Gott und die Gotter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im

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Gott und die Gotter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im
Studia Neophilologica 73: 71–85, 2001
Gott und die Götter. Antike Tradition und
mittelalterliche Gegenwart im ‘Eneasroman’ Heinrichs
von Veldeke
CARSTEN KOTTMANN
I
Das christliche Mittelalter baute auf der Antike auf, und in vielerlei Hinsicht sah es sich als
Fortsetzung der antiken Tradition. Nicht nur in den Wissenschaften, nicht nur im
Bildungssystem (septem artes liberales) und nicht nur als Vorbild für Sprache und Stil war
die antike Verwurzelung deutlich. Auch auf literarischem Gebiete griff man gerne auf die
antike Tradition zurück. Neben den Sagen um Alexander dem Großen waren vor allem
Geschichten von Theben, von Troja und natürlich von Aeneas bekannt – Stoffkreise, die
im 12. Jahrhundert in Frankreich den ‘Antikenroman’ aufkommen ließen und die eine
beachtliche Rezeption im weiteren Verlauf des Mittelalters erleben sollten.1
Störend an der Antike, aus der Perspektive eines christlichen Mittelalters, waren die
Götter – denn diese ließen sich nur mühsam mit dem Christengott und der kirchlichen
Lehre in Einklang bringen. Es stand nicht nur Polytheismus gegen Monotheismus, sondern
auch Ursprungsmythologie gegen Erlösungsglaube: also auf der einen, antiken Seite die
Legitimation der eigenen Gegenwart im göttlichen Ursprung, und auf der anderen,
mittelalterlichen Seite die Legitimation durch die Hoffnung auf das kommende Reich
Gottes. Im allgemeinen wurden im christlichen Mittelalter die Götter natürlich nicht
geduldet, sie wurden zumindest ihrer religiösen Funktion beraubt – und auf theologischdogmatischer Seite wurden sie regelrecht bekämpft.2
Das heißt allerdings nicht, daß die antiken Götter im Mittelalter tot waren. Vielmehr
stellt die antike Mythologie im gesamten Mittelalter eine “geistige Unterströmung”3 dar,
die, wenn auch nur partikulär, immer präsent war. Man mußte feststellen, daß von der
antiken Tradition für Wissenschaft und Kunst die antike Mythologie mit ihren
Göttervorstellungen nicht ohne weiteres ablösbar war. Was bei der Philosophie noch
möglich schien, scheiterte bei der Dichtung. So mußte man “ein Minimum mythologischer
Kenntnisse […] den kommenden Geschlechtern […] übermitteln”,4 um die Antike
überhaupt verstehen und mit ihrem Erbe umgehen zu können.
Den Eneasroman Heinrichs von Veldeke (vor 1190)5 und auch die bearbeitete Vorlage,
den altfranzösischen Roman d’Eneas (um 1160), der wiederum auf Vergils Aeneis
zurückgeht, charakterisiert ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen der antiken
Tradition und der mittelalterlichen Gegenwart, in der geschrieben wird. Es wäre zu fragen,
inwieweit Veldeke die antiken Götter christianisiert oder das Mittelalter antikisiert,
inwieweit er Gott und die Götter hervorhebt – in welcher Weise er also den antiken
Göttervorstellungen im christlichen Mittelalter Raum gibt.
II
Das wohl entscheidende handlungsmotivierende Moment in Vergils Aeneis und auch in
den mittelalterlichen Bearbeitungen ist die providentia der Götter. Schon zu Beginn
kommt die Erzählung aufgrund eines Götterbefehls in Gang: Eneas flieht auf Rat der
Götter, die seine Verwandten sind (18,11–18),6 aus Troja, als dieses durch die Rache des
Menelaus zerstört wird.
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dô hete der hêre Ênêas
von den goten vernomen,
daz her dannen solde komen
unde den lõˆb vor in bewaren
und uber mere solde varen
zu Italjen in daz lant. (18,24–29)
Für Eneas hat dieser Götterbefehl eine große Bedeutung, da er zum einen seine Heimat,
zum anderen aber auch das Herrschaftsgebiet seiner Vorfahren verlassen muß: “Dârdanûs
der alde / der was der êrste man, / der Troien stiften began.” (19,4–6) Der Befehl, nach
Italien zu reisen, bezieht seine Legitimation wieder aus Eneas’ Abstammung, da Dardanus
seinerseits ursprünglich aus Italien kommt (18,30f.).7
Eneas folgt nicht sofort dem Geheiß der Götter, sondern ruft erst einen Rat zusammen,
bestehend aus Freunden, Verwandten und Vasallen, auf dessen Ratschläge er nicht
verzichten will (19,22–26). Natürlich entschließen sich Eneas’ frunt – entsprechend der
prekären Lage in Troja – zur Flucht. Eneas sucht die Bestätigung des göttlichen Auftrags
in der Beratung. Der Auftrag der Götter, seiner Verwandten, bedingt in gewisser Weise die
Beratschlagung der Verwandten in Troja – erst diese beschließen letztendlich den weiteren
Handlungsablauf, nachdem ihn die Götter vorgezeichnet haben. Der Götterbefehl wird auf
diese Weise rational durch die frunt, mâge und man bestätigt und vielleicht auch erst
legitimiert, er findet seine Bestätigung im nicht-mythologischen Kontext. Freilich bleibt
eine Ambivalenz bestehen: Der Handlungsablauf wird sowohl durch die Götter als auch
durch die frunt determiniert. Was die Götter für Eneas’ Zukunft vorsehen, führt Eneas in
Beratschlagung mit seinen Verwandten in Troja aus. Aber Vergils fatum, “die sich in der
Zeit erfüllende Bestimmung”8 und Ausdruck höchster Göttlichkeit, wird bei Veldeke
durch eine rationalisierende Entscheidungsinstanz auf Erden relativiert und der Aufbruch
nach Italien ist nicht mehr nur allein mythologisch motiviert.9
Ein zweites Mal erhält Eneas einen direkten Auftrag von den Göttern, vielmehr: Es ist
der gleiche Auftrag in einem neuen Kontext. Nachdem Eneas in Karthago gelandet und
von der dortigen Königin überaus großzügig empfangen worden ist, beginnt eine
Liebesbeziehung zwischen Dido und Eneas. Diese Minne, die bei Veldeke sehr viel
stärker und ausführlicher als bei Vergil recht einseitig von Dido ausgeht und die
“selbstlos-vergessen, bis zur Raserei”10 liebt, führt jedoch zu einem zögerlichen, ja
passiven Verhalten Eneas’, was den Götterauftrag betrifft. Doch Eneas verhält sich auch
passiv gegenüber Dido, oder vielmehr zeigt er keinerlei Initiative. Zwar ist er ihr
wohlgesonnen und zugetan, aber minne verspürt nur Dido und auch nur Dido bereitet die
minne Qual und Kummer (48,5–63,28). “Umstandslos nimmt er das, was ihm geboten
wird: die Gastfreundschaft, die Hingabe, die Herrschaft.”11 Eneas’ eigentliche Gesinnung
aber ist auf den Italien-Auftrag gerichtet, darauf richtet er “sõˆn herze unde sõˆnen mût”
(57,33–58,4; hier 57,37), auch wenn er dessen Fortsetzung nicht sonderlich forciert, wenn
er nicht re-agiert: Nach Italien will er, “des gesweich her aber stille” (58,4) – und der
Grund dafür ist Dido. Seine Situation ist gewissermaßen ambivalent, Eneas überbrückt nie
ganz die Spannung zwischen Dido auf der einen und dem Italien-Auftrag der Götter auf
der anderen Seite. Zwar kommt es zwischen Eneas und Dido zur geschlechtlichen Liebe
und sogar zur Hochzeit, aber sofort darauf wird der göttliche Auftrag wieder thematisiert.
So erhält Eneas, “der geminnet was dâ” (66,9), von den Göttern “ein vil starkez mâre”
(66,19).
her mûste varen dannen
mit den sõˆnen mannen,
des enmohte dehein rât wesen,
aber iemer wolde genesen,
daz her niene beite
unde sich gereite,
daz her daz lant rûmde. (66,14–21)
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Eneas reagiert keineswegs erfreut: “des wart betrûbet sõˆn mût” (66,24). Auch diesen
Götterbefehl berät er mit seinen man: doch, anders als vor der Flucht aus Troja, wird der
Götterbefehl nicht weiter erörtert: “swâslõˆchen her geriet / mit den sõˆnen holden, / di im dar
zû râten solden / und getrûwelõˆchen wõˆsen.” (66,26–29) Der Rat der Gehilfen besteht nur in
ihrem Pflichtgefühl gegenüber Eneas – eine Diskussion des Befehls findet nicht statt. So
beginnen daraufhin die Vorbereitungen zur Abreise.
Dido nimmt diesen Abschied verständlicherweise sehr schwer, so wie es Eneas auch
befürchtet hat (66,34–67,8) – und Didos Kummer endet in ihrem Selbstmord.12 Doch
Veldeke setzt alles daran, Eneas von jeglicher Schuld an Didos Tod freizusprechen. Zwar
verbrennt Dido Eneas’ Liebesgaben, doch ihre Anklage gilt nicht ihm, sondern Gott (75,8–
34).1 3 In ihrer weiteren Klage sucht sie die Schuld bei den (Liebes-)Göttern (76,22–27)
und vor allem bei sich selbst (77,20–31), aber nicht bei Eneas: ”ich wil ûch niht schelden, /
wande ir sõˆt es âne scholt, / ir wâret mir genûch holt, / ich minnete ûch zunmâzen.” (76,16–
19) In ihrem Sterben vergibt sie Eneas (78,16–21), und auch als Eneas auf seiner
Unterweltsfahrt Dido ein weiteres Mal begegnet, trifft ihn kein Schuldspruch, sondern
Dido empfindet ihre unerfüllte und kummervolle Minne als unêre (99,30–40).
Eneas steht jenseits jeglicher Schuld, aus zweierlei Gründen: Er liebte Dido nicht
wirklich, war in der Minne nicht aktiv, und vor allem – er handelte im Auftrag der Götter.
Didos Liebe ist auf das Scheitern angelegt, “des Lebens höchste Steigerung ist dem Tode
schon anheimgegeben”.14 Eneas’ Weg durch diese Minne-Beziehung wird von den
Göttern gelenkt, und sie ermahnen auch zu ihrer Beendigung – schließlich muß Eneas
nach Italien. Obwohl jeder ihrer Befehle menschlich bestätigt wird und dadurch an
Transparenz gewinnt, besaßen die antiken Götter vor dem christlichen Hintergrund des
Mittelalters zwar nicht unbedingt die allein sinnstiftende, wohl aber die entscheidend
handlungsmotivierende Funktion.1 5
Im Roman d’Eneas vollzieht sich das Geschehen etwas anders. Auch hier erhält Eneas
von den Göttern den Auftrag zur Flucht aus Troja, doch mit noch nicht genau
bezeichnetem Ziel (RdE 38–41: “et ce li comandent li deu / que il alt la contree querre,
/ dont Dardanus vint en la terre, / ki fonda de Troie les murs”). Der Grund für das
Fluchtgebot ist jedoch Eneas’ aussichtslose Lage im Krieg gegen die Griechen, die schon
recht nah herangekommen waren und brandschatzten: “bien sot, qu’il li aproismereient, /
ne se porreit vers els deffendre” (RdE 46f.). Zwar ruft auch im französischen Vorbild
Eneas seine Leute zusammen, aber diesmal weniger, um sich mit ihnen zu beraten, als
vielmehr sie in einer psychologischen Fokussierung auf seine Führungsrolle zur Flucht zu
ermutigen – worauf der grant gent eingeht: “mielz s’en vuelent a lui foõ¨r / que retorner enz
por morir” (RdE 75f.).
Auch als die Götter in Karthago Eneas an seinen ursprünglichen Auftrag erinnern, wird
der Befehl nicht weiter rational begründet, im Gegenteil. “Molt li est grief a departir / et la
reõ¨ne a deguerpir; / molt est pensis, maz et dotos, / d’ambesdeus parz molt angoissos.”
(RdE 1629–1632) Eneas quält die Entscheidung der Götter sehr; schließlich wurde ja auch
er vom Liebeszauber durch einen Kuß des Ascanius erfaßt (RdE 814f.)16 – doch: “C’est
Dido ki plus fole esteit” (RdE 820). Eneas hingegen hat im Roman d’Eneas, im Vergleich
zu Veldeke, größere Schwierigkeiten, die Spannung zwischen Didos Liebe auf der einen
und dem Götterauftrag auf der anderen Seite auszuhalten. Seine Rolle in der MinneBeziehung zu Dido tritt stärker hervor,1 7 und der lange Zeit unausgesprochene, aber
dennoch stets präsente Wille der Götter, Eneas möge doch weiterziehen, steht weniger im
Kontext des Geschehens: Er scheint nicht dringlich, ja es wird sogar versucht, die Liebe
zwischen Dido und Eneas wird durch die Kußszene mit Ascanius mythologisch zu
untermauern.18 Doch dann, der Sendungsauftrag wird wiederholt, bezeichnen die Götter
wieder das unabwendbare fatum, dem zu gehorchen ist (RdE 1759–1769), und was Dido –
verständlicherweise – nicht nachvollziehen kann: “Ses devinailles vait trovant / et ses
mençonges vait contant, / dit que li deu li ont mandé, / porveü ont et ordené, / coment il
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deit traitier sa vie” (RdE 18831–1835). Doch für Eneas steht die Aufforderung der Götter
fest, und so folgt er ihr.
Sowohl in Veldekes Eneasroman als auch im Roman d’Eneas sind es nicht die Götter,
die letztendlich die Minne-Beziehung zwischen Dido und Eneas motivieren: Immer
wieder wird die natürliche, nicht im mythologischen Kontext verwurzelte Zuneigung
Didos zu Eneas betont (31,24–30, 33,9f., 35,27–36, 38,18–23; RdE 635f., 787f., 1301–
1303, 1383–1390). Auch die Ascanius-Szene im Roman d’Eneas (RdE 814f.) wirkt
“angesichts der vorangegangenen Szenen völlig überflüssig, ja widersprüchlich. […] Den
mythologischen Handlungsteilen wurde ihre Funktion genommnen und eine lediglich
rhetorisch-bildhafte Aufgabe übertragen.” 1 9 Auch bei Veldeke sind die Götter entmachtet,
und das Wirken der Venus “erscheint […] erst in Verbindung mit der im zwischenmenschlichen Bereich sich abspielenden Reaktion verständlich und auch möglich”.2 0
Die Götter führen Eneas’ Weg, bei Vergil wie bei den mittelalterlichen Nachdichtungen, weiter: Auf Göttergeheiß begibt er sich in die Unterwelt, in der er die Prophezeiungen
seines Vaters Anchises hört (107,21–110,19; RdE 2811–29984; Aen. VI,684–892).
Daraufhin kommt er nach Italien zu Latinus, der ebenfalls von der Latinus’ Tochter und
Herrschaftserbe umfassende Göttersendung weiß: “wande ez is mir geboten / und
gewõˆssaget von den goten: / die wil ichs lâzen walden” (115,32–116,29; hier: 116,9–11;
vgl. RdE 3230–3248).2 1 Doch Eneas muß diesen Götterwillen erst erkennen und
verstehen, bevor er für ihn (vorerst) in Erfüllung gehen kann. Sein Weg nach Italien,
der aufgrund Junos Zorn und dem folgenden Seesturm (s.u.) und vor allem durch die DidoEpisode anfänglich stark verzögert wird, findet seine Erfüllung direkt nach Anchises’
Prophezeiung. “Eneas, who has been seeking Italy in vain for nearly 4000 lines, reaches it
in further six.”2 2 – und wird geführt vom gelücke (110,33).23 Der Götterbefehl hat nun eine
Verheißung, einen Sinn, ein Ziel; eines, das weit über die geographische Bedeutung
Italiens hinausgeht. Der Götterwille bleibt Eneas treu: Trotz der Opposition des Turnus
und der italischen Königin erfüllt sich die Verheißung für Eneas in Italien und für seine
Nachkommen.2 4
III
Juno, eine altitalische Göttin, die abhängig von ihren verschiedenen Beinamen
unterschiedliche Funktionen für vorwiegend Frauen und Mädchen erfüllt, wurde im
kapitolinischen Kult als Juno Regina am berühmtesten.25 Veldeke und der Roman d’Eneas
nennen Juno in zwei unterschiedlichen Situationen: während Eneas’ Seefahrt von Troja
nach Karthago (21,16–23,24) und als die in Karthago verehrte Göttin. Im folgenden wird
nur auf die erste Situation eingegangen.2 6
In Veldekes Eneasroman gerät Eneas und seine Gefolgschaft mit den Schiffen nach der
Flucht aus Troja in eine Seenot, die durch Junos Zorn verursacht wird: Sieben Jahre irrt er
auf dem Meer umher, und verliert sein eigentliches Ziel völlig aus den Augen.
der stormwint zerteilde dô
diu schif vile wõ ˆten.
alsô mûstens rõˆten,
wan sie sich vor den unden
berihten niene kunden. (22,28–32)
Nach einem dreitägigen Unwetter, in dem eines der Schiffe Eneas’ sinkt, legt sich der
Sturm, “unde hûb sich der tach” (23,3): Eneas sieht vor sich die lybische Küste und somit
sein erstes, wiewohl unerwartetes Ziel erreicht.
Zur Begründung von Junos Zorn und damit von Eneas’ langwieriger Irrfahrt auf See
hält sich Veldeke recht bedeckt.
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dô was diu gotinne Jûnô
Ênêase vil gehaz
unde tetez umbe daz,
daz sin minnern wolde
dorch den apphel von golde,
den Pâris froun Vênûse gab.
dô quam al der nõˆt ab,
daz Troie wart zerbrochen.
dô mit wart daz gerochen,
daz saget uns Virgilõˆûs,
des gehalf frou Vênûs,
daz Pâris Elenam nam:
dô grôz ubel vone quam. (21,16–28)
Der Roman d’Eneas ist hingegen eloquenter (RdE 101–183). Demnach gesellt sich zu
Juno, Pallas und Venus, die bei einer gemeinsamen Unterhaltung sitzen, die Zwietracht
(discorde). Diese gibt ihnen einen goldenen Apfel, auf dem in griechischen Buchstaben
geschrieben steht, daß die Zwietracht der Schönsten der Drei den Apfel schenken würde.
Juno, Pallas und Venus entschließen nach einem Streit (die Zwietracht hat sie bereits
verlassen), Paris im Wald solle urteilen, wer die Schönste sei. Dieser erbittet sich drei Tage
Bedenkzeit, in der Hoffnung, von jeder der drei Göttinnen Zuwendungen zu erhalten, auf
daß ihm der Entschluß leichter falle. So geschieht es: Juno bietet ihm Reichtum, Pallas
Tapferkeit und Venus die schönste Frau der Welt. Paris entscheidet sich nach Ablauf der
Frist für Venus als die Schönste der Drei, woraufhin er die Dame Helena erhält: “plus bele
femme ne trova” (RdE 178). Diese Entscheidung hat Folgen: “Pallas et Juno s’en
morrirent / et cels de Troië en haõ¨rent: / por seul l’acheison de Paris / haõ¨rent puis tot le
paõ¨s.” (RdE 179–182)
Diese Episode hat der Dichter des Roman d’Eneas nicht aus Vergils Aeneis, wo diese
Vorgeschichte zurückhaltender noch als bei Veldeke lediglich andeutet wird (Aen. I,26–
28);2 7 die direkte Vorlage ist unbekannt.28
Bei Veldeke erscheint der mythologische Hintergrund nur in verweisenden Stichwörtern (21,20f.: goldener Apfel; 21,27: Paris und Helena). Doch Veldeke konnte die
Kenntnis der Episode, anders als Vergil, kaum voraussetzen. Dennoch reduziert er die
mythologischen Hintergründe auf ein Minimum. Er scheint sie für seine Eneas-Geschichte
nicht für notwendig zu halten; vielleicht kam es ihm auf die nähere Motivierung des Zorns
der Juno im Gegensatz zum Dichter des Roman d’Eneas nicht an. In dieser Szene
verzichtet Veldeke so gut wie vollständig auf die antike Götterwelt und auf den
mythologischen Kontext.
Eneas und seine Gefolgschaft gehen nun im deutschen Eneasroman und im
französischen Roman d’Eneas unterschiedlich mit der unangenehmen Situation des
Seesturms um. Veldeke läßt Eneas nach dem Untergang eines seiner Schiffe sich selbst
anklagen.
dô clagete Ênêas,
daz her ie dare quam,
daz her sõ ˆn ende niht ennam
zû Troie mit êren
mit Pârise sõ ˆme hêren. (22,20–24)
Dies findet sich auch im Roman d’Eneas (RdE 211–238), allerdings sehr viel
ausführlicher und intensiver. Über Veldeke hinausgehend klagt Eneas im französischen
Vorbild auch Gott / die Götter an. “Par deu” (RdE 211), beginnt er seine direkte Rede
(auch diese findet sich bei Veldeke nicht), und später (RdE 220): “Molt m’ont coilli en he
li deu” (vgl. auch RdE 224). Während Veldeke mit der Auslassung des mythologischen
Hintergrundes im darauffolgenden auch auf eine Anklage Eneas’ an die Götter verzichten
kann, mußte sie im Roman d’Eneas integriert werden: weil der Seesturm hier schon sehr
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viel stärker göttlich und mythologisch verwurzelt ist – er wird hier in den Kontext
göttlicher providentia eingespannt. Dabei kommt es zu Reibungen, da der Italienauftrag
und die Irrfahrt auf See zueinander in Spannung stehen, was Eneas auch thematisiert (RdE
225–230). Veldekes Text ist glatter, der Götterbefehl weniger kontrovers und somit der
gottgewollte Weg des Helden Eneas nach Italien geradliniger.
Veldeke reduziert die Götter, nicht nur in der Häufigkeit ihrer Erwähnung, sondern auch
in ihrer Bedeutung: Für Eneas’ Irrfahrt sind sie nur sehr bedingt verantwortlich. Die Götter
erscheinen in sich homogen, da die konfliktäre Episode um Juno expressis verbis nicht
erzählt wird, und weil auch Eneas die Götter direkt nicht anklagt.2 9 Vor allem aber
harmonisiert Veldeke Eneas’ Weg. Der Seesturm nimmt weniger Raum ein als im Roman
d’Eneas (21,32–22,32; RdE 184–263),3 0 und sein Schicksal ist eher durch widrige Winde
als durch zornige Göttergestalten determiniert. Freilich wird Junos Raserei erwähnt, aber
diese ist eigentlich wenig motivert. Für Eneas erscheint das Umherirren auf dem Meer eine
Ursache des gegenwärtigen ungelückes zu sein, das sich später in der Tageslicht-Metapher
(23,3) zu gelücke wandelt.
IV
Die Geschichte, die vom Ehebruch der Venus mit Mars, Volcanus’ Rache und schließlich
von Venus’ und Volcanus’ Versöhnung erzählt, findet sich in den mittelalterlichen EneasRomanen (157,9–159,4; RdE 4297–4410), nicht aber bei Vergil: Dieser berichtet nur von
der Versöhnung (Aen. VIII,371ff.). Der französische Dichter bezog die “Götterburleske”3 1 aus den Metamorphosen Ovids (IV,168–189), wohl über die Vermittlung des
Vergil-Kommentators Servius; dem französischen Vorbild folgt dann Veldeke.32
Heinrich von Veldeke betont in der Venus-Episode den Aspekt der Versöhnung; von
diesem Punkt aus erzählt er im ordo artificialis das vorhergehende, bereits sieben Jahre
zurückliegende Geschehen (157,35; RdE 4349). Die Situation wandelt sich von Venus’
Liebesaffäre mit Mars (“dô dûhtes si missetân”: 158,26) zur “grôz sûne” (157,30). Doch
ob sie damit “als beide Möglichkeiten der Minne umfassendes Zwischenspiel zu den
beiden Minnehandlungen um Dido und Lavinia – am Anfang und am Ende der
mittelalterlichen Eneasdichtungen – aufgefaßt werden”33 darf, ist fraglich: Zu wenig
Anhaltspunkte ergeben sich dafür. Veldeke scheint mit der Schilderung der VenusEpisode kaum die Dido- und die Lavinia-Handlung miteinander verknüpfen zu wollen.
Demgegenüber sieht er die Venus-Episode wohl eher als eine anektdotenhaften
Götterburleske, in der er berichtet, was geschehen war, “umb einen wênegen zoren”
(157,36), was er eher für amüsant denn für tragisch hält. So erzählt er auch, quasi mit
einem Augenzwinkern, wie Volcanus mit einem nahezu unsichtbaren Netz aus Silber und
Stahl die beiden Liebenden Venus und Mars einfängt – darin liegen sie zusammen,
“einander vile nâ” (158,29). Und weiter: “idoch was etelõˆcher dâ, / der gerne offenbâre / bõˆ
Vênûse wâre / dorch solhe sachen gevangen.” (158,30–33) Auch hier wird die Situation
aus ihrem genuin mythologischen Kontext herausgehoben. “Nicht anders als Menschen
benehmen sich die Götter in ihren Liebesleidenschaften und in ihrer Eifersucht, die
witzige Rache, die Vulcan für die Liebeshändel zwischen Venus und Mars nimmt und bei
der alle Götter spöttisch-ergötzt und selbst begehrlich zuschauen – all dies gehört nicht in
den seriösen Bereich der antiken Mythologie […].”34
Der Roman d’Eneas nimmt die Geschichte hingegen sehr viel ernster. So liegt zwischen
Venus und Volcanus ein “maltalent” (RdE 4353) und nicht nur eine kleine Kränkung vor,
und auch wird bewußt vom Haß (RdE 4358) zwischen Volcanus und Mars gesprochen.
Ebenfalls ist die Reaktion der Götter weitaus dramatischer als bei Veldeke geschildert:
“Cele chose desplat as deus” (RdE 4371). Der Roman d’Eneas gibt genau über die
Gefühlslage der jeweiligen Parteien Auskunft, was Heinrich von Veldeke nicht tut; und so
bleibt er dem Geschehen distanzierter als die französische Vorlage – er gibt dem
mittelalterlichen Publikum Raum, sich über die Anekdote zu amüsieren.
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Mittelalterliche Gegenwart im ‘Eneasroman’ 77
Schon die Grundsituation, die zum Erzählen der Venus-Episode zwingt, wird bei
Veldeke und im Roman d’Eneas unterschiedlich dargestellt. Beidesmal befindet sich
Eneas unter Belagerung durch Turnus, und diesem Zustand will Venus abhelfen. “Venus
la deesse d’amor / ert de son fil en grant freor” (RdE 4299f.), während sie bei Veldeke die
heikle Lage lediglich wahrnimmt: “do gesach sõˆn mûder Vênûs, / daz im der hêre Turnûs /
gerne schaden wolde.” (157,11–13) Was im französischen Original unmittelbarer
geschildert wird, führt auch zur unmittelbar ausgestalteten Reaktion der Venus. In
direkter Rede (RdE 4311–4340) fleht sie Volcanus an, ihrem Sohn – und damit auch ihr –
zu helfen: “Ce te demand, ce te requier” (RdE 4333). Veldeke läßt Venus nüchtern – in
indirekter Rede – um Volcanus’ Hilfe bitten: “flêgen sie in began” (157,18). Ebenso
unspektakulär gestaltet sich Volcanus’ Reaktion (“her was der frouwen vil gereit / ir willen
ze tûne”, 157,28f.), während es an dieser Stelle im Roman d’Eneas heißt:
Vulcans oõ¨ que sa moillier
le requereit de son mestier,
otreie li molt dolcement
qu’il li fereit a son talent,
et baisa la cent feiz et plus. (RdE 4341–4345)
Veldeke berichtet aus einer Distanz, die die Götter Venus, Volcanus und Mars aus ihrer
Göttlichkeit heraushebt, und aus der heraus man die Episode an sich für nicht so wichtig
nimmt. Einmal mehr werden die Götterfiguren rationalisiert – denn ihr Verhalten läßt sich
leicht an menschlichem Verhalten bestätigen, und das menschliche auf das göttliche
projizieren.35
V
Die persönlich erfahrene Liebe ist eine literarische Entdeckung des 12. Jahrhunderts.36
Dabei ist Liebe, oder besser, in historischer Distanz, minne, ein sehr irrationales Erlebnis,
das die Helden und Heldinnen der höfischen Literatur seit dem 12. Jahrhundert in große
Verwirrung stürzte – und so geschieht es natürlich auch im Eneasroman.3 7 Dido leidet an
Minne “mit unsinne” (54,4), Lavinia bezeichnet die Minne als “daz sûze ungemach”
(280,4) und schließlich, in seinen Gefühlen für Lavinia, sind Eneas’ Wille und Wesen auf
den Kopf gestellt:
waz is diz oder waz sol ez sõ ˆn?
wer hât daz herze mõˆn
und mõ ˆne manheit mir benomen?
war is mõ ˆn wõˆsheit komen?
waz bedarf ich dirre minnen? (292,33–37)
Die Minne, diese Erfahrung wird hier gemacht, rebelliert gegen den Verstand. Heinrich
von Veldeke hat dies wohl als erster deutscher Dichter in epischer Breite formuliert, und
so war er auch für seine Zeitgenossen der Minne-Dichter schlechthin.3 8 Doch neben der
Formulierung seelischer Zustände wurde weitergehend nach der Ursache der Minne
gefragt, nach dem Zugrundeliegenden, das – soviel war klar – eine große Minne-Macht
besaß und ausübte. Was rational nicht faßbar war, mußte auf anderen Wegen artikuliert
werden. Die “Irrationalität, die man so stark empfand, konnte überhaupt nur im
mythischen Bilde zureichenden Ausdruck finden, man war zutiefst davon durchdrungen,
daß es in rationaler Weise nicht zu fassen wäre, und nur darum griff man so begierig nach
den mythischen Bildern, die die Antike darbot, von Venus, Amor und Cupido”.39 In dieser
Darstellungsweise wurden die antiken Gottheiten4 0 der Minne-Idee untergeordnet und
damit allegorisiert, um “der heidnischen Welt des Mythus einen Gedankeninhalt
zuzusprechen, der sich mit den Grundwahrheiten des Christentums in einen wirklichen
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oder scheinbaren Einklang bringen ließ”.4 1 Der mythologische Hintergrund, das heißt die
Liebesgötter (in diesem Fall: Amor), “bezeichent die Minne, / diu gewaldech is ubr alliu
lant” (264,22f.) – der Liebesgott Amor ist also eine bezeichenunge, eine significatio für die
Minne, und somit schließt die antike Mythologie eine weitergehende, höhere Bedeutung
für die mittelalterliche Gegenwart mit ein.42 Auch an anderer Stelle wird dies deutlich:
getrôstet mich, Minne,
starkiu kuneginne!
bistû mõˆn mûder, Minne,
Vênûs, hêriu gotinne,
ob ich dõˆn sun bin, Minne,
des brink mich schiere inne. (295,29–34)
Eneas setzt hier in seinem Minnemonolog seine Mutter Venus mit der allegorischen
Mutter seiner verwirrten Gefühle, der Minne, gleich: “Eneas’s alternating invocations of
Minne and its mythological representations even carries the internalization of his
emotional state to the point of reducing his mother Venus to an allegory of love.”4 3
Indem Veldeke die Liebesgötter allegorisiert, raubt er ihnen jedoch nicht das
mythologische Fundament. Sie sind nach wie vor Gestalten, die das Geschehen
beeinflussen; so in der Liebeserweckung der Dido oder durch die Beschaffung von
Waffen und Rüstung in Eneas’ Bedrängnis. Sie sind nicht bloße Prinzipien, sondern
handlungsbestimmende Figuren. Das trifft in besonderer Weise auf Venus zu, während
Amor und Cupido in erster Linie metaphorisch dargestellt werden: Amor erweckt die
Liebe mit seinem goldenen Pfeil (269,18f.; 219,12f.) und Cupido hält die Fackel an die
Liebes-Wunde (39,1–5).4 4
Das Verhältnis zu den Minnegöttern wird im Roman d’Eneas etwas anders gestaltet.
Zwar werden auch hier die Minnehandlungen durch das Eingreifen der Minnegötter
ausgelöst (Dido: RdE 764ff.; Lavinia: RdE 8057ff.; Eneas: RdE 8922ff.).4 5 Aber Dido
macht in keiner Weise die (Liebes-)Götter für ihren Liebesschmerz verantwortlich; auch
später (RdE 1713f.) werden die Götter wohl mit Eneas’ Auftrag in Verbindung gebracht,
nicht aber auf das Leid Didos direkt bezogen und dafür zur Rechenschaft gebeten. Bei
Veldeke tut Dido dies, wenn auch nur beiläufig: “si bât genâden Cupidôn, / Ênêases
brûder, / und Vênerem sõˆne mûder.” (51,18–20) Auch in der Liebesvereinigung zwischen
Dido und Eneas bestimmt Venus das Geschehen (63,18–28). Ebenso projiziert Lavinia
ihren ganzen Schmerz auf die Liebesgötter.
Amôr unde Cupidô
und diu gotinne Vênûs:
von ir scholden quele ich sus
unde von ir wunden.
Minne, ich hân dich funden
bitter albetalle. (272,34–39)
Amor, Cupido, Venus und die Minne werden angesprochen und in ihrer Funktion und
Wirkung miteinander gleichgesetzt. Daneben ist die Minne aber auch das Gefühl ‘Liebe’,
das schmerzt: “Vênûs, hêre gotinne, / gesenfte mir die minne” (273,13f.). Besonders
angesprochen aber wird von Lavinia Amor (273,23–274,17), und später wieder die Minne
(278,29–279,8).
Im Roman d’Eneas scheint Lavinia Amor nicht zu kennen: “ne sais amors o com a nom”
(RdE 8095), um aber gleich darauf zu wissen, daß er die Ursache ihres Leidens ist: “mais
ne me fait se tot mal non.” (RdE 8096) Im folgenden stellt sie dies immer wieder dar (RdE
8135; 8158–8164; 8185–8187; 8203; 8231; 8426–8432 u.a.) aber bittet Amor auch um das
Heilmittel, das die Liebesqual lindern würde (RdE 8189f.; 8204; 8222–8224 u.a.). Doch
eine Identifikation von Amor mit der Liebe (minne) als Prinzip findet, wie im deutschen
Eneasroman, nicht statt; höchstens auf einer Autor-, auf einer Metaebene, bedingt durch
Studia Neophil 73 (2001)
Mittelalterliche Gegenwart im ‘Eneasroman’ 79
das altfranzösische Wort amors für beides: Liebe und Amor. In dieser Hinsicht sind beide
Bedeutungen “ihrem Wesen nach […] identisch und daher im Wortgebrauch des
französischen Dichters meist synonym”.4 6
Eneas schließlich findet bei Heinrich Veldeke über seinen Liebeszustand nur Worte der
Verärgerung – und wendet sich damit an die Minnegötter.
Amôr unde Cupidô,
die mõ ˆne brûder solden sõˆn,
und Vênus diu mûder mõˆn,
von den ich dâ bin geboren,
si bescheinent mir vil grôzen zoren. (293,10–14)
Und später: “waz wõˆzet mir frou Vênûs / und Âmôr und Cupidô?” (296,8f.) Doch immer
wieder spricht er auch direkt die Minne an, um sein Leid zu klagen (294,8–26) und um
eine Linderung zu erbeten (295,19–30). Im Anschluß daran identifiziert Eneas die Minne
als seine Mutter Venus, wie bereits angeführt (295,31–34). Im französischen Vorbild ist
Cupido für Eneas’ Qualen verantwortlich, so der Dichter (RdE 8922–8926), während
Eneas hingegen wieder Amor (amors) anspricht (RdE 8940–8953; 9060–9069).
Die Liebes- und Minnegötter spielen in den Eneas-Romanen Heinrichs von Veldeke
und des französischen Anonymus eine aus dem Götterkollektiv herausragende Rolle. Sie
treiben die psychologische Motivation der Handlung voran,4 7 vor allem im zweiten Teil
(Lavinia – Eneas). Doch Veldeke bringt, stärker als der Roman d’Eneas, eine
Allegorisierung der Minnegötter zum Ausdruck; denn auch den Figuren wird die
Allegorisierung bewußt (mit Ausnahme von Dido). Es entwickelt sich eine Ambivalenz,
in der vom significans auf das significatum verwiesen wird, ohne daß das Erste völlig
transparent wird.
VI
Gott spielt im Eneasroman Heinrichs von Veldeke über weite Strecken keine
entscheidende Rolle.4 8 “Von 72 Erwähnungen stehen dabei 66 in direkten Reden
‘epischer Personen’. Gott hat als Inhalt des Erzähltextes also kaum eine Bedeutung.”49
Doch mitunter erhält der (eine) Gott im Singular durchaus Relevanz.
Vor dem Zweikampf Eneas – Turnus kommt es zum Streit zwischen den jeweiligen
Gefolgsleuten, was bei König Latinus Anstoß erregt:
dô der kunich Latõˆn
diu starken mâre vernam,
ez dûhte in vile freissamm,
her wânde er wâre verrâten: […]
her nam sõ ˆnen liebsten got,
der andern aller her vergaz. (312,28–31; 34f.)
Daraufhin wendet er sich, in Angst um sein Leben, zur Flucht. Doch in der Stunde der
größten Not entscheidet sich Latinus für einen Gott, der ihm am vertrauenswürdigsten
erscheint. Weder im Roman d’Eneas (RdE 9439–9448) noch bei Vergil (Aen. XII,285f.)
findet sich ein solches ‘monotheistisches’ Moment. Sicher ist dies keine “Abwertung alles
antiken Heidentums”,5 0 da Latinus’ Göttervertrauen zuvor schon mehrfach betont wurde.
Aber es ist wohl eine religiöse Konzentration auf einen Gott im Entscheidungszwang.
Adam von Bremen († vor 1085), der über den Missionsauftrag des Erzbistums
Hamburg-Bremen in Skandinavien schreibt, berichtet in den Gesta Hammaburgensis
ecclesia Pontificum folgendes von den heidnischen, polytheistisch religiösen Schweden
(Sueones): “Si quando vero preliantes in angustia positi sunt, ex multitudine deorum, quos
colunt, unum invocant auxilio; ei post victoriam deinceps sunt devoti illumque ceteris
anteponunt. Deum autem christianorum iam communi sentencia fortiorem clamant
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C. Kottmann
Studia Neophil 73 (2001)
omnibus esse; alios deos sepe fallere, illum porro semper astare certissimum adiutorem in
oportunitatibus.”5 1 Auch hier wird in Kampfesnot aus der Vielzahl der Götter einer
ausgewählt, dem vertraut wird.
Adams Verchristlichung des einen Gottes der Schweden ist missionarisches Kolorit,
und der eine Gott Latinus’ ist wohl kaum der christliche – darüber hätte Veldeke uns
informiert. Doch der eine, singularische Gott erhält im entscheidenden Moment die
Priorität; der Polytheismus wird trotz allem im Entscheidungszwang aufgelöst zugunsten
eines Monotheismus. Bei Veldeke ist dies freilich kein missionarisches Kolorit, so wie
sein Eneasroman – im Gegensatz zu Adams Gesta – kein missionarisches Werk ist. Aber
es ist schon eher christliches Kolorit, das einem ‘monotheistischen Zeitgeist’, einem
Gottvertrauen Rechnung trägt.
Turnus erlebt an anderer Stelle etwas Vergleichbares. Als er, nach Pallas’ Tötung, von
einem Bogenschützen getroffen wird und sich an eben diesem rächt, treibt das Schiff ab,
auf dem er sich nun befindet. Turnus beklagt dies sehr:5 2
es is mir wole worde schõˆn
unde bin es wol gewis,
daz ez den goten leit is,
daz ich sô vile hân getân. (209,20–23)
Die Götter erzürnten, so Turnus, und so bittet er Gott um Gnade: “des will ich got
manen, / daz her mich wider bringe / mit gnâdechlõˆchem dinge.” (210,14–16); und er sagt
das in der Gewissheit vorheriger Erfahrungen: “doch hat mich dicke got erlôst / ûzer
maneger grôzer nôt.” (209,4f.) Auch Turnus setzt in dieser für ihn bedrohlichen Lage eine
Priorität, nämlich auf den singularen Gott – das Kollektiv verwirft er. Im Roman d’Eneas,
wiewohl auch dort Turnus den Zorn der Götter spürt (RdE 5810), ist von einem Gottesanruf nicht die Rede. Wohl kaum handelt es sich mit Turnus’ Vertrauen auf einen Gott bei
Veldeke um einen “Mißbrauch der Gottheit”, der “blasphemisch” zu werten ist,5 3 im
Gegensatz zu Eneas’ Vertrauen auf die gote “als summum ens im christlichen Sinn”.5 4
Vielmehr scheint Veldeke sich hier auf Vergil zu beziehen (Aen. X,668: “Omnipotens
genitor”) und diesen bewußt widerzugeben.5 5
Sicher ist der Einwand berechtigt, daß Turnus das Gottvertrauen mißbraucht, da er auf
Rache sinnt. Turnus, so scheint es, ist als Gegenspieler zu Eneas der ‘Böse’. Doch so
einfach lassen sich die Figuren nicht polarisieren: Eneas’ Verhalten ist keineswegs
homogen (pius et impius),56 und Turnus wird, als er stirbt, Vorzügliches attestiert: “nehein
sõˆn genôz / mêr tugende nie gewan, / wie her wâre ein heidensch man” (332,2–4).5 7
Veldeke entscheidet sich nicht eindeutig contra Heidentum, contra Vielgötterei. Doch in
gewisser Weise läßt er monotheistischen Momenten ihren Platz, ohne aber einem
heidnisch-christlichen Dualismus zu verfallen. Er verleiht seiner Dichtung ein christliches
Kolorit, ohne eine christliche Dichtung zu verfassen.
Dieses christliche Kolorit läßt sich an den meisten Gottesnennungen ersehen, die dem
mittelalterlich-alltäglichen Sprachgebrauch entstammen: In der Regel zeichnen sie sich
durch ihren “ausgesprochen formelhafte[n] Charakter” aus.5 8 Sprichwörtliches wie weiz
got und Wunschsätze im Irrealis und Potentialis mit got als Subjekt warnen zumindest
davor, “bei jedem Auftauchen des Wortes got einen christlich-theologischen Sinn zu
prätendieren”.59 Sinn nein, Kolorit ja: Veldeke ist sehr wohl “in christliche Sprechweise
hinübergeglitten”,60 da er seine Figuren, was die formelhaften Gottesnennungen betrifft,
aus einem – auf Autorebene – christlich-mittelalterlichen Kontext heraus sprechen läßt.
Freilich macht das Eneas und Dido, Lavinia und Turnus, Latinus und alle anderen nicht zu
Christen und den Eneasroman nicht zu einer geistlichen Dichtung mit christlichtheologischem Bedeutungsgehalt. Aber Veldeke dichtet im Mittelalter, bearbeitet Vergils
Aeneis unter mittelalterlichen Bedingungen und verheimlicht dies nicht. Vielmehr schlägt
er einen Ton an, der dem mittelalterlichen Publikum vertraut war und der Vergils Aeneis
seinem Publikum näher brachte.
Studia Neophil 73 (2001)
Mittelalterliche Gegenwart im ‘Eneasroman’ 81
VII
Das eigentlich Christliche in Veldekes Dichtung findet sich erst am Schluß. Nach der
Schilderung der Hochzeit zwischen Eneas und Lavinia enthält der Eneasroman, wie auch
der Roman d’Eneas, ein zweites Geschlechterregister (349,33–352,18; RdE 10131–
10156), das an das erste Geschlechterregister während Eneas’ Unterweltsfahrt (108,12–
109,20; RdE 2933–2968) anknüpft.6 1 Während der Roman d’Eneas jedoch mit der
Erwähnung der Gründung Roms endet, fügt Veldeke nach der Erwähnung der
Friedensherrschaft des Kaisers Augustus einen heilsgeschichtlichen Ausblick an:
bõˆ des zõˆten wart der gotes sun
geboren zu Bethelehêm,
der sint gemartert wart ze Jersalêm
uns allen ze trôste,
wander uns erlôste
ûz der freislõˆchen nôt,
wandern êwigen tôt
mit sõ ˆnem tôde ersterbete,
den Âdâm an uns erbete.
alsô hât her uns erlôst.
daz is uns ein michel trôst,
ob wirz selbe behalden.
sõˆn gnâde sal es walden
und sal uns gesterken
an solõˆchen werken,
als uns zer sêle gût sõ ˆ.
âmen in nomine dominõˆ. (352,2–18)
Diese Stelle hat zu der lebhaften Diskussion geführt, ob und in welcher Weise der
Eneasroman typologisch-heilsgeschichtlich zu verstehen ist. “Was im ‘Geschlechterregister I’ […] als Verheißung gesprochen war, erweist sich im ‘Geschlechterregister II’
des Epilogs als seine Erfüllung. Die zwischen Aeneas und Augustus liegenden, also
der Geburt Christi […] vorausgehenden fünf Generationen dürften kaum anders als eine
in Generationen verdichtete säkulare Kontrafaktur zu den fünf alttestamentarischen
Weltaltern vor Augustus und Christus zu verstehen sein. Die in der Unterwelt gesprochene
Verheißung über das Aeneasgeschlecht als den Ursprung des römischen Machtreichs unter
Romulus […] erweist sich im Epilog des christlichen Dichters als erfüllt im Sinne des
Ursprungs des römischen Friedensreiches unter Augustus mit der Geburt Christi […].”62
Doch ob Veldeke in diesem Schluß des Eneasromans dessen “heilsgeschichtlichen Ort”63
festlegt oder ob gar eine Typologie intendiert ist, bleibt fraglich: denn wohl kaum erhält
hier “die Antike eine dem Alten Testament vergleichbare Rolle der Vorbereitung auf die
christliche Erfüllung”.6 4 Zwar wandelt sich unter der Herrschaft Augustus’ durch die
Geburt Christi die Weltgeschichte in Weltheilsgeschichte, aber damit wird die Antike
nicht erfüllt (adimplere), sondern eher abgelöst (solvere; vgl. Mt 5,17). Zudem bietet der
Eneasroman, mit Ausnahme des heilsgeschichtlichen Schlusses, keinen Hinweis auf eine
christlich-typologische Lesart. “Veldeke […] hat mit keiner Silbe angedeutet, sein Held
Eneas sei bestimmt, das antike Muster christlich zu überhöhen” – doch für eine solche
Deutung muß die Typologie schon im Werk explizit gemacht werden.65
Freilich wurde Vergils Aeneis im Mittelalter christlich überhöht,6 6 besonders seit dem
Vergil-Cento der Faltonia Betitia Proba († um 370): “Vergilium cecissime loquar pia
munera Christi.”67 Auch Veldekes Dichtung überliefert nicht nur antike Tradition – er
verleiht ihr eine mittelalterliche Gegenwart. So wie das mittelalterliche Rittertum als in
der Antike verwurzelt gesehen wurde,6 8 so finden wir auch im Eneasroman ein
mittelalterliches Rittertum, das im antiken Handlungskontext kämpft, siegt und verliert;
so wie Veldekes Darstellung der Unterwelt mit deutlich christlichen Momenten durchsetzt
ist (wiewohl sie eine Unterwelt bleibt und nicht zur Hölle mutiert),69 so liegt doch im
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C. Kottmann
Studia Neophil 73 (2001)
Eneasroman eine antik-mittelalterliche Intertextualität vor, die natürlich nicht willkürlich
gestaltet ist, aber sicher auch nicht christlich-typologisch gemeint ist. Indem Veldeke eine
Geschichte aus der ‘fremden’ Antike nacherzählt, gewinnt er zu seinem Stoff eine
historische Distanz, die er aber gleichzeitig dadurch wieder verringert, als daß er durch
Modernisierung und Anpassung an das 12. Jahrhundert dieser Distanz entgegenzuwirken
versucht.7 0 Durch die Verschränkung zweier Kulturkreise, durch die Verankerung des
einen im anderen legimiert Veldeke seine Dichtung; sie erhält auf diese Weise ihre
Daseinsberechtigung als antike Tradition in der mittelalterlichen Gegenwart.71 Der
heilsgeschichtliche Schluß mit dem christologisch-soteriologischen Ausblick ist nicht
mehr als eine Perspektive, die der vorhergehenden Handlung ihren Platz in der
Weltgeschichte zuweist.7 2 Das macht die antiken Götter nicht zum summum ens des
Christentums; vielmehr bleibt die Antike als (modernisierte) Antike bestehen.
Dabei differenziert Veldeke. Die antiken Götter erscheinen nicht als homogenes
Ganzes, sondern auf verschiedenen Ebenen. Die gote leiten das Geschehen, indem sie die
Handlung motivieren: Eneas macht sich überhaupt erst auf, weil die Götter es ihm
auftragen. Diese metaphysische Handlungsmotivation findet aber immer ihre rationale,
‘menschliche’ Bestätigung und wird somit transparent. Im Sinne der Minne-Idee werden
die Minnegötter Venus, Amor und Cupido funktionalisiert und allegorisiert – und damit
mittelalterlich rationalisiert. Schließlich werden mythologische Vorstellungen (gesehen
an der Juno- oder an der Venus-Episode) in ihrem Gehalt reduziert bzw. bewußt distanziert
geschildert.
Eine Legitimation der Antike bieten auch die sogenannten Stauferpartien des
Eneasromans (226,18–227,10; 347,14–348,4): Sowohl die Wiederauffindung des Pallasgrabes als auch die Erinnerung an das Mainzer Hoffest verleihen dem antiken Geschehen
eine aktuelle Bezugsmöglichkeit, so daß es an Relevanz in der mittelalterlichen
Gegenwart gewinnt. Die Antike findet ihre Legitimation im Mittelalter, und das
Mittelalter wird an die Antike rückgebunden – und damit legitimiert. Vor diesem
Hintergrund scheint Veldekes Dichtung eher delectare als prodesse; sein “Hauptanliegen
war Nacherzählung in einer Form, die dem auf ritterliche Kämpfe und Minneabenteuer
vordringlich gerichteten Zeitgeschmack Rechnung trug. Man wird dem Dichter
bescheinigen dürfen, daß er diese Publikumswünsche zu ungefähr gleichen Teilen in
seinem Werk berücksichtigt und, wie der Erfolg beweist, auch befriedigt hat.”7 3
Gott und die Götter: Heinrich von Veldeke hält an der Antike fest und haucht ihr keinen
christlichen Odem ein, wiewohl er doch seine eigene christliche Herkunft nicht leugnet
oder versteckt. Doch seine bisweilen “christliche Sprechweise” (M.-L. Dittrich) spricht zu
einem Publikum, das eben nicht mehr in der Antike steht, und womit er historische
Distanzen zu überbrücken versucht. Ohne Bezüge zwischen antik-heidnischer und
mittelalterlich-christlicher Zeit zu vernachlässigen, liegt es ihm nicht daran, seine Helden
als “heimliche Christen” (W. Schröder) darzustellen oder seine Dichtung integumental zu
codieren. Er schlägt einen Ton an, der die Antike als Alterität anerkennt, und er will von
dieser Alterität in seiner Zeit erzählen. Im Vergleich zum etwas früheren Rolandslied des
Pfaffen Konrad (um 1170), das noch zum Kampf gegen die Heiden in aller Härte aufruft
(V. 60f.: “die heizent des tuvelis kint / und sint allesamt uirlorin”7 4 ), ist dies bemerkenswert.
Hasenbühlsteige 33
DE-72070 Tübingen
Germany
ANMERKUNGEN
1 Vgl. Alfred Ebenbauer, “Antike Stoffe”, in: Epische Stoffe des Mittelalters, hg. von Volker Mertens und
Ulrich Müller, Stuttgart 1984, S. 247–289; des weiteren Udo Schöning, Thebenroman – Eneasroman –
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Trojaroman. Studien zur Rezeption der Antike in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts, Tübingen
1991.
Vgl. dazu Friedrich von Bezold, Das Fortleben der antiken Götter im mittelalterlichen Humanismus, Bonn
1922.
Bezold, a.a.O. (Anm. 2), S. 1.
Bezold, a.a.O. (Anm. 2), S. 2.
Zur Einführung vgl. Hans Fromm, “Der Eneasroman Heinrichs von Veldeke”, in: H. F., Arbeiten zur
deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 80–100.
Verwendet werden folgende Ausgaben: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar
und einem Nachwort von Dieter Kartschoke, durchgesehene und bibliographisch ergänzte Au ., Stuttgart
1997; Le Roman d’Eneas, übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1972; Vergil,
Aeneis. Lateinisch und deutsch, hg. und übersetzt von Johannes Götte, München 6 1983. – Zitate aus dem
Eneasroman werden lediglich mit der Zählung Ettmüllers belegt, der Roman d’Eneas (im folgenden: RdE)
und Vergils Aeneis (im folgenden: Aen.) mit den entsprechenden Zeilen bzw. Buch- und Zeilenangaben.
Vgl. dazu Wolfgang Brandt, Die Erzählkonzeption Heinrichs von Veldeke in der ‘Eneide’ . Ein Vergleich mit
Vergils ‘Aenei s’, Marburg 1969, S. 43f.
Karl Büchner / Erwin Mehl, “P. Vergilius Naso, der Dichter der Römer”, in: Paulys Realencyclopädie der
classischen Altertumswissenschaften, hg. von Konrad Ziegler u.a., 2. Reihe, 15. / 16. Halbbd., Stuttgart 1955/
58, Sp. 1021–1493, hier Sp. 1461.
Vgl. Marie-Luise Dittrich, “gote und got in Heinrichs von Veldeke Eneide”, Zeitschrift für deutsches
Altertums und deutsche Literatur 90, 1960/61, S. 85–122; 198–240; 274–302, hier S. 88ff.
Dieter Kartschoke, “Didos Minne – Didos Schuld”, in: Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung
in Deutschland, hg. von Rüdiger Krohn, München 1983, S. 99–116, hier S. 99.
Anette Syndikus, “Dido zwischen Herrschaft und Minne. Zur Umakzentuierung der Vorlage bei Heinrich von
Veldeke”, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 114, 1992, S. 57–107, hier S. 104.
Vgl. dazu Fritz Peter Knapp, Der Selbstmord in der abendländischen Epik des Hochmittelalters, Heidelberg
1979, S. 135–143 und Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 200–212.
Wer mit ‘Gott’ (75,15: “gote”) gemeint ist, wird nicht ganz deutlich. Obwohl gote singularisch gebraucht
wird, muß nicht der Christengott gemeint sein; vielmehr Venus, der Didos Opfer zukommt und die Dido
zugleich auch anklagt. Dies könnte das ambivalente Verhältnis widerspiegeln, in dem Dido mit den Göttern
beŽ ndet. Einerseits war ihre Minne durch den Kuß des Ascanius göttergewollt und durch Venus veranlaßt
(37,23–39,12), doch andererseits steht ihre Minne dem Götterwillen, Eneas betreffend, im Weg.
Kartschoke, a.a.O. (Anm. 10), S. 111.
Ob deswegen Veldekes gote und Vergils fatum die gleiche Funktion für die Motivation der Handlung
einnehmen, darf bezweifelt werden, vgl. Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 91 und Marie-Luise
Dittrich, Die ‘Eneide’ Heinrichs von Veldeke. 1. Teil: Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d’Eneas
und Vergils Aeneis, Wiesbaden 1966, S. 155f.
Vgl. Rosemarie Deist, “The Kiss of Ascanius in Vergil’s Aeneid, the Roman d’Eneas and Heinrich von
Veldeke’s Eneide”, The German Quarterly 67, 1994, S. 463–469.
Auch Didos Minne ist im Roman d’Eneas (und auch bei Vergil) intensiver und maßloser, vgl. Josef Quint,
“Der ‘Roman d’Eneas’ und Veldekes ‘Eneit’ als frühhöŽ sche Umgestaltung der ‘Aeneis’ in der “Renaissance”
des 12. Jahrhunderts”, Zeitschrift für deutsche Philologie 73, 1954, S. 241–267, hier S. 259.
Vgl. Gerrit J. Oonk, “Rechte minne in Veldekes Eneide” Neophilologus 57, 1973, S. 258–273, hier S. 259–
262.
Rüdiger Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur,
Bern / München 1985, S. 213.
Schnell, a.a.O. (Anm. 19), S. 214.
Vgl. Hugh Sacker, “Heinrich von Veldeke’s Conception of the Aeneid”, German Life & Letters 10, 1956/57,
S. 210–218, hier S. 211f. Vgl. auch Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 104–108.
Sacker, a.a.O. (Anm. 21), S. 213. – 110,31–36.
Vgl. Werner Schröder, “Gelücke bei Veldeke und anderswo”, in: W. Sch., Veldeke-Studien, Berlin 1969, S.
104–117.
Zur Opposition des Turnus und der italischen Königin vgl. Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 213–219;
224–231.
Vgl. Thomas Keilberth, Die Rezeption der antiken Götter in Heinrichs von Veldeke “Eneide” und Herborts
von Fritzlar “Liet von Troye”, Diss. Berlin 1975, S. 61f.
In der Darstellung Junos Verehrung in Karthago möchte ich keine explizite Intensivierung oder
Abschwächung der Götterdarstellung zwischen Heinrich von Veldeke und dem anonymen Dichter des
Roman d’Eneas sehen, so wie Keilberth, a.a.O. (Anm. 25), S. 68–72, das im Ansatz tut. Freilich Ž ndet eine
Reduzierung der mythologischen Momente in den mittelalterlichen Eneas-Romanen gegenüber Vergils
Aeneis statt (vgl. u.a. Aen. I,446f.).
Somit ist auch Veldekes Berufung auf Vergil (21,25) unkorrekt: Vergil erzählt nichts von einem goldenen
Apfel. Doch Veldeke beruft sich auf Vergil wohl kaum aus Gründen einer polarisierenden Figurenzeichnung
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Venus (Eneas) – Juno, wie Dittrich, Eneide, a.a.O. (Anm. 15), S. 17, meinte, sondern er bezieht sich auf
Vergils assoziative Andeutung, die eine Kenntnis der Episode voraussetzt.
Auch Ovid (16. Heroidenbrief, 65–88) kann nicht als direkte Vorlage für den Roman d’Eneas gesehen werden,
vgl. Renate Kistler, Heinrich von Veldeke und Ovid, Tübingen 1993, S. 34–38. Vgl. auch Keilberth, a.a.O.
(Anm. 25), S. 66.
Keilberth, a.a.O. (Anm. 25), S. 64–68: Der Kon ikt Juno – Venus wird bei Veldeke zwar angesprochen
(21,26–28), aber er wird nicht weiter thematisiert; und vor allem wird Eneas, um den und dessen Auftrag es
schließlich geht, nicht mit in diesen Kon ikt hineingezogen.
Vgl. dazu die starke Verkürzung der Seesturm-Episode gegenüber Vergil: Dessen gesamtes 3. Buch, das nur
von den Irrfahrten des Eneas erzählt, nahmen sowohl der französische Dichter des Roman d’Eneas als auch
Heinrich von Veldeke nur ganz am Rande auf. Vgl. Nikolaus Henkel, “Vergils ‘Aeneis’ und die
mittelalterlichen Eneas-Romane”, in: The Classical Tradition in the Middle Ages and the Renaissance.
Proceedings of the Ž rst European Science Foundation Workshop on “The Reception of Classical Texts”
(Florence, Certosa del Galluzzo, 26–27 June 1992), hg. von Claudio Leonardi und Birger Munk Olsen,
Spoleto 1995, S. 123–141, hier S. 134.
Franz Bömer, P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Kommentar, Bd. II: Buch IV–V, Heidelberg 1976, S. 68.
Vgl. Kistler, a.a.O. (Anm. 28), S. 77–80, und zuvor schon Keilberth, a.a.O. (Anm. 25), S. 213.
Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 121.
Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 120.
Anders Keilberth, a.a.O. (Anm. 25), S. 211–215.
Vgl. dazu Peter Dinzelbacher, “Über die Entdeckung der Liebe im Hochmittelalter”, Saeculum 32, 1981, S.
185–208; Walter Haug, “Die Entdeckung der personalen Liebe und der Beginn der Ž ktionalen Literatur”, in:
Aufbruch – Wandel – Erneuerung. Beiträge zur “Renaissance” des 12. Jahrhunderts, hg. von Georg Wieland.
Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 65–85. Zuvor schon, aber anders akzentuiert, Joachim Bumke, HöŽ sche
Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 8 1997, S. 503–582, und Burkhart
Wachinger, “Was ist Minne?”, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 111 (1989), S.
252–267.
Vgl. dazu Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 231–240 und 274–286; Keilberth, a.a.O. (Anm. 25), S.
207–209 und 219–247; Kistler, a.a.O. (Anm. 28), S. 200–212.
Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan und Isold, hg. von Friedrich Ranke, Dublin / Zürich 14 1969, V. 4728:
“Wie wol sanc er von minnen.”
Ludwig Wolff, “Die mythologischen Motive in der Liebesdarstellung des höŽ schen Romans”, Zeitschrift für
deutsches Altertum und deutsche Literatur 84, 1952/53, S. 47–70, hier S. 53.
Zur antiken Vorstellung von Venus, Amor und Cupido vgl. Keilberth, a.a.O. (Anm. 25), S. 201–203 und
Heinrich Fliedner, Amor und Cupido. Untersuchungen über den römischen Liebesgott, Meisenheim am Glan
1974.
Bezold, a.a.O. (Anm. 2), S. 15.
Vgl. Friedrich Ohly, “Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter”, in: F. O., Schriften zur mittelalterlichen
Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S.1–31, hier S. 5. Kartschokes Übersetzung (Heinrich von Veldeke,
Eneasroman, a.a.O. [Anm. 6]) zu 264,22: ‘Damit ist die Minne gemeint’ ist dementsprechend schwach und
fängt die Intention nicht recht ein.
Arthur Groos, “‘Amor and his brother Cupid’. The ‘Two Loves’ in Heinrich von Veldeke’s ‘Eneit”’, Traditio
32, 1976, S. 239–255, hier S. 254. Zur Minne-Allegorie allgemein vgl. Clive S. Lewis, The Allegory of Love. A
Study in Medieval Tradition, New York 1958, und auch Schnell, a.a.O. (Anm. 19), bes. S. 349–505.
Vgl. Kistler, a.a.O. (Anm. 28), S. 205f.
Vgl. Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 233.
Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 240.
Venus spielt eine gewisse Doppelrolle als (besorgte) Mutter Eneas’ (s. III., 1.) und als Liebesgöttin.
Gottesnennungen im Singular kommen im Roman d’Eneas nur an fünf Stellen vor, so daß auf eine Analyse
weitestgehend verzichtet werden kann; vgl. Keilberth, a.a.O. (Anm. 25), S. 397, Anm. 1.
Keilberth, a.a.O. (Anm. 25), S. 397.
Quint, a.a.O. (Anm. 17), S. 251.
Magistri Adam Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesia PontiŽ cum, in: Quellen des 9. und 11.
Jahrhunderts zur Geschichte der hamburgischen Geschichte und des Reiches, hg. und übersetzt von Werner
Trillmich und Rudolf Buchner, Darmstadt 1961, S. 135–503, hier S. 464 [IV,22]. – Zu “adiutorem in
oportunitatibus” vgl. Ps 9,10.
Vgl. dazu Dittrich, Eneide, a.a.O. (Anm. 15), S. 257–65.
Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 218.
Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 219–224, hier S. 220.
In einer Wehklage der Königin aus Pallanteum begegnet uns wieder ähnliches: Dem Versagen der Götter
(222,4) wird der Gottesglaube gegenübergestellt (222,36f.).
Vgl. Hans Fromm, “Eneas der Verräter”, in: Festschrift für Walter Haug und Burkhart Wachinger, Bd. I, hg.
von Johannes Janota u.a., Tübingen 1992, S. 139–163.
Vgl. auch, interessante Aspekte ansprechend, Hans Naumann, “Der wilde und der edle Heide. Versuch über
die höŽ sche Toleranz”, in: Vom Werden des deutschen Geistes. Festgabe für Gustav Ehrismann, hg. von Paul
Studia Neophil 73 (2001)
Mittelalterliche Gegenwart im ‘Eneasroman’ 85
Merker und Wolfgang Stammler, Berlin / Leipzig 1925, S. 80–101.
58 Werner Schröder, “Veldekes ‘Eneit’ in typologischer Sicht”, in: W. Sch., Veldeke-Studien, a.a.O. (Anm. 23),
S. 60–103, hier S. 78. Eine Au istung für singularisches got S. 77, vgl. auch S. 79–85.
59 Schröder, ‘Eneit’, a.a.O. (Anm. 58), S. 80.
60 Dittrich, gote und got, a.a.O. (Anm. 9), S. 86.
61 Ein zweites Geschlechterregister Ž ndet sich in Vergils Aeneis nicht.
62 Friedrich Ohly, “Ein Admonter Liebesgruß”, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 87,
1956/57, S. 13–23, hier S. 22. Ähnlich Dittrich, Eneide, a.a.O. (Anm. 15), S. 595–597, mit Betonung
genealogischer Gesichtspunkte, oder Brandt, a.a.O. (Anm. 7), S. 59–68, bes. S. 67f.
63 Ohly, Liebesgruß, a.a.O. (Anm. 62), S. 22.
64 Friedrich Ohly, “Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung”, in: F. O., Schriften,
a.a.O. (Anm. 42), S. 312–337, hier S. 326f.
65 Werner Schröder, “Zum Typologie-Begriff und Typologie-Verständnis in der mediävistischen Literaturwissenschaft”, in: The Epic in Medieval Society. Aesthetic and Moral Values, hg. von Harald Scholler, Tübingen
1977, S. 64–85, hier S. 66. Vgl. auch Friedrich Ohly, “Halbbiblische und außerbiblische Typologie”, in: F. O.,
Schriften, a.a.O. (Anm. 42), S. 361–400. Eine mögliche halbbiblische Typologie könnte noch vorliegen
zwischen der Gründung Roms im ersten Geschlechterregister (109,4–12) als Typus und der Heilsbotschaft
Christi als Antitypus im zweiten Geschlechterregister (352,5–17), die – mittelalterlich gedacht – gut im
christlichen Rom lokalisiert werden kann. Doch auch dieser typologische Bezug wird nicht explizit gemacht
und ist daher assoziativ, und zudem auch für den Eneasroman und seine Rezeption nicht heilsgeschichlich
bedeutsam. Der Antitypus wirft sein Licht nicht zurück auf den Typus, auf vorher Gesagtes, Prophezeites, und
erfüllt dies nicht im Sinne von adimpletio (vgl. Ohly, ebd., S. 363f.).
66 Vgl. Hennig Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, S. 292–317, und auch Pierre
Courcelle, Lecteurs paṏens et lecteurs chrétiens de l’Énéide, Bd. 1: Les témoignages littéraires, Paris 1984,
bes. S. 703–752.
67 Elizabeth A. Clark / Diane F. Hatch, The Golden Bow, the Oaken Cross. The Vergilian Cento of Faltonia
Betitia Proba, Chico (Calif.) 1981, V. 23. Vgl. ebd., S. 171–181.
68 Vgl. Moriz von Craûn, hg. von Ulrich Pretzel u.a. Tübingen 4 1973, V. 1–11. Dazu auch Franz Josef
Worstbrock, “Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie”,
Archiv für Kulturgeschichte 47, 1965, S. 1–22.
69 Vgl. Hans Fromm, “Die Unterwelt des Eneas. Topographie und Seelenvorstellung”, in: Philologie als
Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann, hg.
von Ludger Grenzmann u.a., Göttingen 1987, S. 71–89.
70 Vgl. Rodney Fisher, “Das Fremde im frühhöŽ schen Roman. Einige Beobachtungen zu Veldeke und
Hartmann”, in: Begegnung mit dem ‘Fremden’. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten des VIII.
Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990, Bd. 7, hg. von Eijiro Iwasaki, München 1991, S. 256–
262.
71 Anders Ludwig Denecke, Ritterdichter und Heidengötter (1150–1220), Leipzig 1930, S. 90–109.
72 Vgl. Dietmar Wenzelburger, Motivation und Menschenbild der Eneide Heinrichs von Veldeke als Ausdruck
der geschichtlichen Kräfte ihrer Zeit, Göppingen 1974, S. 270f.
73 Schröder, ‘Eneit’, a.a.O. (Anm. 58), S. 101f.
74 Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg. von Carl Wesle / Peter Wapnewski. Tübingen 3 1985.