ralf piorr (Hg.) - adhoc Verlag | Home

Transcription

ralf piorr (Hg.) - adhoc Verlag | Home
ralf piorr (Hg.)
Vor Ort
Geschichte und Bedeutung des Bergbaus
in Herne und Wanne-Eickel
Inhalt
5
7
Vorwort / Horst Schiereck
Zum Geleit / Ralf Piorr
I Mutung
10
18
24
Schicht im Schacht ? Bergbau und lokales Gedächtnis / Ralf Piorr
Orte und Menschen Fotografien / Brigitte Krämer
Vom Beginn einer neuen Zeit
Die Anfänge des Bergbaus in Herne / Olaf Schmidt-Rutsch
II Zechen
mit Luftbildern von Hans Blossey
32
40
50
58
66
76
84
96
106
116
126
Constantin / Björn Bowinkelmann
Friedrich der Große / Ralf Piorr
Hannibal 2 / Ralf Piorr
Von der Heydt / Ralf Piorr
Julia / Ralf Piorr
Königsgrube / Gevert Nörtemann
Mont Cenis / Ralf Piorr
Pluto / Björn Bowinkelmann
Shamrock / Ralf Piorr
Teutoburgia / Jan Zweyer
Unser Fritz / Dirk Fleiter
3
4 Inhalt
III Flöze
140
Erinnerungen von Hermann Böse, Gisela Hoffmeister, Johannes Decker,
Klaus Petzel, Günter Vogelsang, Albert Kelterbaum, Bärbel König-Bargel,
Mert Ali Ergün, Karl Repons, Abdallah Bakkahli, Gottfried Zechel und
Ulrich Förster
IV Querschlag
172
180
186
192
200
206
210
216
223
224
Stadtwerdung Zur Entstehung von Herne und Wanne-Eickel / Michael Clarke
Herne 1911 Ein Reisebericht / Aurel von Jüchen
Pütt und Schreibtisch Texte aus der Arbeits- und Lebenswelt
des heimischen Bergbaus / Joachim Wittkowski
Der letzte Kumpelverein Die Glanzzeit des SV Sodingen / Ralf Piorr
Schwerstarbeit Das Leben der Bergarbeiterfrau Anna Schmidt / Uta C. Schmidt
Der Tag, an dem der Kanzler kam
Ludwig Erhard besucht die Zeche Friedrich der Große / Horst Martens
Schlagende Wetter Grubenunglücke und Trauerrituale / Ralf Piorr
Im Wandel Der Bergbau und die Folgen / Kai Wiedermann
Autoren- und Fotografen
Fotonachweis und Dank
6
William Coulson mit Schachtabteufern,
1856. Der englische Schachtbau-Unternehmer wurde von William Thomas
Mulvany engagiert und war verantwortlich für die Einführung des „Tubbing-Ausbaus“ im westfälischen Bergbau. Auf den Mulvany-Zechen Hibernia
in Gelsenkirchen und Shamrock in
Herne, beide 1856 geteuft, wurde der
Schacht nicht mehr ausgemauert,
sondern mit gusseisernen ringförmigen Segmenten ausgekleidet.
I Mutung
10 I Mutung / Schicht im Schacht ?
„Ich habe sie noch gesehen,
die 44er mit Kohle von Erin,
sich drehende Seilscheiben auf Teutoburgia,
die Fördergerüste von Mont Cenis,
auch die Reste von Lothringen und Constantin,
jene qualmende Kokerei von Friedrich dem Großen,
und die schwarzen Häuser.
Mir liegen die faulen Eier
noch auf der Zunge.“ 1
Schicht im Schacht ?
Carsten Wiener
Ralf Piorr
Die industrielle „Skyline“ von Friedrich der Große, 1955
Niemand lebt nur im Augenblick. Wir erinnern uns, erfassen, wer wir
sind und wodurch wir uns von anderen unterscheiden. Ohne das
„schwarze Gold“ sind die Entstehung des Ruhrgebiets und die Stadtgeschichten von Herne und Wanne-Eickel nicht zu denken. Ein Jahrhundert lang fungierte die Kohle als Motor der industriellen Entwicklung
und des Wohlstands. Rund um die Fördertürme des Ruhrgebiets wuchsen Kleinstädte und Dörfer zu Großstädten und industriellen Zentren,
verzweigten sich Verkehrsinfrastruktur und Dienstleistungsgewerbe.
1956, auf dem Höhepunkt der Steinkohleproduktion, erreichte die Kohleförderung an der Ruhr fast 125 Mio. Tonnen, zählte man 142 Schachtanlagen, in denen rund 416.000 Kumpel arbeiteten. Zusätzlich waren
fast 200.000 Menschen über Tage in den Verwaltungen und firmeneigenen Betrieben beschäftigt. Klangvoll waren Namen wie Hibernia,
Shamrock, Friedrich der Große und Zollverein.2
Zur Bedeutung des Bergbaus für das lokale Gedächtnis
I Mutung / Schicht im Schacht ?
Niemals war der Bergbau einfach nur eine Industrie, stets war er aufgeladen mit nationaler Bedeutung. Die Begehrlichkeiten des wilhelminischen Kaiserreichs nach Weltmachtgeltung basierten auf dem außerordentlichen ökonomischen Aufschwung seit Beginn der 1880er Jahre.
Die Klassenkämpfe und die politischen Konflikte der Weimarer Republik
wie der Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 und die französische Ruhrbesetzung
1923/24 konzentrirten sich rund um die Zentren der Schwerindustrie.
Die Nationalsozialisten machten die Kohle zur Basis ihrer Aufrüstungspolitik. Sie diente als Koks zur Stahlproduktion, als Brennstoff für Lokomotiven und zur Herstellung von Treibstoff. Zur Sicherstellung einer
stabilen Produktion wurden bis 1942 Bergleute vom Kriegsdienst freigestellt. Über die Rede des Kreisobmanns Baum der Deutschen Arbeitsfront (DAF) bei der Ehrung der Jubilare der Zeche Julia im August 1942
berichtete die westfälische Landeszeitung „Rote Erde“: „Mit dem Hinweis auf die nicht nur kriegswichtige, sondern sogar kriegsentscheidende Bedeutung der Kohlenproduktion, zeichnete er zugleich ein Bild
von dem Wert der bergmännischen Arbeitskraft, die es vor allem jetzt
in der Zeit größter Entscheidung zur Herbeiführung eines totalen Sieges
voll einzusetzen gilt. Der an ihn gerichteten Forderung wird der deutsche Bergmann in alter, bewährter Verlässlichkeit in Gegenwart wie in
Zukunft gerecht werden.“ Zudem wurden ab 1942 Tausende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene nach dem NS-Prinzip „Arbeit als Beute“ im
Ruhrbergbau unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen eingesetzt.3
Das politische System wechselte, die ökonomische Triebfeder blieb.
„Kohle – der Schlüssel zum Wiederaufbau“ lautete ein Aufruf an die
werktätige Bevölkerung der Stadt im September 1945, der gemeinsam
von Partei- und Gewerkschaftsführern, dem Oberbürgermeister und
dem Leiter des Arbeitsamtes unterzeichnet war. Der Aufruf warb um
Verständnis für den restriktiven Befehl der Militärregierung, dass „alle
Kumpels vor dem Doppelbock der Zeche Pluto-Wilhelm, 1969
11
18 I Mutung / Orte und Menschen
Orte und Menschen
Fotografien von Brigitte Kraemer
„Ich habe keine fertigen Bilder im Kopf. Ich bin dabei, schaue und eine
Situation entwickelt sich. Und dann entstehen Kompositionen, die
etwas vom Leben erzählen“, sagt die in Wanne-Eickel lebende Fotografin Brigitte Kraemer über ihre Arbeit. Und „dabei sein“ heißt für sie:
das alltägliche Ruhrgebiet mit seinen Besonderheiten, seinen Skurrilitäten, seinem Kitsch, seinem Charme und seinem Witz zu erleben. Im
Mittelpunkt ihres künstlerischen Interesses steht dabei der Mensch.
„Zeit ist vielleicht das Wichtigste“, meint die Künstlerin, „wenn man
Menschen fotografieren will, die ganz bei sich sind. Ohne vordergründige Pose, ohne aufgesetztes Lächeln, ohne eine aufwendige Inszenierung mit Licht und Hintergrund. Wenn ich fotografiere, richte ich mein
Interesse auf gewöhnliche Alltagssituationen. Sie müssen sich ergeben.“
Die Serie „Orte und Menschen“ fasst ausgewählte Fotografien Kraemers
mit einem retrospektiven Bezug zum Bergbau zusammen. Im Alltäglichen wird das Besondere sichtbar – in den Kolonien, bei der Taubenzucht oder in der Vorgartengestaltung. Die Vergangenheit des Bergarbeitermilieus illuminiert die Gegenwart. In diesem Sinn kommentiert
auch Dietmar Osses, Leiter des Industriemuseums Zeche Hannover,
Kraemers fotografische Präsenz: „Alle Details, die zunächst als zufälliges Ambiente ins Bild zu geraten scheinen, ergeben auf den zweiten
Blick die Milieuschilderung, die zum historischen Dokument wird. Der
Augenblick erfasst das ganze Leben.“
Rentnerin vor einem Zechenhaus, Röhlinghausen 2001
II Zechen
II Zechen / Friedrich der Grosse
41
Friedrich der Große
Ralf Piorr
„Nehmen wir zum Beispiel die Schachtanlage Friedrich der Große 3/4,
jenes Monstrum, mit dem ich als Jahrgang 57 aufgewachsen bin. Die
Kokerei hat Tag für Tag unsere Luft verpestet zahllose Lastkraftwagen
sind über die Von-Waldthausen-Straße gedonnert, und das große
Grabmal auf dem Horsthauser Friedhof für die verunglückten Kumpel
von 1926 spricht für sich. Wie viele Bergleute haben ihr Leben gelassen
für eine Maloche, die mit Geld kaum zu bezahlen war? (…) Für uns
Kinder galt: Fast alle Papas arbeiteten auf Piepenfritz im Streb oder in
der Hauptverwaltung, im Magazin oder in der Markenkontrolle. In den
Sportvereinen ringsum war das nicht anders. Wer hier Fußball spielte
oder als Zuschauer am Spielfeldrand schimpfte - sie alle hatten denselben Brötchengeber. Außerdem konnte sich wohl in den Jahren niemand vorstellen, dass Piepenfritz einmal nicht mehr existieren würde.
Ganz ausgeschlossen!“1
Aber beginnen wir nicht mit dem Ende, sondern hundert Jahre zuvor.
„Friedrich der Große“ war die erste Zeche auf dem Herner Gebiet,
deren Gründung auf rein preußisch-deutschem Kapital basierte. 1870
begann man mit der Teufe von Schacht 1, vier Jahre später konnten die
ersten Kohlen gefördert werden. Wassereinbrüche, Grubenbrände und
Am 31. März 1978 blies der Spielmannszug der Herner Knappenvereine Piepenfritz das letzte Geleit. Für die 3.200 Mann zählende Belegschaft des Verbundwerkes Friedrich der Große/Mont Cenis, darunter 900 türkische Kollegen,
regelte ein Sozialplan die Zukunft. Arbeitslos wurde niemand.
40 II Zechen / Friedrich der Grosse
Die Schachtanlage Friedrich der Große
3/4 mit dem Blick über den Zechenhafen direkt am Rhein-Herne-Kanal,
den beiden Fördergerüsten, der Aufbereitung und dem Kohlenturm, um
1958. Auf der Anlage befand sich seit
1928 auch die Zentralkokerei aller
Schächte. Das Wahrzeichen Horsthausens, der 130 Meter hohe Kamin „Langer Fritz“, war 1950 errichtet worden.
48 II Zechen / Friedrich der Grosse
Das Bild aus dem Jahr 1978 zeigt die
Schächte 6 (vorn rechts), 3 und 4 der
Zeche Friedrich der Große. Links
neben den Schächten 3 und 4 die
Kohlenwäsche. Links im Bild: das
Hafenbecken des Rhein-HerneKanals, rechts das im Jahr 1968
zunächst als Landesstraße errichtete
Teilstück der A 42.
II Zechen / Friedrich der Grosse
49
Das Bild aus dem Jahr 2010
zeigt das ehemalige Zechengelände Friedrich der Große 3/4/6.
In dem seit 1983 errichteten
Gewerbegebiet Friedrich der
Große sind derzeit laut Angaben der Wirtschaftsförderungsgesellschaft etwa 2800 Menschen beschäftigt. Dort hat sich
unter anderem das LogistikUnternehmen UPS angesiedelt.
Vorn im Bild der Yachthafen
Friedrich der Große, links die
Autobahn 42.
III Flöze
164 III Flöze / Gottfried Zechel
Gottfried Zechel
Gottfried Zechel, Jahrgang 1930, arbeitete 40 Jahre lang als
Bergmann. Nach der Schließung von Mont Cenis 1978
wurde er zur Zeche Hugo nach Gelsenkirchen verlegt. Dort
absolvierte er sein 32. Jahr im Kohlerevier und ließ sich
dann abstufen. Er leitete fortan die Förderung: „Da habe
ich gesehen, dass es unter Tage auch gute Arbeit gibt.“
Zechel wurde 1987 pensioniert und ist Mitglied des Bergmanns-Unterstützungs-Vereins Herne-Sodingen 1885.
Gottfried Zechel nach einer Grubeneinfahrt, 1972
III Flöze / Gottfried Zechel
165
Ich hätte nie geglaubt, dass ich mal so alt werde. 32 Jahre im Kohlenrevier, normalerweise wird man da nicht alt. Und ich hätte nie geglaubt,
dass es hier mal keinen Bergbau mehr geben wird. Ich habe doch
selbst erlebt, wie man auf der Straße den Kohlenlastern hinterher gelaufen ist, falls mal ein Stück von der Ladefläche fällt, und auf dem
Pütt haben wir Sonntagsschichten gefahren.
per, Lehrhauer, Hauer, Ortsältester, Kolonnenführer, Aufsichtsführer,
Steiger und Reviersteiger. Den Hauerkurs musste ich allerdings dreimal
wiederholen. Wenn man dort zu oft gefehlt hatte, war es vorbei. Aber
wenn ich von der Morgenschicht kam, bin ich erst bei Nöthe rein und
habe ein paar genommen. Und dann habe ich gedacht: „Scheiß auf
den Hauerkurs, das kannst du doch.“
Ich kam 1947 von Pirna an der Elbe nach Herne. Nach dem Wunsch
meiner Mutter sollte ich Tintenpisser werden, denn mein Stiefvater war
Schmied und kam immer dreckig nach Hause. Dann hörte ich, dass
man mich in den Uranbergbau schicken wollte, weil ich in der HJ gewesen war. Also packte ich meine Sachen und fuhr mit dem Zug zu
einem Cousin nach Köln, mal im Bremserhäuschen, mal auf dem Dach,
und etwas zu essen, musste man sich selbst organisieren. Es war erbärmlich. Auf dem Kölner Bahnhof kam ich mit einem Leipziger ins
Gespräch. „Du“, sagte er, „Herne ist die goldene Stadt. Da gibt es Arbeit
unter Tage und da gibt es Essen!“ Ich musste gar nicht überlegen und
bin zurück nach Herne gefahren und dort sofort zur Zeche Mont Cenis.
Nach der ärztlichen Untersuchung bekam ich meinen Anlegeschein und
die Markennummer 199. Am nächsten Tag habe ich im Revier die erste
Schicht verfahren. Da bin ich sofort vor Ort zum Schüppen gekommen.
Ein paar Tage später hieß es: „Du gehst in den steilen Streb. Der Rutschenmeister zeigt dir, wie das geht. Dann kannste Kohlen machen.“
Natürlich bin ich bergbaubewusst, aber ich weiß auch, wie es wirklich
war. Dieses Gerede von der „großen Kameradschaft“ ist zum Teil auch
dummes Geschwätz. Ich habe vier Jahre im Bullenkloster im Ostbachtal
gewohnt. Wenn es vor der Währungsreform Brot gab, wurden Stücke
aus dem Spind geklaut. Geld und Klamotten ebenso. Auch unter Tage
war nicht immer die große Nähe da. Einmal war ich mit einem Kumpel
beim Rauben. Wir sollten noch verwertbares Material aus dem Grubenbau herausholen. Er war weit vorgegangen und plötzlich brach das
Hangendes nach und klemmte ihm den Fuß ein. Er fing sofort an zu
schreien. Ich rief ebenfalls um Hilfe, aber keiner kam, obwohl Leute in
der Nähe waren. Was sollte ich machen? Ich dachte: „Mensch, gehst du
dahin? Entweder geht der kaputt oder wir gehen beide kaputt.“ Wenn
ich ein Beil dabei gehabt hätte, hätte ich ihm das Bein abgehauen, um
ihn herauszuziehen. Schließlich bin ich nach vorne und habe die erste
Steinplatte hochgehoben und sofort wieder zurück. Dann das gleiche
mit der zweiten. Beim dritten Mal habe ich ihn gepackt und rausgezogen. Er hatte sich die Knochen kaputt geschrammt, aber sein Bein ist
heute noch dran. Als alles vorbei war, kamen langsam auch die Kumpels aus den anderen Abschnitten, um zu gucken, was passiert war.
Die Arbeit unter Tage hat mir nichts ausgemacht. Ich hatte Kohldampf,
und da gab es zu essen. Es gibt keine schöne Arbeit, es gibt nur gute
und schlechte. Die beschissenste Arbeit ist, wenn das Flöz unter 1.60
Meter oder sogar unter ein Meter ist. Man kriecht in so einen Schnürriemen rein mit dem schweren Abbauhammer in der Hand. Alles, was
im Kohlenrevier an Arbeiten anfällt, habe ich gemacht: Gedingeschlep-
Beim Unglück 1965 war ich in der Grubenwehr. Neun Leute sind umgekommen, vier haben wir unter Tage lassen müssen. Nach dem es geknallt hatte, sind wir als Trupp mit Maske und Flammenschutzanzug
166 III Flöze / Gottfried Zechel
Karte von Flöz Karl der Schachtanlage Mont
Cenis mit einer Verortung der Verletzten und
Toten in der Abbaustrecke nach dem Grubenunglück am 22. Juni 1965. Die Karte
gehört zum Material der Untersuchungskommission des Bergamtes, die ihren 85seitigen Schlussbericht am 9. März 1966
vorlegte. Abschließend heißt es dort: „Aus
den Maßnahmen, die getroffen oder möglicherweise unterlassen worden sind, ist es
nicht möglich, eine so große Fahrlässigkeit
abzuleiten, dass daraufhin eine Strafverfolgung eingeleitet werden könnte, die Aussicht auf Erfolg hätte.“
III Flöze / Gottfried Zechel
167
Hunderte von Menschen umsäumten am 22. Juli
1963 den Eingang von Mont Cenis, während das
„Clinomobil“ des Bergmannsheil Bochum zwischen der Zeche und dem Krankenhaus unentwegt hin- und herpendelte.
runter zur 7. Sohle, 1.000 Meter Tiefe. Nach 400 Metern im Streb habe
ich jemanden rufen hören. Da lag Paul Wirtulla, eingeklemmt, nackend, nur Schuhe an, dem hatte es alles vom Körper gerissen. Er sagte
uns, dass am Hilfsantrieb noch Leute waren. Für ihn haben wir über
das Telefon Hilfe geordert: „Mannschaft kommen lassen, Schleifkorb.“
Er ist später im Bergmannsheil an seinen Verbrennungen gestorben.
Wir sind weiter und kamen an eine Störung, das heißt, das Abbauflöz
ging mit einem Knick in halbsteile Lagerung über. Wir gingen auf der
Versatzseite neben dem Panzerförderer her. Und genau in dem Knick
lag ein Toter. Ich bin auf den Panzer gestiegen, um ihn herauszuziehen.
In dem Augenblick wurde es ganz ruhig. Als ob die Stille jegliches Geräusch in sich aufgesogen hätte. Und dann bin ich durch die Gegend
geflogen. Das war die dritte und schwerste Explosion, die durch den
Streb gezogen war. Wir hatten alle Verbrennungen. Da sind wir nur
noch raus und haben den Mann nicht mehr mitgenommen. Und dann
war Schluss, dann wurde zugemauert.
Es ist nicht einfach, wenn man einen Kumpel liegen lassen muss. Ich
habe ihn ja an der Hand gehabt. Mit allem, was dann kam, war man
allein. Wir hatten keinen Psychologen. Wenn ich danach einen getrunken hatte, habe ich gesponnen und bin unter die Couch gekrochen,
weil ich dachte, die Flamme kommt. Sechs Wochen habe ich gebraucht,
bis es wieder normal wurde. Wenn ich darüber im Detail rede, kommen mir heute noch die Tränen. Ich kann verstehen, wenn Väter ihren
Söhnen gesagt haben: „Du wirst kein Bergmann.“ Die haben Recht. Es
ist nicht einfach, das alles mitzumachen.
IV Querschlag
IV Querschlag / Pütt und Schreibtisch
Kohlegewinnung von Hand. Der Streb ist mit Holzstempeln, Schalhölzern und Spitzenverzug gesichert. Die Stempel weisen bereits erhebliche Brüche auf. Die engen räumlichen Verhältnisse sind deutlich zu erkennen. Per Hand wird die Kohle in die nebenstehende Karre geschippt.
191
Streckenvortrieb in geneigter Lagerung mit Eisenausbau. Die Eisen-Segmente konnten
größere Kräfte aufnehmen und schoben sich bei größerer Belastung zusammen, so
dass sie nicht brachen. An der Decke sieht man eine elektrische Lampe, die zur Orientierung und Signalgebung diente.
192 IV Querschlag / SV Sodingen
Der letzte
Kumpelverein
Die Glanzzeit des SV Sodingen
Ralf Piorr
Zu Anfang hat Hännes Adamik noch vor Kohle gearbeitet, später war er
Anschläger auf Mont Cenis 2/4. Leo Konopczynski war Fördermaschinist.
„Das war schon was Besseres“, erinnert sich Torhüter Alfred Schmidt an
die Tage, als der SV Sodingen Fußballgeschichte in der Oberliga West
schrieb. „Mich hat die Mannschaft mal zu einem Nachholspiel gegen
Schalke von der Arbeit abgeholt. Mit dem Bus vorgefahren, Schuhe rein
und dann ab. Ich habe als Schweißer Akkord gearbeitet. Nach acht
Stunden Arbeit kam das Torwart-Training: Sandkuhle und immer hin
und her. Mir ist dann abends beim Essen manchmal der Löffel vor Erschöpfung aus der Hand gefallen.“ Das Sodinger Fußball-Wunder begann nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer goldenen Generation von
Fußballern. Die jungen Spieler zogen von Haus zu Haus, um eine freiwillige Kohlenspende für die Mannschaft einzusammeln. Der „Schwatte“
Hännes Adamik immer voran, schließlich war der Torjäger der Bekann-
Alfred Schmidt mit seiner alten Torwartkappe, 2006
IV Querschlag / SV Sodingen
teste. Als man genug hatte, stapelte man die Kohlensäcke auf einen
Lastwagen, fuhr in die Textilstadt Wuppertal und tauschte das begehrte
„schwarze Gold“ gegen einen Satz neuer Kluften ein. Trainiert wurde
zum Teil in der Dunkelheit auf einem alten Aschenplatz, „Aschenkippe“
genannt. Irgendwann spendierte die Zechenleitung einen Scheinwerfer,
damit wenigstens eine Ecke des Spielfeldes ausgeleuchtet werden
konnte. „Wir haben die Bälle mit weißer Farbe vom Pütt angemalt,
damit man die überhaupt sehen konnte“, sagt Alfred Schmid und
grinst amüsiert.
Innerhalb von wenigen Jahren gelang der Bergarbeiter-Truppe der
Durchmarsch von ganz unten bis zur Oberliga West (1952), der damals
höchsten Spielklasse. „Als wir den Aufstieg bei einem Auswärtsspiel in
Bielefeld geschafft hatten und mit einem alten Bus zurückkamen, da
waren die Straßen schwarz vor Menschen. Wir mussten aussteigen und
zu Fuß bis zu unserem Vereinslokal gehen“, sagt Schmidt, der aufgrund
seiner Gelenkigkeit und seiner Paraden bald den Beinamen „Der Gummimann“ erhielt. Er ist der letzte Lebende der „drei Idole“, Stürmer
Hännes Adamik (†2005), Verteidiger Leo Konopczynski (†2003) und
Schmidt selbst, die in ihrer gesamten Karriere nur in Sodingen gespielt
haben und wesentlich zum Erfolg des Vereins beitrugen.1
Sodingen - das war Fußball im Schatten des Förderturms, umgeben
von den typischen Bergarbeiterkolonien mit ihren unverputzten, rußgeschwärzten Ziegelbauten; und das war die Zeche Mont Cenis, die über
Nirgendwo sonst lagen Bergbau und Fußball so nah beieinander
wie in Sodingen. Die Spieler Nowak, Geesmann und Schuhmacher
bahnen sich einen Weg durch die Menschenmenge, 1953.
193
IV Querschlag / Schlagende Wetter
Schlagende Wetter
Grubenunglücke und Trauerrituale
Ralf Piorr
Die Knappen sind in die Jahre gekommen. An diesem unwirtlichen
Novembertag tragen sie ihre Fahnen über den Friedhof, die Grubenlampe in der Hand und den Ehrenkranz voran. An ihren schwarzen
Uniformen blitzen die goldenen Knöpfe. Das Gedenken zum Volkstrauertag ist bei ihnen zum Ritual geworden. „Tief in der Erde Schoß, ist
unser Los.“ Im Zeichen von Schlägel und Eisen halten sie die Erinnerung wach. „Man wollte die Opfer des Bergbaus nicht vergessen, das
hatte man einst geschworen, und dieses Versprechen halten wir aufrecht“, sagt Manfred König, Jahrgang 1940, Geschäftsführer des Herner
Rings, in dem die sieben verbliebenen Herner und Wanne-Eickeler
Knappenvereine mit ihren etwa 700 Mitgliedern organisiert sind. „Wir
sind älter und weniger geworden“, räumt König ein, „aber an unserer
Tradition halten wir fest. Denn der Bergbau, der nicht nur diese Region
hat entstehen lassen, hat doch vielen Kumpels das Leben gekostet.“
Tatsächlich ist die Bergbaugeschichte auch eine Geschichte der Grubenunglücke. Je weiter der Ruhrbergbau im 19. Jahrhundert nördlich einer
Linie der heutigen A40 voran schreitet, desto größer werden die Gefah-
211
ren. Lagen im südlichen Ruhrgebiet die Flöze noch oberflächennah, so
muss man im nördlichen Teil Tiefbauschächte durch die starke Mergelschicht treiben, um die reichhaltigen Fettkohlevorkommen zu erschließen. Aber die begehrte Kohle birgt auch neue Risiken. Da die Flöze von
einer Kreideschicht überlagert sind, konnte die Kohle nicht über die
Jahrhunderte hinweg „ausgasen“. Das eingeschlossene Methangas
wird erst beim Abbau frei und ist bei einer bestimmten Konzentration
explosiv: Schlagwetterexplosionen fordern seit 1860 auf jeder der neu
entstehenden Schachtanlagen ihre Toten.1 Und oft sind sie nur Auslöser
für Kohlenstaubexplosionen, in deren Folge gewaltige Feuerwalzen
und Druckwellen durch die Strecken unter Tage rasen. Dazu kommen
die Gefahren durch Grubenbrände, Steinschläge und Strebbrüche.
Von 1859 bis 1973 werden für Herne und Wanne-Eickel über 100 Grubenunglücke mit tödlichem Ausgang notiert, bei denen über 600 Bergleute umkamen. Wohl jeder Bergmann in den Zeiten vor der Vollmechanisierung unter Tage hat in seinem Arbeitsleben mehrere tödliche
Unglücke in der Grube, im Revier oder auf seinem Pütt miterlebt. Noch
Mitte der 1950er Jahre verunglücken im Ruhrbergbau monatlich etwa
45 Bergleute tödlich, dabei nehmen die großen Katastrophen der Zeit
(Schlagwetterexplosion auf der Schachtanlage Grimberg 3/4 in Kamen
mit 405 Toten am 20. Februar 1946 und die Schlagwetterexplosionen
auf der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirchen am 20. Mai 1950 mit 78
Toten) an der Gesamtzahl der Opfer nur einen geringen Prozentsatz ein.
Vor allem sind es Arbeitsunfälle, die unter den erschwerten Bedingungen fatale Folgen haben. So berichtet am 19. März 1951 die Herner Zeitung in einer Kurznotiz: „In der Nacht zum Samstag verunglückte im
Untertagebetrieb der Zeche Julia, Revier 4, der 27jährige Hauer Erich
Weinberg beim Umsetzen von leeren Wagen tödlich. Der Unfall ereignete sich, als das Haspelseil der Streckenförderung riss.“
210 IV Querschlag / Schlagende Wetter
Trauerfeier für die Opfer des
Grubenunglücks auf Shamrock,
1. September 1959. Bereits am
29. Juli 1959 wurden Johann
Irlbacher, Wilhelm Frerichs,
Hans Fest, Johann Hadas,
Wolfgang Meier, Wolfgang
Müller und Lothar Paul bei
einem Strebbruch auf der 750Meter-Sohle im Flöz Präsident
verschüttet. Schnell wurde
klar, dass für die sieben Vermissten keine Überlebenschance
mehr bestand. Die Bergung
der Leichen dauerte einen
Monat. An dem Tag als sechs
Grubenopfer auf dem Wiescherfriedhof beerdigt wurden,
wurde auch die letzte Leiche,
der Reviersteiger Johann Irlbacher, geborgen - 34 Tage nach
dem Unglück.
216 IV Querschlag / Im Wandel
Im Wandel
Werden, verdrängen, werden:
der Bergbau und die Folgen
Kai Wiedermann
Der Begriff Strukturwandel ist so beliebt wie undefiniert. Er umschreibt
einen Prozess, der stattfinden muss, weil ein anderer Prozess erst seinen Höhepunkt erreicht und dann umkippt. Der Vormarsch der Montanindustrie hat über Jahrzehnte hinweg ein landschaftlich geprägtes
Leben umgekrempelt. Aus Monokultur eins entwickelt der Mensch
Monokultur zwei - Vergehen, Verdrängen, Werden. Es entsteht das, was
im 21. Jahrhundert unter dem Begriff „Boom“ firmiert. Ein Boom ist
sattsam, aber hat auch seine Schattenseiten. Er bedeutet Reichtum,
Planlosigkeit und Ausbeutung. Wer das Geschehen in Herne und
Wanne-Eickel ins Heute übersetzt, würde es womöglich so formulieren:
China lässt grüßen.
Um 1850 ist Herne auf der Landkarte kaum verzeichnet - „ein kleines
Dorf mit wenigen hundert Einwohnern, inmitten seiner schönen Waldungen und in unmittelbarer Nähe der Ausläufer des Ruhrgebirges“.1
In vielen Schritten wachsen durch die Ansiedlung von Zechen, durch
den Abbau von Rohstoffen und das Verteilen von Geld zwei Städte
heran, die nach ihrer Verschmelzung 1975 weit über 200.000 Einwohner
zählen. Was der Bergbau innerhalb von 125 Jahren auslöst, ist nur
schwer zu begreifen: Mentalitäten, Landschaften, Kultur und Wirtschaft
wandeln sich in einem Ausmaß, den das Wort „Struktur“ nicht treffend
bezeichnet.
Als der Bergbau gegen Anfang der 1960er Jahre mit Wucht in seine
finale Krise stürzt, ist klar: Den Menschen in Herne und Wanne-Eickel
steht der nächste Wandel bevor. Keine 20 Jahre später schließen mit
„Pluto-Wilhelm“ 1976 und „Friedrich der Große/Mont Cenis“ 1978 die
letzten von elf eigenständigen Zechen in Herne und Wanne-Eickel.
Nicht einmal zwei Jahrzehnte hat das Sterben gedauert - ein schneller
Tod, historisch betrachtet. Was folgt, ist das Ringen um Zukunft, das bis
heute anhält. Dem Werden, Verdrängen und Vergehen, so der Plan, soll
neues Werden folgen. Undenkbar, dass sich Herne und Wanne-Eickel
zu dem zurückentwickeln, was sie waren: Dörfer.
Phasen und Kategorien
Bei genauer Betrachtung muss die Geschichte des Strukturwandels in
mehrere Phasen und Kategorien unterteilt werden. Ende der 1920er
Jahre fordert die erste Welle der Rationalisierung im Bergbeu ihren Tribut (Teutoburgia, 1925; Hannibal 2, 1926; Unser Fritz 1/4, 1928). Aber sie
macht aus Zechen nicht zwangsläufig tote Orte, sie wandelt sie zu neuen
Produktionsstätten. So entwickelt sich ein Wirtschaftszweig, der in
leicht abgewandelter Form bis heute existiert: die chemische Industrie.
Sasol Solvents (Shamrock, 1928 und 1947) oder Evonik Degussa (Hannibal 2, 1936) produzieren noch heute an ehemaligen Zechenstandorten.
Die Chemie gilt dabei als relativ stabiler Wirtschaftszweig mit etwa 800
Arbeitsplätzen. Der erste Wandel ist zart. Er gründet sich auf den Bergbau und hinterlässt nur wenige Brachen.
IV Querschlag / Im Wandel
Rund um den Malakowturm auf Unser-Fritz 1/4 unweit der Autobahn 42 sollen sich Unternehmen der Logistik-Branche ansiedeln.
217
Gestaltung: Kerstin Rau
Konzept: Ralf Piorr, Kerstin Rau, Kai Wiedermann
Bildbearbeitung: Harald Krug
Druck: Druckverlag Kettler GmbH
adhoc Verlag
Ralf Piorr & Kerstin Rau
Goethestr. 51
D-44623 Herne
www.adhoc-verlag.de
1. Auflage Dezember 2010
© adhoc Verlag, 2010
ISBN 978-3-9814087-0-6
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet
dieses Buch unter http://dnb/ddb/de
Alle Rechte vorbehalten
Mit freundlicher Unterstützung
Der Film „Vor Ort – Erinnerungen an den Bergbau in Herne und Wanne-Eickel“
von Young-Soo Chang und Ralf Piorr unter: www.youtube.com