Deutsch: Heinrich Mann

Transcription

Deutsch: Heinrich Mann
Hausaufgabe aus dem Deutschen
auf den 2. Mai 1996
Fehlerkorrigierte Fassung vom 01. Oktober 2000
Thema 1: In H. Manns ´Professor Unrat´ ist der Titelheld Vertreter und gleichzeitig Außenseiter der Gesellschaft, Tyrann und Anarchist in einer Gestalt. Können Sie diese scheinbar widersprüchliche These bestätigen?
Literarische Erörterung
A) Einleitung: Heinrich Mann kritisiert in seinem Roman „Professor Unrat“ den wilhelminischen Menschen
anhand einer Schulgeschichte aus Sicht eines Gymnasiallehrers, Professor Raat, genannt „Unrat“.
a) Wilhelm II. definiert die Aufgaben der Schule folgendermaßen: „Schon längere Zeit hatte mich der Gedanke
beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um die Ausbreitung sozialistischer
und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch die Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung der staatlichen und der gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben.“ (Kaiser Wilhelm II., nach Wollf, S. 16). b) Die Schule dient als
Untertanenfabrik. Sie wird zum ´Gesinnungsunterricht´ (S. 77: „Gesinnungen drillen“), dient dazu, „staatstreue, gehorsame und pflichteifrige Untertanen“ heranzuziehen. „Pflichttreue und Gehorsam gelten als oberste
Werte innerhalb des Schulsystems: Rechte besitzt der Schüler offenbar nicht. Die Mittel der Disziplinierung
sind vielfältig.“ (Klett:1 S. 51).
B) Hauptteil:
B)1.a) Unrats Interesse „an der Erhaltung des Bestehenden“ (S. 33) deckt sich weitgehend mit den zitierten
Vorstellungen Kaiser Wilhelms II., er ist - nach außen - 26 Jahre lang ein Lehrer ganz im Sinne des Monarchen, dessen Herrschaftsgrundlagen Unrat erhalten und stärken will: „eine einflußreiche Kirche, einen handfesten Säbel, strickten Gehorsam und starre Sitten“ (S. 33). Unrat ist insofern Vertreter des Obrigkeitsstaates
und dessen Denkensweise, er ist ein Repräsentant des Machtstaates: „Was in der Schule vorging, hatte für
Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens. Trägheit kam der Verderblichkeit eines unnützen Bürgers gleich,
Unachtsamkeit und Lachen waren Widerstand gegen die Staatesgewalt, eine Knallerbse leitete eine Revolution
ein. [...] Schickte er einen Schüler ins ´Kabuff´, war ihm dabei zumute wie dem Selbstherrscher, der wieder
einmal einen Haufen Umstürzler in die Strafkolonie versendet.“ (S. 11).
B)2.a) Der Name „Professor Raat“ scheint sich an Ratio [lat.], was soviel wie „Vernunft, Verstand“ bedeutet,
anzulehnen, verleitet zu der Annahme, es handele sich hierbei um einen Lehrer, der mit Weisheit und Überlegenheit handelt. Doch seine Schüler, ja sogar seine Arbeitskollegen haben ihn mit dem Spottnamen „Professor
Unrat“ bedacht. Unrat, der eher als eine hilflose und mitleiderregende Gestalt auftritt (S. 5: „ Sein hölzernes
Kinn [...] und unter seinem fettigen Maurerhut“), wird als entmenschtes Wesen dargestellt, „etwas zwischen
Spinne und Katze“ (S. 183), als ein gemeingefährliches Vieh, „das man leider nicht totschlagen durfte.“ (S. 7).
„Die ganze Stadt macht sich lustig über den Professor, dessen Name ihm in den 26 Jahren seines Schuldienstes
zum Fluch geworden ist. Auf die provozierende Nennung seines Spottnamens reagiert er gleichsam automatisch:“ (Klett: S. 6). b) „Und sofort zuckte der Alte heftig mit den Schultern, immer mit der rechten, zu hohen,
und sandte schief aus seinen Brillengläsern einen grünen Blick, den die Schüler falsch nannten, und der scheu
und rachsüchtig war: der Blick eines Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in den Falten der Mäntel nach
Dolchen späht.“ (S. 5). Unrat macht seinem Namen alle Ehre. Er präsentiert sich als rachsüchtigen Tyrannen.
Auf Grund seines Spottnamens, und weil er „von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und gehaßt
wird“, entwickelte sich Professor Raat zu einem Menschen, der seine Schüler als „Erbfeinde“ betrachtet, die es
zu „fassen“, „hineinzulegen“ und „vom Ziel der Klasse zurückzuhalten“ (S.10f) gilt: Zu Unrat. c) Er wird zu
einem Opfer der Gesellschaft, aber auch zu einem Täter. Ein Teufelskreis des Hasses entfesselt sich. Unrat
benutzt die Literatur als Schülerfalle. Das Aufsatzthema über die „Jungfrau von Orléans“ stellt Unrat so, daß
die Schüler in eine Falle laufen müssen. Denn obwohl in Schillers Stück nur zwei Gebete erwähnt werden, „der
1
Alle Zitate, die mit „Klett:“ gekennzeichnet sind, stammen aus dem Buch „Klett Lektürenhilfen“ : Heinrich Mann: Professor
Unrat von Stefan Wolters, 1. Auflage 1991
Seite 1 von 3
Dauphin ließ sich ja [...] nur die zwei ersten Bitten“ vortragen, sollten sich die Schüler mit dem dritten auseinandersetzen, das „schlechtlings nicht da“ stand. „Unrat hatte sie hineingelegt.“ (S. 9). „Ältere Herren, Schüler aus den ersten Jahrgängen“, erlebten Unrat hingegen als einen menschlichen Lehrer. Ihre Schulzeit ist ihnen
als eine „heitere, von der Zeit zärtlich vergoldeten Jugenderinnerung“ im Gedächtnis geblieben. (S.129). „Als
Hilfslehrer war er noch´n ganz adretter Mensch.“ (S. 27). d) Unrat hat keinerlei Verständnisse für die Bedürfnisse der heranwachsenden Jugendlichen: Weil er selbst „sein Leben ganz in Schulen verbracht hatte, war es
ihm versagt geblieben, die Knaben und ihre Dinge in die Perspektive des Erfahrenen zu schieben“ (S. 11), die
Seite des Lebens kennenzulernen, die man Leben nennt. Unrat fehlt jedes Maß bei dem Umgang mit seinen
Schülern. „Wenn er strafte, tat er es nicht mit dem überlegten Vorbehalt [...]; sondern er strafte im Ernst und
mit zusammengebissenen Zähnen.“ (S. 11). Schule und Privatleben bilden für Unrat eine unzertrennbare Einheit, was „in der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens.“ (S. 11).
e) Unrat folgt seinem inneren „despotischen Trieb“ und vertritt damit den Typus eines Machtmenschens, dessen „Reich“ sich nicht nur auf die Schule beschränkt. Losgelöst von den damals herrschenden sittlichen Vorstellungen, denn der „humanistische Gebildete“ darf sich „des sittlichen Aberglaubens der niederen Stände
billig entraten“ (S. 117), „wußte er, wie man sich Sklaven erhält, wie der Pöbel, der Feind, die fünfzigtausend
aufsässigen Schüler, die ihn bedrängten, zu bändigen waren.“ (S. 33). Als Sklaven zählen nicht nur seine jetzigen Schüler, sondern „alle Bürger“ (S. 44), die er je in seinem Leben unterrichtet hat - ungeachtet der Tatsache, daß diese mittlerweile erwachsen sind und ein selbstständiges Leben führen. (S. 44: „Sie [Rosa Fröhlich]
war kein entlaufener Schüler, der sich widersetzten wollte und sein Leben lang unter die Fuchtel gehörte; so
waren alle in der Stadt, alle Bürger“). Auch gegenüber seiner Wirtschaftlerin verhält er sich als Herrscher:
Unrat fügt sich ihr, um sie davor zu bewahren, sich „gegen ihren Herren“ aufzulehnen. (S. 33).
f) Unrat leidet unter Verfolgungswahn. Weil er in der Eigenschaft als „rachsüchtiger Tyrann“ seine Schüler
wegen vermeintlichen Respektlosigkeiten verfolgt und versucht, sie in ihrer Schülerlaufbahn und damit auch
im späteren Leben zu hindern, lebt er in der ständigen Angst, daß die Schüler sich ihrerseits ständig an ihm
rächen wollen. Unrats Ängstlichkeit nimmt wahnhafte Züge an: „Auf allen Seiten bedroht von Feinden,
durchmaß Unrat die Straßen“. Unrat hat panische Angst, daß jemand „wie einem Kübel schmutzigen Wassers“ seinen Namen aus dem Fenster fallen läßt. „Eine empörte Klasse von fünfzigtausend Schülern tobte um
Unrat umher.“ (S. 26). Einen Höhepunkt erreicht sein Wahnsinn bei der Suche nach Rosa. Weil Lohmann in
seinem Aufsatzheft Rosa Fröhlich erwähnt hat, hat Unrat höllische Angst, Lohmann könne „bei der Künstlerin
Fröhlich sitzen“. Unrat möchte Rosa für sich allein besitzen.
Er ist vollkommen hilflos, kann sich gegen seinem verhaßten Spottnamen nicht zur Wehr setzen und ist den
Anfeindungen der Bürger schutzlos ausgeliefert.
g) Unrat präsentiert sich als Tyrann, als Alleinherrscher, der keinen anderen Menschen an seiner Seite duldet
und von jedem Menschen Respekt ihm gegenüber erwartet. Verweigert man diesen ihm, verfolgt er die Person
- ausgenommen dem Künstlerehepaar Kiepert und der Rosa Fröhlich - bis zu seinem Lebensende. (S. 46: „Ihnen [den Künstlern] verdachte er ihre Respektlosigkeit nicht“, denn „es fehlte ihnen sichtlich jeder Maßstab“).
Respektlos gegenüber Unrat verhält sich zum Beispiel die Kleinstadt, die ihn mit seinem Spottnamen verlacht
und anfeindet. Für Unrat ist sein Name zur Ersatzidentität geworden, „ Gegen so´n Namen kommt auf die
Dauer niemand an.“ (S. 27) was bereits an dem Versprecher „Ich bin nämlich Professor Un - der Professor
Raat“ (S. 20) deutlich wird. So wird Lohmann zum Feind Nr.1 für Unrat, weil er ihm den Respekt versagt, ihn
bei „seinem Namen“, seiner zweiten Identität, zu nennen. „Unrat haßte Lohmann beinahe mehr als die anderen
wegen seiner unnahbaren Widersetzlichkeit und fast auch deshalb, weil Lohmann ihm nicht seinen Namen
gab.“ (S.13): Unrat mußte „diesen Schüler [...] beseitigen“ (S. 15).
B)3.a)Unrat macht sich zum Außenseiter der Gesellschaft, weil er diese in der Eigenschaft als Tyrann verachtet und sich über sie lustig macht. Unrat haßt vor allem seine Kollegen, den Herrn Oberlehrer Hübbenett, „der
Unrat den Respekt versagte, weil er zur Lockerung der Disziplin in der Schule Anlaß gebe“ und hat für ihn
wie für seine Kollegen und die Gesellschaft nichts anderes als „Geringschätzung“ und Haß übrig. (S. 35). „Er
machte sich in seinem bespitzen Kragenmantel lustig über den wohlaufgenommenen, aussichtsreichen Menschen, wie ein höhnischer Strolch, der unerkannt und drohend aus dem Schatten heraus der schönen Welt zusieht“ (S.35).
Im gleichen Maße, wie Unrat die Gesellschaft verachtet, wird er von dieser gehaßt und durch Nennung seines
Spottnamens zum Wahnsinn getrieben.
Seite 2 von 3
B)4.a) Anarchismus, die Lehre, die sich gegen jede Autorität richtet und für die unbeschränkte Freiheit des
Individuums eintritt2, besitzt hier - wie Professor Raats Familienname, der Weisheit und Klugheit assoziiert
und im krassen Widerspruch zu seinem Spottnamen „Unrat“ steht - die gegenteilige Bedeutung.
b) Anarchie ist für Unrat die letzte Möglichkeit der Tyrannei. Anarchie bedeutet im Mannschen Sinne soviel
wie „Zerstörung des Bestehenden“. Lohmann charakterisiert Unrat als einen Menschen, „der lieber untergeht,
als irgendeine Beschränkung“ zu erdulden, (S. 176) und als Unrat dann aus der Schule, seinem Machtbereich,
vertrieben wird, schreitet er zu seinem Zerstörungswerk, das Unrat letztendlich zu Fall bringen wird. In Unrats
Anarchie äußert sich ein Wille zur Macht, der auch vor der physischen Vernichtung anderer nicht zurückschreckt und selbst seine eigene Vernichtung riskiert. „Aus dem Tyrannen war endgültig der Anarchist herausgebrochen.“ (S. 163). c) Das Anarchistische gehörte allerdings schon von Anfang an zu seinem Charakter.
Mit seiner Art, den Unterricht abzuhalten, zerstört er die Bildungsgüter der Schüler: „mit wütender Betonung“
hatte Unrat seinen Schülern „lateinische Verse zugeschrieen“; die „Jungfrau von Orléan“ , von Unrat als
Schülerfalle mißbraucht, ist für die Schüler keine „Bereicherung fürs Leben“, sondern ein Schockerlebnis. So
wird für die Schüler ihre Schulzeit zu einem Martyrium.
Um die Schüler, die Unrat während der Schulzeit nicht „fassen“ konnte, zu Fall zu bringen, ihre Existenz zu
vernichten, veranstaltet er in seiner Wohnung Orgien und Glückspiele, um diese aus den Bahnen der bürgerlichen Existenz zu drängen und in den finanziellen Ruin zu treiben, was ihm auch mehrmals gelingt.
C. Schlußteil: a) Ohne die Künstlerin Fröhlich, die ihn als Lehrer zu Fall gebracht hatte, hätte Unrat nicht zu
seinem Zerstörungswerk schreiten können. Er benutzt Fröhlich als Lockvogel, als ´Instrument´ für seine Rache. Am Ende muß er aber erkennen, daß seine Rechnung nicht aufgeht, und daß er über Rosa Fröhlich nicht
absolut bestimmen kann, daß die Künstlerin Fröhlich ein eigenständiges ´Instrument´ ist. (S. 166f.: „Er sagte
sich [...] die sich auflehnte gegen den Dienst des Hasses“). Unrat ist von Rosa Fröhlich abhängig. Der Tyrann
und Anarchist Unrat wird am Schluß dadurch gestürzt, „weil es ihm zum einen nicht gelungen ist, Rosa zu
seinem willenlosen Werkzeug zu machen, und zum anderen, weil er nicht in der angestrebten Weise seine eigenen Gefühle, Liebe, Haß und Eifersucht, beherrschen kann. Unrat scheitert an der Maßlosigkeit seines Machtwillens: Es gelingt ihm schließlich nicht, die „Macht der Liebe“ zu bezwingen und seinen eigenen tyrannischen
Machtanspruch zu unterstellen.“ (Klett: S. 62).
Unrat scheitert also letztlich an der Person, die den Rachefeldzug Unrats möglich machte: der Künstlerin Rosa
Fröhlich.
2
Quelle: Duden Nr.1 , die Rechtschreibung
Seite 3 von 3