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ralf piorr (Hg.) Vor Ort Geschichte und Bedeutung des Bergbaus in Herne und Wanne-Eickel Inhalt 5 7 Vorwort / Horst Schiereck Zum Geleit / Ralf Piorr I Mutung 10 18 24 Schicht im Schacht ? Bergbau und lokales Gedächtnis / Ralf Piorr Orte und Menschen Fotografien / Brigitte Krämer Vom Beginn einer neuen Zeit Die Anfänge des Bergbaus in Herne / Olaf Schmidt-Rutsch II Zechen mit Luftbildern von Hans Blossey 32 40 50 58 66 76 84 96 106 116 126 Constantin / Björn Bowinkelmann Friedrich der Große / Ralf Piorr Hannibal 2 / Ralf Piorr Von der Heydt / Ralf Piorr Julia / Ralf Piorr Königsgrube / Gevert Nörtemann Mont Cenis / Ralf Piorr Pluto / Björn Bowinkelmann Shamrock / Ralf Piorr Teutoburgia / Jan Zweyer Unser Fritz / Dirk Fleiter 3 4 Inhalt III Flöze 140 Erinnerungen von Hermann Böse, Gisela Hoffmeister, Johannes Decker, Klaus Petzel, Günter Vogelsang, Albert Kelterbaum, Bärbel König-Bargel, Mert Ali Ergün, Karl Repons, Abdallah Bakkahli, Gottfried Zechel und Ulrich Förster IV Querschlag 172 180 186 192 200 206 210 216 223 224 Stadtwerdung Zur Entstehung von Herne und Wanne-Eickel / Michael Clarke Herne 1911 Ein Reisebericht / Aurel von Jüchen Pütt und Schreibtisch Texte aus der Arbeits- und Lebenswelt des heimischen Bergbaus / Joachim Wittkowski Der letzte Kumpelverein Die Glanzzeit des SV Sodingen / Ralf Piorr Schwerstarbeit Das Leben der Bergarbeiterfrau Anna Schmidt / Uta C. Schmidt Der Tag, an dem der Kanzler kam Ludwig Erhard besucht die Zeche Friedrich der Große / Horst Martens Schlagende Wetter Grubenunglücke und Trauerrituale / Ralf Piorr Im Wandel Der Bergbau und die Folgen / Kai Wiedermann Autoren- und Fotografen Fotonachweis und Dank 6 William Coulson mit Schachtabteufern, 1856. Der englische Schachtbau-Unternehmer wurde von William Thomas Mulvany engagiert und war verantwortlich für die Einführung des „Tubbing-Ausbaus“ im westfälischen Bergbau. Auf den Mulvany-Zechen Hibernia in Gelsenkirchen und Shamrock in Herne, beide 1856 geteuft, wurde der Schacht nicht mehr ausgemauert, sondern mit gusseisernen ringförmigen Segmenten ausgekleidet. I Mutung 10 I Mutung / Schicht im Schacht ? „Ich habe sie noch gesehen, die 44er mit Kohle von Erin, sich drehende Seilscheiben auf Teutoburgia, die Fördergerüste von Mont Cenis, auch die Reste von Lothringen und Constantin, jene qualmende Kokerei von Friedrich dem Großen, und die schwarzen Häuser. Mir liegen die faulen Eier noch auf der Zunge.“ 1 Schicht im Schacht ? Carsten Wiener Ralf Piorr Die industrielle „Skyline“ von Friedrich der Große, 1955 Niemand lebt nur im Augenblick. Wir erinnern uns, erfassen, wer wir sind und wodurch wir uns von anderen unterscheiden. Ohne das „schwarze Gold“ sind die Entstehung des Ruhrgebiets und die Stadtgeschichten von Herne und Wanne-Eickel nicht zu denken. Ein Jahrhundert lang fungierte die Kohle als Motor der industriellen Entwicklung und des Wohlstands. Rund um die Fördertürme des Ruhrgebiets wuchsen Kleinstädte und Dörfer zu Großstädten und industriellen Zentren, verzweigten sich Verkehrsinfrastruktur und Dienstleistungsgewerbe. 1956, auf dem Höhepunkt der Steinkohleproduktion, erreichte die Kohleförderung an der Ruhr fast 125 Mio. Tonnen, zählte man 142 Schachtanlagen, in denen rund 416.000 Kumpel arbeiteten. Zusätzlich waren fast 200.000 Menschen über Tage in den Verwaltungen und firmeneigenen Betrieben beschäftigt. Klangvoll waren Namen wie Hibernia, Shamrock, Friedrich der Große und Zollverein.2 Zur Bedeutung des Bergbaus für das lokale Gedächtnis I Mutung / Schicht im Schacht ? Niemals war der Bergbau einfach nur eine Industrie, stets war er aufgeladen mit nationaler Bedeutung. Die Begehrlichkeiten des wilhelminischen Kaiserreichs nach Weltmachtgeltung basierten auf dem außerordentlichen ökonomischen Aufschwung seit Beginn der 1880er Jahre. Die Klassenkämpfe und die politischen Konflikte der Weimarer Republik wie der Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 und die französische Ruhrbesetzung 1923/24 konzentrirten sich rund um die Zentren der Schwerindustrie. Die Nationalsozialisten machten die Kohle zur Basis ihrer Aufrüstungspolitik. Sie diente als Koks zur Stahlproduktion, als Brennstoff für Lokomotiven und zur Herstellung von Treibstoff. Zur Sicherstellung einer stabilen Produktion wurden bis 1942 Bergleute vom Kriegsdienst freigestellt. Über die Rede des Kreisobmanns Baum der Deutschen Arbeitsfront (DAF) bei der Ehrung der Jubilare der Zeche Julia im August 1942 berichtete die westfälische Landeszeitung „Rote Erde“: „Mit dem Hinweis auf die nicht nur kriegswichtige, sondern sogar kriegsentscheidende Bedeutung der Kohlenproduktion, zeichnete er zugleich ein Bild von dem Wert der bergmännischen Arbeitskraft, die es vor allem jetzt in der Zeit größter Entscheidung zur Herbeiführung eines totalen Sieges voll einzusetzen gilt. Der an ihn gerichteten Forderung wird der deutsche Bergmann in alter, bewährter Verlässlichkeit in Gegenwart wie in Zukunft gerecht werden.“ Zudem wurden ab 1942 Tausende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene nach dem NS-Prinzip „Arbeit als Beute“ im Ruhrbergbau unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen eingesetzt.3 Das politische System wechselte, die ökonomische Triebfeder blieb. „Kohle – der Schlüssel zum Wiederaufbau“ lautete ein Aufruf an die werktätige Bevölkerung der Stadt im September 1945, der gemeinsam von Partei- und Gewerkschaftsführern, dem Oberbürgermeister und dem Leiter des Arbeitsamtes unterzeichnet war. Der Aufruf warb um Verständnis für den restriktiven Befehl der Militärregierung, dass „alle Kumpels vor dem Doppelbock der Zeche Pluto-Wilhelm, 1969 11 18 I Mutung / Orte und Menschen Orte und Menschen Fotografien von Brigitte Kraemer „Ich habe keine fertigen Bilder im Kopf. Ich bin dabei, schaue und eine Situation entwickelt sich. Und dann entstehen Kompositionen, die etwas vom Leben erzählen“, sagt die in Wanne-Eickel lebende Fotografin Brigitte Kraemer über ihre Arbeit. Und „dabei sein“ heißt für sie: das alltägliche Ruhrgebiet mit seinen Besonderheiten, seinen Skurrilitäten, seinem Kitsch, seinem Charme und seinem Witz zu erleben. Im Mittelpunkt ihres künstlerischen Interesses steht dabei der Mensch. „Zeit ist vielleicht das Wichtigste“, meint die Künstlerin, „wenn man Menschen fotografieren will, die ganz bei sich sind. Ohne vordergründige Pose, ohne aufgesetztes Lächeln, ohne eine aufwendige Inszenierung mit Licht und Hintergrund. Wenn ich fotografiere, richte ich mein Interesse auf gewöhnliche Alltagssituationen. Sie müssen sich ergeben.“ Die Serie „Orte und Menschen“ fasst ausgewählte Fotografien Kraemers mit einem retrospektiven Bezug zum Bergbau zusammen. Im Alltäglichen wird das Besondere sichtbar – in den Kolonien, bei der Taubenzucht oder in der Vorgartengestaltung. Die Vergangenheit des Bergarbeitermilieus illuminiert die Gegenwart. In diesem Sinn kommentiert auch Dietmar Osses, Leiter des Industriemuseums Zeche Hannover, Kraemers fotografische Präsenz: „Alle Details, die zunächst als zufälliges Ambiente ins Bild zu geraten scheinen, ergeben auf den zweiten Blick die Milieuschilderung, die zum historischen Dokument wird. Der Augenblick erfasst das ganze Leben.“ Rentnerin vor einem Zechenhaus, Röhlinghausen 2001 II Zechen II Zechen / Friedrich der Grosse 41 Friedrich der Große Ralf Piorr „Nehmen wir zum Beispiel die Schachtanlage Friedrich der Große 3/4, jenes Monstrum, mit dem ich als Jahrgang 57 aufgewachsen bin. Die Kokerei hat Tag für Tag unsere Luft verpestet zahllose Lastkraftwagen sind über die Von-Waldthausen-Straße gedonnert, und das große Grabmal auf dem Horsthauser Friedhof für die verunglückten Kumpel von 1926 spricht für sich. Wie viele Bergleute haben ihr Leben gelassen für eine Maloche, die mit Geld kaum zu bezahlen war? (…) Für uns Kinder galt: Fast alle Papas arbeiteten auf Piepenfritz im Streb oder in der Hauptverwaltung, im Magazin oder in der Markenkontrolle. In den Sportvereinen ringsum war das nicht anders. Wer hier Fußball spielte oder als Zuschauer am Spielfeldrand schimpfte - sie alle hatten denselben Brötchengeber. Außerdem konnte sich wohl in den Jahren niemand vorstellen, dass Piepenfritz einmal nicht mehr existieren würde. Ganz ausgeschlossen!“1 Aber beginnen wir nicht mit dem Ende, sondern hundert Jahre zuvor. „Friedrich der Große“ war die erste Zeche auf dem Herner Gebiet, deren Gründung auf rein preußisch-deutschem Kapital basierte. 1870 begann man mit der Teufe von Schacht 1, vier Jahre später konnten die ersten Kohlen gefördert werden. Wassereinbrüche, Grubenbrände und Am 31. März 1978 blies der Spielmannszug der Herner Knappenvereine Piepenfritz das letzte Geleit. Für die 3.200 Mann zählende Belegschaft des Verbundwerkes Friedrich der Große/Mont Cenis, darunter 900 türkische Kollegen, regelte ein Sozialplan die Zukunft. Arbeitslos wurde niemand. 40 II Zechen / Friedrich der Grosse Die Schachtanlage Friedrich der Große 3/4 mit dem Blick über den Zechenhafen direkt am Rhein-Herne-Kanal, den beiden Fördergerüsten, der Aufbereitung und dem Kohlenturm, um 1958. Auf der Anlage befand sich seit 1928 auch die Zentralkokerei aller Schächte. Das Wahrzeichen Horsthausens, der 130 Meter hohe Kamin „Langer Fritz“, war 1950 errichtet worden. 48 II Zechen / Friedrich der Grosse Das Bild aus dem Jahr 1978 zeigt die Schächte 6 (vorn rechts), 3 und 4 der Zeche Friedrich der Große. Links neben den Schächten 3 und 4 die Kohlenwäsche. Links im Bild: das Hafenbecken des Rhein-HerneKanals, rechts das im Jahr 1968 zunächst als Landesstraße errichtete Teilstück der A 42. II Zechen / Friedrich der Grosse 49 Das Bild aus dem Jahr 2010 zeigt das ehemalige Zechengelände Friedrich der Große 3/4/6. In dem seit 1983 errichteten Gewerbegebiet Friedrich der Große sind derzeit laut Angaben der Wirtschaftsförderungsgesellschaft etwa 2800 Menschen beschäftigt. Dort hat sich unter anderem das LogistikUnternehmen UPS angesiedelt. Vorn im Bild der Yachthafen Friedrich der Große, links die Autobahn 42. III Flöze 164 III Flöze / Gottfried Zechel Gottfried Zechel Gottfried Zechel, Jahrgang 1930, arbeitete 40 Jahre lang als Bergmann. Nach der Schließung von Mont Cenis 1978 wurde er zur Zeche Hugo nach Gelsenkirchen verlegt. Dort absolvierte er sein 32. Jahr im Kohlerevier und ließ sich dann abstufen. Er leitete fortan die Förderung: „Da habe ich gesehen, dass es unter Tage auch gute Arbeit gibt.“ Zechel wurde 1987 pensioniert und ist Mitglied des Bergmanns-Unterstützungs-Vereins Herne-Sodingen 1885. Gottfried Zechel nach einer Grubeneinfahrt, 1972 III Flöze / Gottfried Zechel 165 Ich hätte nie geglaubt, dass ich mal so alt werde. 32 Jahre im Kohlenrevier, normalerweise wird man da nicht alt. Und ich hätte nie geglaubt, dass es hier mal keinen Bergbau mehr geben wird. Ich habe doch selbst erlebt, wie man auf der Straße den Kohlenlastern hinterher gelaufen ist, falls mal ein Stück von der Ladefläche fällt, und auf dem Pütt haben wir Sonntagsschichten gefahren. per, Lehrhauer, Hauer, Ortsältester, Kolonnenführer, Aufsichtsführer, Steiger und Reviersteiger. Den Hauerkurs musste ich allerdings dreimal wiederholen. Wenn man dort zu oft gefehlt hatte, war es vorbei. Aber wenn ich von der Morgenschicht kam, bin ich erst bei Nöthe rein und habe ein paar genommen. Und dann habe ich gedacht: „Scheiß auf den Hauerkurs, das kannst du doch.“ Ich kam 1947 von Pirna an der Elbe nach Herne. Nach dem Wunsch meiner Mutter sollte ich Tintenpisser werden, denn mein Stiefvater war Schmied und kam immer dreckig nach Hause. Dann hörte ich, dass man mich in den Uranbergbau schicken wollte, weil ich in der HJ gewesen war. Also packte ich meine Sachen und fuhr mit dem Zug zu einem Cousin nach Köln, mal im Bremserhäuschen, mal auf dem Dach, und etwas zu essen, musste man sich selbst organisieren. Es war erbärmlich. Auf dem Kölner Bahnhof kam ich mit einem Leipziger ins Gespräch. „Du“, sagte er, „Herne ist die goldene Stadt. Da gibt es Arbeit unter Tage und da gibt es Essen!“ Ich musste gar nicht überlegen und bin zurück nach Herne gefahren und dort sofort zur Zeche Mont Cenis. Nach der ärztlichen Untersuchung bekam ich meinen Anlegeschein und die Markennummer 199. Am nächsten Tag habe ich im Revier die erste Schicht verfahren. Da bin ich sofort vor Ort zum Schüppen gekommen. Ein paar Tage später hieß es: „Du gehst in den steilen Streb. Der Rutschenmeister zeigt dir, wie das geht. Dann kannste Kohlen machen.“ Natürlich bin ich bergbaubewusst, aber ich weiß auch, wie es wirklich war. Dieses Gerede von der „großen Kameradschaft“ ist zum Teil auch dummes Geschwätz. Ich habe vier Jahre im Bullenkloster im Ostbachtal gewohnt. Wenn es vor der Währungsreform Brot gab, wurden Stücke aus dem Spind geklaut. Geld und Klamotten ebenso. Auch unter Tage war nicht immer die große Nähe da. Einmal war ich mit einem Kumpel beim Rauben. Wir sollten noch verwertbares Material aus dem Grubenbau herausholen. Er war weit vorgegangen und plötzlich brach das Hangendes nach und klemmte ihm den Fuß ein. Er fing sofort an zu schreien. Ich rief ebenfalls um Hilfe, aber keiner kam, obwohl Leute in der Nähe waren. Was sollte ich machen? Ich dachte: „Mensch, gehst du dahin? Entweder geht der kaputt oder wir gehen beide kaputt.“ Wenn ich ein Beil dabei gehabt hätte, hätte ich ihm das Bein abgehauen, um ihn herauszuziehen. Schließlich bin ich nach vorne und habe die erste Steinplatte hochgehoben und sofort wieder zurück. Dann das gleiche mit der zweiten. Beim dritten Mal habe ich ihn gepackt und rausgezogen. Er hatte sich die Knochen kaputt geschrammt, aber sein Bein ist heute noch dran. Als alles vorbei war, kamen langsam auch die Kumpels aus den anderen Abschnitten, um zu gucken, was passiert war. Die Arbeit unter Tage hat mir nichts ausgemacht. Ich hatte Kohldampf, und da gab es zu essen. Es gibt keine schöne Arbeit, es gibt nur gute und schlechte. Die beschissenste Arbeit ist, wenn das Flöz unter 1.60 Meter oder sogar unter ein Meter ist. Man kriecht in so einen Schnürriemen rein mit dem schweren Abbauhammer in der Hand. Alles, was im Kohlenrevier an Arbeiten anfällt, habe ich gemacht: Gedingeschlep- Beim Unglück 1965 war ich in der Grubenwehr. Neun Leute sind umgekommen, vier haben wir unter Tage lassen müssen. Nach dem es geknallt hatte, sind wir als Trupp mit Maske und Flammenschutzanzug 166 III Flöze / Gottfried Zechel Karte von Flöz Karl der Schachtanlage Mont Cenis mit einer Verortung der Verletzten und Toten in der Abbaustrecke nach dem Grubenunglück am 22. Juni 1965. Die Karte gehört zum Material der Untersuchungskommission des Bergamtes, die ihren 85seitigen Schlussbericht am 9. März 1966 vorlegte. Abschließend heißt es dort: „Aus den Maßnahmen, die getroffen oder möglicherweise unterlassen worden sind, ist es nicht möglich, eine so große Fahrlässigkeit abzuleiten, dass daraufhin eine Strafverfolgung eingeleitet werden könnte, die Aussicht auf Erfolg hätte.“ III Flöze / Gottfried Zechel 167 Hunderte von Menschen umsäumten am 22. Juli 1963 den Eingang von Mont Cenis, während das „Clinomobil“ des Bergmannsheil Bochum zwischen der Zeche und dem Krankenhaus unentwegt hin- und herpendelte. runter zur 7. Sohle, 1.000 Meter Tiefe. Nach 400 Metern im Streb habe ich jemanden rufen hören. Da lag Paul Wirtulla, eingeklemmt, nackend, nur Schuhe an, dem hatte es alles vom Körper gerissen. Er sagte uns, dass am Hilfsantrieb noch Leute waren. Für ihn haben wir über das Telefon Hilfe geordert: „Mannschaft kommen lassen, Schleifkorb.“ Er ist später im Bergmannsheil an seinen Verbrennungen gestorben. Wir sind weiter und kamen an eine Störung, das heißt, das Abbauflöz ging mit einem Knick in halbsteile Lagerung über. Wir gingen auf der Versatzseite neben dem Panzerförderer her. Und genau in dem Knick lag ein Toter. Ich bin auf den Panzer gestiegen, um ihn herauszuziehen. In dem Augenblick wurde es ganz ruhig. Als ob die Stille jegliches Geräusch in sich aufgesogen hätte. Und dann bin ich durch die Gegend geflogen. Das war die dritte und schwerste Explosion, die durch den Streb gezogen war. Wir hatten alle Verbrennungen. Da sind wir nur noch raus und haben den Mann nicht mehr mitgenommen. Und dann war Schluss, dann wurde zugemauert. Es ist nicht einfach, wenn man einen Kumpel liegen lassen muss. Ich habe ihn ja an der Hand gehabt. Mit allem, was dann kam, war man allein. Wir hatten keinen Psychologen. Wenn ich danach einen getrunken hatte, habe ich gesponnen und bin unter die Couch gekrochen, weil ich dachte, die Flamme kommt. Sechs Wochen habe ich gebraucht, bis es wieder normal wurde. Wenn ich darüber im Detail rede, kommen mir heute noch die Tränen. Ich kann verstehen, wenn Väter ihren Söhnen gesagt haben: „Du wirst kein Bergmann.“ Die haben Recht. Es ist nicht einfach, das alles mitzumachen. IV Querschlag IV Querschlag / Pütt und Schreibtisch Kohlegewinnung von Hand. Der Streb ist mit Holzstempeln, Schalhölzern und Spitzenverzug gesichert. Die Stempel weisen bereits erhebliche Brüche auf. Die engen räumlichen Verhältnisse sind deutlich zu erkennen. Per Hand wird die Kohle in die nebenstehende Karre geschippt. 191 Streckenvortrieb in geneigter Lagerung mit Eisenausbau. Die Eisen-Segmente konnten größere Kräfte aufnehmen und schoben sich bei größerer Belastung zusammen, so dass sie nicht brachen. An der Decke sieht man eine elektrische Lampe, die zur Orientierung und Signalgebung diente. 192 IV Querschlag / SV Sodingen Der letzte Kumpelverein Die Glanzzeit des SV Sodingen Ralf Piorr Zu Anfang hat Hännes Adamik noch vor Kohle gearbeitet, später war er Anschläger auf Mont Cenis 2/4. Leo Konopczynski war Fördermaschinist. „Das war schon was Besseres“, erinnert sich Torhüter Alfred Schmidt an die Tage, als der SV Sodingen Fußballgeschichte in der Oberliga West schrieb. „Mich hat die Mannschaft mal zu einem Nachholspiel gegen Schalke von der Arbeit abgeholt. Mit dem Bus vorgefahren, Schuhe rein und dann ab. Ich habe als Schweißer Akkord gearbeitet. Nach acht Stunden Arbeit kam das Torwart-Training: Sandkuhle und immer hin und her. Mir ist dann abends beim Essen manchmal der Löffel vor Erschöpfung aus der Hand gefallen.“ Das Sodinger Fußball-Wunder begann nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer goldenen Generation von Fußballern. Die jungen Spieler zogen von Haus zu Haus, um eine freiwillige Kohlenspende für die Mannschaft einzusammeln. Der „Schwatte“ Hännes Adamik immer voran, schließlich war der Torjäger der Bekann- Alfred Schmidt mit seiner alten Torwartkappe, 2006 IV Querschlag / SV Sodingen teste. Als man genug hatte, stapelte man die Kohlensäcke auf einen Lastwagen, fuhr in die Textilstadt Wuppertal und tauschte das begehrte „schwarze Gold“ gegen einen Satz neuer Kluften ein. Trainiert wurde zum Teil in der Dunkelheit auf einem alten Aschenplatz, „Aschenkippe“ genannt. Irgendwann spendierte die Zechenleitung einen Scheinwerfer, damit wenigstens eine Ecke des Spielfeldes ausgeleuchtet werden konnte. „Wir haben die Bälle mit weißer Farbe vom Pütt angemalt, damit man die überhaupt sehen konnte“, sagt Alfred Schmid und grinst amüsiert. Innerhalb von wenigen Jahren gelang der Bergarbeiter-Truppe der Durchmarsch von ganz unten bis zur Oberliga West (1952), der damals höchsten Spielklasse. „Als wir den Aufstieg bei einem Auswärtsspiel in Bielefeld geschafft hatten und mit einem alten Bus zurückkamen, da waren die Straßen schwarz vor Menschen. Wir mussten aussteigen und zu Fuß bis zu unserem Vereinslokal gehen“, sagt Schmidt, der aufgrund seiner Gelenkigkeit und seiner Paraden bald den Beinamen „Der Gummimann“ erhielt. Er ist der letzte Lebende der „drei Idole“, Stürmer Hännes Adamik (†2005), Verteidiger Leo Konopczynski (†2003) und Schmidt selbst, die in ihrer gesamten Karriere nur in Sodingen gespielt haben und wesentlich zum Erfolg des Vereins beitrugen.1 Sodingen - das war Fußball im Schatten des Förderturms, umgeben von den typischen Bergarbeiterkolonien mit ihren unverputzten, rußgeschwärzten Ziegelbauten; und das war die Zeche Mont Cenis, die über Nirgendwo sonst lagen Bergbau und Fußball so nah beieinander wie in Sodingen. Die Spieler Nowak, Geesmann und Schuhmacher bahnen sich einen Weg durch die Menschenmenge, 1953. 193 IV Querschlag / Schlagende Wetter Schlagende Wetter Grubenunglücke und Trauerrituale Ralf Piorr Die Knappen sind in die Jahre gekommen. An diesem unwirtlichen Novembertag tragen sie ihre Fahnen über den Friedhof, die Grubenlampe in der Hand und den Ehrenkranz voran. An ihren schwarzen Uniformen blitzen die goldenen Knöpfe. Das Gedenken zum Volkstrauertag ist bei ihnen zum Ritual geworden. „Tief in der Erde Schoß, ist unser Los.“ Im Zeichen von Schlägel und Eisen halten sie die Erinnerung wach. „Man wollte die Opfer des Bergbaus nicht vergessen, das hatte man einst geschworen, und dieses Versprechen halten wir aufrecht“, sagt Manfred König, Jahrgang 1940, Geschäftsführer des Herner Rings, in dem die sieben verbliebenen Herner und Wanne-Eickeler Knappenvereine mit ihren etwa 700 Mitgliedern organisiert sind. „Wir sind älter und weniger geworden“, räumt König ein, „aber an unserer Tradition halten wir fest. Denn der Bergbau, der nicht nur diese Region hat entstehen lassen, hat doch vielen Kumpels das Leben gekostet.“ Tatsächlich ist die Bergbaugeschichte auch eine Geschichte der Grubenunglücke. Je weiter der Ruhrbergbau im 19. Jahrhundert nördlich einer Linie der heutigen A40 voran schreitet, desto größer werden die Gefah- 211 ren. Lagen im südlichen Ruhrgebiet die Flöze noch oberflächennah, so muss man im nördlichen Teil Tiefbauschächte durch die starke Mergelschicht treiben, um die reichhaltigen Fettkohlevorkommen zu erschließen. Aber die begehrte Kohle birgt auch neue Risiken. Da die Flöze von einer Kreideschicht überlagert sind, konnte die Kohle nicht über die Jahrhunderte hinweg „ausgasen“. Das eingeschlossene Methangas wird erst beim Abbau frei und ist bei einer bestimmten Konzentration explosiv: Schlagwetterexplosionen fordern seit 1860 auf jeder der neu entstehenden Schachtanlagen ihre Toten.1 Und oft sind sie nur Auslöser für Kohlenstaubexplosionen, in deren Folge gewaltige Feuerwalzen und Druckwellen durch die Strecken unter Tage rasen. Dazu kommen die Gefahren durch Grubenbrände, Steinschläge und Strebbrüche. Von 1859 bis 1973 werden für Herne und Wanne-Eickel über 100 Grubenunglücke mit tödlichem Ausgang notiert, bei denen über 600 Bergleute umkamen. Wohl jeder Bergmann in den Zeiten vor der Vollmechanisierung unter Tage hat in seinem Arbeitsleben mehrere tödliche Unglücke in der Grube, im Revier oder auf seinem Pütt miterlebt. Noch Mitte der 1950er Jahre verunglücken im Ruhrbergbau monatlich etwa 45 Bergleute tödlich, dabei nehmen die großen Katastrophen der Zeit (Schlagwetterexplosion auf der Schachtanlage Grimberg 3/4 in Kamen mit 405 Toten am 20. Februar 1946 und die Schlagwetterexplosionen auf der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirchen am 20. Mai 1950 mit 78 Toten) an der Gesamtzahl der Opfer nur einen geringen Prozentsatz ein. Vor allem sind es Arbeitsunfälle, die unter den erschwerten Bedingungen fatale Folgen haben. So berichtet am 19. März 1951 die Herner Zeitung in einer Kurznotiz: „In der Nacht zum Samstag verunglückte im Untertagebetrieb der Zeche Julia, Revier 4, der 27jährige Hauer Erich Weinberg beim Umsetzen von leeren Wagen tödlich. Der Unfall ereignete sich, als das Haspelseil der Streckenförderung riss.“ 210 IV Querschlag / Schlagende Wetter Trauerfeier für die Opfer des Grubenunglücks auf Shamrock, 1. September 1959. Bereits am 29. Juli 1959 wurden Johann Irlbacher, Wilhelm Frerichs, Hans Fest, Johann Hadas, Wolfgang Meier, Wolfgang Müller und Lothar Paul bei einem Strebbruch auf der 750Meter-Sohle im Flöz Präsident verschüttet. Schnell wurde klar, dass für die sieben Vermissten keine Überlebenschance mehr bestand. Die Bergung der Leichen dauerte einen Monat. An dem Tag als sechs Grubenopfer auf dem Wiescherfriedhof beerdigt wurden, wurde auch die letzte Leiche, der Reviersteiger Johann Irlbacher, geborgen - 34 Tage nach dem Unglück. 216 IV Querschlag / Im Wandel Im Wandel Werden, verdrängen, werden: der Bergbau und die Folgen Kai Wiedermann Der Begriff Strukturwandel ist so beliebt wie undefiniert. Er umschreibt einen Prozess, der stattfinden muss, weil ein anderer Prozess erst seinen Höhepunkt erreicht und dann umkippt. Der Vormarsch der Montanindustrie hat über Jahrzehnte hinweg ein landschaftlich geprägtes Leben umgekrempelt. Aus Monokultur eins entwickelt der Mensch Monokultur zwei - Vergehen, Verdrängen, Werden. Es entsteht das, was im 21. Jahrhundert unter dem Begriff „Boom“ firmiert. Ein Boom ist sattsam, aber hat auch seine Schattenseiten. Er bedeutet Reichtum, Planlosigkeit und Ausbeutung. Wer das Geschehen in Herne und Wanne-Eickel ins Heute übersetzt, würde es womöglich so formulieren: China lässt grüßen. Um 1850 ist Herne auf der Landkarte kaum verzeichnet - „ein kleines Dorf mit wenigen hundert Einwohnern, inmitten seiner schönen Waldungen und in unmittelbarer Nähe der Ausläufer des Ruhrgebirges“.1 In vielen Schritten wachsen durch die Ansiedlung von Zechen, durch den Abbau von Rohstoffen und das Verteilen von Geld zwei Städte heran, die nach ihrer Verschmelzung 1975 weit über 200.000 Einwohner zählen. Was der Bergbau innerhalb von 125 Jahren auslöst, ist nur schwer zu begreifen: Mentalitäten, Landschaften, Kultur und Wirtschaft wandeln sich in einem Ausmaß, den das Wort „Struktur“ nicht treffend bezeichnet. Als der Bergbau gegen Anfang der 1960er Jahre mit Wucht in seine finale Krise stürzt, ist klar: Den Menschen in Herne und Wanne-Eickel steht der nächste Wandel bevor. Keine 20 Jahre später schließen mit „Pluto-Wilhelm“ 1976 und „Friedrich der Große/Mont Cenis“ 1978 die letzten von elf eigenständigen Zechen in Herne und Wanne-Eickel. Nicht einmal zwei Jahrzehnte hat das Sterben gedauert - ein schneller Tod, historisch betrachtet. Was folgt, ist das Ringen um Zukunft, das bis heute anhält. Dem Werden, Verdrängen und Vergehen, so der Plan, soll neues Werden folgen. Undenkbar, dass sich Herne und Wanne-Eickel zu dem zurückentwickeln, was sie waren: Dörfer. Phasen und Kategorien Bei genauer Betrachtung muss die Geschichte des Strukturwandels in mehrere Phasen und Kategorien unterteilt werden. Ende der 1920er Jahre fordert die erste Welle der Rationalisierung im Bergbeu ihren Tribut (Teutoburgia, 1925; Hannibal 2, 1926; Unser Fritz 1/4, 1928). Aber sie macht aus Zechen nicht zwangsläufig tote Orte, sie wandelt sie zu neuen Produktionsstätten. So entwickelt sich ein Wirtschaftszweig, der in leicht abgewandelter Form bis heute existiert: die chemische Industrie. Sasol Solvents (Shamrock, 1928 und 1947) oder Evonik Degussa (Hannibal 2, 1936) produzieren noch heute an ehemaligen Zechenstandorten. Die Chemie gilt dabei als relativ stabiler Wirtschaftszweig mit etwa 800 Arbeitsplätzen. Der erste Wandel ist zart. Er gründet sich auf den Bergbau und hinterlässt nur wenige Brachen. IV Querschlag / Im Wandel Rund um den Malakowturm auf Unser-Fritz 1/4 unweit der Autobahn 42 sollen sich Unternehmen der Logistik-Branche ansiedeln. 217 Gestaltung: Kerstin Rau Konzept: Ralf Piorr, Kerstin Rau, Kai Wiedermann Bildbearbeitung: Harald Krug Druck: Druckverlag Kettler GmbH adhoc Verlag Ralf Piorr & Kerstin Rau Goethestr. 51 D-44623 Herne www.adhoc-verlag.de 1. Auflage Dezember 2010 © adhoc Verlag, 2010 ISBN 978-3-9814087-0-6 Die Deutsche Bibliothek verzeichnet dieses Buch unter http://dnb/ddb/de Alle Rechte vorbehalten Mit freundlicher Unterstützung Der Film „Vor Ort – Erinnerungen an den Bergbau in Herne und Wanne-Eickel“ von Young-Soo Chang und Ralf Piorr unter: www.youtube.com