garbarino bereits 1977 die Notwendigkeit der Einbeziehung bestehender kultureller Rechtfertigungsmuster und die Berücksichtigung der sozialen Isolation von Kindern und Eltern. Letzteren Aspekt fasste er in dem Satz zusammen, „Child … ‚feed’ on privacy“. Die These zur Privatheit der Familie wird durch verschiedene Ergebnisse unserer Studie bestätigt. Hier konkret: Professionelle Institutionen erlangen nur in sehr seltenen Fällen Kenntnis von begründeten Verdachtsfällen. Geht man von einer These der gesellschaftlich bedingten Privatheit der Familie aus, so wäre zu vermuten, dass nicht nur eine Hemmschwelle gegenüber professionellen Einrichtungen besteht, weil diese zu radikal intervenieren würden. Vielmehr ist auch eine Tendenz anzunehmen, die Dinge unter sich zu besprechen, um möglichst nichts nach draußen dringen zu lassen, weil die Privatsphäre der Familie als unantastbar gilt. Das Recht selbst ist durch den grundrechtlichen Schutz der Familie in Art. 6 GG – besonders G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 229 durch den den Eltern im Familienrecht eingeräumten weiten erzieherischen Freiraum – für die Tabuzone mitverantwortlich, die um die Familie, dass heißt auch um ihre Erziehungspraktiken, gezogen wird. Berücksichtigt man diese rechtliche Barriere, die die Familie insbesondere vor staatlichen Interventionen schützen soll, so ist jegliche Intervention keine Frage nur der Höflichkeit oder Toleranz. Vielmehr drängt sich jedem, der von gewaltförmigen Übergriffen von Eltern erfährt, ein Gefühl der Einmischung in innerfamiliale Angelegenheiten auf. Eng damit verknüpft ist das Risiko des Öffentlichwerdens. Familiale Erziehungsmethoden können zum Thema in der Nachbarschaft werden, und dies scheut man offenbar mehr als die Misshandlung von Kindern. Das gesellschaftliche Tabu wäre durchbrochen, was auch auf den Beobachter negativ zurückschlagen könnte und von ihm antizipiert wird. Tabelle 10 Wir wissen, dass der Anteil derjenigen, die sich wahrscheinlich an eine Beratungseinrichtung wenden würden, nur etwa ein Drittel ausmacht. Nimmt man zudem das tatsächliche Verhalten im „Ernstfall“ als Bezugspunkt, so schrumpft dieser Anteil beim Jugendamt auf ein Viertel und bei den anderen professionellen Ansprechpartnern sogar auf weniger als 10 %. Die Gründe hierfür werden auf der Frage nach ihren Bedenken gegenüber einer Kontaktaufnahme deutlich. Unter allen möglichen Gründen dominieren die Bedenken, die betreffende Familie in ihrer Privatheit zu stören. Sich nicht an eine Beratungseinrichtung wenden zu wollen wird von F AC H TAG U N G E N 230 der Befürchtung dominiert, in die Privatsphäre anderer Familien einzudringen (41,8 %) oder als Spitzel bzw. als zu neugierig zu gelten (34,7 %). Bezieht man den Anteil derjenigen ein, die zumindest teilweise diese Bedenken hegen, so sieht sich die Mehrheit von bis zu fast 80 % der Bevölkerung in einem Dilemma zwischen Helfen-Wollen und Schutz der Privatsphäre anderer Familien. Fazit: Die normalerweise hohe Bedeutung informeller sozialer Kontrolle im Bereich familaler Gewalt kann nicht greifen. Die Familie operiert nahezu ungestört von äußerer Kontrolle. Wie kann dieser Schutzwall poröser werden? Wie kann man diese Mechanismen zu durchbrechen? 4. Das Modell Recht als Kommunikationsmedium Die Antwort lautet: Nur durch ein ausdrückliches rechtliches Verbot von Körperstrafen im Verbund mit sozialen und institutionellen Multiplikatoren wie Schulen, Jugendämter, Ämter für soziale Dienste und nicht staatliche Hilfseinrichtungen, Beratungszentren usw. Wir brauchen insbesondere ein modernes Marketing für soziale Hilfseinrichtungen. Es hakt derzeit noch an einem positiven Image entsprechender Institutionen und Inanspruchnahme von Hilfen. Wenn wir diese Voraussetzungen schaffen, dann erhält das Körperstrafenverbot einen enormen Schub. Einem solchen Verbot kann nur eine symbolische Wirkung zukommen, da es nur über einen geringen direkten Einfluss auf das Erziehungsverhalten von Eltern verfügt. Damit ist gleichwohl mehr gewonnen, als man auf den ersten Blick meint. Der Begriff der symbolischen Wirkung steht vielmehr für die sehr subtilen Beeinflussungsmöglichkeiten von Rechtsverboten, wie aus der folgenden Übersicht entnommen werden kann: Symbolische Wirkung eines Körperstrafenverbots I. Veränderung der Wahrnehmung von Realität 1. Markierung von Verhaltensgrenzen 2. Definition von Gewalt und Sensibilisierung für Gewalt II. Veränderung des Konfliktverlaufs 1. Thematisierung von Grenzüberschreitungen 2. Mobilisierung von sozialer Unterstützung G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 231 Neben der Sensibilisierung für gewalthaltige Erziehungsstile gewährleistet ein rechtliches Verbot auch eine Veränderung des Konfliktverlaufs. Die von uns in qualitativen Interviews befragten Schüler und Schülerinnen (N = 69) erzählten sehr eindrucksvoll, wie sie sich ihr Konfliktverhalten in der Familie vorstellen, wenn das Züchtigungsrecht abgeschafft würde. Ein solches Verbot würde zum Thema werden und die große Mehrheit meinte sogar, eine derartige rechtliche Veränderung zu Hause bei gegebenem Anlass anzusprechen. Obwohl die Jugendlichen eigentlich nicht als Hoffnungsträger für erzieherische Reformen gelten dürfen, weil sie im wesentlichen die Erziehungsstile der Eltern billigen und diese später zumeist auch beibehalten (siehe Kreislauf der Gewalt), sind sie durch ein derartiges Referenzsystem wie Recht beeinflussbar. Ein gesetzliches Verbot könnte deshalb das Vehikel sein, mit dem gewaltkritische Inhalte stärker in die familialen Diskurse und ihre Erziehungsrationalität eingeführt werden können. Die hohe Thematisierungsbereitschaft der Jugendlichen scheint jedenfalls hierfür zu sprechen. Alles spricht somit für ein radikales Verbot von Körperstrafen in der Familie. Auf die freiwillige Selbstbindung aus pädagogischer Einsicht haben wir lange genug gehofft. Unsere Gesellschaft muss nun verbindliche Grenzen ziehen, was Recht und Unrecht ist, und kann nicht mehr alles ungezügelten Selbstregulierungskräften überlassen. Zudem, es werden Mechanismen der Thematisierung und informellen sozialen Kontrolle auf dem Boden eingeräumter Rechte um so stärker eintreten, je mehr alternative Hilfen (wie Kinderschutzzentren, Zufluchtshäuser, Beratungszentren) zum Recht verstärkt angeboten werden, wie wir aus rechtssoziologischen Studien zur Konfliktentwicklung und zum Konfliktverlauf wissen. Auf dieses Zusammenspiel von Recht und Alternativen zum Recht kommt es an. Gerade wenn man den Staatsanwalt nicht im Kinderzimmer haben will, muss das Recht die informellen Kontrollpotenziale stärken. Natürlich nehmen die Konflikte in vielen Familien durch die Einführung eines rechtlichen Gewaltverbots nicht sofort ab, aber das bisherige Ausmaß der Gewalt gegen Kinder in vielen Familien ist auch kein Indiz für Harmonie und ungetrübte Geborgenheit. Schließlich haben zahlreiche Studien in den letzten 20 Jahren Indizien für die vielfältigen erheblichen negativen Folgen von Kindesmisshandlungen erbracht, wie: ■ schwere psycho-soziale Auffälligkeiten, ■ erhöhtes Risiko nachfolgender Delinquenz und Gewalttätigkeit, ■ latente Gefahren einer Eskalation der Gewalt, ■ Entstehung von anti-sozialen Verhaltensweisen von Kindern. 232 F A C H TA G U N G E N Die Familie ist für viele eben kein Hort der Idylle und Harmonie. Angesichts dieser Risiken erscheint eine doch ausschließlich normative (!) Irritation der bisherigen familialen Normalität als unumgänglich. Eine Verschärfung der strafrechtlichen Verfolgung wäre hingegen eher dysfunktional. Das seit November 2000 geltende Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung empfiehlt sich bereits aufgrund seiner Eindeutigkeit für eine derartige symbolische Rechtsreform: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“ (BT-Drucksache 14/1247). Hinzu kommt, es vermag an das in der Gesellschaft konsentierte Gewalttabu anzuknüpfen und vereinigt allein deshalb einen hohen Aufmerksamkeitswert auf sich. Dennoch zeigen die Ergebnisse aus unserer Studie wie auch die schwedischen Erfahrungen, dass zur Unterstützung einer solchen Rechtsreform unbedingt eine groß angelegte Aufklärungskampagne durch Massenmedien und andere Multiplikatoren notwendig ist. Hierzu zählen vor allem auch die Schulen, da ihnen aufgrund des bereits dort praktizierten Verbots von Körperstraße eine wichtige Vorbildfunktion zukommt. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 233 Nur in diesem Verbund wird ein allmählicher Bewusstseinswandel eintreten, dem ein Absinken des familialen Gewaltniveaus innerhalb weniger Jahre folgen wird. Ausgehend von den schwedischen Erfahrungen kann in bundesdeutschen Familien innerhalb von fünf Jahren – bei vorsichtiger Schätzung (!) – mit einem Rückgang leichter Körperstrafen um ca. 30-50 % und schwerer Züchtigungen um etwa 10 % gerechnet werden, was in beiden Fällen einer Halbierung der familialen Gewalt gleichkäme. Erste deutliche Anzeichen eines Rückgangs müssten sich hingegen bereits 2 Jahre nach Inkrafttreten der geplanten Rechtsreform zeigen, vorausgesetzt, es kommt zu einer beabsichtigten umfassenden Aufklärungskampagne. Denn der Sinn einer Ächtung familialer Gewalt gegen Kinder muss von vielen Disziplinen und Organisationen in die Familien hinein kommuniziert werden; das Recht aber ist der aufmerksamkeitsauslösende „Aufhänger“; es dient als normatives Vorbild und setzt die für alle verbindlichen Grenzen. Literatur Bussmann, Kai-D. (1995): Familiale Gewalt gegen Kinder und das Recht. Erste Ergebnisse aus einer Studie zur Beeinflussung von Gewalt in der Erziehung, S. 261-279, in: U. Gerhardt, S. Hradil, D. Lucke und W. Nauck (Hrsg.): „Familie der Zukunft. Lebensbedingungen und Lebensformen“. Opladen. Bussmann, Kai-D. Horn, Wiebke (1995): Elternstrafen und Lehrerstrafen. Eine Untersuchung zur Strafpraxis in Schule und Familie, S. 29-41, in: J. Bastian (Hrsg.), Strafe muß sein? Das Strafproblem zwischen Tabu und Wirklichkeit, 2. Beiheft der Zeitschrift Pädagogik. Hamburg. Bussman, Kai-D. (2000): Verbot familialer Gewalt gegen Kinder. Zur Einführung rechtlicher Regelungen sowie zum (Straf-)Recht als Kommunikationsmedium. Köln et al. Bussmann, Kai-D. (2001): Recht und Praxis gewaltfreier Erziehung. Zu den Chancen eines rechtlichen Gewaltverbots in der Familie aus internationaler und kriminologischer Perspektive, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, im Druck. Durant, Jam E. (1996) : The Swedish ban on corporal punishment: Its history and effects, S. 1925, in: D. Frehsee, W. Horn, K.-D. Bussman (Hrsg.), Family violence against children. Berlin, New York. Edfeldt, Åke W. (1996); The Swedish 1979 Aga ban plus fifteen, S. 27-37 in: D. Frehsee, W. Horn, K.D. Bussmann (Hrsg.), Family violence against children. Berlin, New York. Enfer, Anette (1989): Gewalt gegen Kinder in der Familie, S. 240-259, in: B. Petzold,. Fried, Einführung in die Familienpädagogik. Weinheim. Frehsee, Detlev (1992a): Die staatliche Förderung familiärer Gewalt an Kindern, in: Kriminologisches Journal, S. 37-49. 234 F A C H TA G U N G E N Frehsee, Detlev (1993a): Steuerung familiärer Binnenkonflikte durch Recht, S. 103-119, in: D. Frehsee, G.Löschper, K.F. Schumann (Hrsg.): Strafrecht, soziale Kontrolle, soziale Disziplinierung, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 16 Opladen. Frehsee, Detlev (1993b). Zum gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt an und von Kindern. S. 111122, in: G. Hey, S. Müller, H. sünker (Hrsg.): Gewalt – Gesellschaft – soziale Arbeit. Über die Belastbarkeit von Individuen und Systemen. Frankfurt a.M. Frehsee, Detlev, Bussmann, Kai-D. (1994): Zur Bedeutung des Rechts in Familien. Der Rechtsstatus von Kindern und Gewalt gegen Kinder, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, S. 153-168. Gelles, Richard J., Edfeldt, Åke W. (1986): Violence towards children in the United States and Sweden, in: Child Abuse & Neglect, 10, S. 501-510. Radbill, Samuel X. (1978): Mißhandlung und Kindestötung in der Geschichte, S. 37-65, in: R.E. Helfer, C.H. Kempe (Hrsg.), Das geschlagene Kind, Frankfurt a.M., Orig.: The Battered Child, Chicago, London (1968). Rutschky, Katharina (1977): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt a.M. Wetzels, Peter (1997): Gewalterfahrungen in der Kindheit. Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und deren langfristige Konsequenzen. Baden-Baden. Zenz, Gisela (1979): Kindesmisshandlung und Kindesrechte. Erfahrungswissen, Normstruktur und Entscheidungsrationalität. Frankfurt a.M. Ziegert, Klaus A. (1983): The Swedish prohibition of corporal punishment: A preliminary report, in: Journal of Marriage and the Family, S. 917-926. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 235 4.3.3 Karin Weiß M.A. Gewaltfreie Erziehung und Gewalt gegen Kinder als Themen in der Qualifizierung Zum besseren Verständnis einige Sätze zum Modellprojekt „Entwicklung und Evaluation curricularer Elemente zur Qualifizierung von Tagespflegepersonen, das im Deutschen Jugendinstitut durchgeführt wird im Auftrag des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, des Sozialministeriums Mecklenburg-Vorpommern, des Ministeriums für Kultur, Jugend, Familie und Frauen in Rheinland-Pfalz sowie des Senats für Frauen, Gesundheit, Jugend, Soziales und Umweltschutz Bremen. 1. Das Modellprojekt im DJI Im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) wird die Tagespflege in der Familie der Kinderbetreuung in Institutionen gleichrangig gestellt. Tagesmütter durchlaufen aber – anders als Erzieherinnen in Kitas – keine staatliche geregelte Berufsausbildung, die sie für ihre Arbeit qualifiziert. Natürlich brauchen jedoch auch Tagesmütter eine Vorbereitung bzw. Begleitung für ihre Tätigkeit und so ist die Qualifizierung als tragende Säule der Qualität von Tagespflege unumstritten. Da es bisher keine einheitlichen Bestimmungen zur Aus- und Fortbildung für die Tagespflege gibt, arbeitet jedes Bundesland, jede Kommune bisher nach je spezifischen und unterschiedlichen Konzepten und Organisationsformen. Der Auftrag des DJI-Modellprojekts bestand darin, einen Überblick über bestehende ernstzunehmende Qualifikationsansätze zu ermitteln und die Frage wissenschaftlich zu klären, wie eine qualitätsvolle Grundqualifizierung von Tagespflegepersonen sinnvollerweise gestaltet sein sollte. Es sollten darüber hinaus konkrete Anregungen für die Praxis entwickelt werden, die die Fortbildnerinnen und Fortbildner in ihrer Arbeit unterstützen können. 236 F AC H TAG U N G E N 1.1 Die Arbeit im Modellprojekt An der Hauptphase des Modellprojekts nahmen neun Modellorte aus sechs Bundesländern teil. Die Orte bezogen sich auf verschiedene Fortbildungsprogramme und interpretierten diese Programme zudem unterschiedlich. Die Fortbildungen waren in unterschiedlichen öffentlichen und freien Trägerschaften organisiert (Volkshochschulen, Tagespflegevereine, DPWV, …). Das wissenschaftliche Team des DJI hat sich die Fortbildungen vor Ort angesehen (d.h. Unterrichtshospitationen, Interviews, schriftliche Befragungen durchgeführt und die Unterlagen zu den Kursen gesichtet) sowie Literaturanalysen betrieben, Expertinnen der Tagespflege und der Erwachsenenbildung um Beiträge in Form von Expertisen gebeten. Darüber hinaus fand eine intensive Zusammenarbeit mit den Referentinnen der Fortbildung aus den Modellorten statt. Hinter den im Projekt untersuchten Qualifizierungsprogrammen steht eine große Entwicklungsleistung der Praxis: Die Programme sind in überwiegend ehrenamtlicher Arbeit aufgebaut worden und haben die Tagespflege-Ausbildung enorm voran gebracht. In diesem Zusammenhang ist v.a. das Curriculum des Tagesmütter-Bundesverbandes zu nennen, das einen Meilenstein auf dem Weg zur Qualitätsentwicklung in der Tagespflege darstellt. Aber auch in Neustadt ist über die VHS ein beachtliches eigenständiges Qualifizierungsmodell erarbeitet worden. 1.2 Ergebnisse: Die Praxis der Tagespflege – Qualifizierung im Modellprojekt Allein aus den vorgefundenen Programmen heraus allgemeingültige Anregungen für die bundesweite Praxis zusammenzustellen, erwies sich im Laufe des Projekts als schwierig: Grundlegendes Material war zu den wenigsten Themen schriftlich ausgearbeitet, so dass neue Referentinnen jeweils zum größten Teil auf ihre eigene Gestaltung und Interpretation eines Themas angewiesen sind. Das stellt ein gewisses Problem dar, denn die Referentinnen und Referenten können nicht beliebig viel Zeit in die Vorbereitung einer Veranstaltung investieren, da sie diese Vorbereitung meist nicht vergütet bekommen1. Insofern ist häufig die Situation gegeben, dass Referentinnen aus themenverwandten Gebieten (z.B. Erzieherinnen-Qualifizierung) ihr Repertoire aus Zeitgründen in die Qualifizierung zur Tagespflege mitbringen. Entsprechend waren die hospitierten Veranstaltungen häufig in ihren Themen eher allgemein und nicht so sehr auf den Tagespflege-Alltag bezogen, wie es für den Erfolg der G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 237 Ausbildung als wünschenswert erscheint. Auch waren einzelne Themenbereiche manchmal wenig auf dem aktuellen Stand oder nicht angemessen gewichtet, so dass wichtige Aspekte nicht vertieft werden konnten. Wissenschaftliche Ergebnisse waren oft eher schematisch in Einzeldisziplinen dargestellt. Sehr viele Veranstaltungen beinhalteten interessante und nachahmenswerte Sequenzen und Details, wenige waren jedoch in ihrem Gesamtablauf modellhaft. 1.3 Das DJI-Curriculum Diese Feinabstimmung und Ausrichtung der Veranstaltungen auf die Tagespflege erfordert Arbeit, welche die Referentinnen und Referenten in ihrem Tagesgeschäft in der Erwachsenenbildung nicht ohne weiteres erbringen können (s.o.). Hier sollen die Produkte des Projektes Abhilfe schaffen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Curriculum: Auf der Basis der Praxisbeobachtungen und der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse wird im Rahmen des Projekts ein kompletter Lehrplan im Umfang von insgesamt 160 Unterrichtsstunden erarbeitet, der voraussichtlich ab Frühjahr 2002 fertig vorliegen wird. Aus der Vielfalt der Projektergebnisse (z.B. Qualitätskriterien für die Tagespflege-Qualifizierung2) und aus dem gesamten Spektrum des Curriculums wird im folgenden vorgestellt: 1.4 Der Themenbaustein „Erziehung“ innerhalb des DJI-Curriculums Bei dem zentralen Thema (familiäre bzw. familienergänzende) Erziehung haben wir etwas anders akzentuiert, als in den Qualifizierungskursen im Projekt vorgefunden: Den erzieherischen Kernthemen wurde insgesamt etwas mehr Raum gegeben, weil das Zusammensein mit den Kindern ein/das zentrale/s Handlungsfeld in der Tagespflege ist und weil die Art und Weise, wie dieses Zusammensein gestaltet wird, unbedingt reflexionswürdig erscheint – besonders vor dem Hintergrund der neuen Gesetzeslage. Als das Projekt 1998 begann, war die Gesetzesänderung zur gewaltfreien Erziehung (§ 1631 BGB) erst in Planung. Ausgehend von der UN-Kinderrechts-Konvention haben wir uns jedoch bereits damals auf den international aktuellen Stand familiärer Erziehung bezogen: Im benachbarten Ausland (z.B. Schweden, GB) und in Übersee (USA, Australien) ist die Anwendung von gewalttätigen und körperlich bzw. seelisch verletzenden Methoden in der Erziehung per Gesetz z.T. bereits seit längerem untersagt. Dort gibt es fortgeschrittene Ansätze für spezielle Trainings, mit denen Erwachsene Prinzipien für die Gestaltung einer guten Beziehung zu Kindern kennenlernen und Alternativen 238 F A C H TA G U N G E N einüben können. An solchen vorbeugenden pädagogischen Konzepten, die im englischen Sprachraum unter dem Begriff „Positive Parenting“ („positive Erziehung“) zusammengefasst werden, haben wir uns orientiert.3 Seit im Juli 2000 vom Bundestag das Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung verabschiedet wurde, sind auch bei uns nicht nur mehr Erzieherinnen und Erzieher in Institutionen gehalten, mit ihren Kindern den Tag „gewaltfrei“ zu verbringen – sondern per Gesetz nun auch all diejenigen, die Kinder in Familien erziehen und betreuen. Diese neue Gesetzeslage betrifft die Tagespflege ganz konkret, sie muss entsprechend in die Qualifizierung eingehen und mit Leben gefüllt werden. Dabei geht es sicher weniger um spektakuläre Fälle von Gewalt gegen Kinder, sondern v.a. um sogenannte „alltägliche“ Formen von Gewalt und um kleinere und größere Grenzüberschreitungen im Erziehungsalltag. Hier tun sich viele Fragen auf: Was ist unter einer gewaltfreien Erziehung eigentlich zu verstehen? Wo fängt Gewalt an? Was genau sind demütigende, entwürdigende, verletzende Erziehungs-Methoden? Wie können sie vermieden werden? Welche Alternativen gibt es? … Um die Beantwortung dieser Fragen haben wir uns in der Gestaltung des Themenbausteins bemüht. Wie bei allen Themen im Curriculum ist es gerade auch beim Thema Erziehung so, dass unsere Ausarbeitungen nicht die Vorbereitung und Auseinandersetzung der Referentin/ des Referenten mit dem komplexen Gegenstand ersetzen und aus den Unterlagen heraus 1:1 reproduziert werden können. Die Referentinnen/Referenten müssen sich vielmehr die Veranstaltung zu ihrer eigenen machen, sich ein- und vorbereiten sowie sich eine innere Haltung zum oft auch kontroversen Thema aneignen, die sie gegenüber den Teilnehmerinnen und gegenüber sich selbst vertreten können. Das Curriculum versteht sich insofern als Dienstleistung für die Referentinnen/Referenten, die Material hinsichtlich aktueller und wichtiger Inhalte zur Verfügung stellt und Anregungen für die Umsetzung bietet. Es versteht sich nicht als diktatorisches Ablaufschema. Einige grundsätzliche Vorbemerkungen: In der Qualifizierung über Erziehung sprechen. ■ Gespräche über Erziehung verlaufen häufig sehr emotional, weil alle Frauen unmittelbar betroffen sind: Alle haben selbst als Kinder Erziehung erfahren. Die meisten erziehen selbst Kinder oder haben bereits welche erzogen. Und gerade Frauen, die sich für die Tagespflege entscheiden, sehen in der Erziehung von Kindern zumindest G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 239 einen momentanen Lebensschwerpunkt und verstehen sich damit in gewisser Weise als Expertinnen. Sie lassen sich oft ungern hineinreden in ihr „Spezialgebiet“. ■ Die Teilnehmerinnen einer Qualifizierung brauchen eine vertrauensvolle Atmosphäre, um offen über ihr Erziehungsverhalten zu sprechen. Es ist sinnvoll, den Baustein Erziehung dann in der Qualifizierung zu bearbeiten, wenn die Gruppe bereits miteinander vertraut ist. Das Einbringen von persönlichen Erfahrungen sollte ermutigt werden, allerdings sollte keine Teilnehmerin in den Mittelpunkt gestellt oder zur Zielscheibe gemacht werden. ■ Wenn in der Qualifizierung ein wenig förderlicher Umgang von Teilnehmerinnen mit Kindern offensichtlich wird, sollten Verbesserungsmöglichkeiten besprochen und positive Alternativen aufgezeigt werden. Schädliches Erziehungsverhalten sollte benannt werden. Von Seiten der Referentin oder des Referenten ist es wichtig, gerade auch bei Kritik im Ton positiv zu bleiben. Hier ist ihre/seine Sensibilität gefragt. ■ Referentinnen und Referenten sollten bei einer Veranstaltung über ein erzieherisches Thema darauf vorbereitet sein, wie sie mit den weit verbreiteten Argumenten im Stil von „Ein Klaps hat noch niemandem geschadet“ umgehen wollen (Lt. Einer Emind-Umfrage aus dem Jahr 1997 waren 81 % der Befragten der Meinung, dass in bestimmten Situationen ein „Klaps“ nicht schaden könne). Referentinnen/Referenten müssen für sich eine Position finden in den Fragen: Was ist dem Kindeswohl zuträglich? Was ist meine Verantwortung als Referentin/Referent? Wie kann ich eine Position vertreten und formulieren, die das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung vermittelt? Welche Alternativen kann ich anbieten? ■ Bei den Praxis-Hospitationen fiel auf, dass die Aufmerksamkeit beim Gespräch in der Qualifizierung leicht von den Tageskindern hin zu den eigenen Kindern wandert. Es besteht offensichtlich auch ein Bezug auf die Erziehung der eigenen Kinder in der Regel ein großer Bedarf an Unterstützung, Austausch und Beratung. Das ist nicht verwunderlich, denn Frauen werden in unserer Gesellschaft mit der Kindererziehung allein gelassen. Sie sind damit strukturell und individuell chronisch überlastet und in der Ausübung der familiären Erziehung außerdem isoliert. Das gilt für Tagesmütter, die ja quasi „Berufsmütter“ sind, in besonderem Maße. Es ist im Sinne des Qualifizierungszieles aber wichtig, die Diskussionen auch immer wieder so konkret wie möglich auf die Tagespflege zu beziehen. 240 F AC H TAG U N G E N 2. Curriculare Elemente zur Qualifizierung in der Tagespflege 2.1 Die Inhalte der Veranstaltungen zum Thema Erziehung Tagesseminar: Wie erziehe ich – wie wurde ich erzogen (6 Ustd.) ■ Reflexion des „Erziehungskonzepts“. ■ Die Teilnehmerinnen treten einen Schritt aus dem Erziehungsalltag zurück. Sie versuchen, ihre Einstellungen, Wertvorstellungen und Zielsetzungen hinter dem eigenen Erziehungsverhalten wahrzunehmen und hinterfragen sie. Vertreten sie – bewusst oder unbewusst – ein „Konzept“ in ihrer Erziehung? Wenn ja: welches? Sind das Konzept und die zugrundeliegenden Werte zeitgemäß? Wandel von Erziehungsvorstellungen. ■ Für den eigenen Ansatz stehen. ■ Die Teilnehmerinnen machen sich als (zukünftige) Tagesmütter damit vertraut, ihre Vorstellungen von Erziehung und ihre Werte gegenüber den Eltern zu beschreiben und zu vertreten. ■ Prägende Erfahrungen aus der eigenen Kindheit. ■ Die Teilnehmerinnen versuchen, sich den Einfluss von eigenen Kindheitserfahrungen auf die Interaktion mit den Kindern zu vergegenwärtigen. Zu beachten: Die Referentin sollte im Bedarfsfall wissen, an welche örtliche Beratungsstelle oder Einrichtung sie eine Teilnehmerin verweisen kann, die bei der Beschäftigung mit dem Thema in Kontakt mit schmerzhaften Verletzungen aus ihrer eigenen Kindheit gekommen ist und Unterstützungsbedarf signalisiert oder für sich an dem Thema weiterarbeiten will. Tagesseminar: Wie viel und welche Erziehung in der Tagespflege? (6 Ustd.) ■ Reflexion des Erziehungsprozesses: Was ist die Position des Kindes/Was ist die Position der Erwachsenen? ■ Erwachsene haben immer die Verantwortung für eine gute Beziehung zu den Kindern. ■ Kinder sind von Geburt an willige und fähige Kooperationspartnerinnen und -partner. Sie wollen mit den ihnen nahestehenden Bezugspersonen zusammenarbeiten und wenn sie angenommen und geachtet werden, können sie das auch. ■ Auffrischen des Wissens, was Kinder in welcher Entwicklungsstufe brauchen und was von ihnen erwartet werden kann. ■ Wie viel und welche Erziehungsarbeit wird von der Tagesmutter erwartet? ■ Das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 241 ■ Gewalt gegen Kinder ist ein schwieriges Thema, das betroffen macht. Möglicherweise reagieren Teilnehmerinnen emotional, die Referentin/der Referent sollte darauf vorbereitet sein. Anhand von Datenmaterial sollen die Fakten benannt werden zur Verbreitung von köperlicher, seelischer und sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Anhand von Karikaturen kann das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern thematisiert werden: Die Abhängigkeit der Kinder, ihre körperliche Unterlegenheit, Grenzüberschreitungen von Erwachsenen, die sie oft nicht als „Gewaltausübung“ wahrnehmen. Die Beziehung zum Tageskind positiv gestalten (3 Ustd.) ■ Alternativen: Die Prinzipien einer positiven Beziehung. ■ Gehorchen aus Angst ist keine Basis für eine gute Beziehung. Beziehung aufbauen und bewahren als handlungsleitende Maxime im Zusammensein mit Kindern. Kinder verstehen, respektieren, ermutigen. Sich in die Kinder einfühlen, sie mitwirken lassen und bewusst Zeit miteinander teilen. Das Positive in den Blick nehmen, statt sich auf das Negative zu fixieren. Vorbild sein. ■ Beziehung fördern durch Kommunikation ■ Bedeutung einer persönlichen Kommunikation mit dem Kind. Warum ist sie wichtig? Wie geht sie? Wie bei Konflikten miteinander sprechen? Die Gefühle der Kinder wahrnehmen und annehmen (zuhören und spiegeln). Ich-Botschaften statt Du-Botschaften aussenden, Umschalten von Botschaften senden auf Botschaften empfangen. Niederlagelose Konfliktlösungen und Kompromisse aushandeln. ■ Sensibler Umgang mit Grenzen. ■ Auch Tagesmütter, die sich den Kindern gegenüber machtlos fühlen, haben Macht und Verantwortung für das Wohlergehen der ihnen anvertrauten Kinder. Wie mit der Führungsrolle umgehen, ohne autoritär und verletzend zu sein? Was sind allgemeine Grenzen? Was sind Grenzen der Kinder? Was sind die Grenzen der Tagesmutter? Wie mit Grenzen umgehen? Wo sind Grenzen wirklich notwendig? Konflikte als Grenzerfahrungen. Dialog und Verhandlung. Ein Nein als liebevolle Antwort. Fragen zum Thema Grenzen. Bevor der Kragen platzt (3 Ustd.) Auch Tagesmütter werden wütend – Ursachen für Wut und Ärger. Was macht es schwierig, den Kindern gegenüber positiv zu bleiben? Wenn Wut und Stress kommen ist die Neigung, zu den Kindern unfair zu werden, besonders groß. Es gibt viele ganz konkrete Gründe, wütend zu werden und die Geduld zu verlieren. Aber auch die Tatsache, dass Frauen in unserer Gesellschaft allein gelassen werden mit der Kindererziehung, macht unterschwellig wütend. 242 F A C H TA G U N G E N ■ Dem Ausrasten vorbeugen. ■ Gelassenheit entwickeln und Entspannungstechniken lernen, absehbare, wiederkehrende Stress-Situationen minimieren oder meiden, Freiraum im Privatleben schaffen und bewahren, Entlastung organisieren, Ansprüche hinterfragenn, Isolation abbauen, sich gesellschaftliche Zusammenhänge bewusst machen, … ■ Wut ist normal: Dampf ablassen, aber nicht am Kind! ■ Mit der Wut umgehen lernen. Wie fühlt es sich an, seine Wut zu zeigen, ohne dabei anderen zu schaden? Techniken entwickeln und ausprobieren. ■ Wie vermeiden, die Wut gegen die Kinder zu richten? ■ Bedeutung von bewusstem Umgang mit Wut und Ärger. Tagesmütter haben Verantwortung: Es ist im Sinne des Kindeswohles nicht vertretbar, Wut an den Kindern abzureagieren. Gefühle frühzeitig wahrnehmen und aggressive Impulse gegen die Kinder bändigen. ■ Wie mit der Wut der Kinder umgehen? ■ Kinder brauchen die Verbindung zu ihren Gefühlen, sie müssen ihre Wut spüren dürfen. Kinder müssen lernen, mit ihren Gefühlen gut umzugehen. Sie lernen das, was die Erwachsenen ihnen vorleben. Schwierige Erziehungssituationen (3 Ustd.) ■ Zoff, Zank und Streit mit den Kindern - Was tun in schwierigen Situationen? ■ Wann ist Eingreifen nötig? Was tun, wenn Auseinandersetzungen nicht mehr aufhören? Gemeinschaft fördern und vorbeugen. Mit herausforderndem Verhalten umgehen. ■ Ein Kind, das sich auffallend, herausfordernd oder schwierig verhält, braucht Unterstützung. ■ Es handelt nicht aus Bosheit, sondern sendet Signale um Hilfe aus. ■ Professionell mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Wut umgehen. ■ Die Tagesmutter muss das Verhalten des Kindes nicht persönlich nehmen. ■ Ursachen erforschen: Warum verhält sich das Kind so? ■ Wo anfangen mit der Suche? Beim Kind? Bei der Tagesmutter? Bei der Familie des Tageskindes? ■ Möglichkeiten und Grenzen der Tagesmutter. ■ Möglichkeiten der Abhilfe abklären. Grenzen des Einflussbereiches der Tagesmutter anerkennen. ■ Es ist gut, sich Hilfe zu holen. ■ Bedeutung von guter Vernetzung mit kooperierenden Einrichtungen (Beratungsstellen, Jugendamt …). Die Qualifizierung als vermittelnde Instanz? G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 243 ■ Abgrenzung zur Tagespflege als „Hilfe zur Erziehung“ nach §§ 27 und 32 KJHG. Diese Kernthemen des Themenbausteins zur Erziehung werden ergänzt durch Veranstaltungen zu den Themenbereichen ■ Prävention von sexueller Gewalt/Sexualerziehung. ■ Gegenüber diesem Thema gibt es viele Vorbehalte und Berührungsängste, deshalb empfehlen wir dafür die Kooperation mit einem örtlichen Präventionsprojekt. Exemplarisch haben wir im Projekt den Rahmen einer solchen Veranstaltung von einem Präventionsprojekt dokumentieren lassen. ■ Kinder sind verschieden – und das ist gut so! ■ (individuelle, geschlechtsspezifische, kulturelle Unterschiede). ■ Entwicklung von Kindern/Kinder beobachten. ■ Spielpädagogische Themen. Als Querschnittsthema geht der Ansatz einer gewaltfreien Erziehung darüber hinaus auch in alle anderen Veranstaltungen ein. Der Anspruch, zentrale erzieherische Kernthemen in insgesamt 21 Stunden fundiert zu behandeln, mag geradezu vermessen erscheinen. Es ist klar, dass eine Änderung von Erziehungsverhalten kaum innerhalb dieses Zeitraumes stattfindet, sondern bestenfalls angestoßen werden kann und sich prozesshaft entwickeln bzw. begleitet werden muss. Hier wird die Bedeutung von praxisbegleitenden Gruppen neben bzw. im Anschluss an die Qualifizierung deutlich. Innerhalb eines vom Umfang her auf 160 Stunden begrenzten Curriculums mit zahlreichen konkurrierenden, ebenfalls wichtigen Themen haben wir versucht, mit den ausgewählten Themen einen Kompromiss zwischen dem Notwendigen und dem Machbaren zu finden. Methoden zur Umsetzung der Veranstaltungen ■ Kleingruppenarbeit ■ Kurzvortrag Referentin/Referent ■ Diskussion im Plenum ■ Gemeinsame Erarbeitung im Plenum ■ Rollenspiele ■ Übungen ■ Methodische Lockerungselemente ■ Beobachtungs- und Vertiefungsdaten für zu Hause 244 F AC H TAG U N G E N Materialien für die Vorbereitung/Durchführung der Veranstaltungen ■ Leitfaden für Referentinnen und ■ Inhaltliche Ausarbeitungen zum Thema für Referentinnen (so genannte Hintergrundinfos) ■ Handreichungen für Teilnehmerinnen ■ Arbeitsblätter für Teilnehmerinnen zur Erarbeitung des Themas ■ Themenbezogene Karikaturen ■ Literaturempfehlungen für die weitergehende Lektüre Bezugspunkte für die erzieherischen Inhalte des DJI-Curriculums ■ „Positive Parenting“-Programm der University of Minnesota – unter Leitung des Familiensoziologen Roland L. Pitzer wurde ein videogeschützes, praxisorientiertes Curriculum für ein Training zur „gewaltfreien“ Erziehung entwickelt. Dieses Programm hat sowohl in Bezug auf die formale Gestaltung als auch auf die inhaltliche Ausrichtung vielfältige Anregungen für das Curriculum des Modellpojekts gegeben. ■ „Save the Children“-Kursmaterial aus GB – dito. ■ Die Veröffentlichungen des dänischen Familien- und Gruppentherapeuten Jesper Juul. Seine Bücher stellen kein „Programm“ im engeren Sinn dar, sondern bieten Orientierung für die individuelle Erziehungsarbeit. Er wirkt mit seinen Aussagen dennoch in die gleiche Richtung wie die Ansätze einer sog. „positiven Erziehung“ und geht beispielhaft konsequent von der Anerkennung gleicher Würde bei Erwachsenen und Kindern aus. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 245 ■ Alle diese Ansätze stehen in der Tradition der humanistischen Pädagogik und Psychologie (C. Rogers). Aus dieser Quelle schöpfte auch Th. Gordon seine Erziehungshilfen zur „niederlagelosen Konfliktlösung“ in der Familie – bekannt geworden unter dem Namen „Familienkonferenz“ (ebenfalls Teil eines Familientrainingsprogramms). Auch die Arbeiten der Analytikerin Alice Miller über die langfristigen Folgen von Kindesmisshandlung und deren Verdrängung sind hier thematisch verwandt und fließen mehr oder weniger explizit in die Konzepte des „Positive Parentin“ ein. Anmerkungen 1 Zu Arbeitsbedingungen von Referentinnen in der Erwachsenenbildung: schwieriger Beschäftigungsstatus, mangelnder Austausch, komplexes Kompetenzprofil, wenig Möglichkeiten zur Fortbildung, manchmal schwierige räumliche und materielle Bedingungen bei den Veranstaltungen. 2 Konstante Fortbildungsgruppe, fächerübergreifende Themenbearbeitung, Qualifizierung nach den Prinzipien der Frauenbildung, Praxisorientierung/Bezug zur Tagespflege, themenzentrierter Erfahrungsaustausch, wesentliches Wissen vermitteln, Theorie/Praxis/Reflexion/Selbsterfahrung in ausgewogenem Verhältnis, ausgewogenes Verhältnis von Stoff und Zeit, Vielfalt partizipativer Methoden, zugewandte ermöglichende Haltung der Referentin, angenehmer Rahmen, verständliche und ansprechende Materialien. 3 Auch das Projekt „Starke Eltern – starke Kinder“, das der Kinderschutzbund innerhalb der Kampagne des Bundesministeriums „Mehr Respekt vor Kindern“ zur Begleitung der Gesetzesänderung anbietet, schöpft im weiteren Sinne aus dieser Quelle. 246 F A C H TA G U N G E N 4.3.4 Wege zur gewaltfreien Erziehung: Vorstellung des Modellprojekts „Starke Eltern – starke Kinder“ des Deutschen Kinderschutzbundes Seit 1979, dem Internationalen Jahr des Kindes, setzt sich der Deutsche Kinderschutzbund für ein gesetzliches Verbot von Körperstrafen und anderen entwürdigenden Maßnahmen in der Familienerziehung ein. Im Jahr 2000 war es endlich so weit: der Deutsche Bundestag verabschiedete die Änderung im Bürgerlichen Gesetzbuch. Der neue Text lautet: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“ (§ 1631, Abs. 2 BGB). Außerdem gibt es einen Zusatz im Kinder- und Jugendhilfegesetz, der soziale Dienste verpflichtet, Eltern Wege aufzuzeigen, wie sie mit ihren Kindern gewaltfrei umgehen können: „Sie sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können“ (§ 16 Abs. 1 KJHG). Es kann davon ausgegangen werden, dass durch das eindeutige gesetzliche Verbot jeglicher Form von Gewalt – und seien es auch die „gut gemeinten Erziehungsschläge“, viele Eltern in ihrem Erziehungsverhalten vorerst zusätzlich verunsichert werden. Denn für viele Mütter und Väter besteht schon jetzt ein ungelöstes Spannungsfeld zwischen der Grenzsetzung durch den bisher als legitim angesehenen „Klaps auf den Hintern“ oder durch „gelegentliche Ohrfeigen“ einerseits und der oft verzweifelten Suche nach alternativen Erziehungsmethoden andererseits. Letztlich führen die Unsicherheiten der Erziehungsberechtigten im Erziehungsverhalten in vielen Familien zu vermehrten Konflikten. Um dies präventiv aufzufangen und den Eltern mehr Sicherheit in der Erziehung zu geben, wird es unerlässlich sein, auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene dafür Sorge zu tragen, dass künftig mehr Gewicht auf die Elternbildung und -beratung gelegt wird. Das bedeutet, dass den Müttern und Vätern alternative Erziehungsmethoden aufgezeigt werden müssen und die Vorbereitung auf die Erzieherrolle mit ihren Rechten G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 247 und Pflichten besser als bisher erfolgen müsste. Eine Gesetzesänderung im Sinne eines Verbots jeglicher Form von Gewalt muss, soll sie mittel- bis langfristig Einstellungs- und Verhaltensänderungen zum Wohl des Kindes bewirken, durch breite Bekanntmachung, Aufklärung und Unterstützung der Eltern begleitet werden. Die Änderungen des § 1631 Abs. 2 BGB sollte auch durch Begleitprogramme unterstützt werden. Diese müssen längerfristig angeboten und flächendeckend verbreitet werden. Als geeignete Begleitprogramme kommen z.B. niedrigschwellig angelegte frühpräventive Maßnahmen, Elternkurse (z.B. in Kindergärten und Schulen) sowie erweiterte Elternbildungs- und Beratungsangebote in Frage. Eines dieser vom Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Begleitmaßnahmen ist der Elternkurs „Starke Eltern – starke Kinder“. 1. Ziele, Inhalte und Anwendung Die Grundlagen des Elternkurses wurden im finnischen Kinderschutzbund von dem damaligen Programmdirektor Toivo Rönkä entwickelt und in den 80er Jahren landesweit praktisch in Kursform für Eltern durchgeführt. Die jetzige Kurskonzeption wurde auf dieser Grundlage weiterentwickelt und im Aachener Kinderschutzbund in zahlreichen Elternkursen mit Erfolg erprobt. Ziel des Elternkurses ist es zum einen, die psychische und physische Gewalt in der Familie durch Stärkung der Erziehungskomptenz der Eltern zu verhindern oder zumindest zu reduzieren und zum anderen die Rechte und Bedürfnisse der Kinder durch das Aufzeigen der Mitsprache-, Mitbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Kinder in dem gemeinsamen Familiensystem – auch im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention – zu stärken. Um dies zu erreichen, soll das Selbstvertrauen der Eltern als Erzieher gefestigt und die Kommunikation der Familie verbessert werden. Hierbei ist der Blick auf die vorhandenen Ressourcen sowohl der Eltern als auch auf die der Kinder gerichtet, nicht auf die Defizite. Die einzelnen inhaltlichen Schwerpunkte des Kurses werden von diesen beiden Zielkomponenten abgeleitet und an dem Leitbild des Erziehungsstils „anleitende Erziehung“ weiterentwickelt. Der anleitende Erziehungsstil ist weder „autoritär“ noch „anti- 248 F A C H TA G U N G E N autoritär. Eltern sollen erfahren, wie sie ihre Erziehungsfunktion und Verantwortung gemeinsam übernehmen können und wie sie ihre positive elterliche Autorität durchaus ausüben dürfen, ohne auf körperliche Bestrafungen, auf seelische Verletzungen oder auf sonstige entwürdigende Erziehungsmaßnahmen zurückgreifen zu müssen. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen, mit den Erziehungszielen, mit den mehrgenerationalen Prämissen und Glaubenssätzen, die das Erziehungsverhalten prägen und leiten, sind u.a. Inhalte des Kurses. Auch das Setzen und Begründen von Grenzen sowie das Achten auf deren Einhaltung spielt eine wichtige Rolle in den Kursabenden. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die, die Entwicklung der Kinder prägenden beziehungsund erziehungsrelevanten Leitorientierungen, wie Fürsorglichkeit, Annahme, Anerkennung, Ermutigung, Vertrauen, gemeinsames Tun und Freud, die in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen behandelt werden. Die Ressourcen der Eltern und Kinder und das Finden eigener Lösungswege aus den Konfliktsituationen werden an Hand konkreter Beispiele analysiert und reflektiert. Hier ist der Blick weder auf Vergangenheit, noch auf die Ursache-Wirkung-Schuld-Fragen, noch auf Defizite einzelner Familienmitglieder gerichtet, sondern auf die Zukunft. Die zentrale Frage lautet: Welcher unmittelbare konkrete kleinstmögliche Schritt ist erforderlich, um das eigene Verhalten in die gewünschte Richtung zu verändern? Zu Grunde liegt hier die Überzeugung, dass es einfacher ist, das Verhalten als die Einstellungen zu verändern. Die positiven Erfahrungen auf der Verhaltensebene haben eher die Chance, allmähliche Veränderungen auf der Einstellungsebene nach sich zu ziehen. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 249 2. Theorien und Methoden Die Inhalte des Elternkurses sowie die Perspektive der Ressourcenorientierung basieren auf zum Teil sehr verschiedenen Theoriepositionen. Systemtheoretische Ansätze, das heißt die Betrachtung der Familie als System mit seinen familiären Subsystemen finden ebenso Berücksichtigung, wie der kommunikationstheoretische Ansatz von Paul Watzlawick sowie einige Inhalte der unterschiedlichen familientherapeutischen Schulen, z.B. S. Minuchin, de Shazer. Aber auch Elemente der Individualpsychologie Alfred Adlers, einige verhaltens- oder gesprächstherapeutische Ansätze bilden den theoretischen Hintergrund. In den Kursabenden wechselt Theorievermittlung mit Selbsterfahrung. Theoretische Inhalte werden in den Kursabenden als kurze Inputs mit Hilfe von Folien, Textmaterial und mit Hilfe von „Mottos“ vorgestellt. Danach sollen die Teilnehmer/innen diese Inhalte in Kleingruppen mit ihren eigenen Erfahrungen in Verbindung setzen, um sie dann bewusst in einem veränderten Verhalten mit den Partnern und Kinder während der nachfolgenden Wochen in Alltagssituationen auszuprobieren. Durch den gruppendynamischen Prozess kann die Verarbeitung der Inhalte in einer angenehmen, zuweilen durch Humor und Spaß gekennzeichneten Atmosphäre vertieft und die Reflexion über das eigene Verhalten intensiviert werden. 3. Anwendungsbereiche und Dauer der Kurse Die Konzeption bietet eine praktische Arbeitsgrundlage gerade dort, wo es um das ABC der Kommunikation in der Familie, um praktikable gewaltlose Erziehungs- und Grenzsetzungsmethoden und mehr Sicherheit im Umgang miteinander geht. Man kann das Konzept jedoch je nach Bedarf auch spezifizieren und an die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe wie z.B. Eltern der Kindergartenkinder, Grundschulkinder, an die Eltern der Pubertierenden oder Adoleszenten anpassen. Die Anwendung der Konzeption in der Arbeit mit Alleinerziehenden, mit Pflege- und Adoptionsfamilien ist ebenfalls durch gezielte Schwerpunktsetzung denkbar. Darüber hinaus können Teile des Kurses in modifizierter Form im Eltern-Kind-Gruppenbereich oder für die Gestaltung von Elternabenden in Kindergärten oder Schulen genutzt wer- 250 F A C H TA G U N G E N den. Als weitere Einsatzbereiche sind u.a. Familienbildungs- und Beratungssituationen, Schulen und Kindergärten denkbar. Der Kurs umfasst acht bis zwölf Kurstermine, die jeweils zwei bis drei Stunden dauern. Als günstig hat sich eine Gruppengröße zwischen zwölf und fünfzehn Teilnehmer/innen erwiesen. 4. Multiplikatorenschulung Für das Projekt „Starke Eltern – starke Kinder“ wurden im Jahr 2000 im Deutschen Kinderschutzbund von den Landesverbänden Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen Multiplikatoren geschult, die dann vor Ort, in den Orts- und Kreisverbänden des Kinderschutzbundes die Elternkurse durchführen. Das Projekt wurde durch das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend unterstützt. Weitere Zielgruppen der Multiplikatorenschulung wären Mitarbeiter/innen, Kursleiterinnen, Gruppenleiter/innen im Elternbildungs- und Familienhilfebereich und in den Familien- und Erziehungsberatungsstellen. Eine eingehende, zumindest dreitägige Schulung ist nötig, um erstens die zugrunde liegenden theoretischen Konzeptionen und Inhalte zu vermitteln und ihre praktische Umsetzung im gruppendynamischen Prozess zwischen Kursleiter/in und Eltern zu erarbeiten. Ferner ist eine Schulung der Kursleiter/innen nötig, da der Wert und die Wirkung des Kurses wesentlich von der Haltung der Kursleitung abhängt. Sie soll durch Respekt, Vertrauen und Anerkennung gegenüber den Eltern gekennzeichnet sein. Letztendlich hängt der Erfolg des Elternkurses wesentlich von der Fähigkeit der Kursleitung ab, die positiven Erziehungsleistungen und Ressourcen der Eltern hervorzuholen; diese müssen oft erst einmal aufgespürt und bewusst gemacht werden, um sie zu stärken und weiter aufzubauen. 5. Aufbau der Schulung Ausgehend von und analog zu den folgenden fünf Fragestellungen aus dem Elternkurs, werden die Inhalte in der Multiplikatorenschulung jeweils zuerst theoretisch beleuchtet G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 251 und dann auf der Basis gruppendynamischer und rollenspezifischer Prozesse eingeübt: ■ Welche Werte und Erziehungsziele haben wir in der Familie? ■ Wie kann ich das Selbstbewusstsein des Kindes unterstützen? ■ Wie kann ich meinem Kind bei seinen Schwierigkeiten helfen? ■ Wie drücke ich meine Bedürfnisse aus? ■ Wie lösen wir Probleme in der Familie? Für die Vermittlungen der theoretischen Positionen wurden Arbeitspapiere entwickelt. Wie in den Elternkursen ist auch in der Multiplikatorenschulung ein Prozess der Selbsterfahrung für die Teilnehmer/innen wichtig. Hierbei werden vor allem Kleingruppenübungen und Rollenspiele eingesetzt. Außerdem werden Verfahren vorgestellt, die bei der Analyse der Entstehung von häufig auftretenden Erziehungsproblemen und deren Lösungen behilflich sein können. Die Teilnehmer/innen können nach Abschluss der Multiplikatorenschule ein Kurshandbuch erwerben, in dem alle Materialien für die Kursabende zusammengestellt sind. Dies ermöglicht ihnen, den Elternkurs in ihrem Tätigkeitsbereich selbst durchzuführen. 252 F AC H TAG U N G E N 4.3.5 Hans Schmidt, Meinolf Hartmann Männer- und Jungenarbeit des Vereins Jedermann e.V. Heidelberg Ziel: Jungen und jungen Männern Interpretationshilfen für das eigene Gewaltverhalten zu bieten und es ihnen damit zu ermöglichen, verantwortungsvoller mit gegebener Aggression umzugehen. Erster Tag: „Gewalt – (k)ein Thema für uns?“ 08.40-09.25 h ■ Vorstellung des Vereins und des Inhalts der zwei Tage ■ Vorstellungsspiel: Gruppe läuft lose im Raum herum, Teamer nennen Eigenschaften (Augenfarbe, Haarfarbe, Schuhgröße, Geschwisterzahl), die Jungen gruppieren sich nach den Übereinstimmungen. ■ Gewaltlinie: Rote Klebebandlinie, eine Seite bedeutet: keine Gewalt, die andere viel Gewalt, Zwischenwerte; Begriffe werden genannt (Profiboxer, Faust auf Auge, Wichser, …), die Jungen positionieren sich, wo sie den Begriff ansiedeln, Austausch über die jeweilige Positionierung. ■ Wie kommt es zu Streit? (Arbeitsblatt)jeder Junge schreibt einige Situationen auf, in denen es zu Gewalt kommt; jeder stellt reihum eine Situation vor; Gespräch über die Situationen (wie kam es zum Streit, wie eskalierte er, wie fühlte sich der 09.30-10.15 h Junge dabei …). ■ Fortsetzung der Auswertung. ■ Vorbilder 1: Alle fünf Werbeclipszum Thema Gewalt in den Medien werden angeschaut; Gespräch: Wie fandet ihr die Filme? Welcher war am brutalsten? Welcher hat am meisten Angst gemacht? Welcher war blöd? 10.30-11.15 h ■ Vorbiler 2: Theamtisierung: Was ist ein Idol, ein Vorbild? Nur der „Idole“-Clip wird angeschaut; Fragen: Kanntet ihr die Filme, die darin genannt werden? Wie findet ihr die? G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 253 ■ Vorbilder 3: Die Vorbilder aus den Zeitschriften werden augehängt bzw. auf einen Tisch gelegt; jeder Junge bekommt das Arbeitsblatt und trägt in der Mitte ein, wen er sich ausgesucht hat (max. 3) und schreibt in die kleinen Kästchen am Rand des Arbeitsblattes, welche Eigenschaften diese Person zum Vorbild machen. ■ Vorbilder 4: Auswertung: Jeder stellt sein Idol und dessen Eigenschaften vor. Auswertungsfragen: Was ist diesen Idolen gemeinsam (vielleicht: nur Männer; hauptsächlich Sportler …)? Warum gelten manche für viele als Symbol, manche für niemanden? 11.20-12.05 h ■ Mädchen/Jungen Quiz: zwei Gruppen; eine schreibt auf, was Mädchen nicht können, die andere, was Jungen nicht können. Drei Minuten Zeit, die Gruppe, die am meisten Punkte hat, erhält einen Punkt. Zweite Runde: die Gruppen versuchen wechselseitig zu beweisen, dass ein Punkt der anderen Gruppe nicht stimmt. Wenn dies gelingt, wird dieser Punkt gestrichen; bei welcher Gruppe die meisten übrigbleiben, bekommt einen Punkt. ■ Blitzlichtrunde zum Abschluss: Wie geht es mir? Wie hat mir der Vormittag gefallen? Zweiter Tag: „Grenzen wahrnehmen“ 08.40-0 9.25 h ■ Blitzlichtrunde zum Einstieg: wie geht’s? Was erwarte ich vom Vormittag heute? ■ Wir spielen Rollen (zum Thema Gefühle). ■ 1. Bewegung durch den Raum: wie ein Affe – wie ein Junge, der eine gute Note geschrieben hat – wie ein Junge, der eine schlechte Note geschrieben hat – Junge im Karatetraining – wie ein alter Mann – wie eine alte Frau – Junge, der verliebt ist – wie ein Schwuler. ■ 2. Auswertung: An welcher Stelle gab es einen Bruch? Dann: jeder schreibt ein Gefühl pro Szene auf, ein Gefühl, das dargestellt wurde. Dann werden die Karteikarten entsprechend der Szene sortiert - gibt es hier Unterschiede in der Wahrnehmung der Gefühle? Danach werden die Karteikarten sortiert: gute Gefühle/schlechte Gefühle. Leicht zu spielende Gefühle, schwer zu spielende. Warum sind Gefühle so unterschiedlich? Wie 254 F AC H TAG U N G E N drücken wir sie aus? Warum sind manche Gefühle schwerer 09.30-10.15 h darstellbar? ■ Schimpfworte sammeln: jeder schreibt pro Karte ein Schimpfwort auf (max. 5 Worte pro Junge). Wie können wir die Worte sortieren? (Evtl. ergänzen; Vorschlag: witzige/verletzende/ diskrimini-erende/sexistische Schimpfworte) „Lernziel“ Gewalt geht auch mit Worten … 10.30-11.15 h 11.15 h 11.20-12.05 h ■ Streitsituation in der Klasse; Rollenspiel, evtl. mit vertauschten Rollen, filmen bzw. mit Kassettenrecorder aufnehmen. ■ Die Aufzeichnung wird angeschaut/-gehört: wie wird gestritten? ■ Wird hier Gewalt ausgeübt? Wie sind die Stimmen? Wie ist die Körpersprache? ■ Gewaltskulptur und Antigewaltskulptur; aufstellen; polaroid ablichten; anschauen und besprechen (Was war einfacher? Welche Gefühle werden ausgedrückt? …) ■ Kriminalitätsquiz: zehn Fragen – zehn Punkte. ■ Feedback: Was war gut? Was schlecht? Noch mal? Zu welchem Thema? Welches Thema hat euch gefehlt? Dritter Tag: „Grenzen gestern – Grenzen heute“ 08.40-12.05 h Zwei alte Männer aus der Altentagesstätte werden über ihre Kindheit, ihre Erziehung, ihren Schulalltag berichten. Im Vordergrund steht die Vermittlung ihres Jungenbildes, späteren Männerbildes, welches sich durch Krieg, Wiederaufbau, Weitergabe von Erfahrungen an ihre Kinder bestimmt. Es sollen für die Älteren die Themen der Jungen in den vergangenen zwei Tagen thematisiert werden. Was ist „Gewalt“ für die Alten, welche Grenzen haben sie kennengelernt, was können sie den heutigen Jungen weitergeben. Für die Jungen in der Klasse: sie erzählen den „Alten“ über ihre Erfahrung, hinterfragen, ob sie die gehörten Erfahrungen der „Alten“ nachvollziehen können, ob sie grundlegend andere machen, ob ihr Jungsein sich von dem der älteren Generation unterscheidet und wenn ja, wo. Ziel soll sein, einen integrativen Austausch zustande zu bringen, in dem beide Generationen über sich lernen und verstehbar machen. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 255 Empirisch konnten auf verbaler Art folgende „Bilder“ für Vorbilder, Wunscheigenschaften und Schimpfworte dokumentiert werden: Vorbilder Kevin Nash; Dr. Der; Silvester Stallone; Santana; Tom Cruise; Tony Braxton; Wladimir Klitschko; Reggie Miller; Indianer Jones; James Bond; Simpsons; Roger Wilco; Tomb Raider; Bud Spencer; Michael Jordan; Jeff Goldblum; Mel Gibson; mein Vater; mein Bruder; meine zwei besten Freunde; Hans Oulivberg; Michael Schumacher; Borussia Dortmund; Herr Büttner; Jackie Chan; Flash; Green Latem; Pamela Anderson; Packo; Will Smith; Hip Hop; Dynamite Deluxe; Massive Töne; Madonna; Rodman; Sammy Deluxe; Game-Star-Team; Playboy 51. Eigenschaften richtig, cool, sexy, gute Basketballspieler, bester Wrestler, super, Rapper, cooler Basketballspieler, guter Gitarrenspieler, cooler Filmdarsteller, guter Schauspieler, jüngster und bester Boxer, ist über 1,90 m, spricht russisch und deutsch, gewann gegen Ex-Boxer Axel Schulz, verdient viel Geld, ist groß, ist verdammt stark, wohnt in Amerika (Westside), er ist cool, kann gut Basketball spielen, cooles outfit, Held, Heldin, Weltraumpilot, Geheimagent, gute Stunts, sieht gut aus, Verhalten, Wortschatz, nett, schulische Leistungen, schlau, alles wissend, sexy, schlank, intellligent, kann gute Tricks, kann gut kämpfen, reich, Weltrekord, konkret geile Musik, konkrete Kiffer, Party, kiffen. Schimpfworte Schwanzlutscher, Bitch, Hure, Schlampe, du Sohn einer Wanderhure, Missgeburt, Kaktusstreichler, Hurensohn, Fotze, Ameise mit Lupe Verbrenner, Warmduscher, Pitbullzurücknehmer, Friten mit Senf Esser, Warmer, Weichei, Idiot, Hure, Arsch, Fuchsschwanz an Antenne Montierer, Wichser, Kanake, Schlampe, Narkose Ablehner, ins Feuer Furzer, Arschloch, Mutterficker, Steckdosenbefruchter, Sadomasoschwein, fetter Sack … Hexe, Gartenzwergzähler, Kampfhundestreichler, Zement mit der Hand Rührer, Fotze, … Hurensohn, Gartenzwergkiller, Kaltduscher, Hooliganschubser, Schweinebums, Arschloch … du Analpopler, Schwuchtel, Nigger, ins Feuer Furzer, Sonnebrille am Hinterkopf Träger, … Moorhuhn ins Knie Schiesser, Kettensägenjongleur, Stromkastenpinkler, Analbeule, … Brusthaarrasierer, Teletubbizurückwinker, Handy im Flugzeug Benutzer, Anton aus Tirol-Mitsänger, Hooliganschubser, Inrichtungssitzer, Weichei, Foliengriller, Sauna unten Sitzer, Fuchsschwanz an Antenne Montierer, Armduscher, Arschgeburt, Blödmann, du schwule … Sau, Bordsteinnutte, Wichser, Nutte, Arschloch, Idiot, Schmalspurschleim- 256 F AC H TAG U N G E N wichser, Hurenficker, Prostituierte, asiatische immergern Tussi, Penner, Wichser, Ausländer raus, … Flachland, Schlappschwanz, wär dein Schwanz ein Zentimeter größer, wärst du der König, … ein Zentimeter kleiner, du die Königin, wenn deine Mutter 10 Pfennig billiger gewesen wäre, … wär ich dein Vater, „sag deiner Mutter, sie soll nicht so viel Lippenstift benutzen, dein … Schwanz sieht schon aus wie ein Regenbogen“, Kondomlutscher, Andi Möller Fan, Missgeburt, SWR 3 Hörer, Schlampe, Bastard, schwuler Pudel, Hundesohn, Politessengrüsser, Warmduscher, Mutterstöpsler, Fotzenlecker, Hurensohn, Hundebastard, du Sohn einer sibirischen Wanderhure, die Mutter hat keine Titten und keinen Arsch, aber ein Fotze wie eine Garag, Bitch, du Pole, Däner, abgekochter Kotzbrocken, bastardischer Hurensohn, du behinderte, schwule Sau, Schweinepriester, dicker fetter Drecksack, Missgeburt, kick mich, … homosexueller Steckdosenbefruchter, du Warmduscher, Hundesohn, Schleimspurenablutscher, Dortmund Sau, Teletubbiezurückwinker, Hure, Fotze, Schlampe, fette Schlampe, Sohn einer afrikanischen Wanderhure, Arschloch, Penner, Fotze, Nutte, Hurensohn, Bitch, wenigstens hab ich Eltern, Hurensohn, Missgeburt, Schlampe, Hurenficker, Bastard, du Kanaldeckelvögler, wir wollen keine Bullenschweine, Brillenträger, Spast, Schweinearsch, Anan sikkem, Analhuster, behindertes Arschloch, Kinderficker, unzivilisiertes Arschloch, Schlampe, Hure, Hurensohn, Back Street Boys, Hurentochter, Tussi ohne Titten, du abgelutschter Bambuswichser, Bitch, Muschi, banan sikin, Schwanzlurch, Pimmel, Sesselfurzer, Orusbustustu, Fotze, Nutte, Nutte, … Motherficker, Mutterficker, Motherficker, Motherficker, dein Muter sein Gesicht, „Schlampe, Schlampe, Schlampe“, Hurenbock, Hundeficker, Ficker, Flaschensteckerin, Hure, Hurrsun, Bauer, arradini Sikim, amini Sikim, Pis Köpek, … Krustentiert, sibirischer Kanakenarsch, Schlappschwanz, Anan Baba Orusbu, Bitch, Shit … Nigger, Hurensohn, Psesvenk, Warmduscher, anasini salam, Sülaneni sikim, Tochter eines Schwulen, behinderten Schwanzlutscher. ZWISCHEN PRÄVENTION 4.4 UND INTERVENTION 257 Zwischen Prävention und Intervention Auswirkungen des „Rechtes auf gewaltfreie Erziehung“ in Familien- und Jugendhilfe 12./13. Juni 2001 in Hildesheim 4.4.1 Lukas Rölli Zusammenfassung Die juristische Problematik des Gesetzes zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung wurde vom Kölner Familienrichter Joachim Fuß aufgezeigt. Er wies auf die unterschiedlichen Tatbestandsdefinitionen im Zusammenhang mit Gewaltanwendung im Strafrecht und im Familienrecht hin. Während sich das Strafrecht im wesentlichen auf Körperverletzung und Nötigung beschränkt ist der Begriff des Schadens für das Kindeswohl im Familienrecht sehr viel weiter gefasst. Gegenüber der von Prof. Kai-D. Bussmann befürworteten verstärkten strafrechtlichen Verfolgung auch von niedrigschwelliger familialer Gewalt äußerte sich Fuß skeptisch. Spielräume sieht er in den Möglichkeiten von familiengerichtlichen Verfahren (Entzug der Personensorge nach § 1666 BGB), die jedoch klar von strafrechtlichen Verfahren getrennt werden sollten. Für die Einleitung solcher Verfahren spielt die Sensibilisierung von Institutionen außerhalb der Familie (Tagesstätte, Kindergarten, Grundschule, Kinderarzt, Polizei) eine entscheidende Rolle. Mitarbeiter/-innen dieser Institutionen sollten eng mit dem Jugendamt als der Schaltstelle in Familiengerichtsverfahren zusammen arbeiten. In ihrer Aus- und Fortbildung müsste dem Thema Gewaltprävention mehr Raum gegeben werden. Die dem Entzug der Personensorge vorangestellte Einzelfallbetreuung von Familien in den vom Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) vorgesehenen unterschiedlichen Formen kann allerdings wegen der häufigen Überlastung von Jugendämtern längst nicht in allen gewünschten Fällen realisiert werden. Aus diesem Grund warnte Herr Fuß davor, die Eindämmung familialer Gewalt in erster Linie von den Gerichten zu erwarten. Für dringend erforderlich hält er jedoch eine höhere Sensibilisierung aller Akteure im Umfeld von Familien- und Jugendhilfe. Mit den Handlungsmöglichkeiten der freien und öffentlichen Jugendhilfe zur Prävention von familialer Gewalt sowie mit den hierzu erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen 258 F AC H TAG U N G E N beschäftigte sich Klaus Münstermann, Honorarprofessor und Leiter des Votum-Verlages, in seinem Referat. Er konstatierte, dass Jugendhilfe trotz der klar erkennbaren Bewusstseinsveränderung hin zu einem stärkeren Dienstleistungsverständnis ihrer Arbeit nach wie vor stark in traditionellem Verwaltungsdenken von Zuständigkeiten, Verantwortungsdelegation und Abschottung gegenüber finanziellen Ansprüchen verharrt. Um sich vor Arbeitsüberforderung zu schützen würde die Familien- und Jugendhilfe ihre Handlungsmöglichkeiten auch zu wenig offensiv in den gesellschaftlichen Diskurs über Gewaltprävention einbringen. Münstermann betonte, dass Präventions- und Interventionsmaßnahmen vermehrt in einer Hand miteinander verschränkt werden sollten, um zu gewährleisten, dass Familien und Jugendliche, die bereits Unterstützung zur Lösung ihrer Probleme erfahren haben, sich im Krisenfall dann auch an die entsprechende Stelle wenden. Den souveränen Umgang mit den institutionellen Netzwerken der Jugendhilfe, Mediationskompetenzen, Supervision und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen bezeichnete er als wichtigste Anforderungen für die Akteure in der Familien- und Jugendhilfe. Anhand zweier praktischer Beispiele wurden konkrete Handlungsmöglichkeiten von Jugendhilfeinstitutionen vorgestellt. Doris Kahlert vom Jugendamt der Stadt Wolfsburg beschrieb die vielseitigen Angebote ihrer Institution im Bereich der Hilfen zu Erziehung. Niedrigschwellige, aufsuchende Angebote in Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen sowie gemeinsame Hilfeplankonferenzen von Jugend- und Gesundheitsamt haben sich hier bewährt. Sabine Triska aus Freiburg i.Br. stellte das Kriseninterventionsprogramm „Familie im Mittelpunkt“ vor, bei dem mit einem intensiven Einsatz auf dem Höhepunkt von Familienkrisen versucht wird, durch ein Maßnahmenpaket mit Anlehnung an therapeutische Konzepte die Fremdunterbringung von Kindern zu vermeiden. Wichtig für den Erfolg dieser Maßnahmen ist der reibungslose Übergang in eine weniger engmaschige Nachfolgehilfe (z.B. sozialpädagogische Familienhilfe). Das Programm „Familie im Mittelpunkt“, das auf amerikanische Ansätze zurückgeht, setzt eine intensive Qualifizierung der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter voraus. Im fachdidaktischen Teil der Veranstaltung wurden in Arbeitsgruppen Konzepte von Fortbildungsveranstaltungen zum Umgang mit familialer Gewalt für Erzieher/-innen und für Tagesmütter sowie Möglichkeiten zur Begleitung von Qualitätsentwicklungsprozessen durch Bildungseinrichtungen vorgestellt und diskutiert. Die Teilnehmenden an der Fachtagung, die aus unterschiedlichsten Arbeitsbereichen der Familien- und Jugendhilfe stammten, waren sich einig, dass der gesellschaftliche Diskurs über die Prävention von ZWISCHEN PRÄVENTION UND INTERVENTION 259 familialer Gewalt nicht kurzfristig, sondern mittelfristig Wirkungen zeigen könne. Sie forderten von allen Beteiligten auch eine verstärkte kritische Selbstreflexion, inwiefern durch das eigene Handeln Gewalt auf Familien und Kinder ausgeübt werde, und eine erhöhte Sensibilität für die Bedeutung von strukturellen Rahmenbedingungen, die das Erziehungshandeln in Familien erschwerten. Die weite Verbreitung gewalttätiger Sanktionsformen in der familialen Erziehung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die allermeisten Eltern für ihre Kinder das Beste erreichen möchten. Familienhilfe und Familienpolitik muss deshalb trotz ihrer sehr beschränkten Mittel nicht in Resignation verfallen, sondern sie kann bei dieser positiven Grundvoraussetzung ansetzen. Der politischen Bildung eröffnet die Sensibilisierung aller Akteure der Familien- und Jugendhilfe für die strukturellen Rahmenbedingungen und Handlungsmöglichkeiten zur Erleichterung von Erziehungshandeln in Familien ein weites Aufgabenfeld. 260 F A C H TA G U N G E N 4.4.2 Joachim Fuß, Familienrichter Zwischen Prävention und Intervention Das Recht auf gewaltfreie Erziehung – Grundlagen einer rechtlichen Norm und deren Auswirkungen auf Familien- und Jugendhilfe 1. Bestandsaufnahme 1.1 Gewalt und Aggressionen in Staat und Gesellschaft Gewalt und Aggressionen prägen den Alltag. Es bereitet bisweilen große Mühe, das so genannte Gewaltmonopol des Staates auch nur halbwegs zu sichern. Gewalt und Aggressionen spielen in Familien und Gesellschaft, im privaten und im öffentlichen Bereich eine große Rolle. Die Palette reicht von ihre Kinder prügelnden und sie vernachlässigenden Eltern, Gewalt in der Familie gegenüber älteren Familienmitgliedern, über tätliche Auseinandersetzungen in Kindergärten, Horten und Schulen, Gewalt im Straßenverkehr, insbesondere auch in öffentlichen Verkehrsmitteln, Mobbing am Arbeitsplatz, umfangreiche und massive Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Sportveranstaltungen und politischen Demonstrationen bis hin zur Darstellung voll Gewalt und Aggressionen in den Medien. Es liegt auf der Hand, das es für diese Entwicklung vielfältige Ursachen gibt. Eine ZWISCHEN PRÄVENTION UND INTERVENTION 261 der Ursachen ist mit Sicherheit die Anwendung von Gewalt und Aggressionen gegenüber Kindern im Rahmen der Erziehung. 1.2 Vom Züchtigungsrecht der Erziehungsberechtigten über das Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperlicher und seelischer Misshandlungen bis hin zum Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung Das Züchtigungsrecht von Erziehungsberechtigten und Lehrern war in der Gesellschaft tief verwurzelt; es gab wohl immer wieder Bemühungen, von diesen tradierten Vorstellungen weg zu kommen, andererseits gab es auch immer wieder Rückfälle in die alten Muster. Diese haben sich schon in der Formulierung des Rechtsinstituts der „elterlichen Gewalt“ niedergeschlagen, die sich erst recht spät zur „elterlichen Sorge“ wandelte. Der Weg vom Verbot strafbarer Handlungen – körperliche und seelische Misshandlungen – bis zur Betonung der Menschenwürde des Kindes war ebenfalls lang und dornenreich. 2. Rechtliche Einordnung der Neufassung des § 1631 BGB 2.1 Der verfassungs- und völkerrechtliche Kontext der Neuformulierungen von § 1631 b Abs. 2 BGB Mit der Neufassung des § 1631 b Abs. 2 BGB ist – nach längerer Zeit – den Anforderungen der Artikel 16, 19, 29 der UN-Konvention über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 genüge getan. Die Übereinstimmung der neu geschaffenen Norm mit Artikel 1 und 2 Grundgesetz ist offenkundig. Darüber hinaus gibt es auch keine Widersprüche mit den Gedanken des Artikel 6 Grundgesetz. Zwar berechtigt das staatliche Wächteramt nach Artikel 6 Abs. 2 Grundgesetz nicht dazu, von Amts wegen für eine optimale Erziehung von Kindern zu sorgen; der Staat muss sich vielmehr darauf beschränken, eine „pessimale“ Erziehung durch die Eltern ggf. zu verhindern, im übrigen aber das Primat der Interpretation des Kindeswohls durch die Eltern grundsätzlich respektieren. Der den Eltern insoweit zustehende Beurteilungsspielraum ist erst bei krassem und offensichtlichem Widerspruch einer Erziehungsmaßnahme zum Kindeswohl überschritten. 262 F AC H TAG U N G E N Der Staat hat nur eine begrenzte Missbrauchskontrolle und zwar bei schlechthin unvertretbarem, nicht mehr diskutablem Erziehungsstil. Ob elterliche Züchtigungen in diesen Kontrollbereich gehören ist fraglich, da über 60 % aller Eltern noch 1994 einräumten, in ihrem Erziehungsverhalten gelegentlich Ohrfeigen einzusetzen und sich ca. 20 % aller Eltern zu einer gelegentlichen Tracht Prügel bekannten. Liegt hier nun ein Missbrauch des Erziehungsrechtes vor oder missbraucht der Staat sein Wächteramt, indem er Ohrfeigen unter Strafe stellt und sie zu einem Massendelikt erhebt? In Teilen des verfassungsrechtlichen Schrifttums wird das elterliche Züchtigungsrecht als zwar eingeschränkter, aber durch einfaches Gesetz nicht völlig aufhebbarer Einfluss des Elternrechtes angesehen (vgl. von Mangoldt Kleinstarck, Das Bonner Grundgesetz Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 2 Randziffer 163). Dieser Auffassung ist im Hinblick auf die gesellschaftlichen Wandlungen, das veränderte Erziehungsverständnis und die Vorgaben in der UN-Konvention über die Rechte des Kindes nicht zu folgen (vgl. insoweit die gegenteilige Auffassung von Münch/ Kunick/Coester/Wandjen, Art. 6 Randziffer 65). Es ist im übrigen davon auszugehen, dass die in dem von Mangoldt u. a. herausgegebenen Kommentar zum Grundgesetz vertretene Auffassung bei Überprüfung aus heutiger Sicht im Zweifel aufgegeben würde. Im übrigen kann die Würdigung, ob eine entwürdigende Erziehungsmaßnahme bzw. ein Verstoß gegen das Gebot der gewaltfreien Erziehung vorliegt, jeweils nur im Einzelfall erfolgen; die entsprechenden Kriterien werden weiter unten im einzelnen abgehandelt werden. 2.2 Der strafrechtliche Kontext Die Verzahlung bzw. das Nebeneinander von Zivilrecht und Strafrecht haben sich durch die Neufassung des Gesetzes geändert. Als strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund war das Züchtigungsrecht im Hinblick auf üble, erhebliche Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens (Misshandlungen) bereits durch die Neufassung des Gesetzes zum 1. Juli 1998 weggefallen. Die ab dem 1. Januar 2001 geltende Neufassung erweitert die verbotenen Erziehungsmaßnahmen auf körperliche Bestrafungen und seelische Verletzungen. Solche Handlun- ZWISCHEN PRÄVENTION UND INTERVENTION 263 gen, soweit sie nicht absolut geringfügig sind, dürften künftig auch als strafrechtlich relevant anzusehen sein (vgl. zu diesem Gesamtkomplex Hoyer: Im Strafrecht nichts Neues? Zur strafrechtlichen Bedeutung der Neufassung des § 1631 Abs. 2 BGB, FAMRZ 2001,521 ff), Außerdem gibt es bei der strafrechtlichen Würdigung Unterschiede zwischen Körperverletzung einerseits und Gewalt andererseits. Nach der Definition des Zivilrechtsgesetzgebers bedeutet das Postulat der gewaltfreien Erziehung, dass auf jede Art von körperlicher Bestrafung oder seelischer Verletzung zu verzichten ist, während im Strafrecht psychisch-seelische (fühlbare) Verletzungen allein das Tatbestandsmerkmal „Gewalt“ nicht erfüllen, wobei der mehrtägige Hausarrest straffrei wäre und die – maßvolle – Ohrfeige zu strafrechtlichen Sanktionen führen könnte. Diesem unerwünschten Ergebnis ist durch eine sinnvolle Definition des Begriffes Erziehung im Rahmen der Ausgestaltung und der Anwendung der neuen Vorschrift des § 1631 b Abs. 2 BGB Rechnung zu tragen. 3. Die Ausgestaltung des § 1631 b Abs. 2 BGB 3.1 Erziehung 3.1.1 Ziele Heranbildung von Menschen, die selbständig, angstfrei und verantwortungsbewusst in Staat und Gesellschaft leben können, ihre Begabungen und Ressourcen einbringen und nutzen können, sich selbst und anderen möglichst wenig zur Last fallen, die die Grundfähigkeit erhalten, glücklich zu werden. 3.1.2 Mittel der Erziehung Die Rechtsordnung ist – auch im Hinblick auf Art. 6 Grundgesetz – nicht befugt, insoweit detaillierte Anordnungen zu treffen. Sie kann insoweit nur einen Rahmen liefern. Besonderer Wert ist dabei auf die Menschenwürde zu legen, deren Kinder in vollem Umfang oder besser – im Hinblick auf ihre Schutzbedürftigkeit – im besonderen Maße teilhaftig sind. Die Wahrung der Menschenwürde ist demnach der umfassende Gedanke der Kindererziehung, die Gewaltfreiheit ist ein – wenn auch substanzieller – Teilaspekt. 264 F AC H TAG U N G E N Aus diesem Grunde greifen alle Überlegungen, die Grenzen zulässiger Erziehungsmittel im wesentlichen mittels strafrechtlicher Normen (Körperverletzung, Freiheitsberaubung und anderes) zu bestimmen, eindeutig zu kurz. Es ist vielmehr auf die Bandbreite entwürdigender, die Würde des Kindes verletzender Erziehungsmaßnahmen abzustellen. Andererseits ist Erziehung nicht ohne Regeln und auch nicht ohne Sanktionen gegen bestimmte Verhaltensweisen des Kindes zu leisten. In Teilbereichen müssen die Erziehungsberechtigten in der Lage sein, Maßnahmen zu treffen, die den äußeren Tatbestand von Strafnormen (Freiheitsberaubung, Stubenarrest, Ausgehverbot, zeitliches Befristen des erlaubten Ausgehens) erfüllen mögen. Bei allen im Einzelfalle ergriffenen Maßnahmen dürfte es im besonderen Maße auf das Verhältnis von Anlass und angestrebtem Ziel der angewandten Erziehungsmaßnahmen einerseits und der genauen Beschaffenheit der Erziehungsmaßnahmen andererseits ankommen. Bei angemessener und vernünftiger Auslegung sind mit der vollzogenen Reform diese Ziele zu erreichen; einerseits sind alle entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen tunlichst zu vermeiden, andererseits müssen die Erziehungsberechtigten in der Lage bleiben, Fehlverhalten durch korrigierende Maßnahmen zu steuern. Es bleibt Aufgabe der Eltern und der übrigen Erziehungsberechtigten, Regeln und Spielregeln aufzustellen und für Verstöße hiergegen entsprechende Sanktionen anzukündigen und dann auch auszuführen. Soweit dabei die Verhältnismäßigkeit zwischen Anlass und Maßnahme Art und Schwere des Regelverstoßes und Alter des Kindes hinreichend berücksichtigt werden, bewegen sich solche Sanktionen im Rahmen des neugefassten § 1631 b Abs. 2 BGB. Generell wird man Erziehungsberechtigten sagen können, dass die Verhinderung von selbst schädigenden oder selbst gefährdeten Verhaltensweisen des Kindes objektiv dem Kindeswohl ebenso entspricht wie Maßnahmen zum Schutz von Rechtsgütern Dritter und das veranlassen des Kindes zu gesetzmäßigem Verhalten. So können z. B. Eltern mit Sicherheit das Zusammentreffen des Kindes mit Spiel- und Sportkameraden, die regelmäßig strafbare Handlungen begehen, verbieten, wie sie auch die Teilnahme an Festen, die regelmäßig mit intensivem Alkoholgenuss verbunden sind, unterbinden können. Einzelne Maßnahmen und ihre rechtliche Bewertung ■ Leichte Ohrfeige, leichter Klaps: aus gegebenen Anlass ohne das diese Maßnahme zur ZWISCHEN PRÄVENTION UND INTERVENTION 265 Regel wird nach vorheriger genereller Erläuterung, dass ein bestimmtes Verhalten derart sanktioniert werden könne und müsse, noch hinnehmbar, wie auch bei Handlungen der Eltern im Affekt, soweit keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen damit verbunden sind. ■ Echte Tracht Prügel: unter keinen Umständen hinzunehmende Maßnahme der Erziehung. ■ Stubenarrest: in Fällen von Beeinträchtigungen des Kindeswohles im oben erläuterten Sinne und nach entsprechender Ankündigung bzw. Vorwarnung für einige Stunden in bestimmten Fällen als Erziehungsmittel zulässig; bei schweren Regelverstößen auch tageweise denkbar; darüber hinausgehende Stubenarreste dürften im Zweifel unzulässig sein. ■ Zeitliche Begrenzung der Ausgehzeiten und Festlegen der Nachtruhezeiten: je nach Alter des Kindes, Gesundheitszustand des Kindes in Verbindung mit der Zulassung von Ausnahmen als Erziehungsmaßnahme zulässig. ■ Kürzung bzw. Streichung von Taschengeld: insbesondere bei der Wiedergutmachung von Schäden, die das Kind angerichtet hat, als sinnvolle Maßnahme anzusehen, als Sanktionen gegen andere Regelverstöße problematisch und im Zweifel unzulässig. ■ Reduzierung und Verbot von Fernsehen: erscheint nur in Ausnahmefällen als geeignete Erziehungsmaßnahme. ■ Beschimpfungen sollten grundsätzlich unterlassen werden: die Benutzung von Ausdrücken wie „Schwein“, „Drecksack“ und falsche Vergleiche („Verbrecher“) sind im Zweifel als entwürdigende Erziehungsmaßnahmen anzusehen; dies gilt besonders in Beisein von Dritten und in Verbindung mit der ausführlichen Darstellung vom angeblichen Fehlverhalten. ■ Das Heruntermachen, das Kleinmachen von Kindern ist ebenso unzulässig wie das bewusste Übersehen und Übergehen in der Familie. 4. Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren im Falle von Verstößen gegen das Verbot der gewaltfreien Erziehung und das Verbot von entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen Generell erscheinen die Einleitung und insbesondere die weite Durchführung solcher Verfahren nur in schwerwiegenden Fällen geboten und sinnvoll. Dies ist beispielweise in Fällen schwerer Körperverletzung oder in Fällen des sexuellen Missbrauchs gegeben. 266 F AC H TAG U N G E N Im übrigen ist die starke Belastung der Familie zu berücksichtigen. Dabei ist sowohl die Belastung des Ehepartners (des anderen Eheteils) als auch der mit solchen Verfahren verbundene Druck auf die Kinder gemeint. Die Kinder stehen in solchen Verfahren vor der Frage, ob die Aussage verweigert wird oder die Aussage gemacht wird. Auch wenn für diese Frage ein Ergänzungspfleger bestellt wird, stellt allein die Befassung mit dieser Frage eine erhebliche Belastung für die Kinder dar, die auch lange zeit nach Einstellung bzw. Beendigung solcher Verfahren fortwirkt und auf Dauer die Familie belasten, wenn nicht gar völlig auseinander bringen kann. Auch der Hinweis von Bussmann in seiner Dissertation (vgl. Bussmann, Verbot familiärer Gewalt gegen Kinder, Köln 2000, Seite 447) auf die Möglichkeit der Einstellung solcher Ermittlungsverfahren bzw. Strafverfahren gem. § 153 a StPO in Verbindung mit einer Beratungsauflage überzeugt nicht. Zum einen ist die gesamte Stimmung in der Familie bereits sehr belastet; außerdem sind die Erfolgsaussichten von Beratung – bei aller generellen Wertschätzung von Beratungen – in solchen Fällen nicht hoch anzusetzen. Zum einen wird die Beratung im Zweifel nur zögerlich, ohne hinreichende Überzeugung und lediglich unter dem Druck des Straf- bzw. Ermittlungsverfahrens aufgenommen, zum anderen erscheint dieser Umstand als äußerst hinderlich für eine engagierte Tätigkeit von Beraterinnen und Beratern. Generell ist im Zusammenhang mit familiengerichtlichen Verfahren (Sorgerecht, Umgangsrecht, Entzug der elterlichen Sorge nach § 1666 BGB) die Durchführung von Strafverfahren nicht sehr relevant. Ein Nebeneinander von familiengerichtlichen Verfahren und Strafverfahren ist generell nicht sachdienlich. Gegebenenfalls ist das familiengerichtliche Verfahren auszusetzen bis das Strafverfahren abgeschlossen ist. In vielen Fällen erscheint es sinnvoll, durch Einholung gutachterlicher Stellungnahmen den Sachverhalt hinreichend zu klären und dann im familiengerichtlichen Verfahren zu entscheiden, ohne dass es eines Strafverfahrens bedürfte. Die Abläufe und Zielrichtungen des familiengerichtlichen Verfahrens einerseits und des Strafverfahrens andererseits sind so unterschiedlich, dass eine parallele Durchführung beider Verfahren nicht nur kompliziert, sondern unter Umständen auch kontraproduktiv ist. An der gedanklichen Verzahnung des Familienrechts und des Strafrechts in diesem Kon- ZWISCHEN PRÄVENTION UND INTERVENTION 267 text kommt man nicht vorbei; es sollte aber alles getan werden, sich in aller Regel primär oder gar ausschließlich auf das familiengerichtliche Verfahren zu konzentrieren. Zwecks Information und Fortbildung sollten – soweit nicht bereits geschehen – Netzwerke der verschiedenen mit der Problematik befassten Institutionen und Professionen geschaffen werden. 5. Familienrechtliche und Jugendhilferechtliche Konsequenzen von Verstößen gegen das Gebot der gewaltfreien Erziehung bzw. das Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen Für das Jugendamt ist zunächst die Aufklärung des Sachverhaltes durch Anhörung der Beteiligten, in fast allen Fällen auch durch Hausbesuche erforderlich; dabei sind tunlichst die Ursachen für die Verstöße gegen § 1631 b Abs. 2 BGB zu ermitteln. Je nach den herausgefundenen Ursachen (extrem schwierige Kinder, Schulprobleme, Gesundheitsbeeinträchtigungen der Eltern und der Kinder, Probleme mit Alkohol und anderen Drogen, finanzielle, wirtschaftliche Probleme und auch Paarprobleme der Eltern) sind gezielte spezifische Beratungsangebote zu machen, die Annahme und Durchführung der Beratung einzuleiten, zu fördern und sicherzustellen. Die jeweils spezifische Beratung ist durch begleitende Gespräche seitens des Jugendamtes zu unterstützen. Falls sich eine Besserung der Situation nicht einstellt, da die beratenden Gespräche nicht ausreichen, ist gegebenenfalls eine sozialpädagogische Einzelfallhilfe zu installieren. Wenn auch diese nicht greifen sollte z.B. weil die Eltern sie ablehnen oder sie faktisch boykottieren, ist ein Verfahren gemäß § 1666 BGB einzuleiten. Dieses Verfahren ist dann seitens des Jugendamtes und des Familiengerichts in der gebotenen Zielstrebigkeit zu betreiben, wobei der Schwerpunkt auf einer Besserung der Situation durch Hilfen liegt. Falls die Hilfen nicht angenommen werden, muss aber auch eine andere Lösung, etwa in Form der Herausnahme der Kinder aus dem Haushalt der Eltern – und sei es auch nur vorübergehend – mit der gebotenen Dringlichkeit eingeleitet werden. Soweit Verstöße gegen § 1631 b Abs. 2 BGB in der Person des umgangsberechtigten Elternteils vorliegen, ist die Situation ebenfalls in Schritten anzugehen. Ausgangspunkt ist hier, dass es im Zweifel Kontakte zu geben hat. Diese müssten gegebenenfalls – 268 F AC H TAG U N G E N jedenfalls vorübergehend – in begleiteter Form stattfinden. Außerdem hat hier die Beratung ihren Stellenwert. Soweit es darüber hinaus gehende Probleme gibt, insbesondere auch in der Person des anderen Elternteils, müssen gegebenenfalls auch die Möglichkeiten der Mediation genutzt werden, um Umgangskontakte auf eine relativ sichere und verlässliche Basis zu stellen. Präventive Arbeit ist für alle Eltern einschließlich der Adoptiv- und Pflegeeltern geboten. In der Vorbereitung auf die Wahrnehmung dieser Aufgaben hat auch die Darstellung der Neuregelung des § 1631 b Abs. 2 BGB ihren Platz. Darüber hinaus sollten Adoptiv- und Pflegeeltern auch fortlaufende Begleitung erfahren, in deren Rahmen auch diese Problematik angesprochen wird und zwar generell, nicht erst aus gegebenen Anlass. Nur so kann die neu geschaffene Norm mit Leben erfüllt werden. Grundsätzlich gilt dies auch bei Verdacht des sexuellen Missbrauchs mit entsprechendem konkreten Vortrag und gewissen objektiven Anhaltspunkten. Eine schnelle Absprache über die Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens in Verbindung mit der Aussetzung des Umgangsrechts ohne irgendein Schuldeingeständnis erscheint für das Kindeswohl besser geeignet als die gleichzeitige Einleitung eines Strafverfahrens durch eine Strafanzeige. Dies setzt eine zügige Begutachtung voraus, vor allem eine schnelle Exploration der Kinder und die sorgfältige Auswahl des Sachverständigen (Spezialisierung und entsprechende Supervision) und sachdienliche Absprachen zwischen Gutachter und Gericht. So können z.B. ggf. nach den ersten Explorationen durch den Sachverständigen Umgangskontakte – ggf. in geschützter Form – wieder stattfinden. Sofern Anhaltspunkte für massiven Missbrauch bestehen und mehrere Kinder – auch außerhalb der Familie – betroffen sind bzw. ein Beruf zur Ausübung des Missbrauchs genutzt wird, ist die sofortige Erstattung einer Strafanzeige geboten. Im übrigen sollte die Änderung des § 1631 b BGB nicht genutzt werden, problematische Familienverhältnisse zu kriminalisieren. Auch jede Dramatisierung sollte unterbleiben. Menschen, die als Nachbarn – häufig wenig kinder- und familienfreundlich – nichts besseres zu tun haben, als ständig Familien im Blick zu halten und überall schlimme Dinge zu berichten, sollten kritisch angehört werden und ggf. auf die Problematik bzw. Unzulässigkeit ihres Tuns (falsche Angaben, große Übertreibung) hingewiesen werden. Andererseits ist die frühzeitige Erkennung von Verstößen gegen das Gebot der gewalt- ZWISCHEN PRÄVENTION UND INTERVENTION 269 freien Erziehung von Kindern eine entscheidende Voraussetzung zur Besserung der Verhältnisse. Dabei sollten alle Berufsgruppen, die mit Kindern zu tun haben, auf Symptome achten, die Folgen von Gewalt bzw. entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen sein können. Es sind hier zu nennen: Erzieher/innen in Kindergärten und Horten, Lehrer/ innen, Arzte/innen als Hausärzte, Schulärzte, Krankenhausärzte, Mitarbeiter des schulpsychologischen Dienstes, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes und von Familien- und Erziehungsberatungsstellen. Diese Berufsgruppen werden zu einem großen Teil der Wahrnehmungsaufgabe gerecht und geben auch ihre Wahrnehmungen an andere Stellen weiter, versuchen ihre Wahrnehmungen zu würdigen und überdenken mögliche Konsequenzen. Andere sind recht gedankenlos und wieder andere scheuen jede Art von Engagement in diese Richtung. Andere schließlich übersehen diese Symptome bewusst oder verharmlosen sie oder begnügen sich mit offensichtlich abwegigen Erklärungen. Besonders problematisch erscheint in diesem Kontext das Verhalten vieler Ärzte, die eindeutige Symptome von Misshandlungen wahrnehmen, gleichwohl nicht handeln, oder massive psychische Störungen feststellen, aber den Ursachen nicht nachgehen. Hier ist Aufklärung und Bildungsarbeit angesagt, die sinnvollerweise mit dem gebotenen Nachdruck über Ärztekammern eingeleitet werden sollten. Die Reaktionen von Lehrern sind deutlich positiver. Aber auch hier gibt es noch Handlungsbedarf, weil Lehrern sehrhäufig die Systeme von Beratung und Hilfe – auch vor Ort – nicht hinreichend bekannt sind. 6. Möglichkeiten von Hilfe und Beratung Es steht außer Zweifel, dass man nicht alle Eltern zu Fortbildungsveranstaltungen mit dem Thema der gewaltfreien Erziehung bekommen wird. Es ist zwar richtig, dass Beratungen – insbesondere nach den gesetzlichen Änderungen der letzten Jahre – ein ganz wesentlicher Faktor der Jugendhilfe Arbeit sind. Die Träger und Mitarbeiter von Beratungsstellen und von Bildungswerken müssen sich aber mit zwei Entwicklungen vertraut machen: ■ Immer mehr Menschen erweisen sich als beratungsresistent, so dass auch fachlich gute Beratungs- und Bildungsangebote nicht greifen. ■ Immer mehr Menschen blockieren mit allen Mitteln eine sinnvolle Beratungssituation, wobei sie zunächst Gesprächstermine immer wieder kurzfristig absagen. Wenn dann 270 F AC H TAG U N G E N schließlich ein solches Gespräch zustande kam, nicht bereit sind, sich auch nur ein wenig zuöffnen, sondern ausschließlich gebetsmühlenartig ihre Einwendungen gegen den anderen Elternteil, gegen das Jugendamt, gegen das Gericht, gegen die Beratungsstelle und Beratung überhaupt wiederholen. Im Hinblick auf diese Problematik muss die Öffentlichkeitsarbeit von Bildungswerken und Beratungsstellen in den Medien deutlich verbessert und intensiviert werden. 7. Zusammenfassung Die Vorschrift des § 1631 b Abs. 2 BGB ist – wie sich aus den bisherigen Ausführungen ergibt – keine Norm mit bloßem Appellcharakter, sondern, durchaus eine Norm, deren richtige Anwendung Konsequenzen für die geschädigten und betroffenen Kinder hat, eine deutliche Besserung für die Kinder leisten kann und insgesamt die Situation der ganzen Familie wesentlich zum Besseren wenden kann. Andererseits verbessert sich naturgemäß nicht durch Schaffung einer Vorschrift über Nacht die Welt zum Besseren. Es steht ein langsamer durchaus schwieriger Prozess bevor, der aber zu Bewusstseinsänderungen und damit auch zu substanziellen Fortschritten für die betroffenen Kinder führen kann. Dies setzt eine intensive Ausbildung und Fortbildung der beteiligten Professionen ebenso voraus, wie verstärkte Informations- und Bildungsangebote für die Eltern. Dabei muss im besonderen Maße deutlich werden, dass die Eltern bei Anwendung guter Erziehungsmethoden die Elemente von Gewalt und Erniedrigung nicht benötigen. Darüber hinaus muss ein qualifiziertes, plurales Beratungsangebot in größeren Umfang als bisher vorgehalten werden. Ferner muss das Thema der gewaltfreien Erziehung auch in den Ausbildungsplänen der einschlägigen Berufe einen herausragenden Stellenwert bekommen. ZWISCHEN PRÄVENTION UND INTERVENTION 271 4.4.3 Klaus Münstermann Gewaltfreie Konfliktlösungen fördern, Gewalt verhindern Handlungsmöglichkeiten und notwendige Kompetenzen sowie Ressourcen der freien und öffentlichen Familien- und Jugendhilfe 1. Die Jugendhilfe reduziert mit großer Dynamik ihren Eingriffcharakter hin zu einem Dienstleistungsverständnis, aber sie verharrt noch zu sehr in traditionellem Verwaltungsdenken von Zuständigkeiten, Verantwortungsdelegation und Abschottung gegenüber finanziellen Ansprüchen usw. 2. Prävention ist die traditionelle Polarität der Jugendhilfe, die sich konzeptionell in der Zukunft auflöst. Interventionen (strukturelle und individuelle) sind dann wirksam, wenn sie bezogen sind auf die Prävention (strukturell und individuell) und umgekehrt. Die Lebens- und Alltagsorientierung verbindet die Polarität von Schutz und Förderung. Konkret: Die Kinder und Jugendlichen erfahren in ihrem Sozialraum, in ihren Anliegen und Bedürfnissen förderliche Hilfestellungen und erhalten dadurch Zugang zu niedrigschwelligen Krisenangeboten. 3. Gewaltfreie Konfliktlösung bedeutet für die Jugendhilfe (gleichzeitig Familienhilfe) u.a. ■ mit dem Spannungsfeld von Kindeswohl und Kindeswille professionell umzugehen; ■ Mediationskompetenz (auch Deeskalationstraining) als Standartqualifikation; ■ Hilfeplanung für die nachhaltige Konfliktlösung zu nutzen; 272 F AC H TAG U N G E N ■ souverän mit dem individuellen Netzwerk umgehen zu können; ■ Suprvision, Fort- und Weiterbildung als lebenslangen Lernprozress zu sehen. ■ Supervision, Fort- und Weiterbildung als lebenslangen Lernprozess zu sehen. 4. Gewalt verhindern – diese Programmatik gilt für die Jugendlichen nach innen und außen. Die modernen Themen (QM, Evaluation usw.) sind auf dieses Tabu zu beziehen. 5. Die personellen und räumlichen Ressourcen der Jugendhilfe sowie der sozialpädagogischen Aus-, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen sind (im Interesse des Schutzes der Akteure vor Überforderung) weitgehend unbekannt und ungenutzt. 6. Von der Fachkompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe kann eingebracht/genutzt werden: ■ Sozialpädagogisches Fallverstehen/sozialpädagogische Diagnose ■ Kinder- und Jugendberatung ■ Jugendhilfeplanung ■ Transfer Therapie-Alltag ■ Krisenmanagement ■ Täter-Opfer-Ausgleich ■ Jugendgerechte Lebensräume 7. Menschenbildung ist das Ziel, Experten sind nur die (hoffentlich) kundigeren Begleiter durch die komplizierte Welt und das ohne Führungsanspruch. Familie als prägende Instanz von Wertorientierung „Was ist los, wenn ich wild werde?“ „Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege“ Jugend – Gewalt – Familie Gewalt in der Erziehung „Starke Kinder – Starke Eltern“ Seminar-Bausteine 273 274 5.1 SEMINAR-BAUSTEINE Dagmar und Bernward Bickmann „Wo, bitte, geht’s denn lang wo ich hin will?“ (Karl Valentin) Familie als prägende Instanz von Wertorientierungen im gesellschaftlichen „Zusammenspiel“ mit Schule, Arbeitswelt, Medien und politischer Teilhabe 5.1.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund Lernziele ■ Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Wertorientierungen in der Erziehung ■ Auseinandersetzung mit Wertorientierungen in einer pluralistischen Gesellschaft ■ Bedeutung der Menschenwürde als Orientierungspunkte für erzieherisches Handeln Zielgruppe Familien (nach der Definition: „Familie ist, wo Kinder leben.“) Seminarhintergrund Das Seminar, während der hessischen Herbstferien von der „Überregionalen Frankfurter Sozialschule, Abt. Fulda - Bonifatiushaus“ veranstaltet, hat eine lange Tradition. Familien mit Kindern vom Kindergartenalter bis 15 Jahren nahmen daran teil. Familienformen waren Zwei-Eltern-Familien und allein Erziehende. Für die Kinder und Jugendlichen wurde von den Mitarbeitenden ein eigenes Programm durchgeführt. Phasenweise nahmen die älteren Kinder / Jugendlichen nach vorbereitenden Einheiten in der eigenen Gruppe an gemeinsamen Seminareinheiten mit den Erwachsenen teil. 5.1.2 Ausschreibungstext Liebe Eltern, unser Thema für das diesjährige Herbstferienseminar ist eigentlich nicht nur ein Seminarthema, sondern ein lebensbegleitendes Thema. Jede Mutter, jeder Vater FAMILIE ALS PRÄGENDE I N S TA N Z 275 erzieht sein Kind wertorientiert. Durch gesellschaftliche Veränderungen sind gemeinsame Werte für alle nicht mehr selbstverständlich vorgegeben. Wertorientierungen werden im Diskurs und in der Lebenspraxis neu entwickelt. Wo früher Menschen in bestehende Wertsysteme hineingeboren wurden und diese auch übernahmen, muss heute jede / jeder eigenverantwortlich für sich Wertorientierungen prüfen und übernehmen. Wir laden Sie ein, die gemeinsame Zeit zu nutzen, um eigene Standpunkte zu formulieren und im Austausch mit anderen zu reflektieren. Je nach Alter der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen werden Sie sich phasenweise mit den selben Themenschwerpunkten wie die Eltern beschäftigen und von Zeit zu Zeit gemeinsam mit den Erwachsenen das Programm gestalten. Das Programm mag ihnen als inhaltliche Idee dienen, wir werden es mit Ihnen weiter konkretisieren. Wir freuen uns auf die Begegnung mit Ihnen. 5.1.3 Bausteine Samstag 11.00 h-12.30 h Begrüßung, Kennenlernen, Einführung in das Seminar 14.00 h-18.30 h Wertorientierungen in einer pluralistischen Gesellschaft: Wahrnehmungen – Erfahrungen – Befürchtungen Erarbeitung einer gesellschaftlichen „Landkarte“: In welchen gesellschaftlichen Lebensfeldern (Arbeitswelt, politische Gemeinde, Politik, Medien, Schule, etc.) nehmen die Teilnehmenden welche Werte war? Einführungsstatement / Arbeitsgruppen / Plenumgespräch / Abschlussstatement 19.30 h-21.00 h Fortsetzung Sonntag 09.00 h-12.30 h Jugend – Familie – Gesellschaft – Zukunft: Die Bedeutung von Werten für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in einer pluralistischen Gesellschaft. Vortrag und Gespräch 15.00 h-18.30 h Wertorientierungen bei Kindern und Jugendlichen im Blick auf: Politik, gesellschaftliche Verantwortungsübernahme, Engagement, Konsum, Medien, etc. Vortrag über Empirische Ergebnisse aus der Jugendforschung und anschließende Diskussion 276 SEMINAR-BAUSTEINE Montag 09.00 h-12.30 h 15.00 h-18.30 h Familiäres Erziehungshandeln im Kontext von Schule und Medien: Einfluss-Gefahren-Chancen. Impulsreferat / Arbeitsgruppen / Plenumgespräch Eltern zwischen Familie und Arbeitswelt: Unterschiedliche Werte Welten? Welche Werte will ich meinen Kinder mitgeben? Kreative Arbeitsgruppen mit anschließendem Plenumgespräch und Abschlussstatement Dienstag 09.15 h-12.30 h Wertorientierungen im familiären Gespräch: Der Stellenwert und die Bedeutung von Familie in der wert-pluralistischen Gesellschaft, Anspruch und Realität. Impulsreferat / Arbeitsgruppen / Plenumgespräch 15.00 h-18.30 h Wert-Konflikte konstruktiv lösen (lernen): Gesellschaftliche Wertkonflikt in der familiären Auseinandersetzung. Gespräch zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern / Jugendlichen Mittwoch 09.15 h-12.00 h 12.00 h-12.30 h Familie als Kristallisationspunkt unterschiedlicher Sozialisationseinflüsse. Statement zur Zusammenfassung und Weiterführung Auswertung 5.1.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven Der „rote Faden“ des Seminars wurde bestimmt durch das Thema Wertorientierung im Bezug zu verschiedenen gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsfeldern, die für die Teilnehmenden und ihre Familien von Bedeutung sind: gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Medien, Arbeitswelt, Schule. Ausgangspunkt der inhaltlichen Auseinandersetzung war eine von den Teilnehmenden gestaltete Landkarte, in denen diese ihre relevanten Arbeits- und Lebenswelten aufführten und die in den verschiedenen Feldern wahrgenommenen Werte darstellten. Dies ermöglichte, dass die Teilnehmenden ihre Vorerfahrungen einbringen konnten und der Rahmen für die thematische Gestaltung abgesteckt wurde. FAMILIE ALS PRÄGENDE I N S TA N Z 277 Anhand einiger ausgewählter Ergebnisse der Studie „Jugend 2000 – 13. Shell Jugendstudie“ wurde das Thema „Jugend – Familie – Gesellschaft – Zukunft“ in Form eines Referates den Teilnehmenden nähergebracht. Verknüpft wurden die Aussagen der Studie mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen wie Pluralisierung der Werte, Normen und Lebensformen, Fragen der Globalisierung und Europäisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Ein weiterer Schwerpunkt bildete der in den letzten Jahren gewachsene Medienbereich und dessen Einfluss auf die Wertbildung bei Jugendlichen bzw. in der Gesellschaft. Anhand von Daten aus der Medienforschung über Mediennutzung (Dauer, bevorzugte Sendungen, Formate, etc.) wurden die Erfahrungen der Teilnehmenden „gegengelesen“. Deutlich wurde, dass gerade das Zusammenspiel von Medien und Gleichaltrigengruppe/ Schule auf die Wertbildung Jugendlicher einen großen Einfluss hat. Die Einführung in die Thematik „Eltern zwischen Familie und Arbeitswelt“ geschah über die Erarbeitung von Collagen der Teilnehmenden. Darin kam der zunehmende Druck in den Arbeitsbezügen zum Ausdruck. Die Gefahr von Arbeitsplatzverlust, der zunehmende Anspruch an die Leistungsgrenzen gehen zu müssen (Abbau von Arbeitsplätzen) war in der anschließenden Debatte präsent. Die Schere zwischen dem was die Teilnehmenden in ihrer Erziehung an Werten weitergeben möchten und dem, was sie in der Arbeitswelt erleben geht immer weiter auseinander. Die aktuelle Situation in der Arbeitswelt erleben, viele Teilnehmende als familienfeindlich. Insbesondere allein Erziehende fühlen sich bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie allein gelassen. In allen Themeneinheiten wurde die Fragestellung der Familie als Kristallisationspunkt unterschiedlicher Sozialisationseinflüsse mitbehandelt. Familie als Kernzelle der Gesellschaft bekommt gerade in der Zeit der fast grenzenlos erscheinenden Pluralisierung und der damit verbundenen Entscheidungsfreiheiten einen immer größeren Stellenwert. Entscheidungslernen als Grundvoraussetzung für das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft braucht die Räume des Erlernens dieser Fähigkeiten. Sowie in der Gesellschaft eine Individualisierung zu beschreiben ist, individualisieren sich auch Familien. Gesellschaftliche Wertkonflikte sind in Familien im Konkreten zu erleben. Orientiert an der Menschenwürde ist es notwendig, Konfliktlösungsmodelle zu entwickeln, gesellschaftliche Verantwortungsübernahme zu lernen und Engagement zu lernen. In den gemeinsamen Phasen mit den Jugendlichen wurden diese Themenbereiche angesprochen. 278 SEMINAR-BAUSTEINE Diese Teile des Seminars waren für den Verlauf des Seminars wichtig und führten auch auf die Debatte über die gesellschaftlichen „Gegensätze“ zwischen Jugendlichen und Erwachsenen hin. Durch die methodisch abwechslungsreich gestalteten Einheiten (Input-Referate, Großund Kleingruppengespräche, Arbeit an Collagen, gemeinsame Phase mit den Jugendlichen) konnten die Ziele des Seminars erreicht werden. Unterstützt wurde dies durch die hohe Motivation der Teilnehmende, für sie neue Aspekte aufzunehmen und sich in Debatten einzulassen. Die Teilnehmenden erleben es in ihren eigenen Arbeits-/Lebenswelten wie auch in ihrer erzieherischen „Arbeit“ als immer schwieriger bei einem immer kleiner werdenden gesellschaftlichen Konsens von Werten ihre eigene Wertorientierung gegenüber anderen abzugrenzen. Die Seite der Wahlmöglichkeiten in der Pluralisierung von Werten wurde durchaus gesehen und als positiv bewertet, in der Auseinandersetzung mit Jugendlichen aber auch als Teil der schwieriger werdenden Erziehungs-“arbeit“ beschrieben. Die Teilnehmenden beschrieben in den Diskussionen ihre vielfältigen Erfahrungen, wie sie sich als Familien mit Kindern in der Gesellschaft benachteiligt fühlen und die gesellschaftlich bedeutenden Leistungen der Familie bzw. der Erziehung nur wenig anerkannt werden. „WAS IST LOS, WENN ICH WILD WERDE?“ 5.2 279 Birgit Engehardt-Schwaab „Was ist los, wenn ich wild werde?“ Bildungswoche für Alleinerziehende in der Katholischen Landvolkshochschule Feuerstein, Ebermannstadt 5.2.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund Lernziele ■ Sensibilisierung für aggressive Verhaltensmustern und Erlernen eines adäquaten Umgangs mit Aggressionen: Zulassen, Kanalisieren von aggressiven Stimmungen bei Eltern und Kindern. ■ Kennenlernen bzw. erarbeiten von Erziehungshilfen in Bezug auf aggressive Reaktionen von Kindern (z.B. Wut- und Trotzanfälle, „um sich schlagen“) im Blick auf die eigene familiäre Situation. ■ Bewusstwerden verschiedener Aggressionsursachen in der eigenen Familiensituation sowie vor dem Hintergrund aktueller gesellschafts-, sozial- und familienpolitischer Rahmenbedingungen. ■ Kennenlernen verschiedener inhaltlicher Perspektiven zur Gewaltprävention. ■ Erkennen, dass subjektiv erlebte defizitäre familiäre Situationen bezüglich der genannten Faktoren durch eigene Schritte zum entsprechend politischen Handeln (z.B. auf kommunaler Ebene) gebessert und geklärt werden können. ■ Kennenlernen von Einrichtungen, Verbänden und (Möglichkeiten von) Netzwerken (bzw. Selbsthilfegruppen als wichtige unterstützende Institutionen/Einrichtungen. Die einzelnen Lernschritte waren in der genannten Abfolge gezielt stufenweise angeordnet, um so bei den alleinerziehenden Eltern einen Prozess der inneren Motivation in Gang zu bringen. Dieser sollte sie schrittweise zu der Erkenntnis führen, dass der Weg, Gewalt zu verhindern, über das Reagieren im familiären Setting weit hinausreicht und in ein Netz von gesellschafts-, sozial- und familienpolitischen Entwicklungen eingebunden ist. Dabei sollte jede/r Alleinerziehende die subjektiven Möglichkeiten seines/ihres Handlungspotenzials auf politischer Ebene erforschen (für sich und durch den Austausch in Kleingruppengesprächen). 280 SEMINAR-BAUSTEINE Zielgruppe Alleinerziehende mit Kindern Seminarhintergrund Im Rahmen eines Vortrages in einem Kindergarten zum Thema Aggression berichtete in einer Kleingruppe die Mutter eines zweijährigen Jungen, wie sie ihn zur Strafe unter die eiskalte Dusche stellte. Der Junge war ihr zu laut in der Wohnung. Der Bericht ließ deutlich werden, dass überforderte Eltern Hilfe brauchen, um gewaltorientiertes oder gewalttätiges Erziehungshandeln zu vermeiden. Daraus entstand die Idee zu diesem Seminar. 5.2.2 Ausschreibungstext Liebe Interessierte an der Bildungswoche für allein erziehende Mütter und Väter! Gemeinsam mit den Kindern, in Kindergruppen und Workshops für Erwachsene will sich die Landvolkshochschule Feuerstein in Zusammenarbeit mit dem Familienbund der Deutschen Katholiken mit dem Thema „Was ist los, wenn ich wild werde?“ beschäftigen. Es macht Spaß, dem Thema mit vielen anregenden Spielen auf die Spur zu kommen, z.B. als wilde Tiere verkleidet durch den Wald zu springen oder die körperlichen Kräfte bei fröhlichen Wasserschlachten auszutoben. Daneben gibt es interessante Erziehungstipps und spielerische Anregungen in den Elternworkshops u.a. zu der Frage „Wie ist das, wenn ich oder mein/e Kind/er mal aus der Haut fahre/n?“ Bitte bringen Sie für sich und ihre Kinder bequeme Kleidung (Trainingsanzug), Hausschuhe, eine kleine Wanderausrüstung (feste Schuhe, Regenjacke, Rucksack, Teeflasche) und Badesachen sowie, wenn möglich, für die Kinder eine Taschenlampe mit. Ich freue mich schon auf Ihr Kommen bzw. auf ein Wiedersehen und grüße für heute herzlich vom Feuerstein. 5.2.3 Bausteine Montag 19.00 h-19.30 h 19.30 h-20.30 h 20.30 h-21.00 h Kennenlernrunde In Kleingruppen werden in der näheren Umgebung Tiere beobachtet. Teilnehmende beachten, welche wild, aufgeregt, ruhig… sind. Beobachtungen werden auf Zetteln notiert. Gute-Nacht-Geschichte für die Kinder „WAS IST LOS, WENN ICH WILD WERDE?“ 281 Dienstag 09.00 h-11.30 h Innerfamiliäre Betrachtungs- und Bearbeitungsebene mit dem Medium Tierverkleidungen: In Eltern-Kind-Gruppen wird zum Thema „Welches (wilde) Tier möchte ich gerne sein?“ gearbeitet. Eltern und Kinder basteln gemeinsam Tierkostüme und stellen sich danach in der Gesamtgruppe vor. Im Anschluss hieran malten diese zu Hintergrundmusik in Rückblendung auf den Vormittag Bilder mit folgender Vorgabe: „Male Dich und Deine Familie als Tiere“. Die Gefühlslage zu diesen Bildern wird 15.00 h-17.00 h 17.00 h-18.00 h 19.00 h-20.00 h anschließend in Kleingruppen ausgetauscht. ■ Elterngruppe zum Thema: Einführung in den Umgang mit Emotionen. Meine Gefühlswelt und die meiner/-s Kind/er ■ Kindergruppe (Altersgruppen): Kontakt- und Kennenlernspiele Körperwahrnehmungsspiele in Eltern-Kind-Gruppen: „Fühl’ mal, wie gut das tut!“ ■ Elterngruppe: Körperentspannung. ■ Kindergruppe: Kindertänze und Tanzspiele Mittwoch 09.30 h-11.30 h ■ Elterngruppe zum Thema: „Persönliche und/oder soziale/gesellschaftliche Probleme, die zur Überlastung der eigenen familiären Situation führen können“. Hinführung zum Thema in drei Schritten: 1. Einführung anhand einer Familiengeschichte, die eine Wechselwirkung zwischen persönlichen und sozial/ gesellschaftlichen Problemfeldern aufzeigt. 2. Analyse der jeweils eigenen familiären Situation nach persönlichen, wirtschaftlichen (z.B. Arbeitsplatz), sozialen (z.B. Betreuungsmöglichkeiten), gesellschaftlichen (z.B. Medien) Ursachen für Aggressions-/Gewaltbereitschaft in der Familie und der familiären Umgebung (Zweiergespräche). 3. Niederschrift der Analyse im Tagebuch (Einzelarbeit). ■ Kleingruppenarbeit mit der Zielsetzung, familienspezifische Hilfsstrategien zu entwickeln, die sich auf innerfamiliäre Verbesserungen der psychischen, sozialen, finanziell/wirtschaftlichen, ethisch/moralischen Dimension (je nach Bedarf) oder auf äußerfamiliäre Verbesserungen im privaten Umfeld (Gruppen, Nachbarschaft) beziehen. 282 SEMINAR-BAUSTEINE ■ Plenum: Rückmeldung der Ergebnisse aus den Kleingruppen, Gewichtung nach inhaltlicher Brisanz, Suche nach strategischer und organisatorischer Bündelung der Hilfsstrategien wenn möglich in kommunalen/regionalen Treffs (z.B. Stadtregionen oder bestimmte Dörfer). 13.30 h-18.00 h ■ Kindergruppe (Altersgruppen): Kooperationsspiele Ausflug in ein Schwimmbad; Austoben mit Wasserspielen 19.00 h-20.30 h Gemeinsam wird ein großes Wasserbild gemalt. Jede/r kann sich selbst malen, so wie er/sie sich im Wasser erlebt hat. 20.30 h-21.00 h Donnerstag Gute-Nacht-Musik in der Gesamtgruppe 09.00 h-12.30 h ■ Elterngruppe: 1. Vorstellung von Ansätzen der Familienselbsthilfe aus der Familien- und Jugendarbeit am Beispiel der Stadt Ebermannstadt und Stellungnahme seitens Vertreterinnen und Vertreter der Kommunalpolitik, der Hort-Initiative, des Jugend-Treffs. 2 Diskussionsrunde mit den Referenten 3. Kleingruppenarbeit zum Thema: „Welche Anregungen können Eltern zum Ausbau ihrer eigenen Hilfsstrategien aus diesen Modellen aufnehmen?“ 13.30 h-18.00 h 19.00 h-20.30 h 4. Ergebnisrunde im Plenum ■ Kindergruppe: Basteln zum Thema: „Wie geht es mir zu Hause?“ Aufbruch zu einer Waldregion, dort spontan inszenierte Theaterstücke mit den Tierkostümen ■ Elterngruppe: 1. Vorstellung des Arbeitskreises Elternhilfe-Netzwerk (Feuersteiner Konzeptidee) und des aksb-Projekts (Grobübersicht). 2. Rahmenkonzept der Elterntrainingsabende 3. Elternkontaktstellenmodell (mit Elterncafé, Babysittervermittlung, Selbsthilfegruppen-Aufbau) 4. Plenum: Diskussion von Konzept-Inhalten und Fragen zum Konzept-Aufbau 20.30 h-21.00 h Freitag Gute-Nacht-Entspannungsübungen 09.00 h-11.30 h ■ Elterngruppe zum Thema: „Welche/n Modelle/n der Familienselbsthilfe können Eltern für sich (a) persönlich zustimmen „WAS IST LOS, WENN ICH WILD WERDE?“ 283 (aber noch nicht umsetzen), (b) Modell-Aspekte aktiv umsetzen, (c) wie in nächster Zukunft mit dem Selbsthilfekonzept vor Ort/zu Hause umgehen? 1. Inhaltlicher Input zu a bis c. 2. Einzelarbeit mit dem Tagebuch, dabei Auftrag erarbeiteter Hilfsstrategien in Modell-Ansatz einzubauen. 3. Ergebnisrunde im Plenum 4. Ausfüllen eines Fragebogens mit dem inhaltlichen Schwerpunkten: Wie kann ich als Elternteil auf persönlicher, nachbarschaftlicher, gruppenbezogener, politischer, gesellschaftlicher Ebene in der Gewaltprävention aktiv werden? (Die Unterfragen des Fragebogens werden mit dem Betreuungsteam der Alleinerziehendenwoche in Kürze besprochen und festgelegt). 11.30 h-12.30 h 15.00 h-17.00 h ■ Kindergruppe: Bauen einer „Fühlstraße“. Elternkindgruppen zum Thema: „Wir teilen einander unsere Gefühle mit“ ■ Elterngruppe: Wie erlebe ich die Eltern-Kind-Beziehung und meine gesamte familiäre Situation heute? Wo ist Begegnung, gegenseitiges Verständnis, wo sind Spannungen/Belastungen/Aggressionen? Rollenspiele zu genannten Konfliktthemen, Erarbeitung von Lösungsvorschlägen. ■ Kindergruppe: ■ Geländespiele zum Thema: „Wie können wir zusammen hel- 17.00 h-18.00 h fen, uns gegenseitig stärken?“ Kinder laden Eltern zum (Gelände-)Spiel ein. 19.00 h-22.00 h Samstag Bunter Abend in der Gesamtgruppe 09.00 h-11.00 h ■ Elterngruppe: Welches (erreichbare) Ziel zur Entspannung (Verbesserung) meiner familiären Situation nehme ich mir ab jetzt vor? Wo kann ich mit Aggressionen umgehen, wo brauche ich Hilfe? „Ausblick auf 11.00 h-12.00 h das Elternhilfe-Netzwerk“. ■ Feedback-Runde zur Woche ■ Kindergruppe: Malen zum Thema „Was ich mir wünsche …“ Kinder überreichen Eltern ihr Bild, Abschlusslied, Abschlusstanz. 284 SEMINAR-BAUSTEINE 5.2.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmenden erwarteten Hilfestellung für den richtigen und helfenden Umgang mit Aggressionen in der Erziehung. Gerade allein Erziehende Fahren unter Alltagsbelastungen sehr schnell „aus der Haut“ und kommen mit der angespannten emotionalen Lage (z.B. Wutanfälle der Kinder) nicht mehr klar, wie die Rückmeldungen zu erkennen gaben. Es wurde die Erwartung geäußert, im Umgang mit sich selbst und dem Kind etwas Hilfreiches lernen zu wollen. Ein Drittel der Befragten formulierte die Erwartungen, in diesem Seminar ausruhen, entspannen, neue Kraft schöpfen, sowie die erlebten Belastungen möglichst hinter sich lassen und vergessen zu können. Die Veranstalter wollten die Teilnehmenden für das Thema „Gewaltprävention in Familien“ innerpsychisch, sozial- und gesellschaftspolitisch sensibilisieren. Das Problem bestand nun darin, einen inhaltlichen „Spagat“ zwischen den persönlich emotionalen Betroffenheiten in familiären Situationen sowie der Betrachtungsweise der Teilnehmenden einerseits und dem gesellschaftspolitischen Hintergrund ihrer Probleme andererseits zu schaffen. Eine wichtige inhaltliche Brückenfunktion hatte dabei die Input-Geschichte, das Märchen „Hänsel und Gretel“. Die Erwartungen der Teilnehmenden bezogen sich zu Beginn der Veranstaltung noch überwiegend auf den Umgang mit Erziehungsproblemen, verlagerten sich aber nach der Impuls-Märchen-Geschichte für den Zeitraum von Mittwoch bis Donnerstag auf die Suche nach Hilfsstrategien für kommunalpolitische, finanzielle und soziale Probleme. Ein großer Teil der Hilfsstrategien wurde in der Diskussionsrunde mit einer Politikerin erarbeitet, ein kleiner Teil in Kleingruppen; in diesem Zusammenhang wuchs das Interesse an der vorgeschlagenen Planung und Gründung des Familienhilfe-Netzwerkes für mehrere Teilnehmende. Das Zusammenwirken der Teilnehmenden funktionierte auf der kommunikativen Ebene zwar gut, auf der inhaltlichen kamen aber die sehr verschiedenen kognitiven Fähigkeiten zum Ausdruck (von Teilnehmenden mit Universitätsabschlüssen bis ohne Berufsausbildung, bereits stark politisch engagiert bis politisch uninteressiert/unwissend). Handlungsleitende didaktische Prinzipien: ■ Sich Einfühlen in Beziehungen, inner- und außerfamiliäre Situationen, die mit aggressiven und gewaltprovozierenden Umständen/Umgang gestaltet sind. „WAS IST LOS, WENN ICH WILD WERDE?“ 285 ■ Erkennen von Bewältigungshilfen (emotional, kognitiv und aktional) zum adäquaten Reagieren auf Aggressionsmuster sowohl innerfamiliär als auch auf die die Familie umgebenden gesellschaftlichen Settings. ■ Leisten von Transfers zum Verstehen der Ursachenfaktoren für Aggression und Gewaltentstehen in der Familie und in der Gesellschaft. Damit konnte den Teilnehmern ein Bewusstseinsprozess in der Weise ermöglicht werden, dass es bei dem Anliegen Gewaltprävention nicht nur auf die Mikroebene ihrer eigenen familiären Situation ankommt, sondern dass die Makroebene der gesellschaftsund familienpolitischen Umstände gleichermaßen auf kognitiver und aktionaler Ebene von den Eltern beachtet und begleitet werden muss. Eine wichtige Brücke zwischen beiden Betrachtungsebenen bildete dabei das Wecken der emotionalen Betroffenheit der Eltern über ihre eigene familiäre Situation hinaus. Dabei wurde das FamilienhilfeNetzwerk als geeignetes Lernfeld von vielen Eltern betrachtet. In der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Makroebene/familienpolitischen Rahmenbedingungen wurden folgende Faktoren besonders thematisiert: ■ Die unzumutbare Situation alleinerziehender Frauen, nach Einstellung der auf sechs Jahre befristeten Unterhaltszahlung durch den Vater des Kindes insbesondere vor dem Hintergrund der dann fälligen Einschulung, mit der zunehmend mehr finanzielle Belastungen anfallen. ■ Der Umgang mit Behörden, z.B. zur Klärung des Sozialhilfe-Empfangs wird von Alleinerziehende als zeitaufwendig, mühsam und demütigend erfahren. Insbesondere die Beweispflicht, die von alleinerziehenden Müttern abverlangt werde, sei eine einseitige Überforderung (die z.B. den Ex-Partner nicht betreffe). Die Bereitstellung eines Not-Fond für allein Erziehende in finanziellen Notsituationen müsse ohne lange Wartezeiten den Betroffenen zugebilligt werden. ■ Mangel an Kinderbetreuungs-Angeboten in Bezug auf ungünstige Arbeitszeiten (Spät-, Nachtschicht) und Krankenhaus- und Reha-Aufenthalten der Alleinerziehenden führt zu familiären Notsituationen. Ein Mehr und eine bessere Ausstattung von Hortplätzen, Kindergartenplätzen, Mittagsschulbetreuung und Pflegediensten wurde gefordert. ■ Arbeitsplätze für Alleinerziehende sollten familienfreundlichere Strukturen/Organisationen anbieten. Auf besonderen Wunsch einiger Teilnehmenden erfolgte in der Erwachsenen-Einheit die Vorstellung des Konzeptes des Elternhilfe-Netzwerks mit dem Hinweis auf die Eltern- 286 SEMINAR-BAUSTEINE trainingsabende verbunden mit der Werbe – Initiative „Mach’ halt vor Gewalt“ ab November 2000. Der Flyer zu dieser Aktion wurde zu einer ersten Information und Einschätzung in der Elterngruppe vorgestellt. Daran schloss sich eine von den Eltern ausgehende, engagierte Diskussion zum Thema Gewaltprävention in der Familie und in Jugendlichengruppen an. Auf Wunsch der Eltern bildeten sich daraufhin drei Gesprächsgruppen mit folgenden Schwerpunkten: ■ Meine Aggressionen als alleinerziehender Elternteil. ■ Aggressive Verhaltensmuster meines Kindes und meine Grenzen/Ratlosigkeit im Umgang damit. ■ Meine eigenen Aggressionen und die meines Kindes. In allen drei Gruppen wurden praktische Möglichkeiten des Umgangs mit Aggression und der Prävention bezüglich Gewalt im Erziehungsverhalten diskutiert. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G 5.3 IN DER TAGESPFLEGE 287 Dorothea Frey „Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege – Gewalt gegen Kinder und Rechte der Kinder“ Seminartag im Rahmen der Qualifizierung von Tagesmüttern 5.3.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund Der Seminartag: „Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege – Gewalt gegen Kinder und die Rechte der Kinder“ ist ein Baustein innerhalb der Qualifizierungslehrgänge für Kinderbetreuung in Tagespflege. Diese werden seit 1992 in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut und dem Bundesverband für Kinderbetreuung in Tagespflege, mit insgesamt 160 Unterrichtsstunden angeboten. Ziel ist es, den professionellen Tagesmüttern und -vätern aufzuzeigen, wie sie im Erziehungsalltag, insbesondere jedoch in Krisensituationen mit Kindern, positive Handlungsmöglichkeiten mit den Mitteln der gewaltfreien Erziehung umsetzen können. Der besondere Schwerpunkt liegt in der Konfliktbewältigung in der Familie und dabei in der Reflexion unserer eigenen Rolle als Tageseltern/Eltern. Darüberhinaus wird aber auch die geschlechtsspezifische Komponente in Zusammenhang mit gewaltbelasteten Erziehungssituationen beleuchtet. Themenfelder ■ Auseinandersetzung mit der Neufassung des Gesetzes § 1631 Abs. 2 BGB. ■ Gewaltfreie Erziehung und Gewalt gegen Kinder als Themen in den Qualifizierungslehrgängen für Tagespflegepersonen. ■ Vorstellung von Modellen zur Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz. ■ Bedeutung der geschlechtsspezifischen Erziehung in Bezug auf das Entstehen von Gewalthandlungsmustern. Zielgruppe ■ Tagesmütter und -väter 288 SEMINAR-BAUSTEINE ■ Eltern, die ihr Kind in der Tagespflege betreut haben ■ Mitarbeitende in der Tagespflege 5.3.2 Ausschreibungstext Qualifizierung von Tagespflegepersonen Die Tagespflege hat als Betreuungs- und Förderungsangebot für Kinder aller Altersstufen in den letzten Jahren eine erhebliche Aufwertung erfahren. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz wird ihre Gleichrangigkeit zur institutionellen Kinderbetreuung hervorgehoben. Als ein Schwerpunkt der Unterstützung und Qualitätssicherung in der Tagespflege hat sich die vorbereitende und praxisbegleitende Fortbildung von Tagespflegepersonen erwiesen. Dieser Lehrgang ist ein erster Schritt der Professionalisierung im familiären Erziehungsbereich. Der Lehrgang befähigt die Teilnehmenden: ■ Tagespflege auf professioneller Ebene anzubieten, ■ professionelle Verantwortung für die ihnen anvertrauten Kinder zu übernehmen, ■ Erziehungsfragen kompetenter und sicherer zu beantworten, ■ Tageskinder in der eigenen oder fremden Wohnung zu betreuen, ■ auf problematische Situationen angemessen zu reagieren, ■ das Recht der Kinder/Tageskinder auf eine gewaltfreie Erziehung unter allen Umständen zu wahren, ■ die Familienbetreuung anregender und abwechslungsreicher zu gestalten. Außerdem möchte der Lehrgang die gesellschaftliche Aufwertung der Erziehungsarbeit und die qualitative Verbesserung des Angebots an Betreuungsplätzen bewirken. 5.3.3 Baustein Didaktische Ziele des Bausteins: ■ Information und Diskussion über die Neufassung des Gesetzes § 1631 Abs. 2 BGB. ■ Aufbrechen des gesellschaftlichen Tabus: Es gibt Gewalt im Rahmen der Betreuung und Erziehung von Kindern in der Tagespflege. ■ Grenzüberschreitungen in körperlicher, verbaler oder emotionaler Form von Tageseltern gegenüber ihren Tageskindern und eigenen Kindern zu erkennen und zu thematisieren. ■ Aufzeigen von pädagogischen Leitlinien für die Kinderbetreuung in Tagespflege und G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 289 der besonderen Beachtung der elterlichen Vorbildfunktion zur Verankerung der gewaltfreien Erziehung im Alltag, vor allem in Konfliktsituationen. ■ Steigerung der Qualitätsstandards in den Tagespflegequalifizierungen. ■ Geschlechtsspezifische Erziehungsmuster in Zusammenhang mit aggressiven Handlungsmustern erkennen können. ■ Von der individuellen Verantwortung für die Umsetzung der gewaltfreien Erziehung, politische Forderungen formulieren können, in denen die Bedingungen der strukturellen Rücksichtslosigkeiten genannt und verringert werden sollen, insbesondere für den Bereich der Kinderbetreuung in Tagespflege. Programm des Seminartages 19.15 h-20.45 h Begrüßung, Kennenlernen, Einstieg in das Seminar: ■ Kennenlernen ■ Einstieg in das Thema in Kleingruppen: Was macht Familienleben und Erziehung (heute) einfach(er) oder schwer(er), Sammeln von Fragen, Erwartungen (Kartenabfrage, Pinnwand) ■ Plenum: Thematische Schwerpunktsetzung anhand der benannten Problemfelder. 09.00 h-09.15 h 09.15 h-09.45 h Begrüßung und Einführung Körperübungen: Eigenen Standpunkt finden, Erfahrungen von Grenzüberschreitungen in der aktiven und passiven Rolle, Bedeutung der Körperhaltung) 09.45 h-10.00 h 10.00 h-12.00 h Festlegung des eigenen Gewaltbegriffs (Gewalt ist für mich…) ■ Formen der Gewalt ■ Ursachen von Gewalt ■ Sexuelle Gewalt gegen Kinder ■ Verhalten bei Verdachtsmomenten ■ Kinderschutz aus der Sicht der Jugendhilfe und des Kinder- 13.30 h-15.00 h 15.00 h-15.30 h 15.30 h-16.00 h schutzbundes Workshops: ■ Positive Konfliktbewältigung mit Kindern ■ Gewalt als Thema in Kinderliteratur und den Medien ■ Gesellschaftliche Bedingungen für Gewaltbereitschaft (Strukturelle Gewalt) ■ Präsentation im Plenum ■ Abschluss und Feedback 290 SEMINAR-BAUSTEINE 5.3.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven Die Teilnehmenden nahmen in den bisher durchgeführten Seminartagen die Chance wahr, 1. dass sie in dem geschützten Kreis über ihre realen Erziehungsprobleme sprechen konnten, um so Probleme im Alltag und Ursachen für Konflikte im Vorfeld zu erkennen und Lösungsstrategien, sowie Handlungsmöglichkeiten gemeinsam zu entwickeln, 2. in der Gruppe zu erleben, wie andere mit schwierigen Situationen umgehen, wie andere Familien Krisen bewältigen. Dabei wurden im Erfahrungsaustausch Gefühle von Hilflosigkeit, Resignation, Versagensängste und Überforderung deutlich. Fragen nach dem Umgang mit den eigenen, nicht immer positiven Gefühlen Kindern gegenüber und das Gefangensein in der eigenen Rolle als Mutter oder Tagesmutter kamen zur Sprache. Die Reflexion über die eigene Erziehung in der Kindheit konnte Verhaltensmuster erklären und einer bewussten Veränderung dieser vorausgehen. Es wurde deutlich, dass Gewaltfreiheit nicht Passivität bedeuten darf, Konflikte sollen nicht vermieden werden. Ziel der gewaltfreien Konfliktaustragung ist es, im Idealfall eine Lösung zu finden, bei der beide Partner, sowohl das Kind als auch die Eltern, bzw. Tageseltern davon profitieren und eine Bereicherung erfahren. Positive Voraussetzungen sind z.B. Schaffen einer vertrauensvollen Atmosphäre, Freiräume geben, Bereitschaft zum Zuhören, Fair sein, gemeinsam mit den Kindern / Tageskindern nach Lösungen suchen. Grundsätzlich wurde deutlich vermittelt, dass die Tagespflegeeltern sich unbedingt an die Verpflichtung zur gewaltfreien Erziehung der Tageskinder und eigenen Kinder halten müssen und dies, in Bezug auf die Tageskinder, auch in den Betreuungsverträgen eindeutig festgehalten werden muss. (Siehe Musterverträge des tagesmütter Bundesverbandes für Kinderbetreuung in Tagespflege/Meerbusch.) G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 291 Anhang I. Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege – der rechtliche Hintergrund Die Vereinten Nationen verabschiedeten 1989 ein „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“. In diesem Übereinkommen verpflichten sich die unterzeichneten Staaten, Kindern spezielle Grundrechte einzuräumen, damit sie in Zukunft von Erwachsenen ernster genommen werden. Dieser Vertrag wurde 1990 auch von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Er enthält 41 Artikel, in welchen die Rechte von Kindern genauer beschrieben werden: ■ Gleiches Recht für alle Kinder, egal aus welchem Land sie stammen, welche Hautfarbe oder Religion sie haben, egal ob sie behindert oder gesund sind, egal was ihre Eltern tun. ■ Recht der Kinder bei den eigenen Eltern aufzuwachsen und die Regelung für die Betreuung bei anderen erziehungsberechtigten Personen oder Institutionen. ■ Private (wie das Recht auf Privatsphäre) und öffentliche (wie das Recht auf Bildung und das Recht auf Meinungsfreiheit) Rechte der Kinder; Schutz vor Ausbeutung und Gewalt. Alle Staaten, die den Vertrag ratifizierten, müssen dem Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen regelmäßig einen Bericht vorlegen, in dem sie beschreiben, was bei Ihnen für die Kinderrechte getan wird. Der Bundestag reagierte 2000 mit der Novellierung des § 1631 Abs. 2 BGB: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Der Bundesrat stimmte dieser Änderung im November 2000 zu. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung stützt sich auf Artikel 19 der „UN-Kinderrechtskonvention“, Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung. § 19, Abs. 1 Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs- Verwaltungs- Sozialund Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertretern befindet, die das Kind betreut. § 19,Abs. 2 Diese Schutzmaßnahmen sollen je nach den Gegebenheiten wirksame Verfahren zur Aufstellung von Sozialprogrammen enthalten, die dem Kind und denen, die es betreuen, die erforderliche Unterstützung gewähren und andere Formen der Vorbeugung vorsehen sowie Maß- 292 SEMINAR-BAUSTEINE nahmen zur Aufdeckung, Meldung, Weiterverweisung, Untersuchung, Behandlung und Nachbetreuung in den in Absatz 1 beschriebenen Fällen schlechter Behandlung von Kindern und gegebenenfalls für das Einschreiten der Gerichte. „Gesetze allein sind nicht ausreichend, um die erforderliche Bewusstseinsänderung, noch eine Verbesserung der Erziehungspraxis, hin zur gewaltfreien Konfliktbewältigung zu erreichen.“ (Bundesfamilienministerin a.D. Christine Bergmann) II. Aggressionen und Gewalt gegen Kinder Der Begriff Aggression beinhaltet das gerichtete Austeilen schädigender Reize. Das aggressive Verhalten kann offen (körperlich oder sprachlich) oder verdeckt (phantasiert) von der Kultur gebilligt oder missbilligt werden. (Ein aggressiver Junge gilt als toller Kerl, der sich nimmt, was er will. Ein aggressives Mädchen gilt dagegen als unerzogen, rotzfrech, unweiblich.) Doch nicht alle Aggressionen sind schlecht. Sie sind den Menschen als natürliche Triebe angeboren und sollen sie befähigen in Krisensituationen sich Selbst zu schützen. Gewalthandlungen werden als eine Teilmenge von Aggressionen betrachtet, die gekennzeichnet sind durch die zielgerichtete, direkte, körperliche oder seelische Schädigung von Menschen durch Menschen. Hier soll auch die zielgerichtete Beschädigung von Gegenständen mit einbezogen werden. Gewalttätiges Handeln ist somit absichtsvoll darauf ausgerichtet, einen anderen Menschen, Gegenstände oder auch die eigene Person körperlich und seelisch zu verletzten. Was ist Gewalt gegen Kinder? Unter Misshandlung verstehen wir alle Handlungen oder Unterlassungen, die das Kind schädigen, indem sie seinen Körper und seine seelisch-geistige Entwicklung nachhaltig stören. Nach Untersuchungen erfahren etwa 80 % der Kinder und Jugendlichen Gewalt in der Familie, in vielen Fällen haben sich die Kinder bereits daran gewöhnt. Das Ausmaß der Misshandlungen ist jedoch recht unterschiedlich. Die Gewaltanwendungen reichen vom Klaps auf den Po, Ohrfeigen bis zur Tracht Prügel. Etwa 1,3 Mio. Kinder werden körperlich misshandelt, viele davon schon als Säugling oder Kleinkind. Dazu kommt in etwa gleicher Größenordnung psychische (seelische) Gewalt in Form von elterlicher Ablehnung oder Vernachlässigung. Diese Gewaltanwendung in der Familie endet jährlich für 240 Kinder unter 6 Jahren mit dem Tod. (Quelle: Deutsches Jugendinstitut, München 2000) Extreme Kindesmisshandlungen können oft vor der Öffentlichkeit verborgen werden, weil: ■ Kindesmisshandlung überwiegend in der Familie vorkommt und deshalb selten angezeigt wird. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 293 ■ die Polizei fast ausschließlich auf Hinweise der Bevölkerung angewiesen ist. ■ Kinder mit Verletzungen relativ leicht vor der Öffentlichkeit verborgen werden können, Verletzungen verharmlost und als Folge von Spielen, Stürzen, Raufereien ausgegeben werden. (Zu beachten ist: Verletzungen durch Schläge verursacht, finden sich besonders häufig auf dem Kopf, Ohren, Backen, Hals, Po, Oberseite der Hände, Rücken, Oberschenkel. Dies sind eigentlich geschützte Körperstellen bei Stürzen oder Unfällen. Wogegen Verletzungen die durch Stürze entstanden sind vor allem die Ellenbogen, Knie, Handinnenflächen, Kinn, Nase, Stirn betreffen!) Gewalt kommt am meisten im häuslichen Umfeld, statistisch gesehen am häufigsten in der Küche, vor. Als Schlagwerkzeuge dienen Haushaltsgegenstände wie Teppichklopfer, Handfeger, aber auch Gürtel, Riemen usw. Gewalt hat viele Ursachen: ■ Übersteigerte Anforderungen an ein Kind: Kleinkinder können die Auswirkungen ihres Handelns noch nicht abschätzen. Da hilft es auch nichts dem Kind oft genug zu sagen, du darfst, das und jenes nicht tun. Die Einsicht fehlt ihm hierzu noch, es ist deshalb nicht böse. ■ Unzureichende Lebensbedingungen vieler Familien bedingt durch Geldnot, Arbeitslosigkeit, enge Wohnverhältnisse, tragen zu einer großen Überforderung der Erziehungspersonen bei. Die so überforderten Eltern reagieren schneller gestresst, genervt; die Gefahr den ganzen Frust an dem schwächsten Glied in der Familie, dem Kind auszulassen steigt mit dem Stresspegel. ■ Eltern die ihre Kinder misshandeln, haben oft selbst viele soziale und psychische Probleme. Sie sind unzufrieden und fühlen sich ungeliebt, unverstanden und unsicher. ■ Unterdrücktes Machtbedürfnis wird an den Kindern ausgelebt, in dieser Gefahr können Frauen stehen, die sich ganz aufopfern für ihre Familie! Die Tracht Prügel muss als eine vorsätzliche Körperverletzung gewertet werden. Mit ihr wird versuchet, das Kind für eine Tat zu bestrafen oder zur Einsicht zu bringen. Eine Tracht Prügel hat jedoch noch kein Kind zur Einsicht bewogen. Im Gegenteil, das Kind entwickelt Hass auf die Erziehenden, schmiedet Rachepläne, verschließt sich. Das Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenen wird nachhaltig gestört. Deshalb: Konflikte immer gewaltfrei lösen! Regeln zum positiven Umgang mit Kindern: ■ Von Kindern nur Dinge erwarten, die es altersgemäß schon leisten kann ■ Verschiedene Lösungswege zur Verfügung zu haben, wenn der Streit mit den Kindern sich zuspitzt, der Aggressionspegel auf „180“ geschnellt ist, z.B. sich anderen Erwachsenen mitteilen (evtl. Freund/in anrufen) 294 SEMINAR-BAUSTEINE ■ Aus der Situation gehen, (eine Auszeit nehmen) ruhig erklären warum ein Verhalten nicht akzeptiert werden kann. Dem Kind eine Chance geben, sich anders, weniger störend zu verhalten. Kompromisse gemeinsam suchen ■ Erkennen was das Kind zu seiner Unterstützung braucht. ■ Positives Verhalten mit Zuwendung und Lob verstärken. ■ Die eigenen Erwartungen dem Kind deutlich machen. ■ Mit Erwartungen und Regeln konsequent umgehen. III. Sexuelle Gewalt gegen Kinder Als Tagesmütter und -väter sollten Sie das Phänomen des sexuellen Missbrauchs von Kindern kennen und wissen wie Sie sich bei Verdacht, zum Wohle des Kindes verhalten können. Es sind Fälle von Missbrauch in der Betreuungsfamilie vorgekommen. Hier stellt sich die wichtige Frage, wie Eltern mit Verdachtsmomenten richtig umgehen? Was ist sexueller Missbrauch? Es ist sexueller Missbrauch, wenn eine Person ihre Machtposition oder die Unwissenheit, das Vertrauen oder die Abhängigkeit eines Mädchens oder eines Jungen zur Befriedigung der eigenen Sexual- oder Machtbedürfnisse benutzt. Fakten: 1993 wurden in Deutschland 15.430 Fälle an Kindern unter 14 Jahren polizeilich erfasst. In 76 % der erfassten Fälle waren Mädchen die Opfer. Wo geschieht sexueller Missbrauch? Die Mehrheit der Missbrauchshandlungen finden innerhalb der Familie oder in einem sonstigen vertrauten Rahmen statt. Es ist grundsätzlich von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Von den angezeigten Fällen werden nur 20 % vor Gericht verhandelt. In der überwiegenden Mehrheit der angezeigten Fälle sind die Missbrauchsübergriffe keine einmalige Tat, sondern werden in Familien oft über Jahre hin wiederholt. Hinzu kommt die gesamte Problematik des „Sextourismus“ und der zunehmenden Kinderpornographie im Internet. Welche Kinder sind betroffen? Kinder sind in keinem Alter vor sexuellem Missbrauch geschützt. Am stärksten betroffen sind Mädchen und Jungen im Alter von 6 bis 12 Jahren. Missbrauch ist keine Frage der sozialen Schichtung, Missbrauch findet in Akademikerfamilien genauso statt wie in Arbeiterfamilien. G E WA L T F R E I E E R Z I E H U N G IN DER TAGESPFLEGE 295 Woran ist sexueller Missbrauch zu erkennen: Der zum Teil Jahre lange Zwang zur Verheimlichung und zur Sprachlosigkeit führt zu Verhaltensänderungen wie z.B.: ■ Angst vor dem Alleinsein mit Männern ■ Depressionen, Apathie ■ Rückfall in der Entwicklung (Daumenlutschen, Einnässen) ■ Autoaggressives (selbst zerstörendes) Verhalten ■ Aggressives Verhalten anderen gegenüber ■ Distanzloses Verhalten (Kind fällt auch fremden Personen um den Hals) ■Konzentrationsschwächen ■ Plötzlicher Abfall schulischer Leistungen ■ Sexualisiertes Verhalten (z. B.: im Rollenspiel) ■ Schlafstörungen, Alpträume Körperliche Verletzungen können an folgenden Merkmalen erkannt werden: ■ Blaue Flecken (Hämatome) ■ Bisswunden an der Brust und im Genitalbereich ■ Risse an der Scheide und After ■ Ausfluss, Infektionen und Geschlechtskrankheiten sind eindeutige Hinweise auf den sexuellen Missbrauch Handlungsmöglichkeiten bei Verdachtsmomenten: 1. Ruhe bewahren, überhastetes Eingreifen schadet nur 2. Schweigepflicht beachten! (Rufmord als Gefahr) 3. Rat und Unterstützung bei einer speziellen Beratungsstelle (Jugendamt, Kinderschutzdienst, Kinderschutzbund, Kinderarzt) holen 4. Informationsbroschüren Wie schütze ich meine Kinder/Tageskinder vor sexuellem Missbrauch? Hier gibt es einige grundsätzliche Verhaltensregeln wie man Kinder stark und sicherer macht: Gespräche mit den Kindern sind notwendig: Ein gutes, offenes Vertrauensverhältnis zu den Kindern, in dem sie sich geborgen, geliebt und anerkannt fühlen, schafft die Basis dafür, dass Ihre Kinder / Tageskinder zu Ihnen kommen, wenn Ihnen etwas ein komisches Gefühl im Bauch macht. Gemeinsam mit den Kindern können sie besprechen wie sich die Kinder selbst schützen können, z.B.: 296 SEMINAR-BAUSTEINE ■ Ich lasse mich nicht anfassen, wenn ich es nicht will! Das müssen auch die Familienangehörigen akzeptieren, wie Eltern, Geschwister, Großeltern etc. ■ Ich sage NEIN! Das Nein des Kindes sollte auch akzeptiert werden. ■ Ich will keine schlechten Geheimnisse! Kindern muss der Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen erklärt werden. Gute Geheimnisse bereiten Freude, sind spannend, schlechte Geheimnisse verursachen Kummer, bedrücken. ■ Ich darf schlechte Geheimnisse auch weitererzählen! Dem Kind klar machen, dass schlechte Geheimnisse keine Geheimnisse sind, weil sie nur traurig und unglücklich machen. ■ Ich gehe nicht mit! Aufforderungen, vor allem fremder Personen mitzugehen, weil man z.B. etwas zeigen soll, den Weg, eine Adresse, sollen von Kindern ignoriert oder abgelehnt werden. ■ Ich hole mir Hilfe! Vorbeikommende Erwachsene ansprechen, an der nächsten Haustür klingeln, um Hilfe bitten. ■ Ich gehe in keine fremde Wohnung. ■ Ich steige in kein fremdes Auto. ■ Ich gehe nicht an ein fremdes Auto, wenn darin ein Fremder nach mir ruft. ■ Ich weiß, wie meine Körperteile heißen. ■ Bei Telefonbelästigungen: Sofort auflegen, oder Trillerpfeife benutzen, oder die Telefonnummer des Anrufers aufschreiben. ■ Kinder beim Surfen im Internet nicht alleine lassen, Pornographie wird sehr über das Internet vertrieben. Mit den Kindern und Jugendlichen Regeln aufstellen, welche Inhalte aus dem Internet angeklickt werden dürfen. (Quelle: „Gewalt gegen Kinder“ von INTERNATION POLICE ASSOCIATION, Informationsschrift der Gleichstellungsstelle Ludwigshafen, Titel „mißbraucht“ 2. Auflage 1997) J U G E N D – G E WA L T – F A M I L I E 5.4 297 Reiner Hartel Jugend – Gewalt – Familie Bildungswoche für Jugendliche in der Bildungsstätte Alte Schule Anspach (basa), Neu-Anspach (Taunus) 5.4.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund Lernziele Lernziel war die Thematisierung von und die Sensibilisierung gegenüber Gewalt in der Familie und anderswo. Da das Seminar in der Jahresplanung des Förderlehrgangs den Abschluss der Einführungs- und Kennenlernphase darstellte, welche bereits Lernelemente des Rollenspiels enthielt, entschieden wir uns für eine besondere Kombination und Gewichtung der Lernziele. Während in den Workshops an vier Tagen das Thema „Gewalt“ in sehr unterschiedlicher Form bearbeitet wurde, war der gesamte Mittwoch einer sehr direkten Annäherung an das Thema durch die Methode des „szenischen Spiels“ vorbehalten. Zielgruppe Jugendliche der Jugendberufshilfe im Alter zwischen 17 und 19 Jahren Seminarhintergrund Die Bildungsstätte in Anspach war von der Jugendwerkstatt Oberursel wegen der Gestaltung eines Seminars zur Gruppenfindung angefragt worden. Der Themenvorschlag kam von der Bildungsstätte; die Konzeptionierung fand in Zusammenarbeit mit den Pädagoginnen und Pädagogen der Jugendwerkstatt Oberursel statt. Auf diese Weise gelang es, einen Beitrag zum Projekt „Familie und Gewalt“ zu leisten. Da die Jugendwerkstatt in erster Linie an einem projektorientiertes Seminar zur Gruppenfindung interessiert war, war es notwendig, neben der thematischen Arbeit auch Workshops und Freizeitaktivitäten am Abend anzubieten. Da es sich um eine feste Gruppe des Förderlehrgangs für lernbehinderte Jugendliche handelte, war es nicht nötig, um einzelne Jugendliche zu werben. Seminarleitung und Workshopleiter gingen zehn Tage vor Beginn des Seminars in die Gruppe, stellten ihr Konzept vor und beantworteten Nachfragen. 298 SEMINAR-BAUSTEINE Bei dem Seminar handelte es sich um die Fortsetzung eines längerfristigen und immer wieder modifizierten Vorhabens der Bildungsstätte, mit der Zielgruppe benachteiligter Jugendlicher ein solch heikles Thema zu bearbeiten. Als Teilnehmende am Projekt „Familie und Gewalt“ sind die Mitarbeitenden der Bildungsstätte davon überzeugt, dass es sich hierbei um ein zentrales, aber häufig verheimlichtes Thema bei Jugendlichen handelt. Jugendbildungsarbeit hat deshalb die Aufgabe, sich und die Jugendlichen mit diesem Thema zu konfrontieren. Das Tagungshaus mit dem gemütlichen Café für die Abendprogramme sowie einer universellen Werkstatt mit überdachter Freifläche und die vielfältigen Seminarräume boten ideale Bedingungen sowohl für die kreative Arbeit als auch für die Freizeitbedürfnisse zwischendurch. Für den handwerklich-kreativen Workshop standen ausreichend Werkzeuge und technische Geräte zur Verfügung. Für die beiden anderen Workshops „Film“ und „Musik“ konnte durch die zusätzliche Ausleihe von speziellen Anlagen eine Arbeit auf verhältnismäßig hohem Niveau gewährleistet werden. Wir gingen davon aus, dass die Jugendlichen zentrale Gewalterfahrungen selbst gemacht haben, was sich im Verlauf des Seminars auch bestätigte. Diese zu kommunizieren gelang freilich in sehr unterschiedlicher Weise: Während einige relativ offen über Gewalterfahrungen in der Familie und in sonstigen Zusammenhängen sprachen und auch sprechen wollten, verschlossen sich andere bei diesem Thema. Insbesondere der dritte Seminartag war in diesem Zusammenhang schwierig, da nur in zwei von drei Arbeitsgruppen des szenischen Spiels eine persönliche Aufarbeitung durch Standbilder, personelle Umbesetzungen und das „Vor- und Zurückspulen“ von Gewaltszenen im zweiten Teil am Nachmittag möglich war. Die dritte Arbeitsgruppe hat sich der Methode fast völlig verweigert. 5.4.2 Ausschreibungstext Das Seminar „Jugend, Gewalt und Familie“ wendet sich an Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten, die zwischen 16 und 19 Jahre alt sind und gemeinsam einen berufsvorbereitenden Förderlehrgang besuchen. Wir werden uns dem Themenkomplex Jugend, Gewalt, Familie mit den Mitteln des Theaters, der Musik und der Videotechnik nähern. Die Teilnehmenden erhalten so die Gelegenheit, über ihre Erfahrungen mit Gewalt, auch in der Familie, zu berichten und zu eigenständigen künstlerischen Ausdrucksformen der J U G E N D – G E WA L T – F A M I L I E 299 Problematik – z.B. in der musikalischen Form des Rap – zu gelangen. Die dafür nötigen Techniken sollen unter Anleitung erfahrener Medienpädagoginnen und -pädagogen in mehreren Workshops erlernt bzw. die bereits vorhandenen diesbezüglichen Kompetenzen der Teilnehmenden stimuliert werden. Am Ende der Projektwoche steht die Präsentation der Arbeitsergebnisse, wodurch die Jugendlichen die Chance erhalten, die erlernten Fähigkeiten öffentlich darzustellen, auf diese Weise ihr Selbstbewusstsein bzw. Selbstwertgefühl zu stärken und ihnen so zu einem nicht allzu oft erfahrenen Erfolgserlebnis zu verhelfen. Zugleich soll der Kurs die Jugendlichen darin unterstützen, familiäre Konfliktlagen in ihren wechselseitigen Beziehungsgeflechten zu erkennen, und ihre Bereitschaft fördern, sich auf aushandlungsorientierte und nichtgewaltförmige Strategien ihrer Austragung einzulassen. 5.4.3 Bausteine Montag 09.00 h-09.30 h 10.00 h-10.30 h Begrüßung und Einführung in die Regeln des Hauses Beginn der Veranstaltung mit einem Warming up 10.30 h-11.00 h Einführung ins Thema mittels Produktion eines Kettentextes sowie dessen Diskussion 12.00 h-13.00 h Struktur der folgenden Tage, Fixierung der Themen durch Zettel, die – strukturiert nach Metathemen (Familie/Gewalt/Erziehung) 15.00 h-18.00 h – auf eine Wandzeitung geklebt werden Workshops: ■ Foto: Motivsuche ■ Politik/Soziales: Elterliche Gewalt: Ursachen und Folgen ■ Szenisches Spiel: Stellung und Interpretation von Gewaltsituationen in der Familie Dienstag 10.00 h-13.00 h 15.00 h-18.00 h Workshops ■ Foto: Bilder entwickeln ■ Politik/Soziales: Interpretation des Films, Bilder der Gewalt, ■ Gewalterfahrung, Lust an Gewalt Workshops ■ Foto: Bilder auf Pappe aufziehen, Montage der Bilder zu Szenen familialer Gewalt oder familialen Friedens 300 SEMINAR-BAUSTEINE ■ Politik/Soziales: Filmbetrachtung „Die letzte Kriegerin“ [Neuseeland 1994, Regie: Lee Tamahori, Verleih: BMG (Video)] und Interpretation von familialer Gewalt und Vernachlässigung von Jugendlichen sowie Umschlag der Frustration in Gewalt ■ Szenisches Spiel: Mittels Textszenen aus „Mensch Meier“ von Kroetz Rekonstruktion familialer Konflikte und Lösung dieser Konflikte mit Methoden des „Szenischen Spiels“ Mittwoch 10.00 h-13.00 h Workshops Schwerpunkt aller Workshops ist die Vorbereitung der Präsentation des Erarbeiteten unter der Zielsetzung: Gewaltfreie Bearbei- 15.00 h-17.00 h 17.00 h-17.30 h tung von familialen Konflikten Diskussion im Gesamtplenum mit Moderation: ■ Wie entstehen gewalttätige Konflikte in der Familie? ■ Wie lassen ich solche Konflikte konstruktiv lösen? Abschlussreflexion 5.4.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven Durch die drei sehr unterschiedlichen Workshopangebote über vier Seminartage ergaben sich teils ungewöhnliche Begegnungen zwischen den Jugendlichen, die sie dazu motivierten, die andere bzw. den anderen näher kennen zu lernen. Es bestand das Bedürfnis, sich gegenseitig zu erfahren und zu messen, aber auch sich abzugrenzen, was sich sehr deutlich im abendlichen Freizeitverhalten zeigte. Viele Teilnehmende zeigten starkes Interesse an Gesamtgruppenaktivitäten; andere zogen es vor, in Kleingruppen „unter sich“ zu sein. Spätestens ab dem vierten Seminartag wurde von fast allen Teilnehmenden ein gutes Produkt erwartet, das am letzten Tag in einer Veranstaltung mit Presse präsentiert werden sollte. Berücksichtigt man, dass die Lerngruppe von der Arbeitsamtsverwaltung zwangsläufig zufällig zusammengestellt wurde und einige Teilnehmende bereits bekannte Verhaltensauffälligkeiten zeigten, wurde mit dieser Seminarveranstaltung ein erstaunlich positives Ergebnis erzielt. Einzelne haben auch einmal kurzfristig das Gruppengeschehen – sogar während der Arbeitsphasen – verlassen, was bedingt zugelassen wurde. Insgesamt kann aber in allen drei Workshops von einem echten Teamergebnis gesprochen werden. J U G E N D – G E WA L T – F A M I L I E 301 Durch die gezielte Einwahl in einen von drei Workshops konnten die Teilnehmenden in sehr unterschiedlichen Neigungsfeldern neue Fähigkeiten entwickeln, sich zu einem gemeinsamen Thema zumindest semiprofessionell zu äußern. Auch der Projekttag „Szenisches Spiel“ erwies sich als zeitlich richtig platziert und im Gesamtumfang angemessen. Die Reproduktion selbst erlebter Gewaltszenen mit der Möglichkeit, Handlungsalternativen zu entwickeln, hat bei den Teilnehmenden spürbare Gedankenprozesse ausgelöst. Im Workshop „Musik“ bildeten die Ereignisse des 11. September die Grundlage für das endgültige Produkt. Der Text war letztlich das Ergebnis einer gemeinsamen Stellungnahme zum Terrorismus in einer für Jugendliche recht adäquaten Ausdrucksform, auch wenn in der Gruppe keine tatsächlich kontroversen Positionen vertreten worden sind. Den Teilnehmenden war es indes wichtig, zu diesem einschneidenden Ereignis in dieser Form eindeutig Stellung zu beziehen. In der Gruppe, die aus Stahlschrott-Teilen eine überdimensionale Figur produzierte, entstand ihre „Big Mamma“, allerdings dann doch mit einem „Peace-Zeichen“ an der Halskette. Eine andere Teilgruppe des handwerklich-kreativen Workshops produzierte aus einem Eichenstamm eine zwar kleinere, aber schwerere Holzskulptur, die von ihnen „TV-Glotzer“ genannt wurde. Im „Quadratschädel“ befand sich eine Eisenpistole, die die mediale Gewalt zum Ausdruck brachte. Das Thema „(jugendliche) Gewalt auf der Straße“ wurde - untermauert von Interviews mit Jugendlichen und Erwachsenen zum Thema - im Workshop „Film“ szenisch bearbeitet. Es entstand ein Beitrag, der es den Teilnehmenden ermöglichte, das Geschehen aus der Täter- und der Opferperspektive zu erleben und die eigene persönliche Geschichte von Macht und Ohnmacht aufarbeiten zu können. Durch die Medien Musik, Film, „Szenisches Spiel“ und das handwerkliche Tun mit Holzund Metallbearbeitungswerkzeugen sollten die Jugendlichen ans Thema von außen herangeführt werden, d.h. sie sollten über einen Umweg auf sich selbst gestoßen werden. Die Arbeit in den Workshops, aber auch die szenische Arbeit sind schöpferische Formen, die es ermöglichen, nicht alltägliche Rollenwechsel zu vollziehen und den fotografischen Blick einzunehmen. Die handlungsorientierte Arbeit in den Gruppen ermöglicht die Annäherung an ein sehr persönliches Thema durch den Blick von außen in ein fremdes Konfliktfeld. Von dort aus sollten die Jugendlichen allmählich in die Lage versetzt werden, Bezüge zum eigenen Leben herzustellen. 302 SEMINAR-BAUSTEINE Das Thema „Gewalt“ sollte in den Workshops zum Ausgangspunkt der Arbeit genommen werden. Das „Szenische Spiel“ am Mittwoch begann mit Bewegungstraining und Körperkontakt. Dabei taten sich die Jugendlichen durchaus schwer. Danach gingen wir in drei Arbeitsgruppen zur szenischen Arbeit über, wobei die Jugendlichen zunächst Standbilder mittels der anderen Teilnehmenden entwickeln sollten, die dann in der Gesamtgruppe ausgewertet wurden. In einem zweiten Schritt sollten dann in den gleichen Arbeitsgruppen die szenischen Standbilder variiert und mit Hilfe der Methode des fantasierten Vor- und Rücklaufs sowie durch Rollentausch und Diskussion alternative Möglichkeiten im Erleben der gezeigten Gewaltsituationen erarbeitet werden. Dies war in der geplanten Form nur in zwei von drei Gruppen möglich. Wie bereits anfangs erwähnt, hatte sich die dritte Gruppe diesem zweiten Schritt verweigert. Dies führte zu einer Sammlung von verschiedenen Kritikpunkten der Teilnehmenden an der Gesamtveranstaltung in Bezug auf die Inhalte und den organisatorischen Ablauf, die auch in der Auswertungsdiskussion des Tages im Plenum einen breiten Raum einnahm. Dabei wurde deutlich, dass es für einige Teilnehmende massive Barrieren gegenüber der Methode des „Szenischen Spiels“ gab, die sie allzu sehr an die bereits in der Einführungsphase durchgeführten Rollenspiele erinnerte, an denen sie sich auch schon ungern beteiligt hatten. Somit wurde die Methode als Ganze in ihrer persönlichen Kategorie „Kinderkram“ einsortiert. Die organisatorischen Probleme konnten dagegen geklärt und verändert werden. Die Aussicht, dass an den beiden folgenden Tagen die Arbeit in den Workshops weitergehen sollte und in der folgenden Woche ohnehin ein straff organisiertes berufsfeldorientiertes Assessmentcenter bevorstand, beruhigte schließlich auch die Hauptwortführer der „KinderkramKritik“. Aufgrund der bisherigen Erfahrung mit ähnlichen Gruppen wurde mit den Workshops an vier von fünf Tagen wieder be- J U G E N D – G E WA L T – F A M I L I E 303 wusst auf eine stark produktorientierte Annäherung an das Thema familialer und anderer Gewalt gesetzt. Trotzdem sollte in der Mitte des Seminars nicht wie im letzten Jahr ein freizeit- und erlebnisorientierter Tag stehen, sondern der bereits erwähnte „Tag des szenischen Spiels“. Damit war unsererseits die Ambition verbunden, den Teilnehmenden einmal andere und sehr persönliche Erfahrungen mit körperlicher und psychischer Gewalt bewusst zu machen und gleichzeitig Handlungsvarianten zu entwickeln. Ausdrücklich benannt wurden die positiven Erlebnisse in den drei Workshops, die begleitet waren von einem gewissen Stolz auf das jeweils entstandene Produkt. In den drei Workshops ist es gelungen, einerseits die Teilnehmenden aus verschiedenen Blickwinkeln und Zugängen an das Thema „heranzuholen“ und dieses im jeweiligen Kontext intensiv zu bearbeiten. Andererseits konnten sehr verschiedene kulturelle Ausdrucksformen je nach persönlicher Neigung ausprobiert und eingeübt werden. Bezogen auf das praktische Tun war ein benannter Informationsgewinn die sichere Handhabung von Werkzeugen sowie des technischen Geräts in den Workshops „Musik“ und „Video“. Da eine verbale Beurteilung der eigenen Reflexionsanregungen von benachteiligten und lernbehinderten Jugendlichen kaum zu erwarten ist, haben wir den Versuch einer Abfrage derselben unterlassen. Insofern bleibt hier eine gewisse Grauzone in der Evaluation bestehen. Auch hier muss das Seminar im Kontext des pädagogischen Gesamtkonzeptes gesehen werden. Für viele auch gewaltbereite Jugendliche war diese Seminarwoche ein prägnantes Schlüsselerlebnis, das mittel- und längerfristig durchaus eigene Verhaltensänderungen bewirkt hat oder bewirken kann, wenn nämlich Gruppen- oder Einzelkonflikte frühzeitig erkannt und bearbeitet werden. Eine Motivation zum gesellschaftlichen Engagement im klassischen Sinne wurde nicht benannt und ist aufgrund eines einwöchigen Seminars sicher auch nicht zu erwarten. Aber konkreten Konfrontationen mit Gewalt in ihren verschiedenen Ausprägungen wollen die Teilnehmenden künftig anders und damit überlegter begegnen. Zunächst ist zu bemerken, dass sich die sehr heterogene Gruppe in mehrerlei Hinsicht und in vergleichsweise sehr kurzer Zeit - was nicht zuletzt durch das Seminar bewirkt wurde - als kooperative und produktive Lerngruppe gefunden hat, in der es möglich war, Konflikte jedweder Art zu thematisieren und auch Lösungen zu finden. Die persönliche 304 SEMINAR-BAUSTEINE Erfahrung, unter professioneller Anleitung mit einfachen Mitteln kulturelle Ausdrucksformen zu einem Ergebnis zu führen, das in der Öffentlichkeit Beachtung gefunden hat, wird die Teilnehmenden sicher auch längerfristig in ihrem Tun beeinflussen. Die bisherigen Erfahrungen sowohl mit der Zielgruppe als auch mit der thematischen Arbeit sind sehr stark in die Planung dieses Seminars eingeflossen. Die Arbeit in den Workshops entsprach in jeder Hinsicht den Neigungen und Wünschen der Teilnehmenden, so dass hier zwar einzelne Elemente getauscht oder auch verändert werden könnten, aber grundsätzlich erhalten bleiben sollten. Der Seminarteil „Szenisches Spiel“, der schon im letztjährigen Seminar für eine Teilgruppe mit nur mäßigem Erfolg das gesamte Seminar über im Programm war und schließlich zugunsten eines freizeit- und erlebnispädagogischen Tages aus dem Seminar genommen wurde, könnte eventuell ersetzt oder verändert werden. Vielleicht ist bereits die Vokabel „Spiel“ insbesondere bei dieser Zielgruppe zu sehr negativ besetzt. Andererseits ist die Methode prinzipiell sehr gut geeignet, persönliche Gewalterfahrungen in einer Gruppe sinnhaft und zukunftsweisend zu bearbeiten. G E WA L T 5.5 IN DER ERZIEHUNG 305 Christine Heide Gewalt in der Erziehung Eine Fortbildung für Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen 5.5.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund Das Seminar wurde geplant und durchgeführt in Kooperation mit der Jugendhilfeplanung der Stadt Wilhelmshaven. Es sollte eine Veranstaltung für Erzieherinnen und Grundschulehrerinnen aus dem Stadtnorden, einem sozialen Brennpunkt mit hohem Anteil an Aussiedlern und Sozialhilfeempfängern sein. Teilgenommen haben ausschließlich Erzieherinnen, die meisten, aber nicht alle aus dem genannten Stadtteil (zwölf Teilnehmerinnen). Das Thema ist ein „Dauerbrenner“ im Kriminalpräventionsrat der Stadt sowie seinen verschiedenen Arbeitskreisen und in den Stadtteilkonferenzen und bei der Jugendhilfeplanung. Da die VHS in diese Gruppen lose eingebunden ist, konnte sie ohne Probleme als Forum und Multiplikator für die Teilnehmerwerbung eingesetzt werden. Die Kooperationspartner erwarteten auch eine Unterstützung ihrer Arbeit, vor allem ein Hineintragen der Problematik auf weitere Kreise; insofern unterstützte die Jugendhilfeplanung die Veranstaltung auch finanziell, so dass die Eigenbeteiligung der Teilnehmerinnen bzw. der sie entsendenden Einrichtungen nur bei (damals) 30 DM pro Person liegen musste. Inhaltliche oder organisatorische Einflüsse wurden nicht genommen. Neben einer Veröffentlichung im Programm der VHS (siehe Ausschreibungstext) wurden alle Kindertagesstätten und Grundschulen im Einzugsbereich mit einem Handzettel versorgt. Darüber hinaus wurde im Konvent der Leiterinnen der Kindertagesstätten und bei einem Stammtisch der Grundschulleiter über die geplante Veranstaltung berichtet sowie Einzelpersonen direkt angesprochen (allerdings mehr nach dem Zufallsprinzip). Die vergleichsweise persönliche und relativ aufwändige Werbung sicherte die Durchführbarkeit der Veranstaltung, Berichterstattungen in der Lokalzeitung produzierten eine weitere, noch immer anhaltende Nachfrage sowohl von Grundschulkollegien wie auch vom Frauenhaus und den niedergelassenen Kinderärzten. 306 SEMINAR-BAUSTEINE Spannend waren bei dieser Veranstaltung vor allem die Fragen, die mit einer Projektentwicklung im Stadtteil und den entsprechenden Vernetzungen zusammenhängen: Würde es gelingen, Kindertagesstätten und Grundschulen, die sich häufig eher skeptisch, ja gar vorurteilsgeladen gegenüber stehen, zu Kooperationen zu bewegen? Und: Inwieweit würde es gelingen, das Thema familiäre Gewalt – ein Tabuthema in beiden Institutionen – produktiv zu behandeln? 5.5.2 Ausschreibungstext Gewalt in der Erziehung: Eine Fortbildung für Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ (§ 1631, Abs. 2 BGB) Lernziele des Seminars 1 Die Teilnehmenden sollen sich mit eigenen Gewalterfahrungen in der Opfer- wie auch der Täterrolle auseinandersetzen, sie sollen unterschiedliche Formen von Gewalt kennen lernen. 2 Die Teilnehmenden sollen einen Überblick über die unterschiedlichen Aggressionstheorien erhalten. 3 Die Teilnehmenden sollen (nach soviel Theorie) eine konkrete Handlungsanweisung erhalten. 4 Die Teilnehmenden sollen eine Möglichkeit kennen lernen, sich selbst bei Gewalterfahrungen im Arbeitsbereich zu entlasten und Hilfe zu holen. 5 Die Teilnehmenden sollen Methoden der Projektentwicklung und des Projektmanagements kennen lernen. 5.5.3 Bausteine Baustein 1 ■ Ziele: Einstimmung auf die Thematik, Auseinandersetzung mit eigenen Gewalterfahrungen in der Opfer- wie auch der Täterrolle, Kennen lernen der unterschiedlichen Formen von Gewalt. ■ Zielgruppen: Alle oben genannten. G E WA L T IN DER ERZIEHUNG 307 ■ Methode: Kartenabfrage zur eigenen Gewalterfahrung (als Täter und Opfer), Sortieren nach unterschiedlichen Formen der Gewalt (physisch, psychisch, strukturell). ■ Zeit: gut 2 Unterrichtsstunden. Baustein 2 ■ Ziel: Die Teilnehmenden sollen einen Überblick über die unterschiedlichen Aggressionstheorien erhalten. ■ Zielgruppen: Alle oben genannten. ■ Methode: Kurzvortrag mit Visualisierung über Folien. ■ Zeit: knapp 2 Unterrichtsstunden. Baustein 3 ■ Ziel: Die Teilnehmenden sollen (nach soviel Theorie) eine konkrete Handlungsanweisung erhalten. ■ Zielgruppen: Jede für sich. ■ Methode: Präsentation durch Kursleiterin/Kursleiter, gegebenenfalls noch nach Zielgruppen differenziert. ■ Beispiel für Erzieherinnen: Präsentation eines exemplarischen Elternabends zum Thema einschließlich einer Mappe mit Folien und Arbeitspapieren. ■ Zeit: ca. 2 Unterrichtsstunden. Baustein 4 ■ Ziel: Die Teilnehmenden sollen eine Möglichkeit kennen lernen, sich selbst bei Gewalterfahrungen im Arbeitsbereich zu entlasten und Hilfe zu holen. ■ Zielgruppen: Grundsätzlich alle, aber Übung zielgruppendifferenziert. ■ Methoden: Kurzvortrag und Arbeitspapier zum Thema Kollegialsupervision, Übungen in Kleingruppen (möglichst unter Moderatorenbegleitung), Auswertung im Plenum. ■ Zeit: 3 - 4 Unterrichtsstunden. Zusatzbaustein ■ Ziele: Die Teilnehmenden sollen familiale Gewaltanwendung erkennen können und Interventionsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen kennen und anwenden können. ■ Methoden: Abfrage mit Dokumentation an vorbereiter Moderationswand; Fragestellung: Wie viele Kinder meiner Gruppe sind meines Wissens in der letzten Woche in ihrer Familie geschlagen oder verbal niedergemacht worden? (differenzieren nach Geschlecht, Altersstruktur und sozialer/ethnischer Herkunft); Plenumdiskussion: Wie 308 SEMINAR-BAUSTEINE kann ich die Eltern erreichen? (mit Dokumentation/ Protokoll); Folienvortrag mit Diskussion: Interventionsschema elterliche Gewaltanwendung. (Datei 14) ■ Zeit: ca. 4 Unterrichtsstunden Baustein 5 ■ Ziel: die Teilnehmenden sollen Methoden der Projektentwicklung und des Projektmanagements kennen lernen. ■ Zielgruppen: Alle oben genannten. ■ Methoden: Abhängig von den zeitlichen Möglichkeiten der Zielgruppe. ■ Methodenpräsentation mit praktikablen Arbeitsangaben. ■ Dito mit praktischen Übungen in Kleingruppen mit differenzierter Aufgabenstellung oder (je nach Gruppengröße) im Plenum. ■ Zeit: mindestens 4 Unterrichtsstunden. 5.5.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen sind in ihrem beruflichen Alltag ständig mit Gewaltsituationen konfrontiert – vor allem mit Gewalt unter Kindern. Das Wissen um familiale Gewalt ist ein eher theoretisches, welches wenig handlungsleitend ist. Im Verlauf dieser Veranstaltung war es für die Referentin jedoch schon erschreckend, wie wenig sich die Teilnehmerinnen im Vorfeld mit diesem Aspekt auseinander gesetzt hatten und wie groß die Verhaltensunsicherheiten vor allem der jüngeren Erzieherinnen in Situationen waren, in denen sie Gewalt von Eltern ihren Kindern gegenüber erlebt hatten. Dieser Aspekt wurde an einem von einer Teilnehmerin eingebrachten Beispiel im Sinne der Entwicklung von Verhaltensalternativen diskutiert. Die zweite Gruppe, an der das Unterrichtsmodell erprobt wurde, war bereit, sich direkt auf die Fragestellung, wie viele und welche Kinder ihrer Gruppe nach ihrer Einschätzung elterlicher Gewaltanwendung ausgesetzt sind, einzulassen. Die Erzieherinnen vertraten Kindertagesstätten aus allen Wohngebieten der Stadt, also Einrichtungen aus sozialen Problemgebieten ebenso wie aus gutbürgerlichen Vierteln. Die Sachstandserhebung ergab, dass nach ihrer – eher zurückhaltenden – Einschätzung ca. 10 % der Kinder zuhause elterlicher Gewalt ausgesetzt sind. Aus der Fachliteratur (Liebel-Fryszer, Inge/ Maria Kron: Gewalt gegen Kinder, in TPS 1 und 2/99) wurde ein Interventionsschema vorgestellt, gemeinsam weiterentwickelt und an die örtlichen Bedingungen angepasst. Dieser Zusatzbaustein wur- G E WA L T IN DER ERZIEHUNG 309 de von den Teilnehmerinnen als sehr hilfreich und handlungsleitend wahrgenommen. Er wird bei weiteren Veranstaltungen in das Gesamtkonzept integriert werden. Der Begriff der strukturellen Gewalt war den Teilnehmerinnen zuerst fremd, wirkte aber im Verlauf der Veranstaltung sehr motivierend, da das Thema „Raumgestaltung in Tageseinrichtungen für Kinder“ zur Zeit heftig diskutiert wird und Gewaltprävention durch Umgestaltung von Räumen dem Bedürfnis der Teilnehmerinnen nach praktischer, sichtbarer Arbeit entgegen kam. Als schwieriger angesehen wurde die Durchsetzbarkeit struktureller Veränderungen im Stadtteil, jedoch war bei einzelnen Teilnehmerinnen eine Bereitschaft auch zum gesellschaftlichen Engagement signalisiert worden. Das Bedürfnis der Kooperation unter den Kindertagesstätten und zwar unabhängig vom jeweiligen Träger und der Kooperation mit den Grundschulen war den Teilnehmerinnen wichtig. Letzteres war in Anbetracht des Nicht-Vorhanden-Seins von Grundschullehrerinnen und -lehrern auf dieser Veranstaltung zum wiederholten Male als schwierig betrachtet worden: Die Strukturen und das Aufgabenverständnis der beiden Institutionen werden als sehr unterschiedlich eingeschätzt. Als positiv bewerteten die Teilnehmerinnen diese, sonst in der Stadt nicht angebotene Möglichkeit der trägerübergreifenden Diskussion, die als besonders anregend empfunden wurde. Für das Thema „Projektentwicklung“ waren Arbeitsgruppen (je 4 Personen) vorgesehen, die sehr zielorientiert und motiviert gearbeitet haben und abschließend im Plenum ihre Ergebnisse vorgestellt haben. Bei dieser Veranstaltung lag – den Interessen der Teilnehmerinnen folgend – der Schwerpunkt beim Lernziel 3. Praktische Hilfestellung im Umgang mit den Eltern und Möglichkeiten der Einflussnahme auf deren Erziehungsverhalten waren von besonderem Interesse. Anknüpfend an die oben genannten Interessensschwerpunkte der Teilnehmergruppe und dem hohen Aussiedleranteil im Stadtteil wurden kulturell unterschiedliche Beurteilungen familialer Gewalt diskutiert und vor dem Hintergrund der Integration von Aussiedlern reflektiert. Handlungsleitend war die grundlegende Akzeptanz der fachlichen wie persönlichen Kompetenz der Teilnehmerinnen, die „Belehrungen“ im klassischen Sinne ausschließt und aus dieser Kompetenz heraus den Erkenntnisprozess durch zielgeleitete Fragestellungen 310 SEMINAR-BAUSTEINE vorantreibt. Dabei ging die Referentin von der pädagogischen Erkenntnis aus, dass selbsttätig erlangte Erkenntnisse nachhaltiger wirken als von außen aufgesetzte. In dieser Veranstaltung war das Interesse an der Elternarbeit zum Gewaltthema besonders groß; Arbeitsformen, die das Einbringen eigener Erfahrungen ermöglichten wie moderierte Verfahren und Gruppenarbeit wurden besonders geschätzt. Das Lernziel 4 wurde mangels Teilnehmerbedürfnis nicht bearbeitet, ansonsten wurden die Lernziele erreicht. Die gesamt Seminarplanung war ohnehin für die verhältnismäßig kurze zur Verfügung stehende Zeit etwas überfrachtet, deshalb ist sie als ein Angebot zu betrachten, aus dem die Teilnehmenden auf Grund ihrer Bedürfnisse die Bausteine bearbeiten, die ihnen am wichtigsten sind. Die Entscheidung darüber wird in der Gruppe getroffen. Den mündlichen Rückmeldungen war zu entnehmen, dass das Projektthema, das bereits im Vorfeld der Veranstaltung für die Teilnehmerinnen wichtig war (sonst hätten sie sich nicht angemeldet und die zusätzliche, in vielen Fällen in der Freizeit stattfindende Arbeitsbelastung auf sich genommen), an zusätzlicher Relevanz gewonnen hatte und das Spektrum der Herangehensweise an die Thematik erheblich erweitert wurde. Einzelne Teilnehmerinnen (s.o.) zogen ein weitergehendes gesellschaftliches Engagement in Erwägung. Soweit dies ohne eine nachfolgende Befragung (die nach einem Jahr sicherlich wünschenswert wäre) zu beurteilen ist, kann davon ausgegangen werden, dass innerhalb der Einrichtungen in Bezug auf die Elternarbeit und auf die Raumgestaltung mittelfristige Wirkungen zu erwarten sind. In Bezug auf ein erwünschtes gesellschaftliches Engagement muss die Lebenssituation der Teilnehmerinnen und hier vor allem ihre Doppelbelastung durch Beruf und Familie berücksichtigt werden, so dass dies wohl realistischerweise eher zurückhaltend beurteilt werden sollte. Eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Projektes ist m.E. die Offenheit und die Vernetzung der Projektbeteiligten und anderer Personen – z.B. gibt es offenbar sowohl beim Kinderschutzbund wie auch bei der AWO ähnlich gelagerte Projekte. Wenn dies den Projektbeteiligten auch kein Problem darstellt, so wäre es doch wünschenswert, mehr über andere Projekte zu erfahren. G E WA L T IN DER ERZIEHUNG 311 Literatur Inge Liebel-Fryszer/Maria Kron: Gewalt gegen Kinder, in TPS 1 und 2/99 Anhang Was tun bei Verdacht auf elterliche Gewaltanwendung? Mögliche Symptome: ■ Häufige Verletzungen, die nicht auf Unfälle zurückzuführen sind. ■ Gesundheitsgefährdende Vernachlässigung der Hygiene. ■ Erschrecken bei plötzlichen Bewegungen Erwachsener. ■ Plötzliche dramatische Veränderungen im Bereich des Sozialverhaltens und der Leistung. ■ Distanzloses Verhalten. ■ Der Wunsch, nicht nach Hause zu gehen. ■ Autoaggression, bei älteren Kindern auch Suchtverhalten. ■ Stark zurückhaltendes Verhalten. ■ Depression. ■ Sprachlosigkeit. ■ Psychosomatische Reaktionen wie Ess- und Schlafstörungen, Einkoten, … ■ Bei sexueller Gewalt eventuell zusätzlich: sexualisiertes Verhalten, Verletzungen oder Reizungen im Genitalbereich. Diese Symptome können, müssen aber nicht notwendigerweise auf häusliche Gewaltanwendung hindeuten; sie sollten aber Erzieherinnen und Lehrkräfte ein Warnsignal sein und die folgenden Arbeitsschritte auslösen: 1. Beobachtung: Zum einen durch die zuständige Kollegin, zum anderen durch eine weitere Fachkraft, um den Verdacht zu erhärten oder aber zu entkräften. Die Beobachtungen sollten unbedingt schriftlich dokumentiert werden und sich über einen längeren Zeitraum erstrecken (außer wenn offensichtlich Gefahr im Verzug ist); auch Differenzen in der Wahrnehmung der beiden Beobachter sollten festgehalten werden. 2. Informationssammlung: Informationen über die Lebensbedingungen des Kindes müssen eingeholt werden; dazu sind Eltern- 312 SEMINAR-BAUSTEINE gespräche über die Entwicklung des Kindes und sein Umfeld erforderlich. In diesen Gesprächen geht es (noch) nicht um eine Konfrontation der Eltern mit dem Verdacht, sondern darum, ein möglichst genaues Bild zu erhalten. 3. Selbstreflexion: Was hat dieser Verdacht mit mir selbst, meinen Einstellungen und Erwartungen zu tun? 4. Beratung: Wenn sich der Verdacht erhärtet, ist spätestens zu diesem Zeitpunkt Beratung einzuholen, da alle weiteren Schritte erhebliche Konsequenzen für das Kind und die Familie haben können. Innerhalb des eigenen Hauses bzw. trägerintern kann dabei nach dem Vorschlag „Kollegiales Problemlösungsgespräch“ verfahren werden. Beratung außerhalb des eigenen Hauses ist möglich über den Kinderschutzbund oder den allgemeinen Sozialdienst der Stadt, außerdem über das Kinder- und Jugendzentrum und die Schulpsycholgin. Der Name des Kindes muss hier nicht genannt werden. 5. Information des Trägers: Sie sollte (vorerst ohne Namensnennung) zu diesem Zeitpunkt erfolgen, um ggf. Rückendeckung zu haben. 6. Weiterbestehen des Verdachts, keine konkreten Informationen: Weitere sorgfältige Beobachtung des Kindes, möglichst unter Hinzuziehung von Beratung; weitere Elterngespräche über die Sorgen, die man sich über das Kind macht, d.h. die Einrichtung übernimmt hier durchaus Kontrollfunktionen. 7. Bestätigung des Verdachts durch konkrete Informationen ■ Eltern sind zur Mitarbeit bereit: Die Planung weiterer Schritte kann mit den Eltern gemeinsam und einvernehmlich erfolgen, z.B. Vermittlung an Beratungsstellen, regelmäßige Elterngespräche, Hilfen durch das Jugendamt etc. ■ Eltern sind nicht zur Mitarbeit bereit: Wenn alle Versuche (dokumentieren!) nichts fruchten, müssen (wiederum nach Beratung) Institutionen zum Schutz des Kindes eingeschaltet werden. Die Eltern sind über diesen Schritt zu informieren; erster Ansprechpartner ist das Jugendamt bzw. der allgemeine Sozialdienst. Eine Anzeige bei der Polizei ist ebenfalls möglich, wird aber unter dem Aspekt des Kindeswohls kontrovers diskutiert. 8. Begleitung des Kindes: Ein Kind, das Gewalt ausgesetzt ist, fühlt sich hilflos und verlassen. Es ist deshalb unbedingt G E WA L T IN DER ERZIEHUNG 313 darauf zu achten, dass das Kind in der Einrichtung eine zuverlässige Ansprechpartnerin hat; die Elterngespräche sollten von einer anderen Kollegin geführt werden. Das Kind selbst muss immer wissen, was als nächstes passiert. 9. Wenn das Kind in der Einrichtung bleibt: Es müssen mit den anderen beteiligten Institutionen und Personen klare Verabredungen über Informationswege, Zeitpunkte für Zwischenbilanzen etc. festgelegt werden; Dokumentation nicht vergessen. 10. Wenn das Kind die Einrichtung verlässt: Es muss überlegt werden, ob ein weiterer Kontakt (Besuche des Kindes in der Einrichtung, Besuche der Kontaktperson in der Einrichtung beim Kind) hilfreich und förderlich sein kann. Der Wunsch des Kindes ist dabei zu berücksichtigen. 11. Auswertung: Unter Inanspruchnahme von externer Beratung ist eine Auswertung des „Falls“ aus zwei Gründen erforderlich: ■ Man kann sowohl aus Fehlern, die man im Verfahren gemacht hat, wie auch aus Erfolgen, die man gehabt hat, lernen. ■ Die Belastung, die für die Erzieherinnen mit einer solchen Intervention verbunden sind, sollten ausgearbeitet werden. 314 5.6 SEMINAR-BAUSTEINE Simeon Reininger „Starke Kinder – starke Eltern“© Seminar für Familien, Alleinerziehende und Interessierte in Zusammenarbeit mit dem Kinderschutzbund Lingen (Ems) 5.6.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund Lernziele ■ Die Teilnehmenden sollen eigene (gute, schlechte) Erfahrungen und ihr Bild von der guten Familie (Was freut mich, was nervt mich in/an meiner Familie?) vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen reflektieren und einordnen: Zum einen steht im Vordergrund von Familie nicht mehr funktional das Überleben, sondern emotional das Erleben von Familie als Ort der Geborgenheit (angesichts gesellschaftlicher Ungeborgenheit und Kälte), was häufig zu einer Überforderung ihrer/seiner selbst, des Partners (Beziehungsprobleme) und des Kindes/der Kinder (Erziehungsprobleme) führt, zum anderen stehen Eltern unter äußerem Druck (Leistungsdruck am Arbeitsplatz; finanzieller Druck: Kinder als Armutsrisiko, gesellschaftlicher Druck: Anerkennung und Integration über den Markt. ■ Die Teilnehmenden sollen sich vor diesem Hintergrund ihrer eigenen Werte bewusst werden und diese in der Gruppe kritisch hinterfragen. Zugleich sollen sie ihre differenzierten Lebenswelten (Familie, Arbeitsplatz, Verein o.ä.) und die darin unterschiedlich (und vielleicht sogar gegensätzlich) gelebten Werten reflektieren und erkennen, wo sie mit ihren eigenen Werte (-vorstellungen) an Grenzen stoßen und wo sich Konfliktlinien bilden. ■ Davon ausgehend sollen die Teilnehmenden versuchen ihre Erziehungsziele zu formulieren: Welche Werte wollen sie vermitteln? Welche „Un-Werte“ wollen sie vermeiden, d.h. wo wollen sie ihren Kindern Grenzen setzen? ■ Schließlich sollen die Teilnehmednen darüber ins Gespräch kommen mit welchen Mitteln sie ihren Erziehungszielen näher kommen bzw. diese erreichen wollen. Sie sollen sich dabei insbesondere mit der Frage nach „elterlicher Gewalt“ (im BGB in „elterliche Sorge“ umbenannt) auseinandersetzen, die Begriffe von Gewalt und Gewalt- „ S TA R K E K I N D E R – S TA R K E E LT E R N “ © 315 freiheit klären und schließlich Hilfestellung für eine gewalt- und angstfreie Erziehung erhalten. Zielgruppe Eltern Seminarhintergrund Das Seminar „Starke Kinder – starke Eltern“, konnte in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderschutzbund/Lingen durchgeführt werden. Die in den Seminarzielen beschriebenen Erwartungen wurden vom Kooperationspartner geteilt. Dessen eigenes Ziel, gewaltfreie Erziehung auf gesellschaftlicher Ebene zu thematisieren sowie Anwalt von Kindern zu sein, motivierte zur Kooperation. 5.6.2 Ausschreibungstext Liebe Familien! Die Anforderungen an die Kindererziehung sind in den letzten Jahren immer mehr gestiegen. Als erziehende Eltern möchten viele ihre Kinder für die anstehenden Aufgaben gut vorbereiten und ihre Talente und Möglichkeiten optimal fördern. Dass dies viele Eltern mehr als fordert und an die eigenen Grenzen bringt und sogar 316 SEMINAR-BAUSTEINE wütend machen kann, ist nur verständlich. An diesem Wochenende wollen wir die eigenen Wünsche und Möglichkeiten bei der Kindererziehung in den Blick nehmen. Welches „Klima“ wünsche ich mir in meiner Familie, welche äußeren Rahmenbedingungen und Unterstützungen – auch seitens der Gesellschaft – sind Voraussetzungen für eine Erziehung, die gelingen kann und die der Entwicklung des Kindes hilft. Was kann ich selbst, was kann die Gesellschaft insgesamt tun, um eine gewaltfreie Erziehung zu ermöglichen, wie es neuerdings auch der Gesetzgeber will. Welche Grundlagen, welche Möglichkeiten und Ziele haben wir in unserer Familie und welche Strategien zur eigenen Entlastung gibt es. Für die Kinder gibt es ein eigenes Programm. Sie sind herzlich eingeladen! 5.6.3 Bausteine Freitag 19.15 h-20.45 h Begrüßung, Kennenlernen, Einstieg in das Seminar: ■ Kennenlernen ■ Einstieg in das Thema: Kleingruppen: Was macht Familienleben und Erziehung (heute) einfach(er) oder schwer(er)? Sammeln von Fragen, Erwartungen (Kartenabfrage, Pinnwand). ■ Plenum: Thematische Schwerpunktsetzung anhand der benannten Problemfelder. Samstag 09.00 h-12.30 h Eigene Erziehungsziele und Wertvorstellungen; Umgang mit Grenzerfahrungen: ■ Kleingruppen: Teilnehmende suchen sich Fotos aus und kommen darüber ins Gespräch: Welches sind meine eigenen Werte? Ziel: Teilnehmende sollen sich über ihre eigenen Werte und der sich möglicherweise ergebenden Schwierigkeiten/ Widersprüchen klar werden. Sie sollen die Probleme benennen können, in einer differenzierten Gesellschaft klare Orientierung über eigene Lebensziele erreichen zu können (dazwischen eine Pause). ■ Kleingruppen malen jeweils den Umriss eines Kindes. In das Innere werden ausgehend von den benannten Werten Erziehungsziele geschrieben, in das Äußere werden „Un-Werte“ „ S TA R K E K I N D E R – S TA R K E E LT E R N “ © 317 geschrieben. TN sollen klare Grenzen setzen und darüber zunächst einmal ins Gespräch kommen. Gleichzeitig sollen die Teilnehmenden sich über Schwierigkeiten austauschen diese Ziele zu erreichen und überlegen, wie sie diesen Schwierigkeiten begegnen können, welche Mittel sie einsetzen wollen. Gesprächsrunde über die Ergebnisse im Plenum. ■ Kurzreferat über die fünf Grundgefühle (Glück, Angst, Wut, Trauer, Ekel) und deren Bedeutung sowohl für das eigene Verhalten Kindern gegenüber (im Blick auf die formulierten Erziehungswerte) als auch für das Verhalten der Kinder (in Blick auf Erziehungsziele). 15.00 h-18.30 h ■ Kurzes Feedback und Blick nach vorne Rahmenbedingungen für eine gewaltfreie Erziehung ■ In Kleingruppen werden konkrete Szenen überlegt, die in Rollenspielen dargestellt werden können. Ziel: Veranschaulichung 19.15 h-20.45 h des am Vormittag Erarbeiteten. ■ Plenum: Rollenspiele und Auswertung. Rahmenbedingungen für eine gewaltfreie Erziehung (Fortsetzung). ■ Kurzreferat zum Thema „Werteerziehung“, „Moralerziehung“. Ziel: Teilnehmenden sollen begreifen, wie wichtig Klarheit über eigene Werte und Erziehungsziele ist, um sich selbst und anderen, insbesondere den Kindern Orientierung und Sicherheit zu vermitteln... Zugleich sollen Unsicherheit und Orientierungslosigkeit sowohl beim Erwachsenen (und der Gesellschaft insgesamt) als auch beim Kind als Aggressions- und Gewaltpotentiale bzw. -ursachen erkannt werden. Anschließend Diskussion. Sonntag 09.00 h-12.30 h Perspektiven für das eigene erzieherische Handeln: ■ Im Plenum werden rote, gelbe und Gründe Din-A-4 Blätter ausgelegt, auf welche Erziehungsmethoden stichwortartig geschrieben werden. Die Farben stehen für Werte: rot bedeutet unerlaubt (kein Wert, Gewalt), gelb bedeutet Ausnahmefälle (braucht eine differenzierte Wertung), grün bedeutet erlaubt (erstrebenswert). Ziel: Klarheit über Erziehungsmethoden nicht nur im Blick auf erstrebenswert oder nicht erstrebenswert, 318 SEMINAR-BAUSTEINE sondern v.a. auch im Blick auf „Gewalt“ und „Gewaltfreiheit“ zu erhalten. ■ Inhaltlicher Input zum Thema „gewaltfreie Erziehung“. Anschließend Diskussion in Kleingruppen. Ergebnisse im Plenum. 13.30 h-14.30 h Auswertung 5.6.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven Die Frage nach „gewaltfreien“ Konfliktaustragungsmodellen standen im Vordergrund des Interesses der Teilnehmenden. Wenn auch bei den Teilnehmenden die Mikroebene Familie im Vordergrund gestanden haben mag, so war doch die Makroebene Gesellschaft immer wieder mit Thema. Die Handlungsorientierung v.a. im letzten Teil des Seminars konnte die Teilnehmenden motivieren, ihr eigenes erzieherisches Handeln kritisch zu reflektieren und zu verändern und darüber auch Einfluss auf die Gesellschaft als Ganzes zu gewinnen. Die Erwartungen entsprachen den formulierten Seminar- und Lernzielen (siehe oben). Dabei war aufgrund der Erfahrungen mit Familienseminaren klar, dass die Erwartungen der Teilnehmenden stärker in Richtung persönlicher Hilfestellung bei Erziehungsproblemen als einer Auseinandersetzung mit einem gesellschaftspolitisch relevanten Thema zielten. Deshalb war es wichtig, von vorne herein diese Erwartungen aufzugreifen (Teilnehmerorientierung) und auf die gesellschaftliche Relevanz hin zu öffnen. Die Lernziele ergaben sich aus der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Diskussion der vergangenen zehn Jahre um Ursachen von Gewalt insbesondere im familialen und schulischen Kontext sowie in dem mit rechtsextremistischen und gewaltbereiten Gruppen und die Bedeutung von Orientierung in einer pluralistischen Gesellschaft. Dabei schien vor allem die These (kurzgefasst) plausibel, dass Orientierungslosigkeit und wachsende Unfähigkeit zu Kommunikation Aggressions und Gewaltneigung begünstigen. Kontroverse Themen, etwa die Diskussion darüber, ob wir es etwa mit einem Wertezerfall in der Gesellschaft zu tun haben, wurden nicht gezielt aufgegriffen und diskutiert. Das hätte dem Seminar einen zu theoretischen Rahmen gegeben. Allerdings wurden diese Fragen im Rahmen der Kurzreferate angeschnitten und im Kontext von „Individualisie- „ S TA R K E K I N D E R – S TA R K E E LT E R N “ © 319 rung“, „Pluralisierung“ sowie „Enttraditionalisierung“ und den damit verursachten Chancen, aber auch Gefahren sowie neuen Herausforderungen für das erzieherische Handeln von Eltern oder auch gesellschaftlichen Institutionen wie Kindergarten, Schule … thematisiert. Die Stichworte „Individualisierung“, „Pluralisierung“ sowie „Enttraditionalisierung“ verweisen direkt auf die stärkere Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft, das eigene Leben zu organisieren, Rahmen, Regeln, Werte abzustecken und zu formulieren. Daraus ergibt sich als Ansatz und didaktisches Prinzip die Teilnehmerorientierung, die freilich dort an ihre Grenzen kommt, wo – wie immer wieder betont – Eltern in ihrem erzieherischen Handeln unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen z.T. überfordert und sogar orientierungslos sind. Die Erwartung der Teilnehmer nach möglichst konkreten Hilfen und praktizierbaren Perspektiven bestätigt dies und liefert die Begründung für eine zweite, nämlich die Sachorientierung, die in den Kurzreferaten zum Ausdruck kommt. Aufgrund der Teilnehmerorientierung legte es sich nahe methodisch durch Kartenabfragen, aber auch Rollenspiele, eigenes Wissen, eigene Fragen und Interessen, aber auch Probleme zu thematisieren. Hierzu diente die Methode der „Fotosprache“, die sich auch in diesem Kontext eignete, sich in das Gespräch/die Diskussion einzubringen. Die Methoden sollten dazu dienen, ein ganzheitliches Lernen zu ermöglichen und durch einen Wechsel, der nicht nur thematisch, sondern auch „biorhythmisch“ (deshalb die Rollenspiele am Samstagnachmittag) begründet war, die Konzentrationsfähigkeit zu erhalten. Die Frage nach „gewaltfreien“ Konfliktaustragungsmodellen (natürlich vor allem in der Familie, sowohl im Blick auf Partnerschaft, aber insbesondere im Blick auf die Kindererziehung) standen im Vordergrund des Interesses. Die verschiedenen Arbeitsformen wurden hinsichtlich ihres Einsatzes in gleicher Weise geschätzt, da sie zum jeweiligen Zeitpunkt des Seminars insgesamt passend schienen. Die unterschiedliche, abwechslungsreiche Gestaltung wurde denn auch in den Rückmeldungen positiv angemerkt. Die Teilnehmenden konnten zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema und zum Erlernen insbesondere neuer Kommunikations- und Konfliktaustragungsmöglichkeiten motiviert werden. Die Rückmeldungen haben zum einen ergeben, dass das Erlernte als für den Alltag nützlich eingeschätzt wurde, zum anderen konnte Interesse an einem Folge- und Vertiefungsseminar geweckt werden. 320 Gesetzgebung Juristische Literatur Soziologische Literatur Pädagogische und psychologische Literatur Literatur zu Familien, Kinderund Jugendpolitik Fachdidaktische Beiträge zur familienbezogenen politischen Bildung L i t e r a t u r 321 322 6. L I T E R AT U R H I N W E I S E Ausgewählte Literaturhinweise zusammengestellt von Lukas Rölli 6.1 Gesetzgebung: Bundestags Drucksachen, Berichte, Gesetzesvorlagen Die neueren Bundestagsdrucksachen ebenso wie die Protokolle der Plenarsitzungen des Bundestags der aktuellen und der vergangenen Wahlperioden können über die Homepage des Bundestages (www.bundestag.de) online eingesehen und ausgedruckt werden. Der Familienbericht, sowie der Kinder- und Jugendbericht kann über die Homepage des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ, www.bmfsfj.de) bestellt werden. Kampagne „Mehr Respekt vor Kindern“ 2000 bis 2002: Dokumentation, hrsg. v. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens. Fünfter Familienbericht (= Bundestags Drucksache 12/7560), Bonn 1994. Zehnter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland (= Bundestags Drucksache 13/11368), Bonn 1998. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des § 1631 BGB (Misshandlungsverbotsgesetz) vom 3. Dezember 1993 (Bundestags Drucksache 12/6343). Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts (Kindschaftsrechtsreformgesetz – KindRG) vom 13. Juni 1996 (Bundestags Drucksache 13/4899); dazu: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) vom 12. September 1997 (Bundestags Drucksache 13/ 8511); Änderungsantrag der Fraktion der SPD zur zweiten Beratung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung vom 24. September 1997 (Bundestags Drucksache 13/8558); Entschließungsantrag der Abgeordneten Rita Grießhaber, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen) u.a. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 24. September 1997 (Bundestags Drucksache 13/8570). Beratungen im Bundesrat: 3. Mai 1996, 17. Oktober 1997. Beratungen im Bundestag: 20. Juni 1996, 25. September 1997. Entwurf eines Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung vom 23. Juni 1999 (Bundestags Drucksache 14/1247); dazu: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) vom 28. Juni 2000 (Bundestags Drucksache 14/3781); Antrag der Abgeordneten Sabine L I T E R AT U R H I N W E I S E 323 Jünger, Rosel Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS „Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll flankieren“ vom 16. Februar 2000 (Bundestags Drucksache 14/2720); 1. Beratung im Bundestag: 30. Juni 1999 (Plenarprotokoll 14/49, S. 4280-4285); 2. u. 3. Beratung im Bundestag: 6. Juli 2000 (Plenarprotokoll 14/114, S. 10888-10899). Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundesrates vom 19. September 2000 (Drucksache 519/1/ 00); Beratung im Bundesrat am 29. September 2000 (Plenarprotokoll 754, S. 344-349). Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltsrechts vom 2. November 2000, in: Bundesgesetzblatt, Teil I 2000, Nr. 48 (7. November 2000), S. 1479. 6.2 Juristische Literatur Hans-Jörg Albrecht, Die Entwicklung des Züchtigungsrechts, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens (1994), 198-207. Kai-D. Bussmann, Verbot familialer Gewalt gegen Kinder. Zur Einführung rechtlicher Regelungen sowie zum (Straf-)Recht als Kommunikationsmedium, Habil.-Schr. Univ. Bielefeld 1997 (aktualis. Fass.), Heymanns, 2000. 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Thomas Mörsberger, Jürgen Restemeier, Neuwied: Luchterhand, 1997. Matthias Jestaedt, Staatliche Rollen in der Eltern-Kind-Beziehung, in: Deutsches Verwaltungsblatt 112 (1997), 693-697. Alexander Lüderitz, Familienrecht. Ein Studienbuch, 27. wesentlich überarb. Aufl., München 1999. Roger Prott, Rechtshandbuch für Erzieherinnen, 6. neu bearb. Aufl., Neuwied-Berlin 1999. Ursula Schneider, Körperliche Gewaltanwendung in der Familie. Notwendigkeit, Probleme und Möglichkeiten eines strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Schutzes (= Münstersche Beiträge zur Rechtswissenschaft, Bd. 28), Berlin 1987. 324 L I T E R AT U R H I N W E I S E SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe, erl. v. Reinhard Wiesner, Thomas Mörsberger, Helga Oberloskamp u. a., 2., überarb. Aufl., München: Beck, 2000. 6.3 Soziologische Literatur Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung, hrsg. v. Susanne Rippl, Christian Seipel, Angela Kindervater, Opladen 2000. Kai-D. 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Familien ausländischer Herkunft in Deutschland, hrsg. von der Sachverständigenkommission 6. Familienbericht, Bd 1: Empirische Beiträge zur Familienentwicklung und Akkulturation; Bd. 2: Lebensalltag; Bd. 3: Rechtliche Rahmenbedingungen, Opladen 2000. Family Violence Against Children: A Challenge for Society. Ed. by Detlev Frehsee, Wiebke Horn and Kai-D. Bussmann. Prevention and Intervention in Childhood and Adolescence, Special Research Unit 227 Vol. 19, Gruyter, 1996. Jürgen Friedrichs, Jörg Blasius, Leben in benachteiligten Wohngebieten, Opladen 2000. Peter Gay, Kult der Gewalt. Aggression im bürgerlichen Zeitalter (= Siedler Taschenbuch Bd.75554), 2000. Uta Gerhardt, Die Familie und die soziale Pathologie der Gewalt. Denkmodelle für die Theorie der modernen Gesellschaft, in: Familie der Zukunft, 113-127. Gewalt in der Familie und gesellschaftlicher Handlungsbedarf. Tagungsdokumentation, hrsg. v. Laszlo A. Vaskovics (= Materialien 4-99, hrsg. v. 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Ulrich Wagner, Kohlhammer, 1997. Anti-Gewalt-Report. Handeln gegen Aggressionen in Familie, Schule und Freizeit. Hrsg. v. Klaus Hurrelmann, Christian Palentien u. Walter Wilken, Weinheim/Basel, Beltz Grüne Reihe, 1995. Albert Bandura, Aggression. Eine sozial-lerntheoretische Analyse. Einf. v. Rolf Verres. Stuttgart: KlettCotta, 1979. Günther Deegener, Die Würde des Kindes. Plädoyer für eine Erziehung ohne Gewalt, Weinheim 2000. Konrad Fees, Werte und Bildung. Wertorientierung im Pluralismus als Problem für Erziehung und Unterricht, Leverkusen: Leske + Budrich, 2000. Helmut Frank, Wege aus der Gewalt. Vom Einfluß der Erziehung auf die Aggressivität des Menschen, Luchterhand, 1996. Manfred Gerspach, „Willst’n paar aufs Maul?“ Die Reaktivierung der narzisstischen Wut in der Adoleszenz, in: H. Krebs u.a. (Hrsg.), Lebensphase Adoleszenz. Junge Frauen und Männer verstehen, Mainz 1997, 148-172. Manfred Gerspach, Einführung in pädagogisches Denken und Handeln, Stuttgart/Berlin/Köln 2000. R. 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(02 28) 2 89 29-30 Fax: (02 28) 2 89 29-57 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.aksb.de Projekthomepage: http://www.aksb.de/ familie-und-gewalt 7.1.2 Weitere Projektträger Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) Mühlendamm 3 10178 Berlin Tel.: (030) 400 401 00 Fax: (030) 400 401 22 E-Mail: geschaeftsstelle@ adbildungsstaetten.de Homepage: http:// www.adbildungsstaetten.de Deutscher Volkshochschul-Verband (DVV) Obere Wilhelmstr. 32 53225 Bonn Tel.: (0228) 97 56 90 Fax: (0228) 97 56 930 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.vhs-dvv.de Verband Ländlicher Heimvolkshochschulen (HVHS) Alte Dorfstraße 87 70599 Stuttgart Tel. (0711) 4 59 99 09-0 Fax: (0711) 4 59 99 09-9 E-Mail: [email protected] Homepage: http://www.verband-hvhs.de PROJEKT 7.2 333 Projektgruppe Bildungsstätte Alte Schule Anspach e.V. Dr. Stephan Bundschuh Schulstr. 3 61267 Neu-Anspach (Taunus) Tel.: (0 60 81) 4 17 72 Fax: (0 60 81) 96 00 83 E-Mail: [email protected] URL: www.alteschuleanspach.de Franziskanisches Bildungswerk e.V. Bernward Bickmann Niederwaldstr. 1 63538 Großkrotzenburg Tel.: (0 61 86) 9 16 80-0 Fax: (0 61 86) 9 16 80-7 E-Mail: bernward.bickmann@fbw. kreuzburg.de URL: www.kreuzburg.de/fbw Heimvolkshochschule „Gottfried Könzgen“ KAB/CAJ Annette Seier Annaberg 40 45721 Haltern Tel.: (0 23 64) 1 05-0 Fax: (0 23 64) 1 05-100 E-Mail: [email protected] URL: www.hvhs-haltern.de Seit 2001 Kath. Landvolkshochschule Feuerstein Birgit Engelhardt-Schwaab Behringersmühle 23 91327 Gößweinstein Tel.: (0 92 42) 74 02-0 Fax: (0 92 42) 74 02-36 E-Mail: [email protected] URL: www.klvhs-feuerstein.de Ludwig-Windthorst-Haus Dr. Simeon Reininger Gerhard-Kues-Str. 16 49808 Lingen-Holthausen Tel.: (05 91) 61 02-0 Fax: (05 91) 61 02-135 E-Mail: [email protected] URL: www.lwh.de Sozialinstitut für Erwachsenenbildung der KAB Süddeutschlands Hofgartenstr. 2 93449 Waldmünchen Tel.: (0 99 72) 94 14 67 Fax: (0 99 72) 94 14 65 E-Mail: [email protected] URL: www.sozialinstitut.de bis 2001 Überregionale Frankfurter Sozialschule c/o Bonifatiushaus Dr. Antonius Gescher Neuenbergerstr. 3-5 36041 Fulda-Neuenberg Tel.: (06 61) 83 98-118 Fax: (06 61) 83 98-136 E-Mail: [email protected] URL: www.bistum.fulda.net bis 2001 Verein für Jugend- und Kulturarbeit e.V. Jugendbildungsstätte „Mühle“ An der Trave 1-3 23795 Bad Segeberg Tel.: (0 45 51) 95 91-0 Fax: (0 45 51) 95 91-15 E-Mail: [email protected] URL: www.lkj-sh.de/muehle bis 2001 334 Volkshochschule Hildesheim Magdalena Zerrath Pfaffenstieg 4-5 31134 Hildesheim Tel.: (0 51 21) 93 61-0 Fax: (0 51 21) 93 61 66 E-Mail: [email protected] URL: www.vhs-hildesheim.de Volkshochschule Neustadt Dorothea Frey Hindenburgstr. 14 67433 Neustadt / Weinstraße Tel.: (0 63 21) 39 05 10 Fax: (0 63 21) 39 05 39 E-Mail: [email protected] URL: http://www.vhs-nw.de Volkshochschule Wilhelmshaven Christina Heide Virchow-Str. 29 26382 Wilhelmshaven Tel.: (0 44 21) 16 14 49 Fax: (0 44 21) 16 18 96 E-Mail: [email protected] URL: www.vhs-whv.de KONTAKTE AUTORINNEN 7.3 UND AUTOREN 335 Autorinnen und Autoren Bernward Bickmann, Dipl. pol., Dipl. rel. päd., Supervisor (DGSv), Leiter des Franziskanischen Bildungswerks, Großkrotzenburg Dagmar Bickmann, Dipl. theol., Dipl. päd., Familientherapeutin, Großkrotzenburg Andreas Borchers, Dr., Soziologe, Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung, Hannover Kai-D. Bussmann, Prof. Dr. jur., Professor für Strafrecht an der Universität Halle Mounira Daoud-Harms, Dr. phil., Diplomsoziologin, Hessisches Landesinstitut für Pädagogik, Frankfurt Birgit Engelhardt-Schwaab, Dipl. psych., Pädagogische Mitarbeiterin an der Katholischen Landvolkshochschule Feuerstein, Gössweinstein Dorothea Frey, Pädagogin, Neustadt a.d.W., Leiterin von Qualifizierungslehrgängen für Tagespflegepersonen; Vorsitzende des Tageselternvereins Vorderpfalz e.V. Joachim Fuß, Familienrichter, Köln Manfred Gerspach, Prof. Dr. phil., Diplompädagoge, Professor für Pädagogik am Fachbereich Sozialpädagogik der Fachhochschule Darmstadt Rainer Hartel, Dr., Pädagogischer Mitarbeiter an der Bildungsstätte Alte Schule Anspach e.V., Neu-Anspach (Taunus) Meinolf Hartmann, Psychotherapeut (HPG), Verein Jedermann e.V., Heidelberg Christina Heide, Dipl. psych, Dozentin an der Volkshochschule Wilhelmshafen Heinz Holzhauer, Prof.em. Dr. jur., Institut für Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Münster Heike Lipinski, Diplomsoziologin, Ludwigsburg Klaus Münstermann, Prof. Dr., Diplompädagoge, Honorarprofessur im Fachbereich Erziehungswissenschaften (Sozialpädagogik) Simeon Reininger, Dr. theol., seit August 2001 Projektleiter; Pädagogischer Mitarbeiter des Ludwig-Windthorst-Haus, Katholische Akademie und Heimvolkshochschule der Diözese Osnabrück 336 KONTAKTE Barbara Rendtorff, Dr. phil., Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin, Privatdozentin für Allgemeine Pädagogik, Frankfurt Lukas Rölli, Dr. phil., bis Juli 2001 Projektleiter; seit 2001 Geschäftsführer des Forums Hochschule und Kirche, Bonn Udo F. Schmälzle, Prof. Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Universität Münster Hans Schmidt, Dipl. psych., Dipl. soz. päd., Verein Jedermann e.V., Heidelberg Achim Schröder, Prof. Dr. phil., Pädagoge, Fachbereich Sozialpädagogik an der Fachhochschule Darmstadt Karin Weiß M.A., Deutsches Jugendinstitut, München 337 Inhalt – Langfassung – * 1. Simeon Reininger Vorwort ................................................................................................ 7-9 2. Lukas Rölli, Simeon Reininger Projektbeschreibung ........................................................................... 10-43 2.1 Anlass ......................................................................................... 12 2.2 Planung ....................................................................................... 14 2.3 Konzeption ................................................................................... 18 2.3.1 Projektziel ................................................................................... 19 2.3.2 Lernziele ...................................................................................... 19 2.3.4 Zielgruppen .................................................................................. 20 2.3.5 Themenbereiche ............................................................................ 20 2.3.6 Veranstaltungsformen .................................................................... 21 2.3.7 Leitende Erkenntnisziele für die Evaulation ...................................... 22 2.3.8 Arbeitsstruktur ............................................................................. 22 2.3.9 Zeitplan ....................................................................................... 23 2.3.10 Förderung .................................................................................... 25 2.4 Durchführung ............................................................................... 25 2.4.1 Aufbau der Projektstrukturen .......................................................... 26 2.4.2 Entwicklung, Erprobung und Evaluation innovativer Kurse .................. 27 2.4.3 Fachdidaktischer Austausch über Kurskonzepte ................................. 29 2.4.4 Erprobung von Werbemaßnahmen .................................................... 29 2.4.5 Vermittlung von Projektergebnissen über das Internet ....................... 30 2.4.6 Weitere Schwerpunkte der Projektgruppe .......................................... 31 2.5 Ergebnisse ................................................................................... 33 2.5.1 Strukturelle Ebene ......................................................................... 33 2.5.2 Konzeptionelle Ebene .................................................................... 34 2.5.3 Inhaltliche Ebene .......................................................................... 35 2.5.4 Ausblick und Forderungen .............................................................. 37 2.5.5 Abschließende Reflexion der Projektgruppenmitglieder ...................... 41 Anmerkungen ......................................................................................... 43 * Die Langfassung ist in der Printversion nicht verfügbar 338 3. Expertisen ........................................................................................ 44-111 Andreas Borchers Politische und zivilgesellschaftliche Handlungsfelder zur Erleichterung familialen Erziehungshandelns und zur Prävention von Gewalt in der Erziehung ............................................ 46-75 0. Vorbemerkung ................................................................................ 46 1. Gewalt in der Erziehung: Definition und Erscheinungsformen ............... 47 1.1 Abrenzung von Gewalt .................................................................... 48 1.2 Erscheinungsformen von Gewalt ....................................................... 49 1.3 Verbreitung von Gewalt in der familialen Erziehung ............................ 50 1.4 Gewaltbereitschaft und -akzeptanz: Multikausales Bündel von Faktoren ... 51 2. Familienleben heute ....................................................................... 53 2.1 Wandel im System Familie ............................................................... 54 2.2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der familialen Erziehung und „strukturelle Rücksichtslosigkeiten“ .................................................. 56 3. Gesellschaftliche Handlungsziele und -möglichkeiten .......................... 62 3.1 Ansätze von Gewaltprävention ......................................................... 62 3.2 Ziele von Familien- und Kinderfreundlichkeit ..................................... 63 4. Möglichkeiten vernetzten Handelns .................................................. 65 4.1 Ausrichtung auf ein gemeinsames Ziel .............................................. 68 4.2 Klärung der Aufgaben ..................................................................... 68 4.3 Arbeitsformen und Arbeitsteilung ..................................................... 68 4.4 Kooperationspartner und Beteiligte am Netzwerk ............................... 69 5. Ansatzpunkte für die Bildungsarbeit ................................................. 70 5.1 Perspektive A: Gesaltpräventive Arbeit mit Familien ........................... 70 5.2 Perspektive B: Mitarbeit an einem gewalt-ablehnenden gesellschaftlichen Klima ................................................................. 71 Anmerkungen .......................................................................................... 72 Literatur ................................................................................................. 73 Udo F. Schmälzle Gewaltfreie Erziehung: Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes ........................................................... 76-111 0. Vorbemerkung ................................................................................ 76 1. Wahrnehmung von Gewalt als Grundlage einer gewaltfreien Erziehung .. 77 1.1 Tabuisierung und Verdrängung ......................................................... 77 1.2 Auf den Spuren eines Faszinosums: Das Schicksal gewaltfreier Erziehungsperspektiven in einer Kultur der Gewinner .......................... 79 1.3 Das Geschäft mit dem Faszinosum „Gewalt“ ....................................... 81 1.4 Die Bedeutung medialer Gewaltdarstellungen ..................................... 82 2. Was macht die Menschen zu dem, was sie sind? Zur Stifterfunktion anthropologischer Leitbilder ................................. 85 339 2.1 Der Mensch: Bestie oder Gott? ......................................................... 86 2.2 Der Mensch als Ware ....................................................................... 87 2.3 Zur Reichweite verschiedener Erklärungsmodelle ................................ 88 2.4 Gewalt erzeugt Gewalt – Frieden erzeugt Frieden ................................ 90 3. Konsequenzen für die Bildungsarbeit ................................................ 92 3.1 Konzepte gegen Hass und Gewalt ..................................................... 93 3.2 Prävention mörderischer Hassgefühle und destruktiver Aggressivität ..... 94 3.3 Hilfen für gewaltbelastete Familien .................................................. 95 3.4 Prävention von Gewalt: zwischen Utopie und Resignation ................... 98 3.5 Die Verantwortung von Religion und Kirche ..................................... 100 Anmerkungen ........................................................................................ 107 Literatur ............................................................................................... 107 4. Fachtagungen ........................................................................ 112-272 4.1 Gewaltfreie Erziehung – Eine Herausforderung für die politische Bildung 27. Oktober 1999 in Bonn ............................................................. 114- 4.1.1 Lukas Rölli Zusammenfassung .................................................................. 114-117 1. Ziel der Tagung, Beteiligung und Konzeption ................................... 114 2. Vertiefung der Kenntnisse, Erörterung der politischen Problemstellung .. 115 3. Perspektiven für ein trägerübergreifendes Projekt ............................ 117 4. Ergebnis der Fachtagung ............................................................... 117 4.1.2 Lukas Rölli (Zusammenfassung des Einführungsreferats) Der gesellschaftliche und politsiche Rahmen für die Beschäftigung mit dem Thema „Erziehung und Gewalt“ in der plitischen Bildung .. 118-121 1. Veränderte Sensibilität gegenüber Gewalt in der Familie ..................... 119 2. Veränderte Erziehungsstile ............................................................ 119 3. Erschwerte Rahmenbedingungen für die Erziehung in Familien ........... 120 4.1.3 Lukas Rölli (Expertengespräch mit Heinz Holzhauer/Zusammenfassung) Rechtliche und politische Implikationen des Rechtes auf eine gewaltfreie Erzeihung ............................................................. 122-124 1. Grundgesetzlicher Rahmen von Erziehung in der Familie .................... 122 2. Familienrechtliche Bestimmungen des BGB ...................................... 123 3. Begriffsbestimmung von § 1631 Abs. 2 BGB .................................... 123 4. Rechtspolitische Absichten hinter dem Gesetzesentwurf .................... 124 5. Folgen eines Rechtes auf gewaltfreie Erziehung ............................... 124 4.1.4 Heike Lipinski Gewaltfreie Erziehung – Perspektiven für die politische Bildung ... 125-135 1. Ist Erziehung Privatsache? ............................................................ 125 340 2. 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.5 2.6 3. Welche konkreten Themen kommen für die politische Bildung infrage? .. 126 Politische Bildung verdeutlicht Wertoptionen ................................... 127 Information über den Ist-Zustand ................................................... 127 Darstellung der Ursachen von Gewalt .............................................. 128 Gesellschaftliche Ursachen ............................................................ 129 Individuelle Ursachen ................................................................... 129 Folgen von Gewalt ........................................................................ 130 Transfer in den eigenen Lebenskontext ermöglichen ......................... 131 Konkrete Handlungsmotivation erzeugen/Hilfsangebote präsentieren ... 132 Welche Aspekte sind bei der Umsetzung dieses Themas in die politische Bildung zu beachten? – Einige didaktische Hinweise .......... 133 3.1 Zielgruppen ................................................................................. 133 3.2 Wie mache ich das Thema attraktiv? ............................................... 133 3.3 Art der Veranstaltung .................................................................... 134 3.4 Persönlichkeitsbildung und politische Bildung ................................. 135 Anmerkungen ........................................................................................ 135 4.2 Gewaltfreie Erziehung – Zu Theorie und Praxis eines pädagogischen Leitbildes 24./25. Oktober 2000 in Neu-Anspach/Taunus ............................. 136-211 4.2.1 Lukas Rölli Zusammenfassung .................................................................. 136-137 4.2.2 Manfred Gerspach Zum Leitbild „Gewaltfreie Erziehung“: seine anthropologischen, moralischen, sozialen und pädagogischen Grundlagen ................ 138-170 1. Allgemeine Aussagen über das Paradoxon von Erziehung und Gewaltfreiheit .............................................................................. 138 2. Der Einfluss struktureller Gewalt auf die Erziehung ........................... 148 3. Konzept für eine gewaltfreie Erziehung ........................................... 156 Anmerkungen ........................................................................................ 164 Literatur ............................................................................................... 166 4.2.3 Mounira Daoud-Harms Gewaltfördernde und gewalthemmende kulturelle Einflüsse in Migrantenfamilien – Der Einfluss soziokultureller Milieus auf die Erziehungsstile ........................................................... 171-182 1. Lebensgeschichte A ...................................................................... 173 2. Lebensgeschichte B ...................................................................... 175 3. Lebensgeschichte C ...................................................................... 177 4. Lebensgeschichte D ...................................................................... 179 5. Auswertung ................................................................................. 180 Literatur ............................................................................................... 182 341 4.2.4 Barbara Rendtorff Geschlecht, Erziehungshandeln und Gewalt ................................ 183-194 Anmerkungen ........................................................................................ 193 Literatur ............................................................................................... 194 4.2.5 Achim Schröder Bildungsarbeit und „Gewaltfreie Erziehung“ – Ideen zur Umsetzung – Wie man durch Bildungsarbeit die Herausbildung gewaltfreier Erziehung unterstützen kann ............. 195-211 1. Einleiung .................................................................................... 195 2. Konflikte im Erziehungsprozess ...................................................... 196 3. Lernen und Erfahrung ................................................................... 200 4. Methode „Szenisches Spiel“ am Beispiel von Seminaren zur Gewalt- und Konfliktverarbeitung ................................................... 204 5. Abschließende Gedanken .............................................................. 208 Anmerkungen ........................................................................................ 209 Literatur ............................................................................................... 210 4.3 Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege 8./9. Mai 2001 in Neustadt/Bergstraße ...................................... 212-256 4.3.1 Dorothea Frey Zusammenfassung .................................................................. 212-214 4.3.2 Kai-D. Bussmann Gesetzliches Gewaltverbot nach § 1631 Abs. 2 BGB in der Erziehung und Betreuung im familiären Betreuungssystem .................................................................. 215-234 1. Kurze Geschichte der Prügelstrafe ................................................... 215 1.1 Historisches Material .................................................................... 215 1.2 Gegenwärtige Studien ................................................................... 216 1.2.1 Maskierung der Gewalt in kleinen und anderen „Dosierungen“ ............ 217 1.2.2 Neben der Maskierung der Gewalt erfolgt bei den Eltern eine gefährliche Immunisierung gegen Kritik .......................................... 219 2. Die Schwedische Strategie ............................................................. 220 3. Gründe für ein rechtliches Verbot ................................................... 223 3.1 Differenzierter Gewaltbegriff ......................................................... 223 3.2 Pädagogische Aufklärung (Selbstkontrolle) ...................................... 226 3.3 Stimulierung der sozialen Kontrolle (Fremdkontrolle) ........................ 226 3.3.1 Publizität professioneller Ansprechpartner ...................................... 226 3.3.2 Bereitschaft und tatsächliches Interventionsverhalten ...................... 227 3.3.3 Die Privatheit der Familie und ihre Gewalt ....................................... 228 4. Das Modell Recht als Kommunikationsmedium .................................. 230 Literatur ............................................................................................... 233 342 4.3.3 Karin Weiß M.A. Gewaltfreie Erziehung und Gewalt gegen Kinder als Themen in der Qualifizierung ............................................................... 235-245 1. Das Modellprojekt im DJI .............................................................. 235 1.1 Die Arbeit im Modellprojekt ........................................................... 236 1.2 Ergebnisse: Die Praxis der Tagespflege/Qualifizierung im Modellprojekt . 236 1.3 Das DJI-Curriculum ....................................................................... 237 1.4 Der Themenbaustein „Erziehung“ innerhalb des DJI-Curriculums ......... 237 2. Curriculare Elemente zur Qualifizierung in der Tagespflege ................. 240 2.1 Die Inhalte der Veranstaltungen zum Thema Erziehung ...................... 240 Anmerkungen ........................................................................................ 245 4.3.4 Wege zur gewaltfreien Erziehung: Vorstellung des Modellprojekts „Starke Eltern – starke Kinder“ des Deutschen Kinderschutzbundes 246-251 1. Ziele, Inhalte und Anwendung ....................................................... 247 2. Theorien und Methoden ................................................................ 249 3. Anwendungsbereiche und Dauer der Kurse ....................................... 249 4. Multiplikatorenschulung ................................................................ 250 5. Aufbau der Schulung .................................................................... 250 4.3.5 Hans Schmidt, Meinolf Hartmann Männer- und Jungenarbeit des Vereins Jedermann e.V. Heidelberg .. 252-256 4.4 Zwischen Prävention und Intervention 12./13. Juni 2001 in Hildesheim ............................................... 257-272 4.4.1 Lukas Rölli Zusammenfassung .................................................................. 257-259 4.4.2 Joachim Fuß Zwischen Prävention und Intervention Das Recht auf gewaltfreie Erziehung – Grundlagen einer rechtlichen Norm und deren Auswirkungen auf Familien- und Jugendhilfe ...... 260-270 1. Bestandsaufnahme ....................................................................... 260 1.1 Gewalt und Agressionen in Staat und Gesellschaft ............................ 260 1.2 Vom Züchtigungsrecht der Erziehungsberechtigten über das Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperlicher und seelischer Misshandlungen bis hin zum Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung .............................................................. 261 2. Rechtliche Einordnung der Neufassung des § 1631 BGB ..................... 261 2.1 Der verfassungs- und völkerrechtliche Kontext der Neuformulierungen von § 1631 b Abs. 2 BGB .............................................................. 261 2.2 Der strafrechtliche Kontext ............................................................ 262 3. Die Ausgestaltung des § 1631 b Abs. 2 BGB ..................................... 263 3.1 Erziehung .................................................................................... 263 343 3.1.1 Ziele .......................................................................................... 263 3.1.2 Mittel der Erziehung ..................................................................... 263 4. Durchführung von Ermittlungs- und Strafverfahren im Falle von Verstößen gegen das Verbot der gewaltfreien Erziehung und das Verbot von entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen .......................... 265 5. Familienrechtliche und Jugendhilferechtliche Konsequenzen von Verstößen gegen das Gebot der gewaltfreien Erziehung bzw. das Verbot entwürdigender Erziehungsmaßnahmen ................................. 267 6. Möglichkeiten von Hilfe und Beratung ............................................ 269 7. Zusammenfassung ........................................................................ 270 4.4.3 Klaus Münstermann Gewaltfreie Konfliktlösungen fördern, Gewalt verhindern Handlungsmöglichkeiten und notwendige Kompetenzen sowie Ressourcen der freien und öffentlichen Familien- und Jugendhilfe . 271-272 5. Seminar-Bausteine .......................................................................... 273-319 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 Dagmar und Bernward Bickmann „Wo, bitte, geht’s denn lang wo ich hin will?“ (Karl Valentin) Familie als prägende Instanz von Wertorientierungen im gesellschaftlichen „Zusammenspiel“ mit Schule, Arbeitswelt Medien und politischer Teilhabe ............................................... 274-278 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 274 Ausschreibungstext ...................................................................... 274 Bausteine ................................................................................... 275 Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 276 Birgit Engelhard-Schwaab „Was ist los, wenn ich wild werde?“ Bildungswoche für Alleinerziehende in der Katholischen Landvolkshochschule Feuerstein, Ebermannstadt ....... 279-286 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 279 Ausschreibungstext ...................................................................... 280 Bausteine ................................................................................... 280 Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 284 Dorothea Frey „Gewaltfreie Erziehung in der Tagespflege Gewalt gegen Kinder – Rechte der Kinder“ Semiartag im Rahmen der Qualifizierung von Tagesmüttern ........... 287-296 5.3.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 287 5.3.2 Ausschreibungstext ...................................................................... 288 5.3.3 Bausteine ................................................................................... 288 344 5.3.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 290 Anhang ................................................................................................ 291 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 Rainer Hartel Jugend – Gewalt – Familie / Bildungswoche für Jugendliche in der Bildungsstätte Alte Schule Anspach (basa), Neu-Anspach ..... 297-304 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 297 Ausschreibungstext ...................................................................... 298 Bausteine ................................................................................... 299 Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 300 5.5 Christine Heide Gewalt in der Erziehung Eine Fortbildung für Erzieher/innen und Grunschullehrer/innen ..... 305-313 5.5.1 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 305 5.5.2 Ausschreibungstext ...................................................................... 306 5.5.3 Bausteine ................................................................................... 306 5.5.4 Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 308 Literatur ............................................................................................... 311 Anhang ................................................................................................ 311 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 Simeon Reiniger „Starke Kinder – Starke Eltern“© Seminar für Familien, Alleinerziehende und Interessierte in Zusammenarbeit mit dem Kinderschutzbund Lingen (Ems) ............. 314-319 Seminarkontext bzw. Seminarhintergrund ........................................ 314 Ausschreibungstext ...................................................................... 315 Bausteine ................................................................................... 316 Resümee, Folgerungen, Perspektiven .............................................. 318 6. Lukas Rölli Ausgewählte Literaturhinweise .......................................................... 320-329 6.1 Gesetzgebung: Bundestags Drucksachen, Berichte Gesetzesvorlagen ..... 322 6.2 Juristische Literatur ..................................................................... 323 6.3 Soziologische Literatur ................................................................. 324 6.4 Pädagogische und psychologische Literatur ..................................... 326 6.5 Literatur zu Familien-, Kinder- und Jugendpolitik ............................. 327 6.6 Fachdidaktische Beiträge zur familienbezogenen politischen Bildung .... 329 7. Kontakte ......................................................................................... 330-336 7.1 Projekträger ................................................................................ 332 7.1.1 Projektleitung ............................................................................. 332 7.1.2 Weitere Projektträger .................................................................... 332 7.2 Projektgruppe .............................................................................. 333 7.3 Autorinnen und Autoren ............................................................... 335