Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz

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Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz
1
Karlheinz Niclauß
Der Weg zum Grundgesetz
Demokratiegründung in Westdeutschland 1945-1949
Die Seitenzahlen und die Nummerierung der Anmerkungen sind nicht identisch
mit der Buchausgabe (Paderborn 1998). Zitate sollten anhand dieser überprüft werden.
(„Es gilt das gedruckte Wort“)
2
Inhalt
Vorwort
4
Einleitung: Die innerdeutsche Diskussion seit 1945 als Ausgangspunkt
6
I. Die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie
14
1. Wirtschaftsprogrammatik und Geschichtsinterpretation
14
2. Die verfassungspolitischen Grundlagen
27
II. Die Konzeption der konstitutionellen Demokratie
40
1. Gesellschafts- und Kulturkritik als Grundlage politischer Ordnungsvorstellungen
40
2. Verfassungsvorstellungen und Demokratieverständnis
49
III. Von den Frankfurter Dokumenten zum Parlamentarischen Rat
60
IV. Vorentscheidungen oder offene Fragen?
73
1. Parteipolitik und Personalentscheidungen im Frankfurter Wirtschaftsrat
74
2. Sozialisierung
83
3. Mitbestimmung
89
4. Öffentlicher Dienst
93
V. Der Konsensusbereich in der Verfassungsdiskussion nach 1945
95
1. Die Entscheidung für eine parlamentarische und parteienstaatliche Demokratie
95
2. Volksentscheid und Parlamentsauflösung
104
3. Demokratie- und Verfassungsschutz in der Nachkriegsdiskussion
109
3
VI. Die Demokratiediskussion im Parlamentarischen Rat
115
1. Funktion und Zusammensetzung der Länderkammer
a. Die Positionen
b. Der Verlauf der Beratungen
116
116
120
2. Zustimmungsgesetze
126
3. Die Judikative als Gegenstand der Demokratiediskussion
128
4. Umfang und Bedeutung der Grundrechte
134
5. Gesetzgebungskompetenzen und politische Ziele
146
6. Der Parlamentarische Rat und der Umfang der Bundesgesetzgebung
154
7. Verwaltung und Finanzen
161
VII. Der Verfassungskompromiss des Grundgesetzes
168
1. Parteitaktik und Demokratievorstellungen
168
2. Verbundföderalismus
178
3. Das Votum für eine pluralistische, soziale und repräsentative Demokratie
182
VIII. Grundgesetzberatungen und Bundestagswahl 1949
186
1. Parteien und Besatzungsmächte im Vorfeld der Bundestagswahl
186
2. Wahlverfahren und Wahlentscheidung 1949
192
3. Die Klärung offener Fragen
198
Quellen und Literatur
205
Abkürzungen
215
4
Vorwort
Der fünfzigste Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war ein willkommener Anlass,
die Neubearbeitung meiner 1974 erschienenen Studie über die Demokratiegründung in Westdeutschland
in Angriff zu nehmen. Die eigentliche Rechtfertigung für diesen Schritt liegt jedoch in der Aktualität der
zwischen 1945 und 1949 in Westdeutschland geführten Diskussion über Demokratie und
Verfassungsfragen. Viele Probleme, die damals die Politiker und die Öffentlichkeit beschäftigten, stehen
heute in leicht veränderter Form auf der politischen Tagesordnung. Das gilt z.B. für die Frage, wie eine
Reorganisation des Föderalismus mit einheitlichen Lebensverhältnissen im Bundesgebiet zu vereinbaren
sei. Beim Abwägen zwischen Grundrechtsschutz und dem Schutz von Demokratie und Verfassung lassen
sich ähnliche Parallelen aufzeigen. Auch das in der Nachkriegszeit viel diskutierte Subsidiaritätsprinzip
kam inzwischen zu europäischen Ehren. Die kleineren Einheiten wie Gemeinden, Regionen, Vereine,
Arbeitsplatz und Familie gewinnen in der Tat wieder an Bedeutung, weil sie anschaulichere
Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen als die gesellschaftliche Großorganisationen, die Staaten oder die
Europäische Union. Mit dem Ende des Wirtschaftswunders und den zunehmenden Finanzproblemen der
Sozialsysteme werden die in der Nachkriegszeit erörterten Fragen des Lastenausgleichs und der sozialen
Verpflichtung des Eigentums wieder aktuell. Das Spannungsverhältnis zwischen einem an sozialen
Änderungen orientierten Demokratieverständnis und dem Wunsch nach Machtaufteilung, um erworbene
Rechte und Positionen zu sichern, bleibt ohnehin bestehen. Schließlich ist die Legitimation des
Grundgesetzes immer noch in der Diskussion, weil sie nicht durch eine Volksabstimmung, sondern durch
ein zustimmendes Votum der Landtage erfolgte.
Neue Untersuchungen und veröffentlichte Quellen zur Nachkriegsgeschichte trugen dazu bei, dass diese
Bearbeitung zu einem neuen Buch führte. Zahlreiche Publikationen der letzten Jahre haben mir den
Einblick in Zusammenhänge erleichtert, die man zu Beginn der siebziger Jahre nur erahnen konnte. Mein
Ziel war, bei der Beschreibung des Demokratiegründungsprozesses den gegenwärtigen Stand der
Forschung zu berücksichtigen und an einigen Stellen Neues hinzuzufügen. Hierbei wurde ich von den im
Quellenteil genannten Archiven großzügig unterstützt. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Cordia
Großmann, Eva Leistenschneider, Michael Schäfer M.A., Monique Schulte und Ulrike Wolf halfen mir
bei den vielen Schritten, die zur Umwandlung eines alten in ein neues Buch notwendig sind. Allen danke
ich an dieser Stelle für ihre Unterstützung.
Bonn, Juli 1998
K. N.
5
Für Heidrun
6
Wer eine Verfassung macht, will nicht ein Ding an sich in die Welt setzen, sondern will damit die
Erreichung bestimmter Ziele fördern und bestimmte Gefahren abwehren. Er will damit Machtverhältnisse
und Chancen festlegen...
Carlo Schmid: Was ist Wissenschaft von der Politik?
Politik und Geist , 1961
Einleitung:
Die innerdeutsche Diskussion seit 1945 als Ausgangspunkt
Als die deutsche Kapitulation am 7./8. Mai 1945 den Zweiten Weltkrieg für den europäischen Bereich
beendete, war das Gebiet des Deutschen Reiches nahezu vollständig besetzt. Die Kapitulation erfolgte
bedingungslos, und die deutsche Niederlage war im Gegensatz zur Situation von 1918 so vollkommen,
dass für eine erneute Dolchstoßlegende kaum noch ein Anknüpfungspunkt blieb. Am 5. Juni 1945
übernahmen die Alliierten in Berlin durch eine entsprechende Erklärung auch formell die oberste
Regierungsgewalt in Deutschland, nachdem Großadmiral Dönitz mit seinem Kabinett, das sich als
geschäftsführende Reichsregierung verstand, Ende Mai von der britischen Militärregierung verhaftet
worden war. Auf der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945 entwarfen die Vertreter
Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion den Grundriss für eine
Viermächteverwaltung, an der sich auch Frankreich mit einer eigenen Besatzungszone beteiligte.
Deutschland wurde in diesem Entwurf grundsätzlich als politische Einheit betrachtet. Aufgrund der
zunehmenden Differenzen zwischen den Siegermächten entwickelte sich die Besatzungspolitik jedoch
anders als geplant: Der Alliierte Kontrollrat, das gesamtdeutsche Organ der gemeinsamen Militärverwaltung, fällte ab März 1946 keine politischen Entscheidungen mehr, und die tatsächliche
Regierungsgewalt ging in zunehmendem Maße auf die Militärgouverneure in den einzelnen Zonen über.
Die Spaltung Deutschlands stellt sich aus heutiger Sicht als ein vielschichtiger Prozess dar, der 1949 mit
der Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der drei Westzonen und der Deutschen
Demokratischen Republik in der sowjetischen Besatzungszone seinen vorläufigen Abschluss fand. Auf
internationaler Ebene sind die Jahre nach 1945 durch den Zerfall der Anti-Hitler-Koalition, durch
wachsende Spannungen zwischen den Alliierten und durch das Entstehen des Kalten Krieges
gekennzeichnet. Die Einrichtung von gesamtdeutschen Zentralverwaltungen wurde zunächst durch den
Einspruch Frankreichs verhindert, das auf der Potsdamer Konferenz nicht vertreten war und die Kontrolle
von Saargebiet und Rheinland sowie die Internationalisierung des Ruhrgebietes als Voraussetzung für
weitere Zugeständnisse betrachtete. Folgenschwerer für die weitere Entwicklung sollten die Differenzen
zwischen der Sowjetunion und den drei westlichen Besatzungsmächten in der Wirtschafts- und
Reparationspolitik sein: Der in Potsdam ebenfalls aufgestellte Grundsatz, Deutschland sei als
wirtschaftliche Einheit zu behandeln, ließ sich nicht verwirklichen, denn er hätte eine Einigung über die
Währungsreform, über eine gemeinsame Ernährungspolitik und ein Export-Import-Programm für
Gesamtdeutschland vorausgesetzt. Die ergebnislosen Besprechungen der vier Außenminister in den Jahren
1945 bis 1947 gaben den Anstoß zu jeweils getrenntem Vorgehen der Besatzungsmächte westlich und
östlich des „Eisernen Vorhangs“, so dass die Besatzungspolitik in den einzelnen Zonen zunehmend an
Bedeutung gewann. Hier bahnte sich eine unterschiedliche Entwicklung an, die das weitere Schicksal
Gesamtdeutschlands bestimmen sollte.
7
Der Verlauf des deutschen Einigungsprozesses hat der Geschichte und Vorgeschichte der Bundesrepublik
neue Aktualität vermittelt: Die Wiedervereinigung bedeutete im wesentlichen, dass das politische System
und die Verfassung Westdeutschlands auf das Gebiet der aufgelösten Deutschen Demokratischen
Republik ausgedehnt wurde. Auch die Wirtschafts-, Rechts- und Sozialsysteme der „alten“
Bundesrepublik gelten seitdem für die „neuen“ Bundesländer. Aufgrund dieser Entwicklung erhält die
Entstehungsgeschichte der westdeutschen Teilrepublik gesamtdeutsche Bedeutung - und zwar unabhängig
davon, wie man den Einigungsprozess im einzelnen bewertet. Die Beratungen des Grundgesetzes, die
westdeutschen Weichenstellungen zur Wirtschafts- und Sozialstruktur sowie die außenpolitische Option
der Bundesrepublik werden damit nachträglich in die Zeitgeschichte der neuen Bundesländer eingefügt.
Dieser Befund klingt wenig rücksichtsvoll, und die Aufgabe der Zeithistoriker würde erleichtert, wenn es
möglich wäre, die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR im Zusammenhang und gleichberechtigt
darstellen zu können. Die bisherigen Versuche in dieser Richtung sind verdienstvoll und, was die
Darstellung der Ereignisse betrifft, durchaus erfolgreich1. Sobald man jedoch systematische Aspekte
untersucht, stößt man bei diesem Unternehmen auf Schwierigkeiten, weil sich die unterschiedlichen
politischen und gesellschaftlichen Strukturen in Ost und West als Hindernisse erweisen. Dem
gemeinsamen Band der Nation fehlte von 1945 bis 1990 die „Staatsnation“und damit die politische
Komponente. Es erweist sich deshalb als zu schmal, um als Grundlage für eine gesamtdeutsche
Darstellung der politischen und sozialen Strukturen in Ost und West dienen zu können. Sobald die
Fragestellungen anspruchsvoller werden und die Demokratie-Diktatur-Problematik einschließen, tritt die
Teilung der Geschichte deutlich in den Vordergrund. Die beiden deutschen Staaten waren so stark dem
jeweiligen Lager verbunden, dass eine separate Geschichtsschreibung kaum zu vermeiden ist.
Die Strukturen der DDR bildeten von je her ein wichtiges Thema zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten
in der Bundesrepublik. Die DDR-Forschung umfasste ein breites Spektrum von der Zeitgeschichte über
die Politikwissenschaft bis zur Ökonomie und Jurisprudenz, litt jedoch unter dem Handicap, sich auf
Berichte und Sekundärmaterialien stützen zu müssen. Sie konnte deshalb nicht immer ein zutreffendes
Bild des SED-Regimes zeichnen, so dass z.B. auch die Prognose seines schnellen Zusammenbruchs
ausblieb. Ihre volle wissenschaftliche Bedeutung erreichte die DDR-Forschung paradoxerweise mit dem
Ende der DDR: Erst zu diesem Zeitpunkt wurden Dokumente und Berichte der Zeitzeugen zugänglich, die
eine qualifizierte wissenschaftliche Analyse ermöglichen. Die Geschichte der DDR und die Beschreibung
ihrer gesellschaftlich-politischen Strukturen wird deshalb in den folgenden Jahren ein zentrales Thema der
Zeitgeschichtsforschung und der benachbarten Disziplinen sein.
Die zeitgeschichtliche und politikwissenschaftliche Forschung zur unmittelbaren Nachkriegszeit in
Westdeutschland konzentrierte sich zunächst auf die Politik der Besatzungsmächte. Entsprechende
Untersuchungen wurden durch Aktenpublikationen sowie die Öffnung der amerikanischen, britischen und
schließlich auch der französischen Archive gefördert. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag zur deutschen
Zeitgeschichte zwischen 1945 und 1949. Im Westen kann man kaum von einer einheitlichen
Besatzungspolitik sprechen. Die USA, Großbritannien und Frankreich verfolgten unterschiedliche Ziele,
deren Koordination nur unter Schwierigkeiten gelang. Auch ihre verfassungspolitischen Vorstellungen
waren keineswegs deckungsgleich und erschwerten die Beratungen des Grundgesetzes. Die
Stellungnahmen der Militärgouverneure ließen oft lange auf sich warten und zeichneten sich durch
mehrdeutige Kompromissformulierungen aus.
Die Studien zur Besatzungspolitik sind allerdings durch ihre Fragestellung begrenzt: Sie bleiben trotz ihres
hohen Informationswertes zur deutschen Entwicklung Studien über einen Teilbereich der Außenpolitik der
betreffenden Besatzungsmacht. Aufgrund ihres Ansatzes haben Untersuchungen zur Besatzungspolitik
außerdem die Neigung, den deutschen Beitrag zum politischen Wiederaufbau zu unterschätzen. Der
Wirtschaftshistoriker Alan S. Milword bezeichnete dementsprechend „die fortdauernde, fast obsessive
Fixierung“ auf die Besatzungspolitik als den „betrüblichsten Aspekt der deutschen Geschichtsschreibung“.
1
C. Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Bonn 1991 (5. Aufl.); A.
M. Birke: Nation ohne Haus. Deutschland 1945-1961, Berlin 1989
8
Die Publikationen kämen in der Regel zu dem Resultat, der Einfluss der Besatzungsmächte auf die
deutsche Gesellschaft und Politik sei gering gewesen2. Bezeichnend für die Entwicklung bis zur Gründung
der Bundesrepublik ist in der Tat die Diskrepanz zwischen der obersten Gewalt der Besatzungsmächte
und ihren realen Möglichkeiten, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihren
Vorstellungen zu gestalten.
Da die Vorgeschichte der Bundesrepublik als Besatzungspolitik nur unzureichend erfasst wird, hielt man
nach anderen Konzepten Ausschau. Eine Beschreibung des Gründungsvorgangs als „Staatsgründung“ bot
sich angesichts des deutschen Verfassungsdenkens an, obwohl die Besatzungsmächte in den Frankfurter
Dokumenten vom 1. Juli 1948 nur von einer „Regierungsstruktur“ (governmental structure, structure
gouvernementale) sprachen. Der französische Text des Dokuments Nr. 1 vermied den Begriff „Eta“ für
den westdeutschen Zusammenschluss und verwandte ihn lediglich als Bezeichnung für die bereits
bestehenden Länder. Der Gesichtspunkt der „Staatsgründung“ gewinnt aber seine Bedeutung aus der
damaligen Diskussion der deutschen Politiker: Die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder hatten
den Militärgouverneuren der Besatzungsmächte am 10. Juli 1948 in ihrer Antwort auf die Frankfurter
Dokumente zunächst erklärt, es müsse alles vermieden werden, „was dem zu schaffenden Gebilde den
Charakter eines Staates verleihen würde“. Der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter vertrat auf der
Niederwald-Konferenz am 21. Juli 1948 die Auffassung, dass „der Schritt von der Nichtsouveränität zur
Vollsouveränität nicht auf einmal getan werden kann“, sondern die „Eroberung der Souveränität ein
historischer Prozeß“ sei. Carlo Schmid stellte auf Schloß Niederwald für Westdeutschland die beiden
Möglichkeiten „Staat“ oder „Gebilde“ zur Diskussion. Aus seiner Sicht kam nur ein „Gebilde“ in Frage,
weil die Staatsgewalt damals nicht vom Volk, sondern von den Besatzungsmächten ausgeübt wurde und
die sowjetische Besatzungszone nicht beteiligt war3.
Bei den Versuchen, die Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik als Staatsgründung zu beschreiben,
wird die Begriffsproblematik nur unzureichend berücksichtigt. Die Souveränitätsfrage ist in diesem
Zusammenhang besonders kompliziert, denn die Gründung der Bundesrepublik bedeutete keineswegs das
„Ende der Besatzung“ wie die Autoren der „Geschichte der Bundesrepublik“ glauben machen wollen4.
„Souverän“ wurde die Bundesrepublik frühestens mit der Aufhebung des Besatzungsstatuts im Mai 1955.
Eine Lösung des Problems erfolgte jedoch erst im Zuge der deutschen Einigung mit dem Vertrag über die
„abschließende Regelung“ zwischen den vier ehemaligen Besatzungsmächten, der Bundesrepublik
Deutschland und der DDR vom 12. September 1990. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Bundesrepublik
bereits Entscheidungsrechte in großer Zahl auf die europäischen Institutionen übertragen. Der Aspekt der
Souveränität führt damit zur statischen Betrachtungsweise einer politischen Entwicklung, in deren Verlauf
sich die Beziehungen zwischen den Besatzungsmächten und den Besetzten mehrfach grundlegend
veränderten.
Die Tatsache des Souveränitätsmangels kann also nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach 1945 auf dem
Gebiet der westlichen Besatzungszonen eine Emanzipation von der Besatzungsherrschaft stattfand. Dieser
Vorgang ist nur mit einer differenzierten Begriffsbildung zu erfassen. Edward Litchfield, der auf
amerikanischer Seite an der Besatzungspolitik beteiligt war, hat angesichts der terminologischen
Schwierigkeiten einen Vorschlag zur Aufteilung des Souveränitätsbegriffs gemacht: Er spricht den
deutschen Landesregierungen der amerikanischen Zone nach Annahme der Verfassungen eine begrenzte
Souveränität zu und bezeichnet auch das Bonner Regierungssystem in seiner Anfangsphase als „German
2
A. S. Milword: Literatur, in: VjZG 40, 1992, S. 456; als Beispiele L. Herbst (Hrsg.): Westdeutschland
1945-1955. Unterwerfung, Kontrolle, Integration, München 1986, und zuletzt H. Oberreuter/ J. Weber
(Hrsg.): Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, MünchenLandsberg 1996
3
PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 143 f., 191 und 199 f.
4
T. Eschenburg u. a.: Jahre der Besatzung 1945-1949, Stuttgart usw. 1983, S. 515 ff.; W. Benz: Von der
Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik. Stationen einer Staatsgründung 1946-1949, Frankfurt a. M.
1984
9
government of limited sovereignty“5. Der Versuch Litchfields, das Verhältnis zwischen deutscher und
alliierter Politik begrifflich zu klären, ist zwar nicht ganz zufriedenstellend, weil er auf der
Weiterverwendung des Souveränitätsbegriffs beruht. Er verdeutlicht jedoch recht gut die spezifische Form
der Besatzungspolitik in den drei westlichen Zonen, die trotz des scheinbaren Widerspruchs zwischen
Demokratie und Besatzungsherrschaft die Herstellung demokratischer Verhältnisse im Sinne der
westlichen Demokratietradition zum Ziele hatte.
Carl J. Friedrich bezeichnet die alliierten Militärregierungen in Italien, Österreich, Deutschland und Japan
als konstitutionelle Diktaturen und versteht darunter Besatzungsregime, die mit diktatorischen Mitteln die
Wiederherstellung einer als Konstitutionalismus verstandenen Demokratie anstreben6. Besatzung und
Demokratie schließen sich nach diesen Überlegungen nicht gegenseitig aus. Die Verbindung zwischen
beiden besteht allerdings nicht darin, dass die Besatzungsherrschaft selbst in irgendeiner Form als
„demokratisch“ anzusehen ist, sondern in der Tatsache, dass die Okkupation von Seiten der westlichen
Demokratien nur in Verbindung mit einem Demokratiegründungsprozess zu rechtfertigen war und nur bei
einem Erfolg dieses Prozesses sinnvoll abgeschlossen werden konnte.
Damit ist bereits angedeutet, dass die demokratische Komponente der Besatzung keineswegs als
altruistisches Motiv oder als pflichtgemäße Ausführung der in Potsdam niedergelegten Grundsätze
betrachtet wird, welche sich nur allzu schnell als unverbindliche Formelkompromisse erwiesen. Die
Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und der USA wurden vielmehr durch ihr eigenes Interesse und
durch die konkreten Aufgaben, die sich ihnen in Deutschland stellten, auf den Weg des demokratischen
Wiederaufbaus festgelegt. Am Beispiel der amerikanischen Besatzungspolitik, deren zeitgeschichtliche
Erforschung am weitesten fortgeschritten ist, wird deutlich, dass in diesem Zusammenhang nicht nur die
Perspektiven der internationalen Politik und die wirtschaftlichen Probleme ausschlaggebend waren. Die
erste Phase des Demokratisierungsprogramms in der amerikanischen Zone ist vielmehr, wie John Gimbel
in seiner Studie nachgewiesen hat, auf die Personalsorgen der Militärregierung zurückzuführen: General
Clay, der damalige stellvertretende Militärgouverneur, befürchtete schon 1945, das für eine effektive
Verwaltung notwendige Personal könne nur kurze Zeit in Europa gehalten werden. Er forcierte aus diesem
Grunde zunächst die administrative und dann auch die politische Beteiligung der Besetzten durch Wahlen
auf lokaler Ebene, obwohl er hierbei auf die Bedenken deutscher Politiker und seines Beraters James K.
Pollock stieß. Er schrieb damals zu dieser Frage an McCloy nach Washington: “We can hardly withdraw
the local detachments until the officials appointed by us have been replaced by others selected by the
Germans”7.
Diese Demokratisierungspolitik wurde zwar oberhalb der Länderebene vorübergehend unterbrochen, als
die britische und amerikanische Militärregierung der Bizone mit Rücksicht auf die Ost-West-Beziehungen
und auf die möglichst schnelle Durchführung der einheitlichen Wirtschaftspolitik zunächst einen rein
administrativen Charakter gaben. Mit dem Ausbau der Bizonenverwaltung nach der Moskauer
Außenministerkonferenz im Frühjahr 1947 nahm man aber die vorgezeichnete Linie wieder auf8. Die
Darstellung der Vorgeschichte der Bundesrepublik als Besatzungspolitik lässt demnach wichtige
Entwicklungen unberücksichtigt, während eine Beschreibung als Staatsgründungsvorgang Probleme bei
der zeitlichen und terminologischen Abgrenzung aufweist.
5
E. H. Litchfield: Political Objectives and Legal Bases of Occupation Government, in: E. H. Litchfield u.
a: .Governing Postwar Germany, Ithaca 1953, S. 15 f. und 34 ff.
6
C. J. Friedrich: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin usw. 1953, S. 694 ff.; vgl. hierzu die Beiträge
von G. Di Palma (Italien), F. C. Engelmann (Österreich), K. Niclauss (Westdeutschland) und A. E.
Tiedemann (Japan) in: J. H. Herz (Hrsg.): From Dictatorship to Democracy. Coping with the Legacies
of Authoritarianism and Totalitarianism, Westport - London 1982
7
J. Gimbel: The American Occupation of Germany. Politics and the Military 1945-1949, Stanford 1962,
S. 47 ff., wo auch das Schreiben Clays zitiert wird.
8
ausführlicher hierzu Kap. IV, unten S.... f.
10
Ein weitergehendes Verständnis des Gründungsvorganges im Gebiet der drei Westzonen ist jedoch
erreichbar, wenn dieser Prozess als Demokratiegründung beschrieben wird. Die Teilung Deutschlands
bildet hierbei den Rahmen für die Frage nach den politischen Ideen und Interessen beim Aufbau des
Verfassungs- und Regierungssystems in Westdeutschland. Während man sich bei einer Beschreibung als
Staatsgründung auf die Ereignisse von 1948/49 und die vorangehenden Entscheidungen der
internationalen Politik konzentrieren wird, steht bei der Darstellung der Demokratiegründung die
innerdeutsche Diskussion seit 1945 im Mittelpunkt der Untersuchung. Die damals entwickelten
Vorstellungen zur Gesellschaft und zur Verfassung der zweiten deutschen Republik sollen als Kriterien
dienen, um die Grundgesetzberatungen zu erklären und zu beurteilen. Dass die Lösungsvorschläge
zumindest bis 1947 für eine gesamtdeutsche Republik galten, spielt in diesem Zusammenhang eine
untergeordnete Rolle. Die Weichenstellung in Richtung einer auf die drei Westzonen beschränkten
Gründung hat ihren Inhalt nicht verändert. So sind zum Beispiel die sozialdemokratischen „Richtlinien für
den Aufbau der Deutschen Republik“ aus dem Jahre 1947 als Vorstudie für die Arbeit im
Parlamentarischen Rat anzusehen, obwohl sie sich ursprünglich auf eine gesamtdeutsche Verfassung
bezogen. Der Anteil der Besatzungsmächte am politischen Geschehen in Westdeutschland wird durch
diese Überlegungen nicht vernachlässigt, sondern nur unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet und in
erster Linie als „Einwirkung“ verstanden. In der geschichtlichen Entwicklung der Demokratie gab es
durchaus Situationen, wo das Volk nicht die alleinige Legitimationsgrundlage der Herrschaft bildete,
sondern diese Funktion mit einer anderen Instanz teilen musste. Ein politisches Gemeinwesen dieser Art
zeichnet sich durch eine fundamentale Aufteilung der Herrschaftsgrundlage aus, die nicht zu verwechseln
ist mit der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung. Diese Konstellation ist
überall dort anzutreffen, wo sich der demokratische Gedanke innerhalb der Erbmonarchie durchsetze, was
bei den europäischen Demokratien in der Regel der Fall war. Für die Demokratiegründung in
Westdeutschland nach 1945 trifft diese Aufteilung der Herrschaftsgrundlage ebenfalls zu: Die
Besatzungsmacht hatte ihre Legitimitätsgrundlage außerhalb Deutschlands. Sie ließ jedoch eine zweite, ihr
zunächst untergeordnete und auf der Willensäußerung der Besetzten beruhende Herrschaftsgrundlage zu
und förderte ihre Weiterentwicklung9.
Dieses Schema kommt bei der Annahme des Grundgesetzes und dem gleichzeitigen Erlass des
Besatzungsstatuts noch einmal deutlich zum Ausdruck. Das Grundgesetz entstand nicht nur auf Initiative
und unter dem Einfluss der Besatzungsmächte, sondern blieb auch unter dem Vorbehalt der Alliierten, die
volle Regierungsgewalt gegebenenfalls wieder zu übernehmen. Zum Zeitpunkt seiner Annahme stellte es
lediglich das Organisationsstatut für eine der beiden Herrschaftsgrundlagen in Westdeutschland dar und
war gleichzeitig dem Besatzungsstatut untergeordnet. Diese Gewichtsverteilung wird allerdings durch die
tatsächliche politische Entwicklung mehr als ausgeglichen: Das Besatzungsstatut stand von vornherein
unter dem Vorzeichen der Abschwächung und Selbstaufhebung, während das Grundgesetz und die mit
ihm festgelegte demokratische Legitimation sich nach und nach zur alleinigen Machtgrundlage des
westdeutschen Staates entwickelten. Das Nebeneinander von Besatzungsherrschaft und
Demokratiegründungsprozess hat damit geschichtliche Parallelen, die der Situation Westdeutschlands
nach 1945 einen Teil ihrer Außergewöhnlichkeit nehmen.
Zielsetzung und Verfahrensweise dieser Studie wurden bereits genannt: Aus der erweiterten
Vorgeschichte der Bundesrepublik sollen Kriterien entwickelt werden, die eine Einordnung der zweiten
deutschen Demokratie und ihres Grundgesetzes ermöglichen. Von den Vorstellungen zum politischen
Wiederaufbau, die nach 1945 die innerdeutsche Auseinandersetzung bestimmten, stehen daher die
Demokratiekonzeptionen im Mittelpunkt der nachfolgenden Untersuchung. In der Grundsatzdiskussion
der Nachkriegsjahre lassen sich deutlich zwei Varianten unterscheiden. Sie werden in den beiden
folgenden Kapiteln ausführlicher dargestellt und als „soziale Mehrheitsdemokratie“ und „konstitutionelle
Demokratie“ bezeichnet. Die beiden Demokratiekonzeptionen sind auf der einen Seite als politische
9
Dieser für das Verständnis der Nachkriegssituation grundlegende Gedankengang bei H. Jahrreiß:
Demokratie - Selbstbewußtsein, Selbstgefährdung, Selbstschutz - zur deutschen
Verfassungsproblematik seit 1945, in: Festschrift für Richard Thoma, Tübingen 1950, S. 71-91, S.81
11
Zielsetzungen zu verstehen. Sie wurden in dieser Eigenschaft durch die interessenpolitisch und
ideologisch bedingten Wertvorstellungen der Nachkriegszeit geformt und haben damit zeitgebundenen
Charakter. Gleichzeitig sind sie jedoch als Ausprägungen der modernen Demokratie anzusehen und stellen
damit eine Ergänzung des Gesamtbildes der Demokratietheorie dar. Sie erhalten hierdurch eine generelle,
über die spezifische Situation der Nachkriegszeit hinausgehende Bedeutung.
Die Unterscheidung dieser beiden Aspekte ist grundlegend für die Weiterführung der Untersuchung: Ihr
Ziel besteht nicht in der Kritik der zeitgebundenen Motivationen, die vorwiegend aus
wirtschaftspolitischen Überlegungen und Geschichtsinterpretationen bestehen. Es würde zum Verständnis
der Nachkriegsperiode wenig beitragen, wenn das damalige Bild der Politiker und der politischen
Publizistik von der jüngsten deutschen Geschichte nach den Maßstäben der zeitgeschichtlichen Forschung
beurteilt wird. Ihre Interpretationen und Wertungen sind vielmehr ein Teil der politischen Kultur der
Nachkriegszeit und in unserem Zusammenhang als Ausgangspunkt zur Beantwortung weiterführender
Fragestellungen anzusehen10. Entsprechendes gilt für die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen: Obwohl
man sich gerade hier um eine wissenschaftliche Begründung bemühte, waren für die Programmatik letzten
Endes doch politische Wertschätzungen ausschlaggebend. Aus der Zeitbedingtheit der Motivationen darf
jedoch keineswegs die Bedeutungslosigkeit der mit ihnen verbundenen Demokratievorstellungen
abgeleitet werden. In der Geschichte gibt es vielmehr zahlreiche Beispiele dafür, dass
Grundrechtsforderungen oder Verfassungskonzeptionen über ihre situations- und interessenbedingte
Motivation hinaus die weitere Entwicklung der Demokratie maßgebend beeinflusst haben und noch heute
als fester Bestandteil der Demokratietheorie anerkannt werden.
Die beiden Konzeptionen der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ und der „konstitutionellen Demokratie“
dienen gleichzeitig als Kriterien, um die Entstehung der Bundesrepublik als Demokratiegründung zu
beschreiben. Der politische Wiederaufbau nach 1945 wird damit keineswegs als ein von ideologiefreier
Sachlichkeit bestimmter Vorgang verstanden11, sondern als ein politischer Prozess, dessen Ablauf durch
miteinander konkurrierende Neuordnungsvorstellungen bestimmt wird. Hierbei ist zu berücksichtigen,
dass die Trennungslinie zwischen den beiden Demokratiekonzeptionen nicht identisch ist mit den
Abgrenzungen im damals neu entstehenden Parteiensystem. Vor allem in den Jahren 1946/47 bestanden
innerhalb der Parteien, deren Organisation damals noch weitgehend dezentralisiert war, sehr
unterschiedliche Vorstellungen. Erst bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates kann man davon
sprechen, dass sich die Differenzierung der Demokratieauffassungen weitgehend mit den Fronten im
parteipolitischen Kräftespiel deckt, obwohl auch hier noch abweichende Auffassungen nachzuweisen sind.
In den beiden folgenden Kapiteln wird zunächst die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie
dargestellt, weil sie in der Nachkriegssituation die Rolle des „initiativen“ Demokratietypus einnimmt. Die
konstitutionelle Demokratie hat demgegenüber einen mehr „reaktiven“ Charakter. Ihre
Neuordnungsvorstellungen stellen zwar eine eigenständige Reaktion auf den Untergang der Weimarer
Republik und das nationalsozialistische Herrschaftssystem dar. Sie müssen aber zum Teil auch als
Antwort auf die Intentionen der sozialen Mehrheitsdemokratie und den mit ihr verbundenen
Sozialvorstellungen interpretiert werden.
Die Berechtigung unserer Fragestellung ergibt sich nicht zuletzt aus der innenpolitischen Entwicklung
Westdeutschlands selbst, wo der Demokratiegründungsvorgang deutlich erkennbar ist. Die frühen Wahlen
und das Parteiensystem verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit. Die Zulassung
von politischen Parteien ist als erster Schritt in diese Richtung anzusehen, obwohl sie unter der Kontrolle
und unter Auflagen der Besatzungsmächte erfolgte. Die Lizenzierungspraxis in den westlichen
Besatzungszonen hatte zur Folge, dass der organisatorische Aufbau der Parteien von unten nach oben, d.
10
Zur Bedeutung geschichtlicher Entwicklungen für die politische Kultur eine Landes vgl. S. Verba:
Comparative Political Culture, in: L. W. Pye - S. Verba, Political Culture and Political Development,
New Jersey 1965, S. 516.
11
So E. Forsthoff: Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950-1964, Stuttgart
1964, S. 198.
12
h. von der Gemeinde- oder Kreisebene ausging, und erst um die Jahreswende 1945/46 zonale
Parteiorganisationen gebildet wurden. Die Militärregierungen waren dabei offensichtlich bestrebt, die Zahl
der zugelassenen Parteien zu begrenzen und das Wiederaufleben rechtsextremer Parteien zu vermeiden.
Lange Zeit wurde auch die überzonale Zusammenarbeit der Parteien (vor allem von französischer Seite)
behindert, was jedoch ebenfalls nicht ausreicht, dem Parteiensystem in den Westzonen seinen
demokratischen Charakter abzusprechen.
Schon seit 1945 kann man demgegenüber in der sowjetischen Zone im Osten Deutschlands von einer
abweichenden Entwicklung sprechen: Nach dem entsprechenden Befehl des sowjetischen
Oberbefehlshabers vom 10. Juni konnten sich hier die politischen Parteien zwar bereits vor der Potsdamer
Konferenz als Zonenparteien konstituieren. Sie schlossen sich jedoch gleichzeitig zu einem
antifaschistischen Block zusammen und vereinbarten die Einrichtung eines Verbindungsausschusses
sowie die Ausarbeitung eines gemeinsamen Aktionsprogramms. Die Kampagne für die Vereinigung von
SPD und KPD, welche schließlich unter dem Druck der Besatzungsmacht im April 1946 zustande kam,
sowie Eingriffe in die Personalia der Parteien (wie die Ablösung der CDU-Führung Hermes/ Schreiber im
Dezember 1945 und Kaiser/ Lemmer im Dezember 1947) zeigen, dass die Interventionen der
Besatzungsmacht hier einen grundsätzlich anderen Charakter hatten und die Entwicklung eines
demokratischen Parteiensystems nicht gestatteten12. Unter dem Aspekt der Demokratiegründung gewinnt
damit wieder Leonard Kriegers 1949 geäußerte These an Bedeutung, in den Monaten zwischen dem
militärischen Einmarsch und der Potsdamer Konferenz habe sich bereits auf beiden Seiten des späteren
Eisernen Vorhangs eine ungleiche politische und soziale Weichenstellung vollzogen. Die
Viermächteverwaltung fand aus diesem Grunde schon nicht mehr die politische Tabula rasa vor, für die sie
ihrem Grundgedanken nach eigentlich gedacht war, sondern statt dessen „a situation already consolidated
along certain lines“13.
Nach der Zulassung von politischen Parteien folgte mit den Wahlen auf Kommunal- und Landesebene in
Westdeutschland ein weiterer Schritt in Richtung auf die demokratische Selbstregierung. Analog zum
Parteizulassungsverfahren wurde zuerst in den Kreisen, Städten und Gemeinden gewählt. In der
amerikanischen Zone fanden diese Wahlen im Frühjahr 1946 statt; die britische und französische Zone
folgten im September/Oktober des gleichen Jahres. In der britischen Zone schlossen sich nach etwa einem
halben Jahr die Landtagswahlen an, während die amerikanische Militärregierung zunächst im Juni 1946
verfassungsberatende Landesversammlungen wählen ließ. In der französisch besetzten Zone beschritt man
bei der Konstituierung der verfassungsberatenden Versammlungen einen anderen Weg: Sie wurden zu
einem Teil von den Mitgliedern der Kreisversammlungen, zum anderen Teil von den Mitgliedern der
Stadt- und Gemeindeversammlungen benannt und damit indirekt gewählt. Theodor Heuss bezeichnete in
einer Niederschrift vom Juli 1947 die Zulassung politischer Parteien als verfrüht, weil die überregionalen
Kommunikationsmöglichkeiten fehlten und der Antiparteieneffekt der nationalsozialistischen Propaganda
noch wirksam war. Die frühen Gemeinde- und Kreistagswahlen in der amerikanischen Zone beurteilt er
dagegen positiv. Hiermit habe man die Menschen in den „Laufstall der Demokratie“ gestellt und sie vom
„bloßen Sprüchemachen“ abgehalten14.
Seit der ersten Fassung dieser Studie im Jahre 1974 wurde der Einblick in die westdeutsche
Demokratiediskussion der Nachkriegszeit durch zahlreiche Monographien und Dokumentationen
erweitert. Bei der Neubearbeitung konnten die Nachweise in den Anmerkungen zusammengefasst und
gekürzt werden, weil viele Quellen inzwischen als veröffentlichte Dokumentationen vorliegen. Die
12
K. Niclauß: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Paderborn
usw.1995 (UTB 1896), S. 32 ff.; A. Kaden: Einheit oder Freiheit. Die Wiedergründung der SPD
1945/46, Hannover 1964; H. Weber: Kleine Geschichte der DDR, Köln 1988 (2. Aufl.), S.16 ff.
13
L. Krieger: The Inter-Regnum in Germany. March - August 1945, in: Political Science Quarterly 1949,
S. 114
14
T. Heuss: Aufzeichnungen 1945-1947. Aus dem Nachlass herausgegeben... von E. Pikart, Tübingen
1966, S. 114
13
Anmerkungen beziehen sich teilweise auch auf mehrere Absätze des Textes. Die 1974 begonnene Edition
der Protokolle und Unterlagen des Parlamentarischen Rates gibt inzwischen, mit Ausnahme des
Hauptausschusses, die wichtigsten Beratungen zum Grundgesetz im Wortlaut wieder15. Sie wird im
folgenden als „PR Akten und Protokolle“ unter Angabe des Bandes zitiert (vgl. Anm. 3). Die 1948/49
hektographierten und gedruckten Materialien des Parlamentarischen Rates dagegen erscheinen in den
Anmerkungen unter „PR-...“. Zur Zitierweise weiterer Dokumentationen sei auf den Quellenteil am
Schluss des Buches (S....ff.) verwiesen.
15
Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, hrsg. vom Deutschen Bundestag und vom
Bundesarchiv, Bd.1-11, Boppard, später München 1974-1997
14
I. Die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie
1. Wirtschaftsprogrammatik und Geschichtsinterpretation
Die politischen Motive für die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie lassen sich anhand der
Diskussionen in Nachkriegsparlamenten, in Parteigremien und in der umfangreichen Publizistik der ersten
Jahre nach 1945 nachzeichnen. Ihre Grundlage bilden in erster Linie wirtschafts- und sozialpolitische
Überlegungen, die sich mit bestimmten Interpretationen der jüngsten deutschen Geschichte verbinden. In
diesem Zusammenhang muss noch einmal betont werden, dass es sich hierbei um politische Programmatik
handelt. Die ökonomischen Zielvorstellungen zum Beispiel wurden in der tagespolitischen
Auseinandersetzung entwickelt und sind nur unter Einschränkungen mit der wirtschaftswissenschaftlichen
Modellbildung zu vergleichen. Die beteiligten Politiker nahmen bei ihren Äußerungen Rücksicht auf den
Sprachgebrauch und die Wertvorstellungen des jeweils angesprochenen Publikums und standen
gleichzeitig selbst unter dem Eindruck der damals gängigen Schlagworte und Emotionen. Ihren
Äußerungen fehlt daher oft die begriffliche Klarheit und die Folgerichtigkeit wissenschaftlicher
Argumentation. Dieser Mangel wird jedoch zum Teil wieder ausgeglichen durch die Diskussionsbeiträge
in einer Reihe von Zeitschriften und in zahlreichen Einzelveröffentlichungen, wo man sich um eine
wissenschaftliche Begründung der Wirtschaftsprogrammatik bemühte. Aufgrund dieser Beiträge ergibt
sich ein genaueres Bild der damaligen Zielvorstellungen, welche im Rahmen dieser Studie jedoch immer
als politische Ziele und nicht als Positionen in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung verstanden
werden.
Das mit der sozialen Mehrheitsdemokratie verbundene Bild von der jüngsten deutschen Geschichte kann
seinen zeitgebundenen Charakter ebenfalls nicht verleugnen: Sein Ausgangspunkt ist die Beurteilung der
Weimarer Republik, deren Problematik man mit der begrifflich nicht sehr klaren Gegenüberstellung von
„politischer“ und „wirtschaftlicher“ Demokratie zu erfassen versuchte. Als ein entscheidender
Strukturfehler von Weimar wurde der Widerspruch zwischen der demokratischen Verfassung und dem
Einfluss wirtschaftlicher Machtgruppen angesehen. Die „revolutionäre Kraft von 1918/19“, so glaubte
man auf sozialdemokratischer Seite feststellen zu können, habe Deutschland zwar zur Republik
umgestaltet und den Gedanken der „politischen“ Demokratie verwirklicht. Sie sei aber nicht ausreichend
gewesen, um auch die „wirtschaftlichen Kräfte“ in diese demokratische Ordnung einzubeziehen16.
Der damalige Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Erik Nölting (SPD), erklärte 1947 vor dem
Landtag, wirtschaftliche Interessengruppen hätten die Möglichkeiten der demokratischen Verfassung
genutzt, um sich als „Staat im Staate“ zu konstituieren und die lediglich im politischen Bereich
durchgesetzte Demokratie nach und nach „abzumontieren“17. Im gleichen Sinne äußerte sich Walter Dirks,
als er in der ersten Nummer der „Frankfurter Hefte“ die Problematik der Weimarer Republik mit den
Worten kennzeichnete: „Wir haben nicht vergessen, dass die Demokratie von 1918 auch deshalb machtlos
war, weil sie nur den Staat, nicht aber die Wirtschaft zu demokratisieren unternahm“. Im Mittelpunkt
dieser Zeitgeschichtsinterpretation stand damit das ungeklärte Verhältnis zwischen dem demokratischen
Staat und der wirtschaftlich-sozialen Machtverteilung, das von Anfang an ein Teil der
Kompromissstruktur von Weimar gewesen ist. Die Konsequenz dieser Betrachtungsweise konnte nur sein,
das 1918 Versäumte nachzuholen und nach 1945 nicht nur die politische, sondern auch die „wirtschaftliche“ oder „soziale“ Demokratie zu verwirklichen18.
16
Abg. Gnoß (SPD) im nordrhein-westfälischen Landtag, 1. Wahlperiode, 20. Sitzung vom 27. November 1947
17
Ernannter Landtag von Nordrhein-Westfalen, 5. Sitzung vom 4. März 1947, sowie C. Nölting: Erik Nölting.
Wirtschaftsminister und Theoretiker der SPD (1892-1953), Essen 1989, S. 106 ff.
18
W. Dirks: Die zweite Republik (Frankfurter Hefte 1, April 1946, S. 17); Abg. Lausen (SPD) in der Diskussion
um Art. 22 der Verfassung von Württemberg-Baden (Verfassunggebende Landesversammlung, 4. Sitzung vom
16. September 1946)
15
Bei der Antwort auf die Frage, wie diese Erweiterung der „politischen“ Demokratie konkret zu verstehen
sei, zeigen sich jedoch deutliche Nuancierungen, welche sich bis in die Weimarer Diskussion hinein
zurückverfolgen lassen. Damals wurde die Forderung nach „Wirtschaftsdemokratie“ in einem doppelten
Sinn verstanden: Sie richtete sich einmal gegen die private Entscheidungsgewalt in Fragen von
gesamtwirtschaftlicher Bedeutung und strebte daher einen wachsenden Einfluss des demokratischen
Staates auf das Wirtschaftsleben an. Die Wirtschaft sollte grundsätzlich als öffentlicher Bereich anerkannt
werden, während das Privatinteresse als Maxime des wirtschaftlichen Handels nach und nach
zurückzutreten hatte. Diese Zielsetzung galt allerdings nicht als Antithese zur „politischen“ und
„bürgerlichen“ Demokratie, sondern als deren Weiterentwicklung.
Die Idee der Wirtschaftsdemokratie könne nur lebendig werden, heißt es in der gleichnamigen, von Fritz
Naphtali herausgegebenen Schrift, wenn die Arbeiterschaft des betreffenden Landes bereits Erfahrungen
in der politischen Demokratie habe. Auf der anderen Seite wurde „Wirtschaftsdemokratie“ im Gegensatz
zur „wirtschaftlichen Autokratie“ verstanden und erforderte nach Naphtali in erster Linie Mitbestimmung
der Arbeitnehmerschaft in der Sozialpolitik und bei den überbetrieblichen Wirtschaftsentscheidungen. Die
Neuordnung der Binnenstruktur der Betriebe war demgegenüber von zweitrangiger Bedeutung. Den
Überlegungen zur Wirtschaftsdemokratie lag der von Naphtali und seinen Mitarbeitern formulierte
Demokratiebegriff zugrunde: Sie bezeichneten Demokratie als „Selbstregierung des Volkes“, deren Wesen
die Aufhebung der Teilung zwischen Herrschenden und Beherrschten sei19. In den politischen Erklärungen
zur Demokratisierung der Wirtschaft nach 1945 kehrt dieser doppelte Aspekt wieder, ohne dass sich die
beteiligten Politiker des grundlegenden Unterschiedes bewusst waren. So sagte etwa Karl Arnold vor dem
Landtag von Nordrhein - Westfalen: „Bei einer Formaldemokratie in der Politik und beim Vorhandensein
eines Absolutismus in der Wirtschaft kann niemals eine Grundlage für eine sinnvolle Neuordnung des
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gefunden werden“. Der Zentrumsabgeordnete Dr. Spiecker
erhob vor dem gleichen Parlament die doppeldeutige Forderung, auch „Wirtschaft und Gesellschaft“
müssten jetzt mit „echter Demokratie“ erfüllt werden, und fügte hinzu: „Wir können nicht noch einmal
Gefahr laufen, die Lehren sammeln zu müssen, die uns in den Jahren 1919 -1933 und erst recht von 1933
-1945 schon erteilt worden sind“. Seine Partei hatte sich schon 1945 mit dem Soester Programm für eine
„Durchdringung des ganzen öffentlichen Lebens und der Wirtschaft mit wahrhaft demokratischem und
sozialem Geist“ ausgesprochen20.
Auf der anderen Seite finden sich in der politischen Auseinandersetzung aber auch Erklärungen zur
sozialen Demokratie, aus denen deutlich hervorgeht, dass man hierunter lediglich die Ausweitung der
demokratischen Entscheidungen auf den wirtschaftlichen Bereich verstand. In diesem Sinne äußerte der
Abgeordnete Knothe bei den hessischen Verfassungsberatungen: „Die politische Demokratie muss in
stärkerem Ausmaß, als solches während der Zeit von Weimar der Fall gewesen ist, der Wirtschaft
gegenüber wirksam werden . . . Es müssen deshalb nach unserer Auffassung in der neuen Verfassung alle
Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich die Wirtschaftsmächte nicht mehr reaktionär entfalten
können gegen die politische Demokratie und gegen den demokratischen Staat“. Auf einer
wirtschaftspolitischen Tagung der SPD erklärte Erik Nölting im Juni 1947, der Staat sei der Wirtschaft um
eine „bedeutende Nasenlänge“ voraus, weil sich hier das Prinzip der Demokratie bereits durchgesetzt
habe. Deshalb führe der Weg zur „Wirtschaftseroberung“ über die vorangehende „Staatseroberung“21.
Diese Auffassung von sozialer Demokratie wurde im weiteren Verlauf der Diskussion für die
19
F. Naphtali: Wirtschaftsdemokratie - Ihr Wesen, Weg und Ziel. (1928), Neuausg. Frankfurt 1966, S. 13, 21,
137, 154-163 und 182
20
Ernannter Landtag von Nordrhein-Westfalen, 5. Sitzung vom 4. März 1947; Landtag von NordrheinWestfalen, 1. Wahlperiode, 7. Sitzung vom 18. Juni 1947; O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Band II, S.
244 ff.
21
Verfassungsberatende Landesversammlung von Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946; E. Ott: Die
Wirtschaftskonzption der SPD nach 1945, Marburg 1979, S. 149 f..
16
mehrheitsdemokratische Konzeption maßgebend. Soziale Demokratie, wie man sie in der politischen
Auseinandersetzung der Nachkriegsphase verstand, ist damit vom Grundgedanken her gleichbedeutend
mit Hermann Hellers Konzeption des sozialen Rechtsstaates: Beide verlangen die „Ausdehnung des
materiellen Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Güterordnung“ und betrachten wirtschaftliche
Entscheidungen nicht mehr nur als private, sondern auch als öffentliche und damit politische
Entscheidungen22. Die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie verbundene Wirtschaftskonzeption ist
dementsprechend als eine Summe situations- und zeitbedingter Maßnahmen anzusehen, mit deren Hilfe
der Grundgedanke der sozialen Demokratie nach 1945 verwirklicht werden sollte. Zu ihrer
Charakterisierung kann man die drei Grundforderungen nach planmäßiger Wirtschaftslenkung,
Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft und nach Überführung bestimmter Betriebe in Gemeineigentum
(Sozialisierung) nennen.
Eine isolierende Betrachtung von Einzelmaßnahmen wird jedoch dem wirtschaftspolitischen
Reformprogramm nicht gerecht und reicht vor allen Dingen nicht aus, seine Bedeutung für die
Demokratiediskussion darzustellen. Der Sinn dieser Einzelforderungen ergibt sich vielmehr erst aus der
übergreifenden Forderung nach einer neuen Zielsetzung der Gesamtwirtschaft, die in der unmittelbaren
Bedarfsdeckung und in der Sicherung der Vollbeschäftigung bestand. Dieses Wirtschaftssystem können
wir in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch in der politischen Diskussion nach 1945 und im
wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum als „Gemeinwirtschaft“ bezeichnen. Im Gegensatz zum
marktwirtschaftlichen System, das als ein „Wirkungsgefüge“ einzelner, auf Erwerb ausgerichteter
Wirtschaftseinheiten anzusehen ist, versteht sich die Gemeinwirtschaft als „Zweckgebilde“ zur
unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse23. Der Begriff selbst wurde geprägt von Wichard v.
Moellendorf, der zu Beginn der Weimarer Republik Staatssekretär im Reichsfinanzministerium war und in
einer Denkschrift vom 7. Mai 1919 die Gemeinwirtschaft als eine „zugunsten der Volksgemeinschaft
planmäßig betriebene und gesellschaftlich kontrollierte Volkswirtschaft“ definierte. Gleichzeitig lehnte er
jedoch ab, Organisationsschemata und Kontrollmittel für die Gemeinwirtschaft festzulegen, weil es diese
in einer allgemein anwendbaren Form nicht gebe. Man könne zwar Zwecke, aber nicht Mittel zum Zweck
dogmatisieren 24.
Die gemeinwirtschaftliche Zielsetzung stand nach 1945 im Mittelpunkt der Verfassungsberatungen und
der Parteiprogramme. Der Bericht des württemberg -badischen Verfassungsausschusses forderte z.B., die
neue Landesverfassung sollte zum Ausdruck bringen, dass nicht mehr das Gewinnstreben, sondern das
„Wohl der Gemeinschaft“ der „primäre Zweck des Wirtschaftens“ sei. Bei den bayerischen Beratungen
erklärte der sozialdemokratische Abgeordnete Pittroff zur gleichen Frage: „Das Gemeinwohl steht im
Vordergrund, die rein liberalistische, nur auf den Eigengewinn ausgerichtete Wirtschaft hat keinen Platz
mehr“. Eine derartige Argumentation setzt allerdings voraus, dass man dem marktwirtschaftlichen System
die Eigenschaft einer optimalen Bedarfsdeckung abspricht, was in der Nachkriegssituation tatsächlich
weitgehend der Fall war. Die Berücksichtigung dieses idealtypisch gebildeten Wirtschaftsmodells ist für
das Verständnis der wirtschaftspolitischen Vorstellungen nach 1945 von besonderer Bedeutung: Die
Begriffsbestimmung der Gemeinwirtschaft als bewusste Gestaltung der Gesamtwirtschaft erklärt nämlich,
weshalb damals nicht die Eigentumsordnung, sondern die Planungsproblematik im Brennpunkt der
Auseinandersetzung stand. Der Abgeordnete Schlögl (CSU) brachte diesen Zusammenhang in der
bayerischen Verfassungsdiskussion auf die kurze Formel: „Gemeinwirtschaft setzt eine Planung der
22
H. Heller: Rechtsstaat oder Diktatur? Tübingen 1930, S. 11; ausführlicher W. Schluchter: Entscheidung für
den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik,
Köln-Berlin 1968, S. 169 ff.
23
Zur Begriffsbildung mit ausführlicher Literaturübersicht H. Ritschl. Gemeinwirtschaft im Handwörterbuch
der Sozialwissenschaften, Bd. 4. Göttingen 1965, S. 331 ff., sowie vom gleichen Autor: Die Prinzipien der
Gemeinwirtschaft, in: W. Weddigen (Hrsg.): Untersuchungen zur sozialen Gestaltung der Wirtschaftsordnung,
Berlin 1950, S. 11
24
Abgedruckt in W. von Moellendorf: Konservativer Sozialismus. Hamburg 1932, S.119, sowie vom gleichen
Autor: Deutsche Gemeinwirtschaft. Berlin 1916.
17
Wirtschaft voraus“25.
Die Forderung (oder die Möglichkeit) planmäßiger Wirtschaftsgestaltung fand daher Eingang in
zahlreiche Parteiprogramme und in nahezu alle westdeutschen Landesverfassungen der Jahre 1946/47 26.
Besonders weitgehend in dieser Hinsicht war der bayerische Entwurf. Er enthielt im dritten Hauptteil
Bestimmungen über die planmäßige Lenkung der Volkswirtschaft durch die Staatsregierung (Art. 113),
über die Lenkung des Außenhandels (Art. 124) sowie über die zentrale Leitung des Geld- und
Kreditwesens (Art. 122 und 123). Im weiteren Verlauf der Beratungen wurden diese Artikel nicht zuletzt
unter dem Einfluss der Besatzungsmacht wesentlich unverbindlicher gefasst 27. Die Priorität der
Wirtschaftslenkung kommt auch im hessischen Verfassungstext deutlich zum Ausdruck, der die
allgemeinen Prinzipien des Art. 38 (gesetzliche Lenkung der Herstellung sowie der Verteilung von
Wirtschaftsgütern) bewusst vor die Sozialisierungsbestimmung in Art. 41 stellt. Der Artikel 38 wurde
auch in der nachfolgenden Sozialisierungsdiskussion als das „Grundgesetz des Wirtschaftens der Zukunft
überhaupt“ bezeichnet, während man die Sozialisierungsproblematik selbst als „Einzelfrage“ verstand 28.
Die Planungsüberlegungen im Motivationsbereich der sozialen Mehrheitsdemokratie galten nicht nur der
ökonomischen Produktions- und Verteilungsproblematik, obwohl diese Fragen unter dem Eindruck der
Mangelsituation nach 1945 zunächst im Vordergrund standen. Sie bezogen sich vielmehr auf die
gesamtgesellschaftliche Entwicklung und sind in diesem Sinne als „politische Planung“ zu verstehen29.
Kennzeichnend für die Planungsdiskussion in den drei westlichen Besatzungszonen ist die bewusste
Abgrenzung gegenüber der durchgängigen Verwaltungswirt-schaft moderner Diktaturen. Die
Kriegsplanung des Nationalsozialismus und das sowjetische Planungsbeispiel betrachtete man als
Wirtschaftsformen, in denen eine unkontrollierte Bürokratie die Entscheidungsbefugnis über den
Produktionsapparat ausübt. Eine zentralverwaltete Wirtschaft wurde daher von den Vertretern der sozialen
Mehrheitsdemokratie bereits als die Grundlage eines totalitären Herrschaftssystems angesehen. Otto Suhr
stellte hierzu 1946 in der ersten Nummer der programmatischen Zeitschrift „Das sozialistische Jahrhundert“ die Frage, ob die Planwirtschaft neben der wirtschaftlichen Sicherheit auch die Freiheit
verbürgen könne, und fügte hinzu: „Jede Planung und Lenkung bedarf eines Apparats, jeder Apparat aber
bringt die Gefahr einer Machtausweitung für fremde Zwecke mit sich, und hier liegt vielleicht das
Problem unserer Zeit“30.
25
Bericht des Verfassungsausschusses von Württemberg-Baden, S. 14.; Bayerische Verfassunggebende
Landesversammlung, 6. Sitzung vom 13. September 1946
26
Vgl. die Resolution „Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik“ (Protokoll SPD - Parteitag 1947, S. 227 ff.), das
Werler Programm der Zentrumspartei vom November 1947, den Teil IV des Ahlener Programms sowie den
Abschnitt „Sozialismus und Eigentum“ der Frankfurter Leitsätze vom September 1945 (abgedr. bei O. K.
Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 42, 57 und 257); Art. 38 der hessischen Verfassung, Art. 39 der
Verfassung von Bremen, Art. 152 der bayerischen Verfassung sowie Art. 51 Abs. 2 und Art. 62 der Verfassung
von Rheinland-Pfalz. Auch Art. 25 der Verfassung von Württemberg-Baden wurde ursprünglich als Grundlage
für eine geplante Wirtschaft verstanden, wie aus den Erläuterungen Carlo Schmids zur Arbeit des
Verfassungsausschusses hervorgeht (Vorläufige Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28.
Mai 1946).
27
Text des Entwurfs in: Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Bayerischen
Verfassunggebenden Landesversammlung, Bd. I. München 1948, S. 1 ff.
28
So der hessische Wirtschaftsminister H. Koch (Hrsg.): Die Sozialgemeinschaften - Entwurf des hessischen
Sozialisierungsgesetzes mit Begründung und einführenden Beiträgen der Mitarbeiter des Hessischen
Wirtschaftsministeriums, o. O. o. J. (1948), S. 3.
29
K. Lompe: Gesellschaftspolitik und Planung. Probleme politischer Planung in der sozialstaatlichen
Demokratie, Freiburg 1971, S. 25 ff.
30
O. Suhr: Die große Linie, in: Das sozialistische Jahrhundert, Nov. 1946, S. 2.
18
Bei der Neuordnung der deutschen Wirtschaft sollte deshalb jede Form von „Staatswirtschaft“ vermieden
werden. Die Vorstellung von einer „gigantischen Staatsspinne“, von einer „bürokratischen
Staatsmaschinerie“, die den Menschen zum seelenlosen Automaten erniedrige, wurde allgemein als
Alptraum empfunden und veranlasste den sozialdemokratischen Wirtschaftspolitiker Erik Nölting zu der
Feststellung: „Hitler hat die Hybris des staatlichen Omnipotenzwahnes gebracht, und die heidnische
Staatsvergottung erzeugte im Grunde eine durchaus gesunde Reaktion. Alle Staatssuperlative sind
abgenutzt, und die Theorie der schrankenlosen Hoheit des Staates und der Staatsregierung findet heute
keine Anhänger mehr“31.
Gleichzeitig fand die Wirtschaftsorganisation der sowjetisch besetzten Zone in Westdeutschland eine
zunehmend kritische Beachtung. Am Beispiel Sachsen-Anhalts zeigte sich, dass die in einer als
„Industriewerke“ bezeichneten Körperschaft zusammengefassten Landeseigenen Betriebe keinerlei
Autonomie oder Selbstverwaltung besaßen, sondern vielmehr „vom Wirtschaftsministerium ausgehend“
eine durchgängige Befehlsgewalt von oben nach unten bestand. Auch nach der Umorganisation Anfang
1948 blieb die „Hauptverwaltung landeseigener Betriebe“ dem Wirtschaftsministerium unterstellt32.
Hiermit wird auch der oft angestellte Vergleich zwischen der Volksabstimmung in Sachsen über die
Enteignung von etwa 4000 Betrieben und der Volksabstimmung in Hessen über die
Sozialisierungsbestimmung der Verfassung fragwürdig: Die vergleichbare Mehrheit der Ja-Stimmen (78
bzw. 72 %) kann nicht über den grundsätzlichen Unterschied der zur Abstimmung stehenden Sachverhalte
hinwegtäuschen33.
Die nationalsozialistische Kriegswirtschaft und die sowjetzonale Entwicklung bestärkten die Befürworter
des gemeinwirtschaftlichen Programms in der Auffassung, dass eine demokratische Planung nur eine
begrenzte Planung sein konnte. Sie wandten sich daher in der politischen Auseinandersetzung gegen die
neoliberale These, jede Wirtschaftslenkung bilde den Ansatzpunkt zu einer durchorganisierten
Zwangswirtschaft. Adolf Arndt (SPD) sprach bei seiner Kontroverse mit dem Wirtschaftswissenschaftler
Franz Böhm in der „Süddeutschen Juristenzeitung“ von einem „tendenziösen Sprachdiktat der
sogenannten Freiburger Schule, die Sozialisierung mit Verstaatlichung gleichsetzt und Planwirtschaft mit
Zentralverwaltungswirtschaft“34. Die „relative Planwirtschaft“ - wie sie in der politischen Diskussion von
sozialdemokratischer Seite vertreten wurde - zeichnete sich dadurch aus, dass zwar die großen Linien der
Volkswirtschaft durch einen Rahmenplan bestimmt, gleichzeitig aber weite Bereiche des
Wirtschaftslebens durch marktwirtschaftliche Steuerungsmechanismen geregelt werden sollten. Die
Planung hatte sich nur auf die „entscheidenden Wirtschaftsvorgänge“ zu beziehen und zum Beispiel
festzulegen, wie viel Kohle gefördert, wie viel Wohnungen gebaut, wie viel Maschinen hergestellt werden.
Victor Agartz sprach sich in seinem Grundsatzreferat vor dem sozialdemokratischen Parteitag in Hannover
(1946), das mit anderen Wirtschaftsexperten der SPD abgesprochen war, gegen eine zentralistische
Wirtschaft „in der Form der marktlosen Wirtschaft“ aus, weil diese immer die Neigung habe, zu einer
31
Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 162
32
A. Arndt: Landeseigene Betriebe und Gemeineigentum. In: SJZ 2, Nr. 8, August 1947, S. 415-424; H. Zank:
Systeme der Sozialisierung, in: Das sozialistische Jahrhundert, Febr. 1948, S. 103-107. Vgl. auch die Bemerkung
Carl Derneddes: „Gar keine gemeinsamen Berührungspunkte für die Sozialisierung in Hessen haben sich mit den
sog. landeseigenen Betrieben in der Ostzone ergeben. Ihre Ausgestaltung bewegt sich so eindeutig und
ausschließlich in der Richtung der Verstaatlichung, dass sie rechtlich und tatsächlich nichts anderes als
weisungsgebundene Ausführungsorgane der staatlichen Wirtschaftsverwaltung sind“. (C. Dernedde: Auf der
Suche nach neuen Formen, in: H. Koch (Hrsg.): Die Sozialgemeinschaften. .. , S.16).
33
Diese Parallele etwa bei R. Kühnl: Konstituierung und Regierungssystem der Bundesrepublik ( PVS 8, 1967,
S. 323 - 352)
34
A. Arndt: Landeseigene Betriebe und Gemeineigentum...S. 422
19
politischen Diktatur auszuarten35.
Für die Frage nach der Vereinbarkeit von Planung und Freiheit bot sich damit eine Lösung an, die auch
den Intentionen des „christlichen Sozialismus“ entgegenkam. Hier strebte man ebenfalls eine Synthese der
„geplanten Volkswirtschaft mit dem alten abendländischen Gedanken der freien, aber verantwortlichen
Persönlichkeit“ an - eine Zielsetzung, die schließlich auch in den Frankfurter Leitsätzen der hessischen
CDU ihren Ausdruck fand36. Otto Heinrich von der Gablentz, einer der Mitbegründer der Berliner CDU,
kam zur gleichen Schlussfolgerung und schrieb über die zukünftige Wirtschaftsstruktur: „Wenn einmal der
Rahmen der öffentlichen Planung festgesetzt ist, dann haben alle personellen und sachlichen Eingriffe
politischer Instanzen aufzuhören. Die Wirtschaft muss innerhalb dieses Rahmens berechenbar bleiben.
Auf der einen Seite gelten die Daten des Planes und die Bedingungen der Gesetze, auf der anderen Seite
die Regeln des Marktes“. Ähnlich argumentierte Richard Löwenthal unter seinem Pseudonym Paul Sering.
Seiner Ansicht nach hatte der Leistungswettbewerb in einer grundsätzlich geplanten Wirtschaft auf
sogenannten „Teilmärkten“ stattzufinden, während der zentrale Plan „nur die großen Linien der Investition
und der Einkommensverteilung“ festlegen soll. In der Lenkungswirtschaft sollten demnach die
marktwirtschaftlichen Grundsätze der freien Preisbildung und des Wettbewerbs gelten. Mit den Methoden
der modernen Marktanalyse und Statistik glaubte man außerdem die Entscheidungsfreiheit des
Konsumenten auch in dieser grundsätzlich geplanten Wirtschaft sicherstellen zu können37.
Auf internationaler Ebene galt das Interesse der Befürworter einer gemeinwirtschaftlichen Lösung in erster
Linie den Planungsexperimenten der westlichen Demokratien. In Skandinavien, Neuseeland und in der
Politik der britischen Labour-Regierung glaubten sie Ansätze freiheitlicher Planung zu erkennen, die der
eigenen Orientierung dienen konnten. Große Beachtung fand in diesem Zusammenhang das amerikanische
Entwicklungsvorhaben im Tennesseetal - nicht zuletzt deswegen, weil der Bericht des Vorsitzenden der
Tennessee -Valley - Authority über dieses Projekt auch in deutscher Sprache vorlag. Die Vertreter des
gemeinwirtschaftlichen Programms betrachteten die Authority als Beispiel für eine weitgehend unabhängige und gleichzeitig auf kaufmännischer Grundlage arbeitende öffentliche Körperschaft, die ihre
Privatinitiative bewahrt hatte. 1948 wurde sogar der Vorschlag gemacht, für das Ruhrgebiet eine
internationale Behörde nach dem Vorbild der TVA zu schaffen38.
An Hand dieses Überblicks zur Planungsdiskussion nach 1945 wird der pragmatische Charakter der
gemeinwirtschaftlichen Konzeption deutlich: Die angestrebte Verbindung von Planung und Freiheit
schloss die „einfache Lösung“ der Zentralverwaltungswirtschaft totalitärer Staaten von vornherein aus und
konnte auch auf dem Wege theoretischer Modellbildung nicht „hergestellt“ werden. Eine Lösung dieses
Problems war allenfalls aufgrund praktischer Erfahrung und eines entsprechenden Lernprozesses zu
erreichen. Eugen Kogon sprach sich damals für eine „Markt-Planwirtschaft“ mit stufenförmiger
Dezentralisierung der Planungsentscheidungen aus. Freier Sozialismus bedeutete nach seinen Worten
„Vielfalt, Mannigfaltigkeit, Veränderlichkeit der Formen und Methoden“. Ein feststehendes Programm
35
G. v. Eynern: Freiheit in der Planwirtschaft, iIn: Das sozialistische Jahrhunde, Febr. 1947, S. 99 ff.; V. Agartz:
Sozialistische Wirtschaftspolitik. Hamburg 1946, S. 17.
36
K. H. Knappstein: Die Stunde der Sozialreform, in: Frankfurter Hefte 1, Juni 1946, S.2.; O. K. Flechtheim
(Hrsg.): Dokumente. . ., Bd. II, S. 42.
37
O. H. v. d. Gablentz: Die sozialistische Unternehmung, in: Das sozialistische Jahrhundert, Juli 1947, S. 270 273; R. Löwenthal (Paul Sering): Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung,
Berlin-Bonn 1977 (Neudruck der Ausgabe von 1947), S. 93 ff. und 174 f.; H. Koch (Hrsg.): Die
Sozialgmeinschaften.....S.4; G. von Eynern: Freiheit in der Planwirtschaft....
38
R. Löwenthal: Jenseits des Kapitalismus...S. 184-190; W. Brandt: Skandinavische Demokratie, in: Das
sozialistische Jahrhundert April 1948, S. 161 f. ; D. E. Lilienthal: Die Tennessee-Stromtal-Verwaltung. Overseas
Edition, New York 1944; A. Hermberg: Das Tennessee-Experiment, in: Das sozialistische Jahrhundert, Januar
1948, S. 65-70; G. von Eynern: Die Ruhr-Tal-Verwaltung, in: Das sozialistische Jahrhundert, Dezember 1948, S.
368 ff.
20
lehnte er ab, weil man von der gegebenen Situation ausgehen und das Erreichte „Jahr für Jahr“ korrigieren
oder zurechtrücken müsse. Die Zentrumspartei forderte in ihrem Werler Programm vom November 1947
eine Planung und Lenkung zur „Bedarfsdeckung des ganzen Volkes“, die sich auf eine Rahmengesetzgebung beschränken und eines „geordneten Leistungswettbewerbs“ garantieren sollte 39.
Aus sozialdemokratischer Sicht vertrat Heinrich Troeger die Auffassung, eine ausgeglichene
Friedenswirtschaft werde sich durch die Auflockerung der planwirtschaftlichen Organisation auszeichnen.
Zur Verwirklichung der Gemeinwirtschaft erklärte er: „Erst die Praxis wird lehren, welche Stellen
beispielsweise für die Planung, welche für die Produktion, welche für die Verteilung am besten arbeiten,
wo die Planung aufhören muss, wo der freie Marktverkehr bestehen bleibt, wie Unternehmerinitiative und
Planungsvorschriften aufeinander abgestimmt werden können“. Der wirtschaftspolitische Ausschuss der
SPD kam Ende 1946 zu dem Ergebnis, ein „bestimmter zentraler Einfluss auf Umfang und Grundrichtung
der Produktion“ sei zwar notwendig; die „marktwirtschaftlichen Formen des Wirtschaftsablaufs“ und die
individuelle Unternehmerinitiative sollten jedoch beibehalten werden40. Planung wurde im Rahmen dieser
Zielvorstellungen, die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie in unmittelbarer Verbindung stehen, als ein
dynamischer Prozess betrachtet. Der wirtschafts- und gesellschaftspolitische Rahmenplan war aufgrund
neuer Informationen und Erfahrungen laufend zu korrigieren und den veränderten Bedingungen
anzupassen. An die Stelle des starren Planungsbeschlusses sollte ein lernfähiges System treten, in dem der
Rückkoppelungsprozess nicht zuletzt aufgrund politischer Erwägungen die entscheidende Rolle spielt.
Dieses Planungsverständnis hatte zur Folge, dass in der unübersichtlichen Nachkriegssituation die
Einzelheiten der zukünftigen Wirtschaftslenkung noch offen blieben. Übereinstimmung bestand allerdings
darin, die kriegswirtschaftlichen Lenkungsmittel abzubauen und durch Methoden der indirekten Steuerung
zu ersetzen. Die Planung hatte sich in erster Linie auf die Entwicklung der Investitionsgüterindustrie zu
beziehen, während im Verbrauchsgütersektor marktwirtschaftliche Überlegungen gelten sollten. Als
wichtigstes Lenkungsmittel betrachtete man die zentrale Investitionsplanung. Der Hamburger
Sozialisierungsplan verlangt dementsprechend, dass die sozialisierten Unternehmen über die Verwendung
ihres Reinertrages und über den Ausbau ihrer Anlagen nur „im Rahmen der volkswirtschaftlichen
Investitionslenkung“ disponieren, und in die Verfassung von Rheinland-Pfalz wurde die Bestimmung
aufgenommen, der Staat habe für eine Lenkung der Investitionen im „volkswirtschaftlich erwünschten
Sinn“ zu sorgen und an diesen Entscheidungen die Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung zu
beteiligen41. Die Organisationsmodelle für die in Gemeineigentum zu überführenden Industrien und
Betriebe waren dementsprechend gegenüber dem volkswirtschaftlichen Rahmenplan „offen“.
Alle Vorschläge zur Neuordnung der Besitzverhältnisse müssen im Zusammenhang mit dieser
gemeinwirtschaftlichen Zielsetzung verstanden werden, weil sie gegenüber der planmäßigen
Wirtschaftslenkung eine untergeordnete Bedeutung hatten. Dies ergibt sich allein schon aus der Tatsache,
dass die Rahmenplanung für die gesamte Volkswirtschaft gelten sollte, während sich die
Sozialisierungsabsicht nur auf bestimmte Industriezweige richtete. Begriffe wie „Überführung in
Gemeinwirtschaft“ und „Sozialisierung“ bedeuteten daher nach 1945 aus mehrheitsdemokratischer Sicht
mehr als die Überführung von Produktionsmitteln aus privatem in nichtprivates Eigentum, nämlich ihren
„Einsatz im Rahmen planmäßigen Wirtschaftens“42. In diesem Sinne ist auch der Hinweis des
39
E. Kogon: Die unvollendete Erneuerung. Deutschland im Kräftefeld 1945-1963, Frankfurt 1964, S. 42 ff. und
61; Text des Werler Programms in O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente...Bd.II, S.257
40
H. Troeger: Gemeinwirtschaft, nicht Planwirtschaft, in: Das sozialistische Jahrhundert, Mai 1947, S. 211 f.; E.
Ott: Die Wirtschaftskonzeption...S. 111 ff.
41
Vgl. Sozialisierung in Hamburg - Kommissionsgutachten für den Senat vom 5.2. 1947 (abgedr. in: Das
sozialistische Jahrhundert, März 1947, S. 159) sowie die Verfassung von Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947,
Art. 62.
42
Sozialisierung in Hamburg...
21
Abgeordneten Menzel bei der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat zu interpretieren,
unter „Gemeineigentum“ sei im Zusammenhang mit dem Kohle - Sozialisierungsgesetz in
Nordrhein-Westfalen nicht nur die Frage des Eigentums, sondern auch eine bestimmte Wirtschaftsform
verstanden worden43. Man beabsichtigte, die betreffenden Unternehmen mit der Neuregelung der
Besitzverhältnisse gleichzeitig aus ihrer Isolierung zu lösen und zu gemeinwirtschaftlichen Zwecken zu
verbinden.
Die bewusste Ablehnung jeder Form von „Staatswirtschaft“ im Sinne einer Zentralverwaltungswirtschaft
veranlasste allerdings einen Teil der Vertreter gemeinwirtschaftlicher Vorstellungen, diese ihrem Wesen
nach politische und wirtschaftsorganisatorische Frage vorwiegend als Rechtsproblem zu betrachten. Die
pragmatisch-empirische Sicht des Sozialisierungsproblems wurde hierbei nicht immer aufrechterhalten.
Eine „Verstaatlichung“ schien demnach schon vorzuliegen, wenn der Eigentumstitel des Betriebes an das
Land oder an eine Kommune überging. In der hessischen Sozialisierungsdiskussion führten diese
Bedenken schließlich dazu, dass man sowohl privatrechtliche als auch öffentlich-rechtliche
Lösungsmöglichkeiten prinzipiell ablehnte. Für das Gemeineigentum war vielmehr die neue rechtliche
Form der Sozialgemeinschaften vorgesehen, die als sozialrechtliche Körperschaften verstanden wurden.
Das „Sozialrecht“ sollte auf diese Weise als dritte Rechtssphäre neben das private und das öffentliche
Recht treten44.
Diese Lösung überzeugt zwar vom theoretischen Ansatz her, warf jedoch im Hinblick auf die politische
Verwirklichung eine Reihe von vermeidbaren Schwierigkeiten auf. Sie führte zum Beispiel unter den
Befürwortern der gemeinwirtschaftlichen Lösung zu einer Kontroverse über die Frage, ob
Gemeindeeigentum bereits als Gemeineigentum zu betrachten oder ebenfalls zu sozialisieren sei45. Ein
grundsätzlich anderer Weg wurde später bei dem von der Militärregierung nicht bestätigten Gesetz zur
Sozialisierung der Kohlewirtschaft Nordrhein-Westfalens gewählt. Die entsprechenden Bodenschätze und
Produktionsanlagen waren in das Eigentum des Landes zu überführen, während gleichzeitig die
Selbstverwaltung Kohle als öffentlich-rechtliche Körperschaft zur Verwaltung der Betriebe errichtet
werden sollte.
Kennzeichnend für alle Sozialisierungsentwürfe ist eine „pluralistische“ Zusammensetzung der
Verwaltungsräte (bzw. der Generalversammlungen) auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene. Auf
diese Weise wurde die Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft in das Organisationsmodell eingefügt. In
den Entscheidungsgremien war in der Regel eine Vertretung der Gewerkschaften, des Managements, der
Gemeinden oder Gemeindeverbände sowie der Verbraucher vorgesehen. Der politische Einfluss sollte
durch Vertreter der Landtage sichergestellt werden, die etwa ein Drittel der Mitgliederzahl zu besetzen
hatten46. Lediglich das „Gemeinwirtschaftliche Unternehmen“ Berlin bildet hier eine Ausnahme, weil es
im Verwaltungsrat einen unmittelbaren Regierungseinfluss vorsah: Von seinen 21 Mitgliedern waren 8
vom Magistrat und nur 4 durch die Stadtverordnetenversammlung zu bestellen. Den innerbetrieblichen
Entscheidungsgremien und den gegebenenfalls nach dem gleichen Muster zu errichtenden
überbetrieblichen Wirtschaftskammern wurde zwar eine beratende Funktion bei der Aufstellung des
volkswirtschaftlichen Gesamtplans zugebilligt. Die Entscheidungsbefugnis sollte jedoch allein bei den
„aus allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl hervorgegangenen Repräsentanten der gesamten im Staat
verbundenen Gesellschaft“ liegen, d. h. also bei der parlamentarischen Volksvertretung und ihrer
43
PR- Akten und Protokolle Bd. 3, S. 118.
44
H. Koch: Rechtsformen der Sozialisierung...S. 26 ff.
45
Näheres über die Diskussion sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker im Juni 1947 in Bad Wildungen bei G.
von Eynern: Sozialisierung - Gemeindeeigentum gleich Gemeindeeigentum? in: Das sozialistische Jahrhundert,
August 1947, S. 309
46
Das gilt für die Hessische Landesgemeinschaft (8 von 24 Sitzen) und den „Kohlerat“ in Nordrhein Westfalen
(10 von 33 Mitgliedern).
22
Mehrheit47.
Die Eigentumsfrage stand in enger Verbindung mit der auf mehrheitsdemokratischer Seite
vorherrschenden Zeitgeschichtsinterpretation: Die Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik
schienen zu beweisen, dass die vorausschauend planende Gemeinwirtschaft immer in Frage gestellt blieb,
solange sie auf die Kooperation der großen Kapitaleigentümer angewiesen war. Richard Löwenthal
widmete 1947 einen eigenen Abschnitt seines Buches den traditionellen Hindernissen sowie den
Sabotagemöglichkeiten, und Erik Nölting erklärte 1947 vor dem SPD-Parteitag: „Politische und
wirtschaftliche Gründe bestimmen uns, die Grundstoff- und Schlüsselindustrie zu sozialisieren, nicht
zuletzt deshalb, weil es sich hier um akute Machtfragen handelt“48. Den gleichen Standpunkt vertrat
Karl-Heinz Knappstein, der neben einer neuen Vermögensverteilung den „immer wieder erwiesenen
politischen Missbrauch wirtschaftlicher Macht“ als Sozialisierungsgrund anführte. Heinrich Troeger
rechnete die Sozialisierungsforderung nicht einmal zu den charakteristischen Merkmalen der
gemeinwirtschaftlichen Konzeption. Für wesentlicher hielt er ihre Bestimmung als
Bedarfsdeckungswirtschaft
(im Unterschied zur „Profitwirtschaft“), die Beteiligung der
Betriebsangehörigen an der Geschäftsführung und an den Planungsentscheidungen sowie die
Existenzsicherung des einzelnen, wozu er auch die Beteiligung am Ertrag des Unternehmens zählte. Zur
politischen Absicherung dieses Programms schien ihm aber ebenfalls die Überführung der wichtigsten
Produktionsmittel in Gemeineigentum notwendig zu sein49.
Diese Einschätzung der Eigentumsfrage kann insofern pragmatisch genannt werden, als man in der
Vergesellschaftung von Produktionsmitteln nicht mehr einen Wert an sich, sondern ein Mittel zur
Erreichung eines konkreten politischen Zwecks sah. Ähnlich argumentierte der frühere bayerische
Wirtschaftsminister Dr. Rudolf Zorn vor dem SPD-Parteitag von 1948: „Wir wissen heute aus dem
bolschewistischen Beispiel, dass durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel die Schattenseiten der
kapitalistischen Ordnung durchaus nicht beseitigt werden, dass durch sie weder Freiheit noch die soziale
Gerechtigkeit verwirklicht werden. Diese Erkenntnis hindert uns nicht daran, festzustellen, dass die
Überführung bestimmter Produktionsmittel in Gemeineigentum zumindest eine politische Notwendigkeit
erster Ordnung ist. Um die Wirtschaft der Gesellschaft neu zu ordnen, dazu ist allein die Planung und
Lenkung dieser Wirtschaft nötig“. Das Referat von Zorn war innerparteilich nicht unumstritten. Es
entsprach aber der bereits bestehenden keynesianischen Richtung innerhalb der Sozialdemokratie50.
Im Anschluss an die Darstellung des mehrheitsdemokratischen Motivationsbereichs bleibt noch die Frage
zu klären, welche Parteien diese Zielvorstellungen in der Nachkriegsdiskussion aufgenommen und
vertreten haben. Die Unterschiede im Demokratieverständnis waren nach 1945, wie aus den zitierten
Quellen hervorgeht, nicht deckungsgleich mit den parteipolitischen Grenzen. Dies trifft sowohl für die
Sozial- und Wirtschaftskonzeptionen als auch für die anschließend zu behandelnden
Verfassungsvorstellungen zu. In vielen Fällen stehen in der gleichen Partei mehrheitsdemokratische und
konstitutionell-demokratische Motive oder Argumente nebeneinander. Hierzu haben der dezentralisierte
Wiederaufbau des Parteiensystems und die Neubildung überkonfessioneller christlicher Parteigruppen
beigetragen, welche sich später zur CDU/CSU zusammenschlossen. Lediglich die SPD nimmt im
Parteienspektrum der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Sonderstellung ein, weil sie insgesamt einer der
beiden Demokratiekonzeptionen zuzuordnen ist. Die Übereinstimmung zwischen den
sozialdemokratischen Zielsetzungen und der mehrheitsdemokratischen Konzeption war so weitgehend,
47
H. Koch ( Hrsg.): Die Sozialgemeinschaften....S. 17; V. Agartz: Sozialistische Wirtschaftspolitik...S. 14
48
R. Löwenthal: Jenseits des Kapitalismus...S. 170 f. und Protokoll SPD- Parteitag 1947, S. 160.
49
K. H. Knappstein: Die Stunde der Sozialreform...; H. Troeger: Gemeinwirtschaft, nicht Planwirtschaft...
50
Protokoll SPD - Parteitag 1948, S. 141; H. Grebing: Der Sozialismus, in: A. Schildt/ A. Sywottek (Hrsg.):
Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 646-658; M.
Held: Sozialdemokratie und Keynesianismus. Von der Weltwirtschaftskrise bis zum Godesberger Programm,
Frankfurt a. M.-New York 1982, S. 169 ff. und 213 ff.
23
dass man von Identität sprechen kann.
Sowohl bei den wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen als auch bei den Geschichtsinterpretationen lässt
sich diese Übereinstimmung an Hand der sozialdemokratischen Parteitagsprotokolle von 1946 bis 1948
nachzeichnen. Auf dem Parteitag von Hannover (1946) erläuterte der damalige Leiter des Zentralamtes für
Wirtschaft in der britischen Zone, Viktor Agartz, die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik und nahm
dabei auch zur jüngsten Vergangenheit Stellung. Er interpretierte den Nationalsozialismus als politische
Konsequenz des „kapitalistischen Systems“ und erklärte zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess: „So
sehr heute die Welt entsetzt ist über die Gräuel und Verbrechen aller derer, die in Nürnberg auf der
Anklagebank sitzen, so fehlt auf dieser Anklagebank das letztlich schuldige soziale System mit seiner
inneren Dynamik“. Sein Wirtschaftskonzept sollte daher gleichermaßen der Überwindung des Nationalsozialismus und des Kapitalismus dienen. Agartz erläuterte den Delegierten die bereits dargestellte
Konzeption einer umfassenden Rahmenplanung und betonte, dass in erster Linie die Methoden der
indirekten Lenkung angewandt und die „marktwirtschaftlichen Elemente des Wettbewerbs“ erhalten
bleiben sollten. Die staatliche Rahmenplanung war nach seinen Worten durch ein noch so weitgehendes
Mitbestimmungsrecht in den Betrieben nicht zu ersetzen, weil hier kein „volkswirtschaftlicher
Gesamtplan“, sondern nur „wirtschaftliche Teilpläne“ entstehen könnten. Kurt Schumacher prägte in
Hannover die Formel vom „Sozialismus unter demokratischer Kontrolle“, die von sozialdemokratischer
Seite anschließend auch bei den Beratungen der Landesverfassungen vertreten wurde. Er bezeichnete
außerdem die Wirtschaftsform im sowjetischen Machtbereich als „zentralistischen diktatorischen
Staatskapitalismus“51.
Ein Jahr später auf dem Nürnberger Parteitag (1947) erstattete der Wirtschaftsminister von
Nordrhein-Westfalen, Erik Nölting, Bericht über die Arbeit des wirtschaftspolitischen Ausschusses der
Partei. Nölting ging hierbei ausführlicher auf die Sozialisierungsfrage ein und bezeichnete die
Kohlewirtschaft, die Eisen- und Stahlindustrie sowie die Großchemie als sozialisierungsreif. Eine „starre
Demarkationslinie“ zwischen sozialisierungsreifen und weiterhin privaten Betrieben lehnte er ab. Nölting
betonte, die Eigentumsfrage stehe „gewissermaßen nur im Vorfeld der eigentlichen Sozialisierung“;
wesentlicher sei der Aufbau neuer Lenkungsorgane für die betreffenden Wirtschaftszweige. Die
sozialdemokratische Partei verzichtete nach 1945 auf die Formulierung eines umfassenden neuen
Parteiprogramms, weil nach Auffassung Schumachers hierfür in der unübersichtlichen Nachkriegssituation
die Voraussetzungen fehlten. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich bestanden jedoch konkretere
Vorstellungen als aus den programmatischen Erklärungen der Partei (wie z. B. den politischen Leitsätzen
vom Mai 1946) hervorgeht52.
Die Kommunistische Partei Deutschlands unterstützte nach 1945 in vielen Fällen die wirtschaftspolitischen Forderungen aus dem Motivationsbereich der sozialen Mehrheitsdemokratie. Diese
Linie entsprach der „antifaschistisch-demokratischen“ Politik, die von kommunistischer Seite seit dem
VII. Weltkongress der Komintern im Jahre 1935 propagiert wurde. Der Aufruf des Zentralkomitees vom
11. Juni 1945 lehnt daher das „Sowjetsystem“ für Deutschland ab, weil es den „gegenwärtigen
Entwicklungsbedingungen“ nicht entspreche. Nach der Niederlage des Nationalsozialismus müsse
zunächst die 1848 begonnene
bürgerliche Umbildung
zu Ende geführt und eine
53
„parlamentarisch-demokratische Republik“ eingerichtet werden . Die KPD war dementsprechend bis
etwa 1948 an mehreren Landesregierungen in Westdeutschland beteiligt.
Unter dem Eindruck des Ost-West-Konflikts und der Auseinandersetzung mit den jugoslawischen
Kommunisten nahm die SED/KPD 1947/48 einen Kurswechsel vor, der auch personelle Veränderungen
51
Protokoll SPD-Parteitag 1948, S. 35 f. und 57 ff., sowie Abg. Pittroff (SPD) in der Bayerischen
Verfassunggebenden Landesversammlung, 6. Sitzung vom 13. September 1946.
52
Protokoll SPD-Parteitag 1947, S.158 ff. sowie Protokoll SPD-Parteitag 1948, S. 24; O. K. Flechtheim (Hrsg.):
Dokumente..., Bd. III, S. 17 ff.
53
Vgl. Dokumente der Kommunistischen Partei Deutschlands 1945-1956, Berlin 1965, S. 1 ff.
24
im westdeutschen Funktionärskader der Partei zur Folge hatte54. Die Vertreter der KPD waren nach 1945
allerdings der Auffassung, die Pläne der westdeutschen Parteien zur Neuordnung der Besitzverhältnisse in
der Großindustrie seien nicht als Sozialisierungsvorschläge zu bezeichnen. Von Sozialisierung könne man
erst sprechen, argumentierten die kommunistischen Abgeordneten in Nordrhein-Westfalen, wenn die
„Arbeiterklasse im Besitz der ganzen politischen Macht“ sei, und es sich um „Maßnahmen eines
sozialistischen Staates“ handele. Die vorgesehene Überführung des Bergbaues in Gemeineigentum war
nach ihrer Auffassung notwendig, um der bürgerlichen Demokratie eine „reale wirtschaftliche Machtgrundlage“ zu geben.
Im Gegensatz zu den mit der sozialen Mehrheitsdemokratie verbundenen Zielsetzungen trat die KPD für
eine Verstaatlichung der in Frage kommenden Industriezweige ein. Der Einwand der demokratischen
Parteien, der Staatsapparat erhalte auf diesem Wege eine unkontrollierte Machtposition, dokumentierte
nach kommunistischer Auffassung nur das „mangelnde Vertrauen zur eigenen demokratischen
Überzeugung“. Der Abg. Reimann erklärte hierzu vor dem Landtag von Nordrhein-Westfalen: „Wir sagen
ganz offen, dass wir für die Verstaatlichung dieser Betriebe eintreten. Bei dieser Verstaatlichung in einem
demokratischen Staat, in dem die Macht der Konzernherren gebrochen ist, kann sich keine
Staatsbürokratie bilden“55. Diese Äußerungen zeigen, dass sich die Vorstellungen der Kommunisten zur
Wirtschaftsstruktur durch ein unreflektiertes Bürokratievertrauen von den Grundlagen der sozialen
Mehrheitsdemokratie unterschieden. Das eigentliche Anliegen der Gemeinwirtschaft, durch eine begrenzte
und parlamentarisch kontrollierte Rahmenplanung Freiheit und Lenkung zu vereinbaren, war der
kommunistischen Zielsetzung fremd.
Während die Übereinstimmung zwischen der SPD-Programmatik und der mehrheitsdemokratischen
Konzeption leicht nachzuweisen ist, lässt sich die Position der CDU/CSU-Gruppen in der
Demokratiediskussion der Nachkriegszeit wesentlich schwieriger darstellen. Hierfür ist die
Uneinheitlichkeit der Parteigründungen verantwortlich, welche sich bereits in der Herkunft ihrer
führenden Politiker dokumentiert. Neben Vertretern des Zentrums waren ehemalige Mitglieder der
Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der Deutschen Volkspartei (DVP), des Christlich Sozialen
Volksdienstes und der Deutschnationalen Volkspartei beteiligt. Entsprechende Unterschiede bestanden in
der politischen Zielsetzung: Bei den Gründungen in West- und Süddeutschland stand die
interkonfessionelle Zusammenarbeit im Vordergrund, während in Norddeutschland die Zielsetzung
dominierte, ein „bürgerliches“ Gegengewicht zur Sozialdemokratie zu schaffen. Die Berliner
Parteigründung kann als Synthese beider Bestrebungen verstanden werden56.
Die programmatischen Erklärungen der frühen CDU/CSU-Gruppen entsprachen zum Teil den
mehrheitsdemokratischen Zielvorstellungen. Bei der Beurteilung der jüngsten deutschen Vergangenheit
kommt diese Übereinstimmung etwa in der Feststellung der Kölner Leitsätze (Juni/September 1945) zum
Ausdruck, mit dem „Größenwahn“ des Nationalsozialismus habe sich der Einfluss militaristischer Kreise
und großkapitalistischer Rüstungsmagnaten verbunden. In den einführenden Sätzen des Ahlener
Programms vom Februar 1947 findet sich die Formulierung, das kapitalistische Wirtschaftssystem sei den
Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden; eine soziale und wirtschaftliche
Neuordnung könne daher nicht mehr auf der Grundlage des „kapitalistischen Gewinn- und Machtstrebens“
erfolgen. Viele CDU-Programme wenden sich gegen die „Vorherrschaft des Großkapitals“ sowie gegen
Konzerne, Syndikate und Monopole, welche ihren Trägern neben wirtschaftlichem Einfluss auch
politische Macht vermitteln. Gleichzeitig werden Vorschläge zur Veränderung der industriellen
Eigentumsstruktur gemacht. Bestimmte Produktionszweige, heißt es, seien als „Angelegenheiten des
54
H. Kluth: Die KPD in der Bundesrepublik. Ihre politische Tätigkeit und Organisation 1945-1956, Köln/
Opladen 1959, S. 29-36.
55
Ernannter Landtag von Nordrhein Westfalen, 5. Sitzung am 4.3.1947 (Ledwohn) sowie 1. Wahlperiode, 7.
Sitzung am 18.6.1947 (Reimann) und 10. Sitzung am 1.8.1947 (Lichtenstein).
56
K. Niclauß: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Paderborn usw. 1995
(UTB 1896), S. 67 ff.
25
öffentlichen Dienstes“ zu betrachten oder gar in „Staatsbesitz“ zu überführen. Andere Programme
sprechen von einer Überführung in Gemeineigentum oder von Vergesellschaftung und unterstreichen die
Notwendigkeit einer gesamtwirtschaftlichen Planung57.
Ähnliche Äußerungen lassen sich von führenden Politikern der CDU anführen: Johannes Albers, Mitglied
des Kölner Gründungskreises und Gewerkschaftler, vertrat in einem Grundsatzreferat die Ansicht,
bestimmte Gruppen, wie „Militaristen“ und „Kreise der Schwerindustrie“, seien aufgrund ihrer politischen
Aktivität als „Steigbügelhalter des Nationalsozialismus“ anzusehen. Bei den hessischen
Verfassungsberatungen sprach sich der CDU-Abgeordnete v. Brentano für eine geplante Wirtschaft aus.
Die „alte kapitalistische und liberalistische Wirtschaftsform“ war nach seinen Worten mit den politischen
Interessen der Gesamtbevölkerung in Widerspruch geraten und hatte deshalb ihre Existenzberechtigung
verloren. Auch Konrad Adenauer erklärte Anfang 1947 bei der Sozialisierungsdebatte im Landtag von
Nordrhein-Westfalen, die Ruhrindustrie habe in den Jahren bis 1933 ihre wirtschaftliche Macht „um
Schaden des deutschen Volkes“ ausgenutzt58.
Die Übereinstimmung zwischen den Zielsetzungen der christlich-demokratischen Gruppen und den
wirtschafts- und sozialpolitischen Motiven der sozialen Mehrheitsdemokratie trifft vor allem für
Bestrebungen zu, die man zusammenfassend als „christlichen Sozialismus“ bezeichnet. Gerhard Schulz
weist in seiner Untersuchung der CDU/CSU darauf hin, dass dieser Terminus bereits bei seiner Entstehung
tendenziösen Charakter hatte und hinsichtlich seiner Bedeutung nicht eindeutig zu bestimmen ist. Er
wurde 1918 von Zentrumspolitikern wie Adam Stegerwald und dem Theoretiker der katholischen
Soziallehre Heinrich Pesch in die politische Diskussion eingeführt. Die These vom „christlichen
Sozialismus“ sollte dokumentieren, dass man mit den eigenen sozialpolitischen Vorstellungen in die
Domäne des „Sozialismus“ eindringen und sich dennoch gleichzeitig von ihm abgrenzen könne. Der
tendenziöse Charakter war nach 1945 für den „christlichen Sozialimus“ weiterhin bestimmend und wurde
unter dem Eindruck des politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs eher noch verstärkt. Werner
Conze schreibt, Jakob Kaiser habe dieses Schlagwort „in einem durchaus pragmatischen Sinn“, ohne
Reflexion über die theologischen Grundlagen sowie über die wirtschafts- und verfassungspolitischen
Konsequenzen aufgegriffen59.
Die pragmatische Einstellung zum „Sozialismus“ kam auch bei den Programmberatungen des Kölner
Gründungskreises der CDU deutlich zum Ausdruck. Die Dominikaner Welty und Siemer wollten diesen
Begriff, „der in aller Munde sei“, von seiner marxistischen Bedeutung trennen. „Es muß doch möglich
sein“, erklärte Welty später, „dass wir uns von einer geschichtlich bedingten Wortbedeutung frei machen,
wenn dem Wort ein neuer, nicht zu beanstandender, sondern an sich durchaus gutzuheißender Inhalt
gegeben wird“60. Die Diskussion um den „christlichen Sozialismus“ stand außerdem in enger Verbindung
mit den Führungsrivalitäten in der Gesamtpartei. Das gilt vor allem für den Gegensatz zwischen Adenauer
und Kaiser, der bei einer Zusammenkunft westdeutscher CDU/CSU-Politiker am 3. April 1946 in Stuttgart deutlich zum Ausdruck kam: Alle Beteiligten waren sich nach dem Wortlaut des Protokolls darin
einig, dass die Bezeichnung „christlicher Sozialismus“ unangebracht sei und unter den Anhängern der
Partei nur „Verwirrung und tiefgehende Meinungsverschiedenheiten“ hervorrufen würde. Adenauer wurde
beauftragt, dies „Herrn Jakob Kaiser“ mitzuteilen. Gleichzeitig kamen die anwesenden Politiker zu der
übereinstimmenden Auffassung, der Sitz der zukünftigen Parteileitung könne weder in Berlin noch in der
57
Vgl. die Programme bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 27-236
58
J. Albers: Die Aufgabe der CDU im Leben des deutschen Volkes. Schriftenreihe der CDU des Rheinlandes,
Heft 2. Köln o. J. (Anfang 1946), S. 5; Verfassungsberatende Landesversammlung Hessen, 5. Sitzung vom 29. 9.
1946; Ernannter Landtag von Nordrhein Westfalen, 4. Sitzung vom 23.1.1947.
59
G. Schulz: Die CDU - Merkmale ihres Aufbaus, in: Parteien in der Bundesrepublik, Stuttgart/Düsseldorf 1955,
S. 84 f.; W. Conze: Jakob Kaiser. Politiker zwischen Ost und West 1945-1949, Stuttgart 1969, S. 41
60
E. Welty: Die Entscheidung in die Zukunft, Heidelberg 1946, S. 402 f.
26
sowjetischen Besatzungszone sein, sondern nur an einem Ort, der „etwa an der Mainlinie“ liegt61.
Der „christliche Sozialismus“ befand sich als politisches Schlagwort immer im Spannungsbereich
zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite stand die klare Aussage der Enzyklika „Quadragesimo anno“
aus dem Jahre 1931: „Religiöser Sozialismus, christlicher Sozialismus sind Widersprüche in sich selbst; es
ist unmöglich, gleichzeitig guter Katholik und wirklicher Sozialist zu sein“. Andererseits glaubten
christliche Politiker und Publizisten einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft gegenüberzustehen, deren
„Proletarisierung“ sich auch im politischen Verhalten äußern werde und daher eine sozialistische Antwort
auf die Zeitprobleme verlange.
In den Fragen der Eigentumsordnung lassen sich nach 1945 nur noch geringe Differenzen zwischen den
Bestrebungen des „christlichen Sozialismus“ in der CDU und dem mehrheitsdemokratischen
Motivationsbereich feststellen. Unterschiedliche Auffassungen bestanden dagegen in der Planungsfrage:
Zahlreiche CDU-Programme, die vom „christlichen Sozialismus“ beeinflusst wurden, sprechen zwar von
der Notwendigkeit staatlicher Planung, verweisen aber in der Begründung auf die außergewöhnliche
Situation der deutschen Nachkriegswirtschaft. Dies gilt etwa für den Berliner CDU-Aufruf vom Juni 1945
und für das „Ahlener Programm“, während die „Kölner Leitsätze“ die Planungsproblematik nicht
erwähnen. Als Gegenpol zur Wirtschaftslenkung wird die Privatinitiative und Eigenverantwortlichkeit
(Kölner Leitsätze) oder die Idee der freien und verantwortlichen Persönlichkeit (Frankfurter Leitsätze)
herausgestellt. Das Ahlener Programm betont, Planung dürfe nicht als Selbstzweck betrachtet werden; sie
sei vielmehr außerhalb wirtschaftlicher Krisensituationen nur von „Fall zu Fall“ notwendig62.
Bei den liberalen Gründungskreisen können wir ebenfalls mehrere Richtungen feststellen, die sich auf
unterschiedliche Weise mit dem Nationalsozialismus auseinander setzten. Neben den „Altliberalen“ und
den „Rechtsliberalen“ unterscheidet L. Albertin die „sozialen Demokraten“. Deren Programmentwürfe
warnten vor der Monopolbildung sowie dem „Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellung“ und gingen in
der Gründungsphase sogar soweit, für einzelne Wirtschaftszweige die
Überführung in
„Gemeinwirtschaft“ zu fordern63
Die Programmatik des Zentrums zeichnet sich nach 1945 durch die gleiche Heterogenität aus wie die
Bestrebungen des „christlichen Sozialismus“ innerhalb der CDU/CSU. Maßgebende Vertreter der Partei
gingen davon aus, dass die Tendenz zum Sozialismus nach dem politischen und wirtschaftlichen
Zusammenbruch unvermeidbar sei. In dieser Situation stehe die Kirche (und die christliche Politik) vor der
zeitgeschichtlichen Aufgabe, den Sozialismus mit der „Wärme des Christentums zu verschmelzen“, um
seine kollektivistische und materialistische Variante zu verhindern64. Wirtschaftliche Planungs- und
Reformvorstellungen werden demnach begleitet vom Personalismusgedanken, der im Motivationsbereich
der konstitutionellen Demokratie eine wichtige Rolle spielt. Bezeichnend hierfür ist die Uneinheitlichkeit
des Werler Programms der Zentrumspartei vom November 1946: Der wirtschaftspolitische Teil fordert die
Gesamtplanung der Wirtschaft einschließlich der Kapital- und Investitionspolitik sowie die
„Entprivatisierung“ der Grundstoffindustrien. Im kulturpolitischen Teil dagegen wird im Zusammenhang
mit der „kommenden Sozialisierung“ vor der „Nivellierung“ gewarnt, die als „lebensfeindliches,
a-personales und kulturwidriges Prinzip“ anzusehen sei.
Die Sozialisierungsdiskussion in Nordrhein-Westfalen zeigt jedoch, dass das Zentrum in der politischen
Praxis den mehrheitsdemokratischen Zielsetzungen näher stand als die CDU. Seine Sprecher Brockmann
61
Text bei H. G. Wiek: Christliche und freie Demokraten in Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg
1945-1946, Düsseldorf 1958, S. 190 f.
62
Text der Programme bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 27 ff.
63
L. Albertin: Das theoriearme Jahrzehnt der Liberalen, in:A. Schildt/ A.Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im
Wiederaufbau... S.659-676
64
H. Wessel: Von der Weimarer Republik zum Demokratischen Volksstaat, o. O. 1946, S. 19-25.
27
und Ballensiefen erklärten, die Zentrumspartei werde „vor einem mutigen Eingriff“ in die
Eigentumsverhältnisse des Bergbaus, der Eisen- und Stahlindustrie sowie der Großchemie nicht
zurückschrecken65. Diese Position der Zentrumspartei wird schließlich auch durch Kontakte mit der
sozialdemokratischen Parteiführung im Sommer 1947 bestätigt, welche die engere Zusammenarbeit beider
Parteien im Frankfurter Wirtschaftsrat für die Bizone zum Ziel hatten. Das Zentrum war damals bestrebt,
Dr. Carl Spiecker als Vertreter Nordrhein-Westfalens in den Exekutivrat des Frankfurter Wirtschaftsrates
wählen zu lassen. Dies gelang im August 1947 mit Unterstützung Kurt Schumachers gegen die Bedenken
des CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold66.
2. Die verfassungspolitischen Grundlagen
Die Planungsvorstellungen, wie sie im Rahmen der „Gemeinwirtschaft“ entwickelt wurden, haben die
Verfassungskonzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie entscheidend beeinflusst. Der pragmatische
Charakter dieser Rahmenplanung und ihre bewusste Abgrenzung von der durchgängigen
Verwaltungswirtschaft moderner Diktaturen hatten zur Folge, dass dem Gesetzgebungsverfahren für die
Verwirklichung dieser Vorstellungen eine besondere Bedeutung zukam. Die gemeinwirtschaftliche
Wirtschaftsform konnte nur eingerichtet werden, wenn eine funktionsfähige Parlamentsmehrheit in der
Lage war, die hierfür notwendigen Gesetze in möglichst kurzer Zeit zu verabschieden. Entsprechendes gilt
für die Vielzahl von Sozialreformen, welche sich im Motivationsbereich der sozialen Mehrheitsdemokratie
mit dem gemeinwirtschaftlichen Konzept verbanden. Mit der Einrichtung des neuen Lenkungssystems,
das sich nicht nur auf den wirtschaftlichen Bereich im engeren Sinne, sondern auf die gesamte Entwicklung der Gesellschaft bezog, war allerdings nur der erste Schritt getan. Auch hinsichtlich seiner
Funktionsfähigkeit blieb dieses System von der parlamentarischen Gesetzgebung abhängig. Sein
Anpassungsvermögen an die gesellschaftlichen Bedingungen und seine Offenheit gegenüber neuen
Erkennmissen konnten nur auf dem Wege über Parlamentsentscheidungen aufrechterhalten werden.
65
Vgl. den Wortlaut des Werler Programms bei Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 245 ff., sowie
Ernannter Landtag von Nordrhein Westfalen, 5. Sitzung vom 4.3.1947 und Landtag von Nordrhein-Westfalen, 1.
Wahlperiode, 39. Sitzung vom 7.4.1948.
66
Schumacher-Korrespondenz 1947-1952, Q 24 (AdsD):Briefwechsel mit Dr. Kühr und Dr. Lejeune
28
Vor allem von sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Seite wurde daher die Forderung erhoben, die
volkswirtschaftliche Gesamtplanung „unter die Kontrolle einer zentralen parlamentarischen Körperschaft“
zu stellen. Der Rückkoppelungsprozess im gemeinwirtschaftlichen Planungssystem musste aufgrund von
Mehrheitsentscheidungen zustande kommen, wenn man den Schritt von der demokratischen zur
bürokratischen Planung vermeiden wollte. Die Verwirklichung der sozialen Demokratie, wie sie in der
Nachkriegsdiskussion verstanden wurde, hing daher in erster Linie von der Funktionsfähigkeit der
Legislative ab. Die mehrheitsdemokratische Konzeption knüpfte mit diesen Überlegungen an die
Argumentation Hermann Hellers aus der Schlussphase der Weimarer Republik an. Heller hatte 1930 in
seiner polemischen Schrift „Rechtsstaat oder Diktatur?“ der „Volkslegislative“ die entscheidende Rolle
bei der Erweiterung der „bürgerlichen“ zur sozialen Demokratie zugesprochen67.
Voraussetzung für die Verwirklichung des gemeinwirtschaftlichen Programms einschließlich seiner
sozialpolitischen Zielsetzungen war deshalb eine entsprechende Konstruktion der Verfassung: Die
parlamentarische Mehrheit musste über einen ausreichenden Spielraum im Verfassungssystem verfügen
und sich möglichst frei von institutionellen Schranken entfalten können. Das Bestreben, dem unmittelbar
gewählten Parlament und seiner Mehrheit diesen Spielraum zu sichern, ist daher als der
verfassungspolitische Grundgedanke der mehrheitsdemokratischen Konzeption anzusehen.
Insgesamt kann man den Begriff der sozialen Mehrheitsdemokratie folgendermaßen präzisieren: Aufgrund
der wirtschafts- und sozialpolitischen Motivationen, die wir im vorangehenden Kapitel zusammenfassend
als „Gemeinwirtschaft“ bezeichnet haben, ist die soziale Mehrheitsdemokratie als soziale Demokratie
anzusprechen. Die Aufgabe des staatlichen Gemeinwesens beschränkt sich demnach nicht auf
gelegentliche Eingriffe in die Dynamik gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen, sondern
besteht in der bewussten Gestaltung dieser Prozesse. Der im deutschen Verfassungsdenken traditionell
verwurzelte Gegensatz zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ ist damit grundsätzlich aufgehoben. Der
„Staat“, seine Organe und seine Willensbildung werden als ein Mittel der Gesellschaft angesehen, um die
eigene Fortexistenz zu sichern und zu gestalten.
Die soziale Mehrheitsdemokratie und die ihr gegenüberstehende konstitutionelle Demokratieauffassung
traten 1946/47 bei den Verfassungsberatungen in den Ländern zum erstenmal deutlich hervor. Als
Kristallisationspunkt für die unterschiedlichen Verfassungs- und Demokratievorstellungen erwiesen sich
damals zwei Institutionen, welche allerdings in der Endfassung der Länderverfassungen nur
andeutungsweise Berücksichtigung fanden. Es ging einmal um die Frage, ob neben dem Landtag eine
zweite Kammer einzurichten sei, und zweitens um den Vorschlag eines neben dem Ministerpräsidenten
stehenden Staatspräsidenten. Das Engagement, mit dem man sich bei den Beratungen der
Landesverfassungen dieser beiden Einrichtungen annahm, kommt für den rückschauenden Betrachter
zunächst überraschend. Die Auseinandersetzung über Staatspräsidentenamt und Zweikammersystem ist
aber darauf zurückzuführen, dass sich hier die beiden Demokratieauffassungen auf verfassungspolitischer
Ebene gegenüberstanden. Da die unterschiedlichen Positionen zum Teil gegenseitig bedingt waren, kommt
in diesem Zusammenhang auch die konstitutionell-demokratische Konzeption zur Sprache, welche erst im
folgenden Kapitel zusammenfassend erläutert wird.
67
Vgl. die Entschließung Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik in: Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 227
ff. und von gewerkschaftlicher Seite: Zur Verfassungsfrage - Grundsätzliche Forderungen der Gewerkschaften
zum Abschnitt Arbeit und Wirtschaft in den neuen Länderverfassungen, Düsseldorf o. J., sowie H. Heller:
Rechtsstaat oder Diktatur?... S. 7 f.
29
Die mehrheitsdemokratischen Bedenken gegen die Einrichtung einer zweiten Kammer auf Länderebene
sind darauf zurückzuführen, dass die Kompetenzen dieses Gremiums vorwiegend im Bereich der
Legislative liegen sollten. Der „Staatsrat“, „Ständerat“, „Landesrat“ oder „Senat“ konnte einer zügigen
Gesetzgebungspraxis nur hinderlich sein und damit die Verwirklichung des gemeinwirtschaftlichen
Programms verzögern oder gar blockieren. In Bayern äußerte dementsprechend ein Gegner des Senats, die
Volksvertretung brauche keine „Gouvernante“. Die wirtschaftliche Notlage mache vielmehr „ein rasches
und exaktes Wirken der Gesetze zum zwingenden Gebot“68. In der neu zu gründenden Demokratie sollte
nach mehrheitsdemokratischer Auffassung die Verantwortlichkeit eindeutig geklärt werden, und zwar
durch die „Herausarbeitung der universalen Zuständigkeit des Parlaments als des einzig legitimen
Vertretungs- und Vollstreckungsorgans des Willens der Gesamtheit“69. Der sozialdemokratische
Ministerpräsident Wilhelm Hoegner erklärte im bayerischen Verfassungsausschuss: „Meine Fraktion ist
gegen alles, was irgendwie einer zweiten Kammer ähnlich sieht. Wir sind insbesondere dagegen, dass
neben dem Landtag noch ein weiteres gesetzgebendes Organ geschaffen wird“. Auch der
nordrhein-westfälische Innenminister Menzel (SPD) begründete bei der Vorlage seines
Verfassungsentwurfs die Ablehnung der zweiten Kammer damit, diese Institution habe die „Verwässerung
der reinen demokratischen Willensbildung“ zur Folge und widerspreche dem Grundsatz, die Landesgewalt
habe vom Volke auszugehen70.
68
Abg. Seifried (SPD) in der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, 4. Sitzung vom 11.9.1946.
69
Abg. Hoffmann (SPD) in der Beratenden Landesversammlung von Rheinland-Pfalz, 3. Sitzung vom 6.12.1946.
70
Verfassungsausschuss Bayern, 22. Sitzung vom 26.8.1946, und Landtag von Nordrhein-Westfalen, 1.
Wahlperiode, 19. Sitzung am 27. November 1947; ausführlicher G. Bergmann: Der Staatsratsgedanke in
Deutschland, Baden-Baden 1994, S. 155 ff.
30
Aus mehrheitsdemokratischer Sicht ging es jedoch nicht nur um die Institution selbst, sondern auch um
die Kompetenzen dieser zweiten Kammer. Je weitreichender ihr Mitbestimmungsrecht als Legislative
gefasst war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich bei gesellschaftspolitischen
Reformvorhaben als retardierendes Element auswirken würde. Für die Beteiligung der zweiten Kammer
am Gesetzgebungsverfahren standen in den einzelnen Ländern unterschiedliche Modelle zur Diskussion,
die aufgrund der Kräfteverhältnisse in der betreffenden verfassunggebenden Versammlung und unter
Berücksichtigung der alliierten Vorstellungen mehrfach geändert wurden. Oft verzichteten die
Befürworter des Zweikammersystems allerdings auch aus taktischen Erwägungen auf eine genauere
Festlegung.
Als Maximalforderung sind die Vorschläge in Rheinland-Pfalz und in Bayern anzusehen: Während der
„Staatsrat“ nach dem Entwurf für Rheinland-Pfalz über ein allgemeines Veto in der Gesetzgebung
verfügt, welches der Landtag nur mit Zweidrittelmehrheit überstimmen konnte, sollte dem bayerischen
Senat das Recht zustehen, über ein vom Landtag beschlossenes Gesetz einen Volksentscheid
herbeizuführen. Als Mindestforderung ist die in Hessen diskutierte Vorschrift anzusehen, ein Veto der
zweiten Kammer könne vom Landtag nur mit mehr als der Hälfte seiner gesetzlichen Mitgliederzahl
abgelehnt werden. In Baden hat man allerdings von vornherein offenbar nur eine beratende Funktion der
zweiten Kammer angestrebt71. Weitergehende Vorstellungen - wie etwa die Mitwirkung der zweiten
Kammer bei der Regierungsbildung oder bei der Landtagsauflösung - waren zwar vorhanden; sie wurden
jedoch schon vor Beginn der eigentlichen Verfassungsberatungen wieder aufgegeben72. Lediglich in
Württemberg-Baden hat man auch im späteren Stadium der Beratungen vorgesehen, dass der Senat
gleichzeitig die Aufgaben eines Verfassungsgerichtshofes übernehmen sollte.
Neben der Kompetenzfrage stand die Zusammensetzung der geplanten zweiten Kammer im Mittelpunkt
der damaligen Verfassungsdiskussion. Die Entwürfe, welche hierzu in den einzelnen Ländern vorgelegt
wurden, verstärkten nur die Bedenken der mehrheitsdemokratischen Politiker, weil nach ihrer Auffassung
bestimmte Bevölkerungskreise bei der Sitzverteilung keine ausreichende Berücksichtigung fanden. In
Hessen wurde kritisiert, von den 36 Senatoren seien allenfalls neun als Interessenvertreter der
Arbeitnehmerschaft anzusehen73. In Württemberg-Baden bemerkte der sozialdemokratische Abgeordnete
Veit, unter den 40 Mitgliedern des vorgeschlagenen Senats finde man zwar sechs Kirchenvertreter, aber
nur vier Vertreter der Arbeitnehmer, und vermutete daher, „dass der Senat die Aufgabe haben soll, ein
retardierendes Moment der Gesetzgebung zu bilden und einer unerwünschten fortschrittlichen
Entwicklung den Riegel vorzuschieben“74.
Als im weiteren Verlauf der Verfassungsberatungen in Hessen und in Württemberg-Baden der Vorschlag
gemacht wurde, den Senat als eine Vertretung der regionalen Interessen zu konstituieren, d. h. seine
71
Vgl. die Diskussion über den vorgesehenen Artikel 29m in der 22. Sitzung des bayerischen
Verfassungsausschusses am 26. August 1946 sowie am 13. September 1946 im hessischen Siebenerausschuss
und den entsprechenden Antrag der CDU-Fraktion Nr. 60; außerdem Dr. Fecht (BCSV) als Berichterstatter in
der Beratenden Versammlung Baden, 11. Sitzung am 10.4.1947.
72
Abg. Köhler (CDU): „Sie wissen, dass wir ursprünglich diesem Organ viel weitergehende Rechte einräumen
wollten. Wie wollten zum Beispiel die Frage der Regierungsbildung und die Frage der Auflösung des
Landtags auch mit den Kompetenzen dieser ersten (d. i. zweiten) Kammer in Verbindung bringen. Wir haben
nach sehr reiflicher Überlegung aber davon abgesehen und haben uns auf den Standpunkt gestellt:
Entscheidend ist, dass die Gesetzgebung zum ausschließlichen Arbeitsfeld die ersten Kammer gemacht
werden muss“ (Hessen - Siebenerausschuss, 4. Sitzung vom 13. September 1946).
73
F. H. Caspary: Vom Werden der Verfassung in Hessen, Offenbach 1946, S. 9.
74
Abg. Veit (SPD) in der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden, 2. Sitzung vom
18. Juli 1946.
31
Mitglieder durch die Kreistage und Stadtparlamente wählen zu lassen, befürchteten die Anhänger der
mehrheitsdemokratischen Konzeption eine Unterrepräsentation der städtischen Gebiete und damit der sie
unterstützenden Bevölkerungsteile75. Auch interessenpolitische Erwägungen veranlassten sie zur
Ablehnung des „Nebenparlaments“, wenn dessen Einrichtung, wie in Hessen, offen mit dem Bestreben
begründet wurde, „Fehler zu vermeiden, die tief in die Struktur unserer Wirtschaft eingreifen und die zur
Folge haben können, dass kostbares Gut zerschlagen wird, das einer fruchtbaren Entwicklung fähig ist“76.
Derartige Erklärungen konnten bei den Vertretern der sozialen Mehrheitsdemokratie nur den Eindruck
hervorrufen, durch die Einrichtung einer zweiten Kammer werde die Arbeitnehmerschaft daran gehindert,
ihren politischen Einfluss geltend zu machen.
Trotz seiner zahlreichen Befürworter fand das Zweikammersystem im Verlauf der Beratungen keine
Mehrheit. Die einzige Ausnahme bildet hier der bayerische Senat, dessen Kompetenzen aber in der
Endfassung gegenüber den Entwürfen auf ein Mindestmaß reduziert sind. Als ihm in der Schlussphase der
bayerischen Verfassungsberatungen auch das Recht abgesprochen wurde, einen Volksentscheid über
Gesetzesvorlagen herbeizuführen, erklärte der sozialdemokratische Abg. Roßhaupter: „Die zweite
Kammer ist eigentlich keine zweite Kammer, sondern sie ist ein rein begutachtendes und beratendes
Element, das neben der ersten Kammer eingeführt werden soll“77.
Für die Ablehnung von Wirtschaftskammern oder ähnlichen Einrichtungen waren aus mehrheitsdemokratischer Sicht die gleichen Überlegungen ausschlaggebend, wie für die Ablehnung des
Zweikammersystems allgemein. Diese Einrichtungen widersprachen dem Verfassungskonzept der
sozialen Mehrheitsdemokratie, weil die Position des aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen
Parlaments hierdurch geschwächt wurde und seine Planungskompetenz unter Umständen in die „freie
Selbstverwaltung“ der Kammern übergehen konnte. Damit wäre der Grundgedanke der sozialen
Demokratie, nämlich die bewusste Ausweitung des demokratischen Willensbildungsprozesses auf den
wirtschaftlichen Bereich, in Frage gestellt worden78.
Die Kontroverse in der Zweikammerfrage, welche bei den Beratungen zum Grundgesetz erneut politische
Aktualität erlangen sollte, wurde bei den Verfassungsberatungen in den Ländern 1946/47 durch die
Diskussion über das Staatspräsidentenamt ergänzt. Die damals zur Debatte stehende Form des
Staatspräsidenten darf allerdings nicht verwechselt werden mit der gleichnamigen Einrichtung in einigen
Landesverfassungen zur Zeit der Weimarer Republik. Damals hatten die Länder Württemberg, Baden und
Hessen ihrem Ministerpräsidenten die Amtsbezeichnung „Staatspräsident“ verliehen. Nach 1945 bezog
sich die politische Auseinandersetzung jedoch auf die Einführung einer anderen Institution: Der
Staatspräsident sollte in den Ländern als eigene Einrichtung neben dem Ministerpräsidenten stehen.
Die einschlägigen Verfassungsentwürfe greifen von der Konstruktion her weitgehend auf das Vorbild der
Weimarer Reichsverfassung zurück, die man rückblickend als eine unglückliche Synthese des
parlamentarischen und präsidialen Verfassungstyps bezeichnet hat79. Föderalistische Motive, der
75
Vgl. den Bericht der Verfassungsausschusses von Württemberg-Baden, S. 53
76
So der Abg. Euler (LDP) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5.
August 1946; weitere Beispiele bei F. R. Pfetsch: Ursprünge der Zweiten Republik, Opladen 1990, S. 298 ff.
77
Verfassungsausschuss Bayern, 23. Sitzung vom 27. August 1946.
78
F. H. Caspary: Vom Werden der Verfassung in Hessen...S. 9: „So bestechend der Gedanke einer paritätischen
Zusammensetzung der Landeswirtschaftskammer auf den ersten Blick war, so beachtlich ist auf der anderen
Seite, dass dieses Organ dazu dienen sollte, dem Staat den Einfluss auf die wirtschaftliche Gestaltung
weitgehend zu entziehen...“.
79
K. Loewenstein: Beiträge zur Staatssoziologie. Tübingen 1961, S. 331-396 ( Der Staatspräsident - Eine
rechtsvergleichende Studie).
32
allgemeine Wunsch nach „Stabilität“ und nicht zuletzt die verfassungsmäßige Bewältigung von
Notstandssituationen waren ausschlaggebend für diese Bestrebungen. Adolf Süsterhenn, der als
Theoretiker der konstitutionellen Demokratie zu bezeichnen ist, begründete die Einführung des
Staatspräsidenten im „Rheinischen Merkur“ mit den zeitgeschichtlichen Erfahrungen: Die Entwicklung in
Deutschland, in Frankreich sowie in den anderen parlamentarisch regierten Ländern zwischen den beiden
Weltkriegen konnte nach seinen Worten „nicht gerade Begeisterung für eine rein parlamentarische
Republik erwecken“. Auf der anderen Seite habe die nationalsozialistische Diktatur das reine
Präsidialsystem diskreditiert, so dass man den deutschen Ländern kaum den Charakter von
„Präsidentschaftsrepubliken“ geben könne. Er plädierte daher für eine Synthese zwischen dem
Präsidialsystem und dem parlamentarischen System, um die Mängel beider Regierungsformen
auszugleichen80.
Sowohl Süsterhenn als auch die anderen Befürworter dieses Amtes verzichteten jedoch auf die Volkswahl
des Staatspräsidenten. Sie glaubten auf diesem Wege eine mit der Weimarer Republik vergleichbare
Fehlentwicklung der Institution vermeiden zu können. Der CSU-Abg. Dr. Horlacher erklärte hierzu: „Die
Wahl durch das Volk könnte leicht durch das politische Intrigenspiel antidemokratischer Kräfte zu einem
neuen Unheil führen. Die Wahl durch den Landtag selbst bedeutet infolgedessen eine Sicherung für das
demokratische Funktionieren des Staatspräsidenten“. Bei einer Rundfrage zum hessischen
Verfassungsentwurf setzte sich die überwiegende Zahl der angesprochenen Persönlichkeiten und
Verbände für das Staatspräsidentenamt ein. Die große Mehrheit der Befürworter war hier allerdings der
Ansicht, der Präsident solle unmittelbar vom Volk gewählt werden81.
Die Bestrebungen zur Einführung des Staatspräsidenten kamen in der Regel über die Anfangsphase der
Beratungen nicht hinaus. Lediglich in Bayern spitzte sich die Kontroverse zu. Der Staatspräsident wurde
hier in einer Kampfabstimmung der Verfassunggebenden Versammlung mit 85 zu 84 Stimmen abgelehnt.
Bei dieser Abstimmung gingen die Fronten quer durch die beiden großen Parteien: Etwa ein Viertel der
CSU-Fraktion stimmte gegen die Aufnahme des Präsidentenamts in die Verfassung. Hierbei handelte es
sich vorwiegend um Anhänger des Parteivorsitzenden Josef Müller, der einen im Vergleich zu den
anderen CSU-Gruppen zentralistischen Kurs verfolgte, weil seine Ambitionen über Bayern
hinausgingen82. Auf der anderen Seite votierten fünf Abgeordnete der SPD-Fraktion um den
Ministerpräsidenten Hoegner für den Staatspräsidenten, weil sie in dieser Institution eine Weichenstellung
für den föderalistischen Aufbau einer gesamtdeutschen Verfassung erblickten83.
Wie weit der Staatspräsident gegebenenfalls in die Legislative eingreifen und die Mehrheitsentscheidungen des unmittelbar gewählten Parlaments beeinträchtigen konnte, zeigt der Verfassungsentwurf
von Württemberg-Baden: Bei Nichtübereinstimmung zwischen Landtag und Senat hinsichtlich einer
Gesetzesvorlage hatte der Staatspräsident die Wahl, sich entweder über die Einwände des Senats
hinwegzusetzen und das Gesetz zu verkünden oder einen Volksentscheid über die Vorlage zu veranlassen.
Im letzten Falle konnte die parlamentarische Mehrheit durch das Zusammenspiel von zweiter Kammer,
Staatspräsident und Plebiszit umgangen werden. Eine ähnliche Desavouierung der Parlamentsmehrheit
drohte, wenn der Staatspräsident von seinem Recht Gebrauch machte, auf Antrag eines Drittels der
Landtagsabgeordneten ein beschlossenes Gesetz zum Volksentscheid zu stellen84.
80
A. Süsterhenn: Der Staatspräsident, in: Rheinischer Merkur vom 22. 10. 1946.
81
Bayerische Verfassungsgebende Landesversammlung, 4. Sitzung vom 11. September 1946, und K. Geiler:
Die Verfassungsfrage in Großhessen, in: Die Neue Zeitung vom 28.6.1946
82
Hierzu A. J. Heidenheimer: Adenauer and the CDU, The Hague 1960, S. 87 ff.
83
Bayerische Verfassunggebende Landesversammlung, 5. Sitzung vom 12. September 1946; Die Neue Zeitung
vom 16.9.1946 ( Präsident in Bayern abgelehnt ) sowie Rheinischer Merkur vom 17.9.1946 ( Eine erste
Parlamentskrise in Bayern - Einsetzung des Staatspräsidenten mit einer Stimme Mehrheit abgelehnt ).
84
Bericht Carlo Schmids über den Stand der Verfassungsberatungen (Vorläufige Volksvertretung für
33
Diese Beispiele machen deutlich, dass der Staatspräsident in den Ländern ebenfalls den verfassungspolitischen Zielen der sozialen Mehrheitsdemokratie widersprach. Auch bei einem Verzicht auf die
Volkswahl konnte der Präsident den Gesetzgebungsprozess aufgrund seiner verfassungsmäßigen Rechte
verzögern oder gar blockieren. In Württemberg-Baden verwiesen die Vertreter mehrheitsdemokratischer
Auffassung statt dessen auf die stabilisierende Wirkung des konstruktiven Misstrauensvotums. Seine
Neuformulierung erübrigte ihrer Auffassung nach eine derart komplizierte Verfassungsstruktur, wie sie
mit der Einführung des Staatspräsidenten geschaffen würde85.
Das modifizierte Misstrauensvotum ist zwar generell zum Konsensusbereich der Demokratiediskussion
nach 1945 zu zählen. In diesem Zusammenhang zeigt sich jedoch, dass es gelegentlich auch in der
Kontroverse zwischen den Demokratiekonzeptionen eine Rolle spielte, weil es unterschiedlich
interpretiert werden konnte Aus mehrheitsdemokratischer Sicht hatte diese Verfassungsbestimmung den
Sinn, das Parlament in die Verantwortung zu „zwingen“ und auf diesem Wege seine Position zu stärken.
Nach konstitutionell-demokratischer Auffassung sollte sie vorwiegend zur Sicherung der Regierung vor
dem möglicherweise destruktiven Einfluss des Parlaments dienen.
Aus der verfassungspolitischen Diskussion über das Zweikammersystem und über das Amt des
Staatspräsidenten geht hervor, dass sich die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie durch ein
spezifisches Gewaltenteilungsverständnis auszeichnet: Die Unterscheidung zwischen Legislative,
Exekutive und Judikative wurde nach 1945 nicht in Frage gestellt und allgemein als Vorlage für den
institutionellen Teil der Verfassung angesehen. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie
betrachteten diese Dreiteilung jedoch nicht als ein System von Gegengewichten (checks and balances),
sondern lediglich als Grundriss für die Verteilung der Staatsfunktionen. Der legislativen Funktion räumten
sie eine mit der Lehre John Lockes vergleichbare Sonderstellung ein. Die Verteilung der
Gesetzgebungsgewalt auf mehrere Institutionen oder Kammern lehnten sie dabei allerdings ab. Die
Legislative sollte ausschließlich dem unmittelbar gewählten Parlament anvertraut sein, damit sein Einfluss
im gesamten Verfassungssystem verstärkt werde. Diese Zielsetzung kommt in dem Entwurf einer
Landesverfassung des nordrhein-westfälischen Innenministers Walter Menzel (SPD) besonders deutlich
zum Ausdruck: In Art. 61 des Entwurfs vom November 1947 heißt es, der Landtag lege die „Grundsätze
der Landespolitik“ fest und die Landesregierung habe diese Grundsätze durchzuführen. Menzel, der später
als Verfassungsexperte der SPD im Parlamentarischen Rat eine führende Rolle spielte, verteidigte diese
Formulierung mit dem Hinweis, das Parlament sei „Träger der Gesamtpolitik“. Aus diesem Grunde könne
nur der Landtag „und nicht eine Regierung“ die Grundsätze der Politik bestimmen86.
Gleichzeitig strebten die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie eine Form der Gewaltenverschränkung an, welche dem Parlament ebenfalls eine Schlüsselposition zubilligte. Der Parlamentseinfluss sollte in diesem System vor allem auf politisch-personellem Wege wirksam werden. Ein
interessantes Beispiel für die pragmatische Handhabung der Gewaltenverschränkung aus
mehrheitsdemokratischer Sicht bietet die Diskussion um den Art. 108 der bremischen Verfassung: Im
Entwurf war ursprünglich vorgesehen, dass Mitglieder der Regierung (Senatsmitglieder) nicht gleichzeitig
Mitglieder der Bürgerschaft (des Landtages) sein können. Hinter diesem Vorschlag stand die Vorstellung
vom fraktionsmässig nicht gebundenen Senator, der das Recht haben müsse, „sich gegebenenfalls auch
von den Auffassungen seiner Partei zu entfernen“. Durch einen zweiten Absatz zum Art. 108 wurde im
weiteren Verlauf der Beratungen auf sozialdemokratischen Antrag hin der Wiedereintritt ausscheidender
Württemberg-Baden, 8. Sitzung am 28. Mai 1946) sowie Wilhelm Keil: Der württemberg-badische
Verfassungsentwurf, in: Die Neue Zeitung vom 14.6.1946.
85
86
Bericht des Verfassungsausschusses von Württemberg-Baden, S. 52.
Vgl. Landtag von Nordrhein-Westfalen, 1. Wahlperiode 19. Sitzung vom 27. November 1947 und Drucksache
Nr. II-166 vom 15.11.1947.
34
Regierungsmitglieder in den Landtag geregelt und damit die personelle Beteiligung der Parlamentarier
an der Regierungsbildung gesichert87.
Als legitimes Korrektiv des Parlaments erkannten die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie
lediglich den Staats- oder Verfassungsgerichtshof an. Der sozialdemokratische Abg. Kuhn erklärte hierzu
in der Schlussphase der rheinland-pfälzischen Verfassungsberatungen: „Der Landtag hat . . . die beiden
Umklammerungen, den Staatspräsidenten und den Staatsrat, von sich genommen bekommen. Die Vetos
gegen die Gesetzgebung des Landtags können von dieser Seite nicht mehr eingelegt werden. Auch andere
Institutionen der Wirtschaft werden nicht mehr gegen ihn auftreten. Lediglich der Staatsgerichtshof soll
über die verfassungsmäßige Festlegung von Gesetzen wachen“88.
Die Darstellung der sozialen Mehrheitsdemokratie bliebe allerdings unvollständig ohne Berücksichtigung
der Föderalismus-Problematik. Die mehrheitsdemokratischen Vorstellungen zu dieser Frage hatten zwar
für die Beratungen der Länderverfassungen nur eine mittelbare Bedeutung; sie wurden jedoch deutlicher
akzentuiert, sobald die Verfassungsdiskussion über die Länderebene hinausging. Aus der Beschreibung
ihres Motivationsbereichs ergibt sich bereits, dass diese Demokratiekonzeption nur im überregionalen
Maßstab sinnvoll zu verwirklichen war. Das gemeinwirtschaftliche Programm sollte selbstverständlich
auf gesamtdeutscher Ebene durchgeführt werden, sobald die politischen Verhältnisse dies zuließen. Die
Länderkompetenzen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche zum größten Teil bereits von vornherein
paradigmatischen Charakter hatten, waren in diesem Fall durch entsprechende reichs- oder bundeseinheitliche Regelungen zu ersetzen. Auch eine Rahmenplanung im Sinne des gemeinwirtschaftlichen
Konzepts setzt eine Zentralinstanz mit ausreichenden Befugnissen voraus; auf diesen Zusammenhang hat
bereits Karl Mannheim in seinem Entwurf einer freiheitlichen geplanten Gesellschaft hingewiesen89.
Die mehrheitsdemokratische Verfassungskonzeption zeichnet sich daher durch einen „relativen
Zentralismus“ aus. Hierunter ist zu verstehen, dass der bundesstaatliche Charakter der zukünftigen
Gesamtverfassung grundsätzlich anerkannt wird. Der Bund sollte jedoch die Gesetzgebungskompetenzen
in den wirtschaftspolitisch entscheidenden Fragen erhalten, und das Mitwirkungsrecht der Länderkammer
sollte auf ein aufschiebendes Veto begrenzt bleiben. Diesem Modell entsprechen die
sozialdemokratischen Verfassungsentwürfe von den „Richtlinien für den Aufbau der Deutschen
Republik“ (1947) über den Entwurf einer „Westdeutschen Satzung“ (1948) bis hin zum sogenannten
zweiten Menzel-Entwurf für das Grundgesetz (1948)90.
Ähnliche Vorstellungen entwickelten die Vertreter der Zentrumspartei vor dem Zonenbeirat der britischen
Zone: Dr. Spiecker sprach in seinen „Richtlinien für eine künftige deutsche Verfassung“ dem Bundesstaat
im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung die Kompetenz für die Fragen des Finanzausgleichs, der
Wirtschaftslenkung und der Raumordnung zu. Der Bund sollte außerdem für die Gesamtplanung des
Geld- und Kreditwesens und der Investitionen zuständig sein. Nach den Ausführungen seines
Parteifreundes Dr. Stricker war die Länderkammer an der Gesetzgebung lediglich zu beteiligen, während
der Bundestag von ihm ausdrücklich als der stärkere Partner bezeichnet wird. Der SPD-Sprecher Dr.
Menzel billigte bei gleicher Gelegenheit der Länderkammer ein aufschiebendes Veto zu, welches aber
niemals den „Willen des Reichstages inhibieren oder zunichte machen“ dürfe. Der unmittelbar gewählte
Reichstag sei vielmehr als „Träger der Gesamtgewalt“ anzusehen, dessen politischer Einfluss durch eine
zweite Kammer nicht „verwischt“ werden könne91. Bei den Beratungen zum Grundgesetz verband sich
87
Abg. Degener (CDU) und Stockinger (SPD) in: Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft vom 1. August
1947.
88
Beratende Landesversammlung Rheinland-Pfalz, 8. Sitzung vom 25. April 1947.
89
K. Mannheim: Freedom Power and Democratic Planning. London 1950, S. 112-116.
90
Diese Entwürfe sind abgedruckt bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen. Frankfurt 1969, S. 263-293.
91
Zonenbeirat, Deutsches Sekretariat, J. Nr. 1228/47 vom 16. August 1947 ( ADL 132 FDP - brit. Zone, Staat
35
daher die Diskussion über die Zweikammer-Problematik mit den beiden Fragen nach der
Kompetenzaufteilung im Bundesstaat und nach dem Ausmaß des Ländereinflusses auf die
Bundesgesetzgebung.
Die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie weist in vielen Punkten Ähnlichkeit mit der britischen
Demokratie auf. Diese Übereinstimmung hängt mit der langen sozialstaatlichen Tradition Englands
zusammen, die hier im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowohl von sozialdemokratischer als auch von
konservativer und liberaler Seite begründet wurde. Im Anschluss an die utilitaristische Philosophie
Jeremy Benthams erarbeiteten zunächst seine Schüler John Stuart Mill und Edwin Chadwick ein
umfangreiches Programm sozialgesetzgeberischer Reformen. Ihre Vorstellungen fanden auf dem
radikalen Flügel der Liberalen Unterstützung. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die
sozialstaatliche Konzeption bereits das individualistische Staats- und Freiheitsverständnis in der Liberalen
Partei Englands abgelöst. Sie bestimmte zu diesem Zeitpunkt auch die Zielsetzung der Konservativen
unter Disraeli und wurde schließlich unter dem Einfluss der Fabian Society zur ideologischen Grundlage
der Labour Party. Die Lehren von John Maynard Keynes über die wirtschaftlichen Aufgaben des Staates
(„Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“, 1936) und die Denkschrift des
liberalen Politikers Lord Beveridge über die Ausdehnung der Sozialleistungen (Beveridge-Plan 1942)
haben dazu geführt, dass die Vorstellung eines in alle Lebensbereiche eingreifenden Staates in England
allgemeine Anerkennung fand92. Nach 1945 galten die ursprünglichen Planungsvorstellungen der
Labour-Regierung als Muster für die westdeutschen Planungsüberlegungen. Die Übereinstimmung der
sozialen Mehrheitsdemokratie mit dem englischen Vorbild trifft jedoch nicht nur für den wirtschafts- und
sozialpolitischen Bereich, sondern auch für die verfassungspolitischen Zielsetzungen zu: Die
mehrheitsdemokratischen Verfassungs-vorstellungen sind ein Beispiel für den Typ der „simple
constitution“ im Sinne Bagehots, während die konstitutionelle Demokratie an der amerikanischen
Verfassungstradition orientiert und insofern „composite government“ war93.
Die soziale Mehrheitsdemokratie wurde auch als verfassungspolitische Konzeption in erster Linie von der
sozialdemokratischen Partei vertreten. Die SPD sprach sich dementsprechend in allen
verfassunggebenden Landesversammlungen gegen das Zweikammersystem, gegen das
Staatspräsidentenamt und für den Parlamentseinfluss bei der Wahl des Staatsgerichtshofes aus. Der
Parteivorstand setzte im September 1946 einen verfassungspolitischen Ausschuss ein, der einen Entwurf
für die zukünftige gesamtdeutsche Verfassung ausarbeiten sollte. Der Vorsitzende dieses Ausschusses,
Dr. Walter Menzel, erstattete 1947 auf dem Nürnberger Parteitag Bericht über die Beratungen und legte
die Richtlinien für den Aufbau der deutschen Republik vor. Sein ausführliches Referat zur
Verfassungsproblematik Nachkriegsdeutschlands bringt die weitgehende Übereinstimmung zwischen der
mehrheitsdemokratischen Konzeption und den sozialdemokratischen Vorstellungen deutlich zum
Ausdruck. Menzel befasste sich mit der Föderalismusfrage, unterstrich die Bedeutung des unmittelbar
gewählten Reichstages im Verfassungssystem und bezeichnete das konstruktive Misstrauensvotum als ein
Mittel, die „Volksvertreter“ an ihre Verantwortlichkeit zu erinnern.
Der zuletzt genannte Gesichtspunkt veranlasste ihn auch, das Volksbegehren und den Volksentscheid
zwar nicht grundsätzlich auszuschließen, aber laut Verfassung auf bestimmte konkrete Fälle zu
beschränken. Wenn man den Volksentscheid unbegrenzt zulasse, erklärte er, könne das Parlament in
schwierigen Fragen die Verantwortung auf den Wähler „abwälzen“. Wie weitgehend die
und Verfassung, Außenpolitik) und Zonenbeirat, 17. Plenarsitzung vom 24.11.1947
92
Zusammenfassend Gerhard A. Ritter: Probleme und Tendenzen der englischen Verfassungsentwicklung seit
1914, in: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie, Festgabe für Hans Herzfeld, Berlin 1958, S. 309354.
93
Zur Terminologie W. Bagehot: The English Constitution, London 1963 (The World`s Classics 330), S. 201;
zur unvollkommenen britischen Planung nach 1945 A. Shonfield: Geplanter Kapitalismus. Wirtschaftspolitik in
Westeuropa und USA, Köln-Berlin 1968, S. 101-139
36
Demokratiediskussion in den Ländern damals die sozialdemokratischen Verfassungsüberlegungen
beeinflusst hat, zeigt die Bestimmung der Richtlinien, dass die Länder keinen Staatspräsidenten und keine
zweite Kammer erhalten sollen. In der Gesamtrepublik, sagte Menzel, lasse sich aufgrund der
bundesstaatlichen Struktur „eine Art zweite Kammer“ nicht vermeiden. Ihr Vetorecht dürfe jedoch nicht
zu einem „Hemmschuh für eine fortschrittliche Politik“ werden94.
Obwohl die Willensbildung der SPD damals bereits für den Bereich der drei Westzonen einheitlich
erfolgte, gab es in Verfassungsfragen auch abweichende Auffassungen: Carlo Schmid vertrat im Mai
1946, als noch keine Verfassungsrichtlinien der SPD vorlagen, im amerikanisch besetzten WürttembergBaden die Aufnahme einer zweiten Kammer und eines Staatspräsidenten in die Landesverfassung. Seine
Begründung, die er allerdings als Berichterstatter des Verfassungsausschusses vortrug, war
uneingeschränkt konstitutionell-demokratisch. Der „Filter für die politischen Leidenschaften“ und die
„neutrale Gewalt“ scheiterten jedoch am Widerstand der sozialdemokratischen Mitglieder der Vorläufigen
Volksvertretung95. Für innerparteilichen Ärger sorgte ein Entwurf des niedersächsischen
Ministerpräsidenten Hinrich Kopf (SPD). Er arbeitete im Sommer 1947 (angeblich auf einem Leuchtturm
in der Elbmündung) einen Verfassungsentwurf für Niedersachsen aus, der einen Landesrat als zweite
Kammer vorsah. Die 33 Mitglieder dieser Kammer sollten mindestens 50 Jahre alt sein und seit drei
Jahren ihren Wohnsitz in Niedersachsen haben. Der Entwurf veranlasste Walter Menzel zu einem Brief
an Kurt Schumacher mit folgendem Wortlaut: „Zu meinem Entsetzen sehe ich aus den Zeitungen, dass
Genosse Kopf durch die Schaffung eines Landesrates das Zweikammersystem in den Ländern einführt.
Dies widerspricht den verfassungspolitischen Richtlinien der Partei .. . . Nicht einmal die süddeutschen
CDU-Mehrheiten haben eine solche Kammer vorgesehen, und ich werde nun hier in Nordrhein-Westfalen
bei meiner Verfassung einen schweren Stand haben. Kann man da noch reparieren?“96.
Schwerwiegender als diese Episoden waren die Differenzen zwischen der sozialdemokratischen
Parteiführung und dem bayerischen Ministerpräsidenten Hoegner. Unter Berufung auf den
sozialdemokratischen Politiker Georg von Vollmar (1850 -1922) und unter dem Eindruck seines
Schweizer Exils befürwortete Hoegner einen föderalistischen Staatsaufbau Nachkriegsdeutschlands. Der
Föderalismus hatte im Rahmen seiner Verfassungsvorstellungen die Funktion der Machtaufteilung zu
erfüllen. Bereits 1945 stießen seine Überlegungen allerdings auf Kritik in der eigenen Partei. Der
nordrhein-westfälische Politiker Fritz Henßler schrieb ihm: „Wir brauchen doch lebensnotwendig die
Wirtschaftseinheit Rest-Deutschlands mit all ihren Konsequenzen auf anderen Verwaltungsgebieten.
Wenn in Deutschland selbst von verantwortlichen Männern föderalistische Lobeshymnen angestimmt
werden, wie wollen wir da erreichen, dass die Alliierten zu der Einsicht kommen, dass der Neuaufbau
Deutschlands notwendigerweise nach einem großen Aufbauplan erfolgen muss“97.
Nachdem Hoegner bei den bayerischen Verfassungsberatungen aus föderalistischen Überlegungen für den
Staatspräsidenten eingetreten war, kamen die Differenzen zwischen seinen Verfassungsvorstellungen und
den Zielen seiner Partei bei der Besetzung des Parlamentarischen Rates noch einmal deutlich zum
Ausdruck: Der Parteivorstand teilte dem bayerischen Landesvorsitzenden im August 1948 mit, man sei
bei den Beratungen über die personelle Zusammensetzung der SPD-Fraktion zu dem Ergebnis gekommen,
94
Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 121-139
95
Vorläufige Volksvertretung von Württemberg-Baden, 8. Sitzung am 28. Mai 1946; P. Weber: Carlo Schmid
1896-1979. Eine Biographie, München 1996, S. 275 ff.
96
Verfassungsentwurf für Niedersachsen - Ältestenrat und Staatsgerichtshof als Kernpunkte - Wahlalter 25 Jahre
(Die Neue Zeitung vom 6.9.1947); Brief Menzel vom 3.9.1947. Schumacher-Korrespondenz 1947-1952, Q 25
(AdsD)
97
Henßler an Hoegner vom 13.12.1945, Büro Dr. Schumacher 1945, J 5, US-Zone (AdsD); W. Hoegner: Der
schwierige Außenseiter. München 1959, S. 249 und S. 277 ff.;Bayern ist wieder ein Staat - Das Echo auf zwei
Reden des bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Hoegner (Rheinischer Merkur vom 15.3.1946)
37
dass die Auffassungen Hoegners von den verfassungspolitischen Richtlinien des Nürnberger Parteitages
„sehr weit abweichen“. Im Interesse einer einheitlichen Konzeption bei den Grundgesetzberatungen solle
Hoegner daher nicht zum Mitglied des Parlamentarischen Rates gewählt werden98.
Während die wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen aus dem Motivationsbereich der sozialen
Mehrheitsdemokratie teilweise auch von christlich-demokratischer Seite vertreten wurden, fehlt diese
Unterstützung in den Fragen des Verfassungs- und Staatsaufbaus. Der „christliche Sozialismus“ ging vom
Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre aus und konnte sich deshalb, wie bereits erwähnt, nur
mit Einschränkung für die gemeinwirtschaftliche Rahmenplanung aussprechen. Planung wurde von dieser
Seite vorwiegend als Antwort auf die außergewöhnliche Wirtschaftssituation nach 1945 betrachtet. In
normalen Zeiten hielt man Wirtschaftsplanung nach der Formulierung des Ahlener Programms nur „von
Fall zu Fall“ für notwendig. Sie sollte dann unter Beteiligung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und
Konsumenten von den Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft vorgenommen werden, welche
nur in ihren „letzten Entscheidungen“ der parlamentarischen Kontrolle unterliegen99.
Mit der grundsätzlichen Anerkennung der staatlichen Planungs- und Gestaltungsaufgaben fehlte den
Vertretern des „christlichen Sozialismus“ ein wesentliches Motiv für die verfassungspolitische
Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie. Sie haben aus diesem Grunde nach 1945 auch keine
eigenständigen Verfassungsvorstellungen entwickelt. In Hessen wurde der christliche Sozialismus vom
„Oberurseler Kreis“ vertreten, der sich um die Herausgeber der „Frankfurter Hefte“, Walter Dirks und
Eugen Kogon, gruppierte. Dieser CDU-Gründungskreis war in erster Linie um eine programmatische
Neuorientierung bemüht und hatte aufgrund seines Publikationsorgans überregionale Bedeutung. Solange
sein Mitglied Werner Hilpert der Regierung angehörte, konnte er auf die Landespolitik Einfluss nehmen.
Er war zum Beispiel am Zustandekommen des hessischen Verfassungskompromisses zwischen CDU und
SPD beteiligt, der sich auch auf die Sozialisierungs- und Mitbestimmungsartikel bezog. Verfassungsentwürfe wurden allerdings von dieser Seite nicht vorgelegt.
Die hessische CDU ging vom Königsteiner Entwurf des Historikers Ulrich Noack aus. Dieser Vorschlag
hatte konstitutionell-demokratischen Charakter und sah als Alternativlösungen eine „echte“ zweite
Kammer oder einen auf Zeit gewählten Ministerpräsidenten vor100. Als CDU-Sprecher trat im Verlauf der
Verfassungs-beratungen Erich Köhler hervor, der damalige Hauptgeschäftsführer der Industrie- und
Handelskammer Wiesbaden. Köhler gehörte vor 1933 der DVP an und kann in der Nachkriegsdiskussion
als führender Vertreter der konstitutionellen Demokratie bezeichnet werden. Er war später Präsident des
Frankfurter Wirtschaftsrates und erster Präsident des Deutschen Bundestages. Die Kritik Arnold
Heidenheimers an der Programmatik der christlich-demokratischen Parteien Europas trifft daher in besonderem Maße auf die Bestrebungen des christlichen Sozialismus (oder des „Sozialismus aus christlicher
Verantwortung“) in Westdeutschland zu: Ihr Mangel an Präzision ist seiner Ansicht nach auf das Fehlen
von „middle principles“ zurückzuführen, welche notwendig sind, um die naturrechtlichen
Grundsatzforderungen mit den Ansprüchen wirtschaftlicher und sozialer Interessen zu einem konkreten
politischen Programm zu verbinden101.
Eine bemerkenswerte Sonderstellung nehmen in verfassungspolitischer Hinsicht die liberalen
Parteigründungen ein: Sie folgten teilweise der mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption,
während die wirtschafts- und sozialpolitischen Zielvorstellungen aus dem Bereich der sozialen
98
Ollenhauer an v. Knöringen vom 6.8.1948. SPD-Vorstand 1948-1960, J 33 Bezirk Bayern (AdsD)
99
Vgl. Teil IV des Ahlener Programms bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente.... Bd. II, S. 57.
100
H. G. Wieck: Christliche und Freie Demokraten in Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg 19451946... S. 54 f.; W. v. Brünneck: Die Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946, in: JöR, N. F., Bd.
3, S. 221.
101
A. J. Heidenheimer: Adenauer and the CDU... S. 15.
38
Mehrheitsdemokratie in ihren Reihen keine Unterstützung fanden. Bei den Vorbesprechungen zur
Verfassung von Württemberg-Baden setzten sich zum Beispiel Reinhold Maier und die übrigen Vertreter
der DVP für das Einkammersystem ein. Sie waren der Auffassung, das vom Volk gewählte Parlament
werde „aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit das Tribunizische und das Senatoriale in sich
vereinigen“. Maier fügte hinzu, mit dem parlamentarischen Regierungssystem sei zwar ein gewisses
Risiko verbunden; dieses Risiko müsse man jedoch eingehen, wenn man die Demokratie wolle. Wolfgang
Haußmann (DVP) erklärte vor der Vorläufigen Volksvertretung, der Landtag müsse nach dem Vorbild der
westlichen Demokratien das „politische Sprachrohr“ der gesamten Bevölkerung darstellen, und fügte
hinzu: „Es darf nicht die Angst vor der Demokratie sein, die uns dabei leitet“102.
In Bayern vertrat der FDP-Abg. Dr. Linnert zur Verfassungsgerichtsbarkeit mehrheitsdemokratische
Auffassungen: Nach den Erfahrungen mit dem Staatsgerichtshof der Weimarer Republik könne man zu
einem Verfassungsgericht, das „unabhängig von der Volksvertretung“ sei, nicht das nötige Vertrauen
haben. Der bayerische Staatsgerichtshof sollte seinem Vorschlag zufolge aus Vertretern des Landtages
bestehen. Dr. Dehler lehnte hier im Gegensatz zu seinen späteren Ausführungen vor dem
Parlamentarischen Rat eine für vier Jahre gewählte „Regierung auf Zeit“ ab. Er bezeichnete den Landtag
als den Träger der Volkssouveränität, der die Regierung „in Spannung halten“ müsse, und berief sich
dabei auf England als „Mutterland der Demokratie“. Andere Auffassungen bestanden allerdings in der
hessischen LDP, deren Sprecher den Verzicht auf eine zweite Kammer als Grund für die Ablehnung der
Landesverfassung bezeichnete103. Die Annäherung der liberalen Landesparteien an die
mehrheitsdemokratische Konzeption hat den weiteren Verlauf der Verfassungsberatungen in Westdeutschland maßgebend beeinflusst. Auf diese Weise ergaben sich Berührungspunkte zwischen SPD und
FDP in wichtigen Fragen des Staats- und Verfassungsaufbaus, welche schließlich die Zusammenarbeit
beider Parteien im Parlamentarischen Rat ermöglichten.
Von den kleineren Parteien sprach sich die KPD grundsätzlich gegen die Gewaltenteilung aus und
distanzierte sich hierdurch von der mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption. Das Bürgertum
befinde sich zwar nicht mehr im Kampf mit dem Absolutismus, wurde von kommunistischer Seite erklärt,
halte aber trotzdem an der Dreiteilung fest, um die „eindeutige Herrschaft . . . der breiten Massen der
Werktätigen“ zu verhindern. Im nordrhein-westfälischen Landtag kritisierte der kommunistische Sprecher
den Verfassungsentwurf des sozialdemokratischen Innenministers, weil dieser die Aufteilung zwischen
Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung beibehalte. Im Entwurf fehle die „konsequent
demokratische Linie“. Der Volkswille werde statt dessen durch die „dunklen Mächte der Verwaltung“
aufgehoben. Die kommunistischen Verfassungsvorstellungen liefen auf eine einheitliche Staatsgewalt
hinaus; Verwaltung und Rechtsprechung sollten dementsprechend dem Landtag „unterstellt“ werden104.
Die Aktivität der Zentrumspartei blieb nach der Neugründung im Oktober 1945 zunächst auf das Gebiet
der britischen Zone begrenzt, wo die Verfassungsfragen in der allgemeinen politischen Diskussion keine
so große Rolle spielten wie in Süddeutschland. Nach den Äußerungen führender Zentrumspolitiker zu
urteilen, stand diese Partei in den Fragen des Verfassungsaufbaus der mehrheitsdemokratischen
Konzeption näher als die Kreise des „christlichen Sozialismus“ in der CDU. Die oben bereits erwähnten
Ausführungen von Dr. Spiecker und Dr. Stricker vor dem Zonenbeirat deuten darauf hin, dass das neue
Zentrum in der Föderalismusfrage die Erzberger´sche Tradition des gemäßigten Zentralismus fortsetzen
102
Württemberg-Baden: Bericht des Verfassungsausschusses, S. 51 f.; Vorläufige Volksvertretung, 8. Sitzung
vom 28. Mai 1946; Verfassunggebende Landesversammlung, 2. Sitzung vom 18. Juli 1946.
103
Bayern: Verfassungsausschuss, 12. Sitzung vom 5.8.1946 und Verfassunggebende Landesversammlung, 4.
Sitzung vom 11. September 1946; U. Wengst: Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München
1997, S. 116; Euler (LDP) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 6. Sitzung vom 29.
Oktober 1946.
104
Abg. Eckert (KPD) in der Beratenden Versammlung des Landes Baden, 12. Sitzung vom 11. April 1947 und
Schabrod (KPD) im Landtag von Nordrhein-Westfalen, 1. Wahlperiode, 20. Sitzung vom 27. November 1947.
39
wollte. Dr. Stricker vertrat die Ansicht, eine konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips führe
zum Bundesstaat, und fügte hinzu: „Selbst der Föderalismus kann bedenklich ausarten, wenn er sich nicht
selbst in Weisheit Fesseln auferlegt“. Übereinstimmung mit mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption bestand nicht nur in der Zweikammerfrage, sondern auch über die Zusammensetzung
des Verfassungsgerichts: Nach Auffassung des Zentrums sollten in diesem Gerichtshof „politisch
erfahrene Persönlichkeiten den maßgeblichen Einfluss besitzen“. Man dürfe ihn keineswegs zu „einer rein
juristischen Sache machen“105. Die Auffassungsunterschiede zwischen dem Zentrum einerseits sowie der
Sozialdemokratie und der FDP auf der anderen Seite, welche sich im weiteren Verlauf der westdeutschen
Demokratie- und Verfassungsdiskussion ergaben, waren nicht im Staats- und Verfassungsaufbau
begründet. Sie ergaben sich vielmehr aus dem Bestreben der Zentrumsfraktion im Parlamentarischen Rat,
die „Lebensordnungen“ bis hin zu den Fragen des Elternrechts im Grundgesetz zu regeln.
Mit Beginn der Verfassungsberatungen in Westdeutschland eröffnete sich für die Vertreter der sozialen
Mehrheitsdemokratie auch die Möglichkeit, die wichtigsten Programmpunkte der gemeinwirtschaftlichen
Konzeption zunächst in die Landesverfassungen aufzunehmen und auf diesem Wege die erhoffte
Reichsverfassung zu beeinflussen. Diese Möglichkeit wurde in den Jahren 1946/47 genutzt, soweit die
Mehrheitsverhältnisse in den verfassunggebenden Landesversammlungen die Aufnahme derartiger
Verfassungsbestimmungen zuließen. Alle Landesverfassungen aus jener Zeit, einschließlich der
Verfassung des Saarlandes von 1947, enthalten ausführliche Bestimmungen zur Sozial- und
Wirtschaftsordnung. Als Vorbild diente bei den Beratungen auch die Weimarer Reichsverfassung, denn
hier hatte man im zweiten Hauptteil den Versuch unternommen, die sozialen Lebensbereiche (von der
Wirtschaftsordnung über Bildung und Schule bis zu den Religionsgemeinschaften) durch die Verfassung
zu regeln.
Die entsprechenden Artikel der Landesverfassungen nach 1945 sehen, wie bereits oben erwähnt,
staatliche Lenkungsmaßnahmen vor, bezeichnen die Bedarfsdeckung der Bevölkerung als übergeordnete
Zielsetzung der Gesamtwirtschaft und ermöglichen die Überführung bestimmter Wirtschaftszweige in
Gemeineigentum. Diese Verfassungsbestimmungen zur wirtschafts- und sozialpolitischen Neuordnung
stellen jedoch lediglich Programmsätze dar und konnten, ebenso wie die entsprechenden Bestimmungen
der Weimarer Reichsverfassung, nur durch eine ausführende Gesetzgebung politische Wirklichkeit
werden. Das weitergehende Ziel, unmittelbar verbindliche Verfassungsklauseln zur Änderung der Sozialund Wirtschaftsordnung zu verabschieden, hat man nur mit der Sozialisierungsforderung des Art. 41 in
der hessischen Verfassung erreicht106.
Gleichzeitig mit den Länderverfassungsberatungen wurde jedoch in der Publizistik auch grundsätzliche
Kritik laut gegenüber dem Versuch, wirtschaftliche und soziale Grundrechte in die Verfassung
aufzunehmen. Hermann Brill erklärte in der programmatischen Zeitschrift „Das sozialistische
Jahrhundert“, die Weimarer Nationalversammlung habe damals die Grundrechte aus dem Entwurf von
Hugo Preuß nur zu einem „interfraktionellen Parteiprogramm“ erweitert. Die ergebnislosen Diskussionen
um ein Reichsschulgesetz sowie um den Reichswirtschaftsrat, der ein Torso blieb und nach 1923 nicht
mehr zusammentrat, schienen ihm zu beweisen, dass Verfassungsbestimmungen dieser Art lediglich als
„leere Deklarationen“ anzusehen sind107. Adolf Arndt setzte sich in der „Süddeutschen Juristenzeitung“
kritisch mit der Eigentumsdefinition und mit der Sozialisierungsklausel der Weimarer Reichsverfassung
auseinander. Verfassungsbestimmungen wie „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst
sein für das gemeine Beste“ oder wie die Kann-Vorschrift zur Überführung in Gemeineigentum
bezeichnete er als „rechtlich und politisch belanglos“. Kann- und Soll-Vorschriften in der Verfassung
hätten zwar ihren Sinn für die Zuständigkeitsregelung in der Gesetzgebung, für die Verwaltung sowie für
die Rechtsprechung; sie seien jedoch nicht als „eigentliches Verfassungsgesetz“ anzusehen.
105
Dr. Stricker vor dem Zonenbeirat der brit. Zone, 17. Plenarsitzung vom 24. November 1947.
106
U. Bachmannn: Die Hessische Verfassung - Pate und Vorbild des Grundgesetzes?, in: H. Eichel/ K. P.
Möller (Hrsg.): 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen. Eine Festschrift, Opladen-Wiesbaden 1997, S. 90-121,
S. 101 f.
107
Hermann Brill.
Menschenrechte , in: Das sozialistische Jahrhundert, Nov. 1946, S. 6.
40
In der politischen Praxis ergaben sich vor allem aus der weiteren Diskussion um Art. 41 der hessischen
Verfassung Vorbehalte gegenüber der Regelung von „Lebensordnungen“ im Verfassungstext: Es zeigte
sich, dass auch für die Durchführung dieser scheinbar „zwingenden“ Verfassungsbestimmung eine ganze
Reihe von Gesetzgebungsakten erforderlich war. Neben dem eigentlichen Sozialisierungsgesetz mussten
die Form der Treuhandschaft, die Überleitung der Betriebe auf die neuen Rechtsträger und die
Entschädigungsfrage rechtlich geregelt werden108. Für die weiterführende Verfassungsdiskussion in
Westdeutschland stellte sich angesichts dieser Erfahrungen die Frage, wieweit die Festlegung wirtschaftsund sozialpolitischer Zielsetzungen im Verfassungstext sinnvoll war, wenn die entsprechenden Reformen
später auf dem Gesetzgebungswege noch einmal politisch durchgesetzt werden mussten.
II. Die Konzeption der konstitutionellen Demokratie
1. Gesellschafts- und Kulturkritik als Grundlage politischer Ordnungsvorstellungen
Während die verfassungspolitischen Zielvorstellungen der sozialen Mehrheitsdemokratie von einer
ökonomisch bestimmten Zeitgeschichtsinterpretation beeinflusst wurden, lässt sich die Konzeption der
konstitutionellen Demokratie auf gesellschafts- und kulturkritische Überlegungen zurückführen. Diese
Kritik war zwar vom Ansatz her umfassender als der mehrheitsdemokratische Motivationsbereich,
gleichzeitig aber in ihrer Terminologie auch unpräziser. Ihre Argumentation richtete sich allgemein gegen
die Erscheinungsformen der modernen Massengesellschaft. Sie wurde von den Theoretikern des
Neoliberalismus sowie der katholischen Soziallehre entwickelt und erhielt gelegentlich auch von den
Vertretern des protestantischen Konservatismus Unterstützung. Hieraus geht bereits hervor, dass die
ideologischen Grundlagen der konstitutionellen Demokratie heterogen sind. Die Parallelität der
Argumente berechtigt jedoch dazu, von einer einheitlichen politischen Konzeption zu sprechen.
Die Differenzen, welche zwischen diesen Positionen zweifellos bestehen, haben demgegenüber für unsere
Fragestellung eine geringere Bedeutung. Die Frage etwa, ob der neuliberale Ansatz mit den Prinzipien der
katholischen Soziallehre grundsätzlich zu vereinbaren ist oder gar - den Intentionen des
Ordo-Liberalismus entsprechend - die transzendente Ordnung im wirtschaftlich-sozialen Bereich
widerspiegelt109, ist in unserem Zusammenhang nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist vielmehr, dass
nach 1945 auf beiden Seiten weitgehende Übereinstimmung in der Beurteilung der zeitgeschichtlichen
Erfahrungen und über die Grundlinien des politisch-sozialen Wiederaufbaus bestand. Die ideologischen
Grundlagen der konstitutionellen Demokratie sind dabei ebenfalls als ein Teil der politischen Kultur im
Nachkriegsdeutschland anzusehen - als geistige Strömungen, die den Prozess der Demokratiegründung
auf eine noch näher zu bezeichnende Weise beeinflussten. Sie müssen daher in unserem Zusammenhang
weniger auf ihre innere Folgerichtigkeit und ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht werden (soweit diese
wissenschaftlicher Kritik überhaupt zugänglich sind), als vielmehr hinsichtlich ihrer politischen
Konsequenzen.
Die Gesellschafts- und Kulturkritik im Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie wurde von
einem allgemeinen Krisenbewusstsein getragen, das sich nach Auffassung der einschlägigen Autoren
unmittelbar aus der zeitgeschichtlichen Situation ergab und daher keiner weitergehenden Begründung
bedurfte. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und der neuen Diktaturen kommunistischer oder
108
109
A. Arndt: Das Problem der Wirtschaftsdemokratie, in : SJZ 1, Nr. 6, Sept. 1946, S. 137-141; H. Koch:
Die Sozialgemeinschaften... S. 1-6
O. Veit: Ordo und Ordnung - Versuch einer Synthese, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft
und Gesellschaft, Bd. 5, Düsseldorf-München 1953, S. 6. Anders die umfassende Kritik des Neoliberalismus bei
E. E. Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg 1962.
41
faschistischer Prägung sprach man von einer tiefgreifenden Auflösung der Gesellschaft, die in
Anlehnung an organische Sozialvorstellungen gerne als „pathologische Entartung“ (Röpke) oder als
„schwere Erkrankung des sozialen Organismus“ (Jostock) bezeichnet wurde.
Obwohl diese Beurteilung nicht gerade zur begrifflichen Klarheit beiträgt, lassen sich zwei Aspekte der
Argumentation unterscheiden: Neben einer umfassenden „geistig-moralischen“ Erschütterung glaubte
man soziale Auflösungserscheinungen im engeren Sinne feststellen zu können. Sie wurden damals in der
politischen und publizistischen Diskussion als „Vermassung“ bezeichnet110. Die zahlreichen
Veröffentlichungen aus der Schweiz über diese Thematik übten auf die westdeutsche Diskussion einen
großen Einfluss aus. Eine vermittelnde Funktion übernahm hierbei die von Rudolf Pechel in Berlin
herausgegebene „Deutsche Rundschau“. Ihre Berichte und Kommentare aus den Jahren 1946 bis 1948
informierten laufend über Schweizer Publikationen mit entsprechender Tendenz und trugen maßgebend
dazu bei, dass die Bezeichnungen „Masse“ und „Vermassung“ in der politischen Auseinandersetzung
nach 1945 schlagwortartige Bedeutung erlangten.
Die Nachkriegsdiskussion über Vermassungstendenzen kann jedoch nicht als Indiz für eine
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den kollektiven Verhaltensweisen in der modernen
Industriegesellschaft gewertet werden, wie sie etwa in der grundlegenden Studie von William Kornhauser
vorliegt111. Sie ist vielmehr Ausdruck jener Kulturkritik, welche den Versuch einer soziologischen
Analyse der modernen Gesellschaft seit Gustave Le Bon und Jakob Burckhardt begleitet und zum Teil
auch beeinträchtigt hat. Ursache und Bedeutung der Vermassungserscheinungen wurden von den
einzelnen Autoren unterschiedlich interpretiert. Wilhelm Röpke, der nach 1945 mit seinen Schriften und
Artikeln großen Einfluss auf die politische Diskussion ausübte, glaubte für diese Entwicklung drei
Faktoren verantwortlich machen zu können: Der Strukturverlust der modernen Gesellschaft schien ihm
erstens auf die demographische Komponente zurückzuführen zu sein, d. h. auf den beispiellosen
Bevölkerungszuwachs im 19. und 20. Jahrhundert. Hinzu kamen zweitens die moderne
technisch-organisatorische Entwicklung mit ihrem Zug zur Großindustrie, zur Verstädterung und zur
Massenproduktion sowie als dritter Punkt die Proletarisierung breiter Bevölkerungsteile. Hierunter
verstand Röpke die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit, Naturentfremdung und Arbeitsmonotonie.
Diese drei Krisenfaktoren werden nach seiner Auffassung von einer allgemeinen „geistigen
Niveausenkung und Zerstörung der geistigen Hierarchie“ begleitet112.
Vergleichbare Formulierungen finden sich bei Otto Heinrich v. d. Gablentz, dem Mitbegründer der CDU
in Berlin, der mit anderen Passagen seiner Programmschrift „Über Marx hinaus“ wiederum den
mehrheitsdemokratischen Reformvorstellungen nahe stand. Eugen Kogon, der Herausgeber der
„Frankfurter Hefte“, glaubte damals ebenfalls, eine „Atomisierung der Gesellschaft“ feststellen zu
können. Als Ursache für diese Entwicklung bezeichnete er die Herauslösung des Einzelnen aus seinen
natürlichen Lebens- und Wirkungsgemeinschaften sowie den verhängnisvollen Versuch, die isolierten
Individuen zu „Massenparteien“ zusammenzufassen. Alfred Müller-Armack, der den Begriff „soziale
Markwirtschaft“ erfand, vertrat demgegenüber die Auffassung, der Vorgang der Vermassung sei in erster
Linie ein geistesgeschichtlicher Prozess und könne nicht ohne weiteres aus Bevölkerungszunahme,
Technisierung und Industrialisierung abgeleitet werden. Für die Krisenerscheinungen des 20. Jahrhunderts
seien vielmehr die Säkularisierung und der nachfolgende „Glaubensabbau“ verantwortlich. Vermassung
und Proletarisierung definierte er dementsprechend als „negative Haltung zu Werten“. Theodor Steltzer,
ebenfalls Gründungsmitglied der CDU in Berlin, kam damals zum gleichen Ergebnis, als er die
110
A. Müller-Armack: Diagnose unserer Gegenwart. Zur Bestimmung unseres geistesgeschichtlichen Standorts,
Gütersloh 1949, S. 254 f; P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre und der Sozialreform, Freiburg 1946, S. 172;
W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 1942, S. 16 und 23
111
W. Kornhauser: The Politics of Mass Society, Glencoe 1959; G. Sartori: Demokratietheorie, Darmstadt
1992, S. 34 ff.
112
W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis... S. 27-30 und S. 55
42
Vermassungserscheinungen in der modernen Gesellschaft auf den „Verlust der metaphysischen Basis“
zurückführte113.
Die Massen-Problematik fand in der politischen Diskussion der Jahre 1945 bis 1948 eine breite Resonanz
und beeinflusste die Verfassungsberatungen der Nachkriegszeit bis in den Parlamentarischen Rat
hinein114. Neben Gustave Le Bon, dem Klassiker der Massenpsychologie, berief man sich auch auf Schrift
von Karl Jaspers über „Die geistige Situation der Zeit“ aus dem Jahre 1931, welche sich ebenfalls mit
dem Verhältnis von Masse und moderner Technik befasst. Die größte Beachtung und Verbreitung fand
jedoch Ortega y Gassets „Der Aufstand der Massen“. Dieses Buch erschien 1947 offenbar mit
Unterstützung der amerikanischen Militärregierung als Rotationsbroschüre in der für damalige
Verhältnisse hohen Auflage von 50 bis 70 Tausend115.
Der Nationalsozialismus wurde im Rahmen dieser umfassenden Kritik ebenfalls als Erscheinungsform der
allgemeinen Gesellschafts- und Kulturkrise interpretiert. Man sprach von einem „natürlichen Bündnis“
zwischen Diktatur und Masse: Beide Erscheinungen bedingen sich demnach gegenseitig, weil die
„Masse“ die Ausübung politischer Macht erleichtert und die „politische Allmacht“ ihrerseits den
Vermassungsprozess beschleunigt116. Wilhelm Röpke bezeichnete damals die „proletarischen und
traditionslosen Massen“ als soziologische Grundlage des Nationalsozialismus. Für Autoren wie
Müller-Armack, die den Vermassungsprozess vorwiegend aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung
ableiten zu können glaubten, schien der Nationalsozialismus eine „Idolbildung größten Ausmaßes“ zu
sein, die von den Bevölkerungsmassen als Ersatzreligion bereitwillig aufgenommen wurde. Der Erfolg
Hitlers war nach dieser Interpretation aus der Tatsache zu erklären, dass er dem „Massenmenschen“ genau
das vermittelte, was dieser erwartete – „die Befreiung von der Daseinsangst durch den Glauben an einen
Führer und die Einordnung in die totale, festgefügte, kultisch verherrlichte Gemeinschaft der
Gleichgesinnten“117.
In vereinfachter Form wurde diese Kritik auch von Politikern übernommen, die an den
Verfassungsberatungen der Nachkriegszeit beteiligt waren und versuchten, die Ausprägung der
Demokratie in Westdeutschland im konstitutionell-demokratischen Sinne zu beeinflussen. Der
Nationalsozialismus schien für sie das Ergebnis einer „tieferliegenden geistigen oder geistigseelisch-menschlichen Destruktion“ zu sein118. In der geistigen „Verflachung“ Europas seit dem 19.
Jahrhundert erblickten sie die tiefere Ursache für das „Absinken des seelischen Wasserspiegels“ und für
die Entstehung der modernen Diktaturen119. Etwas vereinfachend, aber für die tagespolitische
113
O. H. v. d. Gablentz: Über Marx hinaus, Berlin 1946, S. 7 f. und S. 30 f.; E. Kogon: Demokratie und
Föderalismus, in: Frankfurter Hefte 1, September 1946, S. 69; A. Müller-Armacks diesbezügliche Kritik an
Röpke in: Das Jahrhundert ohne Gott, Regensburg-Münster 1948, S. 26 f. und S. 118 ff.; T. Steltzer: Das
Problem des modernen Menschen, in: Die Neue Zeitung vom 8. August 1947
114
P. H. Merkl: Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1965, S. 93 f.
115
K. Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, Neuausg. Berlin 1955, S. 32 ff. sowie Deutsche Rundschau, 1948,
Heft 2, S. 164 mit dem Hinweis, die Reihe der Rotationsbroschüren werde maßgebend von der Publications
Control Branch München bestimmt.
116
G.Würtenberg: Die Macht der Dämonen - Die Diktatur als Form der Massenherrschaft, in: Rheinischer
Merkur vom 28.6.1947.
117
W. Röpke: Die deutsche Frage, Zürich 1945, S. 48 f.; A. Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott... S.
132 ff.; T. Steltzer: Das Problem des modernen Menschen...
118
Abg. Kaes (CDU) bei den nordrhein-westfälischen Verfassungsberatungen. Landtag von NordrheinWestfalen, 1. Wahlperiode, 117. Sitzung vom 14. Dezember 1949.
119
Abg. Haußleiter (CSU) vor der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, 3. Sitzung am 14.
August 1946.
43
Auseinandersetzung der Nachkriegsjahre durchaus zutreffend, kann man sagen, dass der
Nationalsozialismus von den Vertretern der konstitutionellen Demokratie in erster Linie als
„Massenphänomen“ angesehen wurde, als eine Auswirkung der Vermassungstendenzen auf den
politischen Sektor, die zu einer „gefährlichen Senkung des politischen Herrschaftsniveaus“ führte120. Aus
mehrheitsdemokratischer Perspektive schien er dagegen vorwiegend „Klassenphänomen“, d. h. eine von
bestimmten Gruppen getragene Herrschaftsform zu sein.
Die These von der Massen-Gesellschaft stellt jedoch ungeachtet ihrer weiten Verbreitung in der
Publizistik und in der politischen Diskussion der Nachkriegszeit kaum mehr als ein kritisch-polemisches
Argument dar. Aus dieser Argumentation lassen sich keine unmittelbaren Folgerungen für den
gesellschaftlichen und politischen Neuaufbau nach 1945 ableiten, bevor nicht die Frage beantwortet ist,
welches positive Gegenbild die einschlägigen Autoren und Politiker der unstrukturierten
Massengesellschaft gegenüberstellen. Ihre Bemühungen um ein neues Menschenbild haben in diesem
Zusammenhang große Bedeutung. Da die Ablösung der Massengesellschaft offenbar nur bei einer
gleichzeitigen „Überwindung des Massenmenschen“ möglich war, entwickelte sich eine
Grundsatzdiskussion, in deren Mittelpunkt die Sozialprinzipien des Individualismus und des
Kollektivismus standen121.
Den Individualismus betrachteten vor allem die Vertreter der katholischen Soziallehre als eine
Gesellschaftsauffassung, welche geistesgeschichtlich bis auf den mittelalterlichen Nominalismus
zurückzuführen sei. Das individualistische Gesellschaftsverständnis tendierte ihrer Meinung nach dahin,
die Autonomie des einzelnen zu überschätzen und allein dem Individuum Realitätscharakter zuzubilligen.
Damit werde die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen verkannt und die Gesellschaft letztlich zu
einer „Summe von Atomen“ abgewertet. Nachdem die Idee des ungebundenen Einzelmenschen in der
Renaissance, in der Reformation und in der Aufklärung Anerkennung fand, habe sie sich mit dem
Liberalismus des 19. Jahrhunderts auch politisch durchgesetzt. Der Liberalismus wurde in diesem Sinne
als „das politische System des Individualismus“ bezeichnet122.
Eine begriffliche Bestimmung der schillernden Vokabel „Kollektivismus“ ist demgegenüber weitaus
schwieriger. Dem Sprachgebrauch der Nachkriegszeit am nächsten kommt Max Gustav Langes
Definitionsversuch als „eine zusammenfassende Bezeichnung für alle Phänomene und Prozesse, . . . die
eine Übermacht von Ganzheiten, insbesondere der des Staates, begünstigen und verwirklichen“. Sowohl
die Vertreter der katholischen Soziallehre als auch die um Erneuerung des Liberalismus bemühten
Autoren erblickten im Kollektivismus eine geschichtlich verständliche Reaktion auf extrem
individualistische Gesellschaftsvorstellungen. Diese Antwort verfehle jedoch mit ihrer ausschließlichen
Betonung der Gemeinschaftsbindung ebenfalls die eigentliche Natur des Menschen. Wilhelm Röpke
äußerte 1942 bereits die Auffassung, durch ein rationalistisches und damit „gesellschaftszerstörendes“
Verständnis des Individualismus sei ein an und für sich richtiger Gedanke diskreditiert worden. Man habe
auf diese Weise dem Kollektivismus Vorschub geleistet. Reinhold Niebuhr bezeichnete damals den
Kollektivismus als eine „gesunde und unvermeidliche Revolte“ gegen den bürgerlichen
Individualismus123. Mit dem Sozialismus des 19. Jahrhunderts schien der Kollektivismus zum erstenmal
120
A. Müller-Armack: Diagnose unserer Gegenwart... S. 258.
121
Zum damaligen Verständnis dieser Begriffe vgl. G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung.
Augsburg 1947 S. 22-27 sowie T. Steltzer: Von deutscher Politik - Dokumente, Aufsätze und Vorträge.
Frankfurt 1949, S. 60
122
So in der einflussreichen Schrift von P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre... S. 25 ff. sowie E. Kogon:
Demokratie und Föderalismus...
123
M. G. Lange: Die FDP - Versuch einer Erneuerung des Liberalismus, in: Parteien in der Bundesrepublik.
Stuttgart-Düsseldorf 1955, S. 314; W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis... S. 86; R. Niebuhr: Die Kinder des Lichts
und die Kinder der Finsternis. Eine Rechtfertigung der Demokratie und eine Kritik ihrer herkömmlichen
Verteidigung, München 1947, S. 43
44
in Form einer politisch-sozialen Bewegung Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung genommen zu
haben. Einige Autoren verwenden daher den Begriff „Sozialismus“ gleichbedeutend mit diesem
Kollektivismus-Begriff124.
Individualismus und Kollektivismus werden damit als scheinbar entgegengesetzte, in Wirklichkeit aber
sich gegenseitig stützende Krisensymptome angesehen, die gleichermaßen für die Entstehung des
Massenmenschen und damit für die Vermassungstendenzen verantwortlich sind. Die Voraussetzung für
den gesellschaftlichen Neuaufbau schien daher eine neue Auffassung vom Menschen zu sein, welche den
Antagonismus zwischen individualistischen und kollektivistischen Prinzipien aufheben und ersetzen
sollte. Diese neue Basis glaubte man im „Personalismus“ gefunden zu haben. Person bedeutete in diesem
Sinne mehr als bloße Individualität: Die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung sollte vielmehr
ergänzt werden durch seine vernunftbedingte Eigenschaft, sich in die Gemeinschaft einzuordnen, die ihm
ihrerseits bei der Verwirklichung seines Lebensziels die notwendige Unterstützung gibt. Die Idee des
gemeinschaftsgebundenen Individuums wurde damals nicht nur von Autoren aus dem Bereich der
katholischen Soziallehre, sondern auch von einem protestantischen Theologen wie Reinhold Niebuhr
herausgestellt, dessen Buch „The Children of Light and the Chil-dren of Darkness“ 1947 in deutscher
Sprache erschien. Eine menschenwürdige Gemeinschaft zeichnet sich dementsprechend durch die
Tatsache aus, dass der Mensch in ihr Person bleibt und damit seinen Eigenwert behält125.
Die neuliberalen Theoretiker kamen bei ihrer Auseinandersetzung mit dem „alten“ Liberalismus zu
vergleichbaren Schlussfolgerungen: Sie versuchten, ihr Menschen- und Gesellschaftsbild vom
rationalistischen Individualismus kartesianischer Prägung abzugrenzen. Ihr Ziel war dabei die Rückkehr
zum „allgemeineren, unantastbaren“ Liberalismus, der sich durch „Persönlichkeitskultur“ und eine dem
Menschen angemessene Ausgewogenheit von Freiheit und Bindung auszeichne. Der „wahre
Individualismus“ wurde als eine Gesellschaftstheorie bezeichnet, die vom sozialgebundenen
Einzelmenschen ausgeht. Im Gegensatz zum optimistischen Menschenbild des „Altliberalismus“ vertraten
die Neuliberalen außerdem eine wesentlich skeptischere, zum Teil sogar pessimistische Auffassung vom
modernen Menschen und näherten sich damit den Vorstellungen der beiden christlichen Konfessionen.
Nach 1945 kann man daher allgemein von einer neuen Einstellung der Liberalen zur Religion und zum
Irrationalen sprechen, die aus einem erschütterten Fortschrittsglauben resultiert und von Max Gustav
Lange „geläuterter Liberalismus“ genannt wird. Diese Neuinterpretation der individuellen Freiheit durch
liberale Autoren fand auf katholischer Seite Beachtung und führte schließlich dazu, dass man auch hier
zwischen einem „personalistischen“ und einem „individualistischen“ Liberalismus differenzierte126.
Für die Konzeption der konstitutionellen Demokratie sollten vor allem die gesellschaftspolitischen
Konsequenzen von Bedeutung sein, welche man aus dieser Kulturkritik ableiten zu können glaubte. Die
Vermassung konnte nach Auffassung der Kritiker nur durch eine erneute Aufgliederung der Gesellschaft
rückgängig gemacht werden. Otto Heinrich v. d. Gablentz bezeichnete damals die Überwindung der
Vermassung als die „soziale Frage des 20. Jahrhunderts“ und forderte, auch unter den Bedingungen des
technischen Zeitalters müsse dem Menschen die Möglichkeit gegeben werden, sich in einem
überschaubaren engeren Lebenskreis ein selbständiges Urteil zu bilden und danach sein Leben in eigener
124
P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre... S. 27 ff. und G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung...
S. 23
125
P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre...S. 6 ff; A. Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott... S. 197 R.
Niebuhr: Die Kinder... S. 39 ff. sowie E. Welty: Die Entscheidung in die Zukunft. Grundsätze und Hinweise zur
Neuordnung im deutschen Lebensraum, Köln 1946, S. 48-51
126
W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis... S. 41 f.; F. W. Dörge: Menschenbild und Institution in der Idee des
Wirtschaftsliberalismus, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 4, Tübingen 1959, S.
82-99; M. G. Lange: Die FDP... S. 356; O. v. Nell-Breuning in: Gesellschaftliche Ordnungssysteme,
Wörterbuch der Politik, Heft V. Freiburg 1951, S. 198 ff.
Verantwortung zu gestalten127.
45
Aus der Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen der modernen Massengesellschaft leitete sich
die Forderung nach sozialer Dezentralisation ab. Diese Zielsetzung hat nicht nur die
gesellschaftspolitischen Grundlagen der konstitutionellen Demokratie, sondern auch die Demokratiekonzeption selbst maßgebend beeinflusst. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Dezentralisierung
entsprach gleichzeitig auch dem neoliberalen Denken. Vor allem der Ordo-Liberalismus betonte in diesem
Zusammenhang die „Interdependenz der Ordnungen“: Mit der Rückkehr zur Konkurrenzwirtschaft sollte
gleichzeitig ein „neuer gesellschaftlicher Organismus“ und eine „wirklich gegliederte Struktur der
Gesellschaft“ eingerichtet werden128. Soziale Dezentralisierung bedeutete im neuliberalen Sinne, die
Tendenz zur Verstädterung, zum Großbetrieb, zur Massenorganisation sowie zu Konzernen und
Monopolen rückgängig zu machen. Bei Wilhelm Röpke verbindet sich diese Zielsetzung mit einem
konservativ-hierarchischen Gesellschaftsmodell, welches sich durch die „Verlagerung des sozialen
Schwerpunkts von oben nach unten“ sowie durch einen organischen Aufbau auf der Grundlage der
„natürlichen und nachbarlichen Gemeinschaften“ von der Familie bis zum Staat auszeichnet129. Diese
Vorstellungen lassen sich durchaus mit den Zielsetzungen deutscher Widerstandskreise unter Hitler
vergleichen; auch Helmut J. v. Moltke war in einer Denkschrift für die „kleinen Gemeinschaften“
eingetreten. Eine Verbindung zwischen Widerstand und Nachkriegsdiskussion wurde in diesem Punkt vor
allem durch die Veröffentlichungen Theodor Steltzers hergestellt. Bei Walter Eucken wird die
pyramidenförmige Gesellschaftsstruktur durch eine Elitenideologie ergänzt: Unter Berufung auf Le Bon
und Pareto fordert er eine Führungsschicht, die der unselbstän-digen und irrationalen Masse den Weg
weisen soll130.
Für die Theoretiker des Neoliberalismus standen die gesellschaftlichen Dezentralisierungsbestrebungen in
enger Verbindung mit ihrer Forderung nach Wiederherstellung der Wettbewerbsordnung und waren
damit letztlich markttheoretisch begründet. Die fehlende Integrationskraft der marktwirtschaftlichen
Konkurrenz sollte durch den festen Rahmen einer konservativen Gesellschaftsstruktur ausgeglichen
werden, welche gleichzeitig aufgrund ihres gegliederten Aufbaus eine genügende Anzahl von
Konkurrenten garantierte. Die Marktwirtschaft schien nur funktionsfähig zu sein, wenn sie durch eine
„widergelagerte Gesellschaftspolitik“ ergänzt wurde. Dieser Zusammenhang lässt sich recht gut am
Beispiel der konjunkturpolitischen Bedeutung verdeutlichen, die man dem Haus- und Garteneigentum
zusprach: Es sollte den Arbeiter und den Angestellten in die Lage versetzen, bei Krisensituationen und
Arbeitslosigkeit das Lebenswichtigste in Eigenproduktion herzustellen, um „den Tücken des Marktes mit
seinen Lohn- und Preiskämpfen und mit seinen Konjunkturen“ (W. Röpke) zu entgehen. Hier glaubte man
eine Eigentumsform gefunden zu haben, die den Vermassungstendenzen der modernen Gesellschaft
entgegenwirkt. Bei Autoren aus dem Bereich der katholischen Soziallehre finden sich ebenfalls Ansätze
dieser Eigenheim-mit-Garten-Ideologie131.
Die gesellschaftspolitische Absicherung des Arbeitnehmers in dieser oder einer anderen Form erlaubte
den neoliberalen Theoretikern gleichzeitig, gegen die Vollbeschäftigung als vorrangiges Ziel der
127
O. H. v. d. Gablentz: Über Marx hinaus...S. 7 f.
128
W. Eucken: Das ordnungspolitische Problem, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und
Gesellschaft, Bd. 1, Opladen 1946, S. 71 ff.
129
W. Röpke: Civitas humana. Erlenbach-Zürich 1944, S. 270 f.
130
G. van Roon: Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen
Widerstandsbewegung, München 1967, S. 403 ff..; W. Dörge: Menschenbild und Institution... S. 89 sowie
neben zahlreichen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften T. Steltzer: Von deutscher Politik....
131
E. E. Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie... S. 234 ff.; W. Röpke: Civitas Humana...S. 278; P.
Jostock: Grundzüge der Soziallehre... S. 168 ff.
46
Wirtschaftspolitik Stellung zu nehmen und sich damit von der Keynes-Schule abzugrenzen. Wilhelm
Röpke wandte sich dementsprechend gegen den Grundsatz der „Vollbeschäftigung um jeden Preis“ sowie
gegen die „künstliche Verlängerung“ der Hochkonjunktur durch eine Politik des billigen Geldes, der
öffentlichen Investitionen und der Staatsverschuldung. Eine derartige Steuerung der Gesamtwirtschaft
schien ihm zwangsläufig über das marktwirtschaftliche System hinauszugreifen und zum
„Kollektivismus“ zu führen. Die „organische Marktkonjunktur“ werde auf diesem Wege durch die
„kollektivistische Zwangskonjunktur“ ersetzt. Auch in diesem Punkt zeigt sich eine gewisse
Übereinstimmung zwischen dem Neoliberalismus und einzelnen Interpreten der katholischen Soziallehre:
Paul Jostock zum Beispiel lehnte ebenfalls den Vorrang der Vollbeschäftigung ab und befürwortete statt
dessen eine „gesunde soziale Ordnung, in der möglichst viele auf eigenen Füßen stehen“. Er schloss seine
Überlegungen zur Sozialreform mit einer Apologie der Brüning´schen Deflationspolitik ab132.
Von katholischer Seite wurde die allgemeine Forderung nach gesellschaftlicher Dezentralisierung mit
dem Subsidiaritätsprinzip begründet. Dieses Prinzip geht von der Voraussetzung aus, dass der einzelne
und die gesellschaftlichen Gruppen als vorstaatliche, mit eigenen Rechten ausgestattete Einheiten
anzusehen sind. Den großen Organisationen und dem Staat steht daher nur ein begrenztes Eingriffsrecht
zu, welches erst dann wirksam werden darf, wenn das untergeordnete Gesellschaftsglied die betreffende
Aufgabe trotz vorausgegangener Hilfeleistung nicht selbst bewältigen kann. Das Subsidiaritätsprinzip hat
damit formalen Charakter und lässt bei seiner Anwendung einen breiten Auslegungsspielraum. Es wurde
aber in der publizistischen Diskussion der Nachkriegsjahre vorwiegend negativ, d. h. als abwehrender
Schutz für den einzelnen und die kleineren Lebenskreise interpretiert. Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus sah man seinen Sinn vorwiegend darin, dass „diese Idee dem brandenden Meer der
kollektivistischen Strömungen entgegengestellt werden sollte als ein Fels, an dem sich die Wogen
brechen“133. Neoliberale Autoren glaubten sich daher zu der Feststellung berechtigt, das
Subsidiaritätsprinzip - verstanden als ein Prinzip der gesellschaftlichen und politischen Dezentralisation verkörpere gleichzeitig das „Programm des Liberalismus in seinem weiten und allgemeinen Sinn“. Walter
Eucken vertrat die Auffassung, nur in der Wettbewerbsordnung könne das Subsidiaritätsprinzip voll zur
Geltung kommen, und Alexander Rüstow stellte sogar die Behauptung auf, die katholische Soziallehre
habe dieses Prinzip aus dem Gedankengut des Liberalismus übernommen134.
Die Parallelität der Argumentation zwischen neuliberalen, katholischen und auch protestantischen
Autoren darf allerdings nicht überzeichnet werden. Differenzen lassen sich z. B. in der Frage der
berufsständischen Ordnung aufzeigen: Von katholischer Seite und auch von protestantischen Autoren
wurde dieser Gedanke als erfolgversprechende Alternative zu den Vermassungs- und
Proletarisierungstendenzen der modernen Gesellschaft bezeichnet135. Die Vertreter des Neoliberalismus
sprachen sich jedoch gegen eine berufsständische Autonomie und Selbstverwaltung aus, weil der damit
verbundene Gruppenegoismus ihrer Auffassung nach die Wettbewerbsordnung der Marktwirtschaft
beeinträchtigt136. Übereinstimmung bestand allerdings in den Grundprinzipien des Gesellschaftsaufbaus,
welche für das Demokratieverständnis und die Verfassungsvorstellungen ausschlaggebend waren.
132
W. Röpke: Die Gesellschaftkrisis... S. 262 ff.; P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre...S. 176 f.
133
J. Piper: Thesen zur sozialen Politik. Die Grundgedanken des Rundschreibens Quadragesimo anno, Frankfurt
1947, S. 46 ff.; P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre.... S. 73 sowie die Warnung vor dem „Etatismus“ bei O.
v. Nell-Breuning: Kapitalismus und Sozialismus in katholischer Sicht, in: Frankfurter Hefte 2, 1947, S. 665-681
134
W. Röpke: Civitas humana... S. 179.; W. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen 1952, S. 348;
A. Rüstow: Wohlfahrtsstaat oder Selbstverwaltung?, in: Wirtschaftspolitische Mitteilungen 12, 1956, S. 5
135
136
J. Piper: Thesen zur sozialen Politik...S. 40-58, sowie O. H. v. d. Gablentz: Über Marx hinaus...S. 30
Vgl. die Übersicht bei E. E. Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie... S. 238 ff und S. 255; W.
Röpke: Die Gesellschaftskrisis... S. 146 ff.
47
Mit der weitverbreiteten Zustimmung zum föderalistischen Gedanken wurde in Westdeutschland die
Verbindung hergestellt zwischen den gesellschaftlichen Dezentralisierungsbestrebungen und den
verfassungspolitischen Grundlagen der konstitutionellen Demokratie. Unter Föderalismus verstand man
damals nicht nur eine staatsrechtliche Maxime, sondern auch ein politisch-soziales Gestaltungsprinzip von
umfassender Bedeutung, eine „Sozialanschauung aus einem Guss“ - wie mit Albert Lotz einer seiner
einflussreichen Interpreten formulierte. Damit wurde die von Konstantin Frantz in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts entwickelte Föderalismus-Konzeption wieder aufgenommen. Die Schriften und Ideen
dieses Kritikers der Reichsgründung von 1871 gewannen in den Nachkriegsjahren durch Walter Ferbers
Föderalismus-Schrift Einfluss auf die politische Diskussion137.
Unabhängig hiervor lässt sich jedoch schon vor 1945 in der deutschen Emigration und bei Schweizer
Autoren eine Neubelebung des föderalistischen Gedankens feststellen. Der universale
Föderalismusbegriff entsprach voll und ganz dem Subsidiaritätsgedanken in der nach 1945
vorherrschenden Interpretation. Georg Laforet bezeichnete daher das Prinzip der Subsidiarität als
„organisatorische Leitidee“ des Föderalismus138. In einer föderalistischen und subsidiär gegliederten
Gesellschaft sollten die „Massen“ aufgelöst werden, indem „die Persönlichkeit jedes einzelnen in den
Mittelpunkt stufenweise überblickbarer Ordnungsbereiche“ gestellt und die „Selbstverwaltung der
Autoritäten“ anerkannt wird. Gleichzeitig glaubte man hier ein Strukturprinzip für die Staatsorganisation
gefunden zu haben, welches „jede Machtzusammenballung schon in der Vorbereitung“ ausschließt und
damit die „innere Gleichgewichtspolitik der Demokratie“ sichert139.
Analog zur Darstellung der sozialen Mehrheitsdemokratie im vorangehenden Kapitel stellt sich auch für
den Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie die Frage nach der parteimäßigen
Unterstützung. Die Gesellschaftskritik sowie die hieraus abgeleiteten politischen Folgerungen wurden in
der westdeutschen Nachkriegsdiskussion fast ausschließlich in den Reihen der christlich-demokratischen
und liberalen Gruppen vertreten. Die liberalen Landesparteien, welche sich später zur FDP
zusammenschlossen, griffen in ihren programmatischen Erklärungen das neoliberale Gedankengut auf.
Die Freiheit war für sie im 20. Jahrhundert sowohl durch staatliche Machtausübung als auch durch den
gesellschaftlichen Kollektivismus in allen seinen Ausprägungen bedroht. Die Kritik des
Nachkriegsliberalismus richtete sich dementsprechend nicht nur gegen totalitäre Bewegungen und die
staatliche Planungsbürokratie; die privatwirtschaftliche Monopolbildung wurde ebenfalls für die
„Vermassungstendenzen“ in der modernen Gesellschaft verantwortlich gemacht140.
Auch die frühen CDU/CSU-Programme bestehen vorwiegend aus gesellschaftspolitischen Ziel- und
Wertvorstellungen, die zum Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie gehören, während ihre
Wirtschaftsprogrammatik sich teilweise mit den mehrheitsdemokratischen Auffassungen deckt. Ihre
Übereinstimmung mit der oben erläuterten Gesellschafts- und Kulturkritik tritt deutlich hervor, wenn sich
etwa die Frankfurter und die Kölner Leitsätze vom „Kollektivismus“ sowie von „falschen kollektivistischen Zielsetzungen“ distanzieren. Das in Eichstätt beschlossene CSU-Programm vom Dezember
1946 verurteilt jede Form von „Verproletarisierung“, und die anschließenden dreißig Punkte der CSU
beklagen die „sittliche Entartung und den seelischen Zerfall“ der Epoche. Sie wenden sich gegen jede
„Vermassung des Menschen“ sowie gegen die „Vergottung des Staates“141.
137
A. Lotz: Abgrenzungen, in: Rheinischer Merkur vom 16.7.1946; W. Ferber: Der Föderalismus, Augsburg
1946.
138
G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung.... S. 31 und 69.
139
Diese Überlegungen in dem wichtigen Aufsatz von E. Kogon: Demokratie und Föderalismus....S. 76
140
Ausführlicher M. G. Lange: Die FDP... S. 311 ff.
141
Vgl. die Programme bei Flechtheim (Hrsg.): Dokumente.... Bd. 11, S. 31, 45 und 216. Die 30 Punkte vom
14./15. 12. 1946 sind abgedruckt bei W. Berberich: Die historische Entwicklung der CSU in Bayern bis zum
Eintritt in die Bundesrepublik, Phil. Diss., Würzburg 1965, S. 182-190.
48
Durch derartige Formulierungen erhalten die Programme der Gründungskreise einen pessimistischen
Unterton, der dem reaktiven Charakter der konstitutionellen Demokratiekonzeption entspricht. Konrad
Adenauer erklärte 1946 in seiner Kölner Universitätsrede: „In der heimatlosen,
durcheinandergeschobenen, atomisierten Masse, als die sich jetzt unser Volk darstellt, muss jedes
Einzelwesen angesprochen und zu Selbstbewusstsein und Verantwortungsgefühl geführt werden. Wieweit
das gelingt, ist heute die Schicksalsfrage unseres Volkes und nicht etwa die Frage, wie viele und welche
der wenigen uns noch verbliebenen Betriebe sozialisiert oder wie viel Hektar Land enteignet werden
sollen“142.
Von den positiven Zielsetzungen aus dem Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie fand der
Personalismusgedanke Aufnahme in die frühe CDU/CSU-Programmatik. Die Kölner Leitsätze vom
Sommer 1945 bezeichnen den Menschen als „selbstverantwortliche Person“ und heben hervor, er sei nicht
nur als „bloßer Teil der Gemeinschaft“ anzusehen. Das personalistische Menschenbild kommt auch im
mittelständischen Charakter der CDU-Programme zum Ausdruck, weil nach damaliger Auffassung im
Handwerk, in der Landwirtschaft und in der Kleinindustrie noch die Voraussetzungen für eine
selbstverantwortliche Existenz gegeben waren. Die Frankfurter Leitsätze widmen der Landwirtschaft und
dem Handwerk einen eigenen Abschnitt. Die übrigen CDU-Programme bis hin zum Ahlener Programm
unterstreichen ebenfalls die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung dieser Berufszweige. Hinzu kam
der Gedanke, dass mit dem Ausfall zahlreicher Industrieanlagen der kleine Betrieb in der
Nachkriegssituation erneut eine Chance erhalte und der Trend zum Großunternehmen vielleicht sogar
rückgängig gemacht werden könne. Der Berliner Gründungsaufruf spricht von den Ausbaumöglichkeiten
des selbständigen Handwerks, das nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs vor einer neuen,
großen Aufgabe stehe. Ähnliche Überlegungen finden wir in den programmatischen Erklärungen der
CDU von Württemberg-Hohenzollern143.
Zwischen den liberalen Parteigruppen und der CDU/CSU bestand außerdem Einvernehmen über eine
weitgehende Dezentralisierung der Gesellschaft. Die christlich-demokratische Programmatik orientierte
sich hierbei am Subsidiaritätsprinzip, obwohl das Prinzip selbst nur in den Zielvorstellungen der
bayerischen CSU ausdrücklich erwähnt wird144. Nach den Vorstellungen der christlich-demokratischen
Gründungskreise sollten im Zuge der sozialen Aufgliederung auch jene „wirtschaftlichen
Machtzusammenballungen“ aufgelöst werden, die man als Ursache für das Versagen der
Wettbewerbsordnung und für die kollektivistischen Bestrebungen bis hin zum Sozialismus betrachtete.
Während die Landesverbände der Liberalen am industriellen Privatbesitz festhielten, entwickelte die CDU
in der britischen Zone für den Bereich des Bergbaus und der übrigen Großindustrie Vorstellungen zur
Neuordnung der Besitzverhältnisse, die dem „machtverteilenden Prinzip“ folgten. Das Ziel dieser
Vorschläge bestand darin, sowohl den privaten als auch den staatlichen Einfluss auf die Großindustrie
durch die Aufteilung der Anteilsrechte zu vermindern und auf diesem Wege eine gegenseitige Kontrolle
der Teilhaber zu erreichen. Nach dieser „Industrieverfassung“ sollten die Vertreter des öffentlichen
Interesses (Staat, Land, Gemeinden, Gemeindeverbände, aber auch Genossenschaften sowie die im
Betrieb tätigen Arbeitnehmer) insgesamt über die Mehrheit der Stimmen verfügen; einzeln durften sie
jedoch nur 15 % der Gesellschaftsanteile kontrollieren. Entsprechendes galt für die Vertreter des privaten
Kapitals, dessen Beteiligung insgesamt unter 50 % bleiben sollte. Durch Festsetzung des Maximalanteils
für private Interessenten auf 10 % glaubte man das Großkapital ausschließen zu können. Dieses
„machtverteilende Prinzip“ wurde in das Ahlener Wirtschaftsprogramm vom Februar 1947 aufgenommen
142
Rede des ersten Vorsitzenden der CDU für die brit. Zone Dr. Konrad Adenauer in der Aula der Kölner
Universität 24. März 1946 (Schriftenreihe der CDU des Rheinlandes, Heft 8), Köln o. J., S. 6
143
Hierzu O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente.... Bd. 11, S. 27-58 und S. 213-225
144
W. Berberich: Die historische Entwicklung der CSU... S. 184 f.
49
und in den darauffolgenden Wochen durch die CDU-Anträge in der nordrhein-westfälischen
Sozialisierungsdiskussion konkretisiert145.
2. Verfassungsvorstellungen und Demokratieverständnis
Die politischen Leitgedanken der konstitutionellen Demokratiekonzeption wurden ebenfalls bei den
süddeutschen Verfassungsberatungen der Jahre 1946/47 zum erstenmal formuliert und lassen sich auf die
im vorangehenden Abschnitt beschriebene Gesellschafts- und Kulturkritik zurückführen. Für den Staatsund Verfassungsaufbau empfahlen die Kritiker der Massengesellschaft nach 1945 die gleichen Prinzipien
wie für den Gesellschaftsaufbau: Auch in diesem Bereich sollten die Krisensymptome durch eine
strukturelle Neu- und Aufgliederung überwunden werden. Die Forderung nach einer Aufteilung und
Ausbalancierung der politischen Macht wurde deshalb zum konstituierenden Prinzip ihrer
Demokratievorstellung. Bei den hessischen Beratungen begründete ein Vertreter der konstitutionellen
Demokratie diesen Standpunkt mit dem Hinweis: „Wir alle, die wir durch eine harte Schule gegangen
sind, sind uns in nüchterner Erkenntnis der menschlichen Natur und ihrer Unzulänglichkeit darüber klar,
dass wir uns schützen müssen vor dem berauschenden Narkotikum politischer Macht, wenn unsere ebenso
eindeutige Erkenntnis vom Fluch des politischen Machtgedankens als Regler der Beziehungen der Völker
untereinander auch innenpolitisch fruchtbringend werden soll“146.
Die entsprechende Demokratievariante wird im Rahmen dieser Studie als „konstitutionelle Demokratie“
bezeichnet, weil sie der Idee der Machtbeschränkung, welche in der einen oder anderen Form Bestandteil
jeder Demokratiekonzeption ist, Priorität einräumt. Der Begriff des Konstitutionalismus ist hierbei im
Sinne Franz Neumanns zu verstehen. Er bezeichnet „Doktrinen und Praktiken, denen mehr daran liegt, die
Macht zu beschränken, als daran, ihr eine bestimmte Richtung zu geben und sie für besondere soziale
Zwecke zu verwenden“147. Die Forderung nach Machtaufteilung und Dezentralisierung verband sich in
der Publizistik der ersten Nachkriegsjahre mit einer teilweise undifferenziert vorgetragenen Polemik
gegen den „kollektiven Staat“ sowie gegen jede Form von „Etatismus“ und „Totalitarismus“. Zwischen
den Vermassungserscheinungen der modernen Gesellschaft und der konzentrierten staatlichen
Machtausübung glaubte man einen engen Zusammenhang feststellen zu können. Jede Analyse des
Massenphänomens und seiner politisch-sozialen Folgeerscheinungen, meinte einer der Autoren, habe das
„natürliche Bündnis zwischen Diktatur und Masse“ zu berücksichtigen. Bei den bayerischen
Verfassungsberatungen unterstrich Hans Nawiasky den Unterschied zwischen dem Volk („ein durchaus
gegliederter Körper“) und der Masse, die als „Todfeind der Demokratie“ anzusehen sei. Man müsse daher
bei der Verfassungsberatung auf jeden Fall vermeiden, dass die ungegliederte Masse als entscheidender
Faktor in das Staatsleben eingefügt werde148.
Machtkonzentration und Vermassung waren nach Auffassung der konstitutionell demokratischen Autoren
gegenseitig bedingt: Die zentralisierte Staatsmacht schien nur auf der Grundlage der Massengesellschaft
möglich zu sein und trug gleichzeitig selbst dazu bei, die Tendenz zum „sozialen Amorphismus“ weiter
voranzutreiben. Das Totalitarismus-Argument der Nachkriegsdiskussion richtete sich allerdings nicht nur
145
Vgl. die Rede K. Adenauers in Recklinghausen am 14. August 1947, in: Konrad Adenauer und die CDU der
britischen Besatzungszone 1946-1949, Bonn 1975, S.335. f. sowie A. J. Heidenheimer: Adenauer and the CDU.
The Hague 1960, S. 122-133.
146
Abg. Köhler (CDU) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August
1946.
147
C. J. Friedrich: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953, S. 26 ff.; F. Neumann: Demokratischer und
autoritärer Staat, Frankfurt-Wien 1967, S. 183
148
G. Würtenberg: Die Macht der Dämonen..., sowie Nawiasky im Verfassungsausschuss Bayern, 8. Sitzung
vom 30. Juli 1946.
50
gegen die beiden ideologisch bestimmten Totalitarismen kommunistischer und nationalsozialistischer
Prägung. Die Freiheit schien damals auch durch einen „dritten“ oder „grauen“ Totalitarismus, nämlich
durch den modernen „Zwangs- und Planstaat“ mit seiner Bürokratie bedroht zu sein. Die Andeutungen in
dieser Richtung müssen vor dem Hintergrund der vielgelesenen Schriften Röpkes und Hayeks gesehen
werden, denen die neuliberale These zugrunde liegt, jede Wirtschaftsplanung münde über kurz oder lang
in den Kollektivismus. Spätestens hier wird deutlich, dass sich die publizistischen Stellungnahmen nicht
zuletzt auch gegen die wirtschaftspolitische Motivation der sozialen Mehrheitsdemokratie richteten.
Gleichzeitig erhoben Vertreter der katholischen Soziallehre die Forderung, das gesellschaftliche Leben sei
zu entstaatlichen , damit das gesellschaftsphilosophische Leitprinzip „Einheit in wohl gegliederter
Vielheit“ verwirklicht werden könne149.
In der Verfassungsdiskussion der Jahre 1945 bis 1947 richtete sich der Vorbehalt der konstitutionell-demokratischen Theoretiker nicht gegen die staatliche Machtausübung allgemein, sondern in
erster Linie gegen die Kompetenzen des Parlaments und gegen die Tragweite seiner
Mehrheitsentscheidungen. Das Mehrheitsprinzip, so wurde argumentiert, sei nur eine Komponente der
westlichen Demokratie und mit den Prinzipien des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung weder logisch
noch seiner Herkunft nach verbunden. Einer Machterweiterung der Legislative komme die gleiche
verhängnisvolle Wirkung zu wie einer Ausweitung der exekutiven Gewalt. Die Diktatur sei keineswegs
an den persönlichen Inhaber der Regierungsgewalt gebunden, sondern könne auch eine „gleichsam
anonyme und gestaltlose Form“ annehmen, wenn die Gesetzgebungsgewalt der Mehrheit schrankenlos
zur Verfügung stehe. Die Geschichte des Parlamentarismus, schrieb Adolf Süsterhenn, habe vor allem auf
dem Gebiet der Kirchen-, Schul- und Kulturgesetzgebung bewiesen, „dass Parlamentsdiktaturen einen
nicht geringeren Gewissenszwang auszuüben vermögen als Einmanndiktaturen“150. Die Freiheit des Einzelnen und der Minderheiten müsse aus diesem Grunde vor der Mehrheitsherrschaft geschützt werden, die
sich in der politischen Wirklichkeit „unter Verbrämung der Demokratie zur Alleinherrschaft“ entwickeln
könne. Der CDU-Abgeordnete Dr. Kanka gab bei den hessischen Beratungen zu überlegen: „Wie können
wir Sorge tragen dafür, dass die Legislative keine Purzelbäume schlägt, dass sie nicht in zu schnellem
Tempo dahinrast? Wenn wir eine Verfassung für lange Dauer schaffen wollen, dann müssen wir nach
Möglichkeiten suchen, um zu verhindern, dass ein Parlament in irgendwelche Maßlosigkeiten verfällt“151.
Diese Zielsetzungen und Argumente dokumentieren gleichzeitig die Gegensätzlichkeit der beiden
Demokratiekonzeptionen und die unterschiedlichen Auffassungen, welche in der Nachkriegsdiskussion
über die Position und die Aufgaben des Parlaments bestanden: Während aus mehrheitsdemokratischer
Sicht allein das unmittelbar gewählte Parlament als Repräsentant der Volkssouveränität galt, waren die
Befürworter der konstitutionellen Demokratieauffassung der Ansicht, die Souveränität des Volkes äußere
sich, indem sie die Organe der Exekutive, Legislative und Judikative einrichte und durch diese
gleichermaßen wirksam werde152. Etwa 1946 taucht in der Diskussion auch zum erstenmal die Warnung
vor dem „Parlamentsabsolutismus“ auf, die später auch im Parlamentarischen Rat erhoben wurde153.
149
H. Zbinden: Gefahren der modernen Demokratie, Frankfurt 1948, S. 59; O. B. Roegele: Die Rettung des
Menschen - Der dritte Totalitarismus, in: Rheinischer Merkur vom 25.12.1947; F. A. Hayek: Der Weg zur
Knechtschaft. Erlenbach-Zürich 1945, und kritisch W. Harich: Röpke, Pechel und der „Totalitarismus“, in:
Tägliche Rundschau vom 23.8.1946; G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung... S. 69
150
W. Martini: Die Lehre von Weimar - Zur Problematik des Mehrheitsprinzips, in: Die Neue Zeitung vom
5.9.1947; E. von Hippel: Gewaltenteilung heute, in: Rheinischer Merkur vom 22.11.1947, sowie A. Süsterhenn:
Ein- oder Zweikammersystem? in: Rheinischer Merkur vom 15.10.1946
151
Abg. Köhler (CDU) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung am 5. August
1946; Kanka im Siebenerausschuss - Hessen, 4. Sitzung vom 13. September 1946
152
153
v. Prittwitz und Gaffron (CSU) im Verfassungsausschuss Bayern, 8. Sitzung vom 30. Juni 1946
So z.B. Dr. Lehr (CDU) im Plenum: PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 518
51
Es überrascht daher nicht, wenn Vertreter der konstitutionellen Demokratie selbst die nationalsozialistische Machtergreifung als Mehrheitsentscheidung des Parlaments auffassten. Bereits 1946
vertrat Adolf Süsterhenn hierzu folgende Interpretation: „Der Nationalsozialismus hatte in dieser
staatsrechtlichen Möglichkeit des Parlamentsabsolutismus, auf dem die Weimarer Verfassung letztlich
beruhte, den archimedischen Punkt erkannt, von dem aus sich die deutsche Demokratie in scheinbar
legaler Form aus den Angeln heben ließ. Es gelang dem Nationalsozialismus durch Stimmenfang, durch
betrügerische Versprechungen und durch gewaltsame Ausschaltung eines Teils der Parlamentsmitglieder,
die Mehrheit im Parlament zu erobern und damit die Macht in der Zentralinstanz an sich zu reißen“. Erich
Köhler, der hessische Theoretiker der konstitutionellen Demokratie, äußerte ebenfalls die Auffassung, der
Nationalsozialismus sei zumindest in seiner Anfangsphase als Mehrheitsherrschaft zu kennzeichnen154.
Die verhängnisvolle Entwicklung der Jahre 1932/33 war demnach auf das Fehlen institutioneller
Gegengewichte zurückzuführen. Diese Argumentation stützte sich allerdings vorwiegend auf das
Ermächtigungsgesetz und ließ die vorausgehenden Verfassungsdurchbrechungen außer acht.
Nach konstitutionell-demokratischer Auffassung sollte die politische Machtaufteilung zunächst mit den
Mitteln der konventionellen Gewaltenteilung verwirklicht werden. In der Verteilung legislativer,
exekutiver und rechtsprechender Befugnisse auf unterschiedliche Staatsorgane oder Organgruppen
glaubte man eine „Sicherheitsmaßnahme“ gegen den „alles verschlingenden Kollektivismus“ gefunden zu
haben155. Die Forderung Paul Wilhelm Wengers aus dem Jahre 1946: „Gesetzgebung, Verwaltung und
Justiz dürfen nicht in einer Hand zusammenfallen - auch nicht in der denkbar besten der Welt!“ kann
deshalb als repräsentativ für das konstitutionelle Demokratieverständnis gelten. Sie blieb bis in den
Parlamentarischen Rat hinein wirksam und veranlasste dort z. B. den Abgeordneten Schwalber (CSU) zu
der Warnung, das Übergewicht eines Verfassungsorgans setze die Demokratie aufs Spiel und beschwöre
die Gefahr des „Abgleitens in die Diktatur“ herauf156.
Die Konzentration der politischen Macht an einer Stelle im Verfassungssystem - „auch wenn es sich
hierbei um das Parlament handelt“ - wurde grundsätzlich abgelehnt. Sie führt nach den Worten
Süsterhenns zum Despotismus, dessen Träger sowohl der „durch Usurpation an die Macht gelangte
Diktator“ als auch die Parlamentsmehrheit sein könne. Durch eine verfassungsmäßige Gewaltenaufteilung
nach dem Vorbild Montesquieus wollte man statt dessen eine „pluralistische Staatsgestaltung“
erreichen157. Das Ziel der konstitutionell-demokratischen Theoretiker war demnach die Einrichtung einer
„gemischten Verfassung“. Das Gemeinwesen schien ihrer Auffassung nach um so widerstandsfähiger zu
sein, je vielfältiger es gegliedert ist. Mit der Gewaltenteilung sollte nicht nur eine Verteilung der
Staatsfunktionen, sondern vor allem ein Gleichgewichtssystem festgelegt werden, um auf diese Weise die
Konzentration politischer Macht zu verhindern. Das Prinzip der „balance of powers“ wurde dabei als
Bestandteil der demokratisch-rechtsstaatlichen Tradition und teilweise sogar als naturrechtlicher
Grundsatz angesehen, dessen „apriorische Geltung“ unabhängig von der Verschiedenartigkeit der
Staatsformen und institutionellen Einrichtungen sei158.
154
A. Süsterhenn: Freiheit und Recht, in: Rheinischer Merkur vom 12.4.1946 sowie Köhler (CDU) in der
Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946
155
A. Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott... S. 189
156
P. W. Wenger: Mißbrauchte Staatsallmacht, in: Rheinischer Merkur vom 5.4.1946 und PR Akten und
Protokolle Bd. 9, S. 93
157
Vgl. die Beiträge A. Süsterhenns „Die Gewaltenteilung“ und „Ein- oder Zweikammersystem?“ in:
Rheinischer Merkur vom 8. und 15.10.1946.
158
Bericht des Verfassungsausschusses von Württemberg-Baden, S. 5; G. Laforet: Föderalismus und
Gesellschaftsordnung... S. 82 f.
52
Bei den Verfassungsberatungen in Süddeutschland befürworteten die Vertreter der konstitutionellen
Demokratie eine Form der Gewaltenteilung, welche über die klassische Dreiteilung noch hinausging:
Sowohl die exekutive als auch die legislative Funktion sollten erneut aufgeteilt und mehreren
Staatsorganen übertragen werden. In Hessen erklärte der Abg. Köhler (CDU) vor der
verfassungsberatenden Landesversammlung, die konstitutionelle Demokratie sei in verfassungsrechtlicher
Hinsicht folgendermaßen zu definieren: „Die gesetzgebende Gewalt muss auf eine erste und zweite
Kammer und die vollziehende Gewalt auf den Ministerpräsidenten und den Staatspräsidenten verteilt
werden“. Diesen konstitutionell-demokratischen Verfassungsvorstellungen widersprachen, wie im
vorangehenden Kapitel geschildert, die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie.
Die Unterschiedlichkeit der beiden Demokratieauffassungen kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass
sich dieses differenzierte System von „checks and balances“ gegen den Einfluss des unmittelbar
gewählten Parlaments und seine Mehrheitsentscheidungen richtete. Köhler sagte hierzu: „Wir sind
deshalb der Meinung, dem Gedanken der reinen formalen Mehrheitsdemokratie den Gedanken der
sogenannten konstitutionellen Demokratie gegenüberzustellen. Wir halten es für erforderlich, dass neben
dem Parlament noch Organe bestehen, die dem reinen Mehrheitsgedanken einen Ausgleich bieten“. Dies
bezog sich einmal auf den Vorschlag des Staatspräsidenten als einer Institution, „die über den Dingen
sich halten kann“ und „aus der Sphäre des rein politischen Parlaments herausgehoben ist“159. In Bayern
wurde betont, diese Einrichtung solle den „festen Punkt“ bilden, welcher dem Staatsgefüge Stabilität
verleihe. Als im weiteren Verlauf der Beratungen Wilhelm Hoegner den Vorschlag machte, die
Abberufung des Präsidenten durch eine Zweidrittelmehrheit des Landtags zuzulassen, stieß er auf Widerspruch. Alois Hundhammer (CSU) und Hans Nawiasky wandten ein: „Dann fällt der feste Punkt“. Bei den
badischen Beratungen brachte man ähnliche Argumente zugunsten des Staatspräsidenten vor, der
„unabhängig von der Gunst oder Missgunst der Parteien“ sein sollte. Er war als „ruhender Pol“ gedacht
und hatte die Aufgabe, die Regierungskontinuität zu sichern, „wenn in stürmischen Zeiten das
parlamentarische Leben von Kämpfen zerrissen wird“160.
Die zweite Kammer neben dem unmittelbar gewählten Landtag sollte nach konstitutionell demokratischer Auffassung ebenfalls als „Stabilisierungsfaktor“ dienen und „übereilte Beschlüsse“
verhindern. Sie wurde außerdem als Gegengewicht zum „bloß parteipolitischen Denken“ und zum „bloß
parteipolitischen Aufbau der Repräsentation des Volkes“ bezeichnet161. Ihre systematische Begründung in
der Verfassungsdiskussion nach 1945 hing aufs engste mit der Mehrheits-Minderheits-Problematik
zusammen, denn die Einwände gegen das Einkammersystem wurden mit einem Vorbehalt gegen die
Mehrheitsentscheidungen des unmittelbar gewählten Parlaments gerechtfertigt.
Das publizistische Echo auf den Entwurf zur nordrhein-westfälischen Verfassung des Innenministers Dr.
Menzel (SPD), der ein Einkammersystem vorsah, zeigt deutlich, in welchem Maße die Vorschläge zum
Zweikammersystem in der Furcht vor der Majorität motiviert waren: Ernst v. Hippel sprach von einer „im
Prinzip schrankenlosen Tyrannis“, die sich vom Dritten Reich lediglich dadurch unterscheide, dass an die
Stelle des Führers die Mehrheit getreten sei. Nur durch die Einrichtung einer zweiten Kammer könne der
drohenden Gefahr einer „Barbarisierung der Gesetzgebung begegnet und der Kulturstaat gerettet werden“.
Ottmar Bühler sah im Menzel-Entwurf die Gefahr der „Landtags-Omnipotenz“ und vermisste ebenfalls
das Gegengewicht eines „nicht parteipolitisch orientierten“ Gremiums. Noch 1950, in der Schlussphase
der nordrhein-westfälischen Verfassungsberatungen, wurde die Einrichtung einer zweiten Kammer heftig
diskutiert und mit dem „Mißtrauen gegen die Mehrheit“ begründet162.
159
Abg. Köhler (CDU) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August
1956 und im Verfassungsausschuss Hessen, 3. Sitzung vom 14. August 1946.
160
Verfassungsausschuss Bayern, 27. u. 29. Sitzung vom 2. bzw. 4. September 1946; Dr. Fecht (BCSV) in der
Beratenden Versammlung Baden, 11. Sitzung vom 10. April 1947.
161
Ehard (CSU) im Verfassungsausschuss Bayern, 22. Sitzung vom 26. August 1946.
162
E. v. Hippel: Gewaltenteilung heute... und O. Bühler: Die geistige Lage des neuen deutschen
53
Die Zusammensetzung der zweiten Kammer war gegenüber der ihr zugedachten Funktion von
zweitrangiger Bedeutung. Die Forderung nach einer „ständischen“ Zusammensetzung fand zunächst
aufgrund ihrer in sich schlüssigen Ableitung aus den Prinzipien der katholischen Soziallehre die
Zustimmung breiter Kreise. Diese Form der zweiten Kammer sollte die unmittelbare Beteiligung der
überschaubaren Lebensgemeinschaften am politischen Willensbildungsprozess ermöglichen. Sie wurde
deshalb als eine Verfassungseinrichtung betrachtet, mit deren Hilfe man den Vermassungstendenzen der
modernen Gesellschaft besonders wirksam entgegentreten konnte. Süsterhenn wies 1946 bei seinem
entsprechenden Vorschlag darauf hin, über die zweite Kammer würden die „natürlichen Sozialeinheiten“
zur Geltung kommen, während bei der Wahl zur ersten Kammer das „Individuum losgelöst von seinem
natürlichen Lebenskreis“ entscheide163.
Der weitere Verlauf der Verfassungsberatungen zeigte jedoch, dass diese Begründung nicht das politisch
ausschlaggebende Motiv für das Zweikammersystem war: Als sich die amerikanische Militärregierung im
August/September 1946 gegen die Aufnahme ständischer Vertretungsorgane in die Verfassungen ihrer
Zone aussprach, hat man die Entwürfe nur dahingehend geändert, dass nunmehr die regionale Gliederung
des Landes zur Grundlage der zweiten Kammer erklärt wurde. Die Einrichtung sollte jetzt vorwiegend aus
Vertretern der Stadt- und Landkreise gebildet werden164. Der hessische CDU-Abgeordnete Dr. Kanka
vertrat die damals auf konstitutionell-demokratischer Seite vorherrschende Auffassung, mit dem Verzicht
auf die berufsständischen Zusammensetzung habe der Senat keineswegs seine Berechtigung verloren.
Man könne durchaus auf den ständischen Charakter der zweiten Kammer verzichten, ohne ihren
Grundgedanken aufzugeben. Man dürfe allerdings nicht so weit gehen, dass man dem „Institut, das als
Bremse wirken soll, lediglich beratende Funktionen zuweist“165.
Diese Motivation des Zweikammersystems hat auch die weiterführenden Verfassungsberatungen in
Westdeutschland maßgebend beeinflusst. Das gilt zunächst für die Verfassungsdiskussion im Zonenbeirat
der britischen Zone, wo die CDU-Vertreter Dr. Lehr und Dr. Adenauer die stabilisierende Wirkung der
geteilten Legislative herausstellten. Vor allem Adenauer griff dabei auf die geschichtlichen Erfahrungen
der Jahre 1918 bis 1933 zurück und bezeichnete eine indirekt gewählte Kammer als
„Sicherungsmaßnahme“ gegen radikale Entwicklungen, mit denen seiner Auffassung nach noch auf
Jahrzehnte zu rechnen sei. Er hatte schon vor dem Zonenausschuss seiner Partei im September 1946
lapidar festgestellt: „Die Sozialdemokraten sind gegen zwei Kammern. Bei ihnen ist eine zweite Kammer
ein Hort der Reaktion“166.
Der Grundsatz der Machtaufteilung sollte nach konstitutionell demokratischer Auffassung auch durch die
Position der Judikative im Verfassungssystem gesichert werden. Bereits bei den Verfassungsdiskussionen
Länderparlamentarismus, in: Die Wandlung, 1948, S. 334 ff.; Dr. Scholtissek (CDU): ...die Forderung nach
dem Staatsrat ist zum Teil aus einem gewissen Misstrauen gegen die Mehrheit entstanden. Es ist durchaus nicht
immer so, dass die Mehrheit recht hat ( Nordrhein-westfälischer Landtag, Verfassungsausschuss, 32. Sitzung
am 13. Januar 1950)
163
A. Süsterhenn: Ein- oder Zweikammersystem?...
164
Schlitt (CDU) im Siebenerausschuss Hessen, 4. Sitzung vom 13. September 1946; Kühn (CDU) in der
Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden, 10. Sitzung vom 25. September 1946; W.
Hoegner: Der schwierige Außenseiter, München 1959, S. 249
165
Hessen - Siebenerausschuss, 4, Sitzung vom 13. September 1946; ausführlicher zur Diskussion in den
Ländern G. Bergmann: Der Staatsratsgedanke im parlamentarischen Deutschland, Baden-Baden 1994, S. 155285
166
Zonenbeirat, 17. Plenarsitzung vom 24. November 1947 und 19. Plenarsitzung vom 25./26. Februar 1948;
Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone . . .S. 191
54
in den Ländern stand die personelle Zusammensetzung des Staats- oder Verfassungsgerichtshofs im
Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Demokratiekonzeptionen. Die
Vertreter der konstitutionellen Demokratie waren bestrebt, den Einfluss des Parlaments und der
politischen Parteien auf die Besetzung des obersten Gerichts nach Möglichkeit zu begrenzen. Ihren
Überlegungen lag die verfassungspolitische Zielsetzung zugrunde, die Legislativgewalt des unmittelbar
gewählten Parlaments durch die Judikative zu kontrollieren und gegebenenfalls zu hemmen. Konrad
Adenauer brachte diese Absicht bei den Verfassungsdiskussionen des Zonenbeirats der britischen Zone
deutlich zum Ausdruck, als er erklärte: „Es gibt nicht nur eine Diktatur eines einzelnen, es kann auch eine
Diktatur einer parlamentarischen Mehrheit geben, und davor wollen wir einen Schutz haben in der Form
des Staatsgerichtshofes. Auch darin wollen wir aus den Erfahrungen lernen, die wir 1933 gemacht
haben“167.
Die diskussionsbestimmende Frage lautete damals, welchen Einfluss der Landtag auf die personelle
Zusammensetzung des Gerichtshofes haben sollte. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie legten
Wert darauf, die politische Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch eine entsprechende
personelle Besetzung der Gerichte zu unterstreichen. Sie beabsichtigten daher, dem Laienelement
gegenüber den Berufsrichtern den maßgebenden Einfluss zu sichern, die Zahl der Mitglieder von Amts
wegen gegenüber den vom Landtag gewählten möglichst klein zu halten oder sogar Abgeordnete des
Landtages ins Verfassungsgericht zu wählen - falls man sich nicht zur strikten Inkompatibilität zwischen
beiden Ämtern entschließen konnte.
Der Verlauf der Diskussion und die unterschiedlichen Vorstellungen in dieser Frage lassen sich am
hessischen Beispiel recht gut nachzeichnen: Ein SPD-Antrag sah die Wahl aller neun Verfassungsrichter
(von denen allerdings vier die Befähigung zum Richteramt haben sollten) durch den Landtag vor. Er ließ
damit die Möglichkeit offen, dass sich der Gerichtshof ausschließlich aus Parlamentariern konstituierte,
und stieß infolgedessen vor allem bei der LDP, aber auch bei der CDU auf Bedenken. CDU und SPD
einigten sich im Verfassungsausschuss zunächst auf den Vermittlungsvorschlag Heinrich von Brentanos,
des späteren Außenministers, der Verfassungsgerichtshof solle aus fünf Berufsrichtern und „sechs vom
Landtag aus seiner Mitte gewählten Mitgliedern“ bestehen. Brentano begründete diesen Vorschlag im
Sinne der sozialen Mehrheitsdemokratie und erklärte: „Der Staatsgerichtshof ist eine politische
Institution, und er hat über eminent politische Fragen zu entscheiden; da muss auch die höchste politische
Instanz, der Landtag, ausschlaggebend in ihm vertreten sein“. Im weiteren Verlauf der Beratungen erhob
allerdings die amerikanische Militärregierung Einspruch gegen diese Fassung. Sie forderte die
Inkompatibilität zwischen Parlament und Verfassungsgericht und bewirkte damit, dass ein ursprünglich
nur von dem LDP-Politiker Euler vertretener Vorschlag in den Verfassungstext aufgenommen wurde168.
In Bayern verlief die Diskussion ähnlich: Im kleinen und großen Senat des Verfassungsgerichtshofes
hatten nach dem Entwurf die vom Landtag gewählten Vertreter, welche auch dem Landtag angehören
durften, die Mehrheit. Die Militärregierung wandte sich jedoch dagegen, dass Mitglieder des Landtages
über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entscheiden. So kam es auf Vorschlag von Dr. Ehard zur
Einrichtung eines dritten Senats für diese spezielle Aufgabe. Er besteht aus vom Landtag gewählten
Berufsrichtern, die dem Landtag nicht angehören dürfen169. Das Votum der amerikanischen
Militärregierung entsprach auch hier der konstitutionell demokratischen Zielsetzung, während sich ihre
Stellungnahme gegen eine berufsständisch zusammengesetzte zweite Kammer zugunsten der
mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption auswirkte.
167
Zonenbeirat, 17. Plenarsitzung vom 24. November 1947
168
Verfassungsausschuss Hessen, 13. und 15. Sitzung vom 25. September und 1. Oktober 1946, sowie W. v.
Brünneck: Die Verfassung des Landes Hessen vom Dezember 1946, in: JöR, N. F., Bd. 3, S. 235 f.
169
Vgl. den Bericht Dr. Ehards über die Änderungsvorschläge der Militärregierung (Bayer. Verfassunggebende
Landesversammlung, 10. Sitzung vom 26. Oktober 1946) sowie die Endfassung des Art. 68 der bayrischen
Verfassung.
55
Die von Vertretern der konstitutionellen Demokratie angestrebte Machtverteilung im Verfassungssystem
kann als horizontale Gewaltenteilung bezeichnet werden, weil sie von der konventionellen Dreiteilung der
Staatsfunktionen ausgeht und mit einem auf einer Ebene angeordneten Gleichgewichtssystem zu
vergleichen ist. Diese horizontale Gewaltenteilung wurde in der Nachkriegsdiskussion durch die
Forderung nach einer vertikalen Aufgliederung ergänzt, der sich allerdings nicht alle Befürworter der
konstitutionellen Demokratie anschlossen. Die vertikale Gewaltenteilung sollte durch eine weitgehende
Autonomie von Gebietskörperschaften und Berufsständen verwirklicht werden. Sie entsprach damit dem
Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre und dem umfassenden Föderalismusbegriff, der
ebenfalls vorwiegend von katholischer Seite vertreten wurde170.
Für die Beratungen der Länderverfassungen hatte diese Form der Machtaufteilung kaum mehr als
theoretische Bedeutung. Sie beeinflusste jedoch die Verfassungsdiskussion, sobald sich mit der staatlichen
Zusammenfassung der drei Westzonen die Frage nach der föderalistischen Gliederung stellte. Ein
Bundesstaat nach konstitutionell-demokratischer Vorstellung beruhte dementsprechend auf einem
doppelten Balancesystem: einmal auf der traditionellen Gewaltenteilung, die man auf Montesquieu
zurückführen zu können glaubte, zum zweiten auf der „föderativen Balance“, auf dem
Gleichgewichtssystem zwischen Bund und Ländern. Unter Föderalismus verstand man in diesem Sinne
„das System der festen Stützpunkte, auf welche die Macht in der Demokratie verteilt ist“171.
Vor allem bei den hessischen Beratungen kam zum Ausdruck, dass die maßgebenden Vertreter der
konstitutionellen Demokratie durch ihr kompliziertes Verfassungssystem die Beteiligung aller politischen
Richtungen an den Entscheidungen sicherstellen wollten. Der CDU-Abgeordnete Köhler erwartete von
der neuen Verfassung einen „Schutz vor dem Machtrausch der politischen Partei“. Er schlug vor, alle
Beteiligten sollten eine „Versicherung auf Gegenseitigkeit“ abschließen, um das „Abgleiten in die eigene
Machtgier“ zu verhindern. Die besonderen Bedingungen der Nachkriegssituation erforderten seiner
Auffassung nach, dass alle politischen Parteien in der einen oder anderen Form an der politischen
Verantwortung beteiligt sind. Diese Zielsetzung beeinflusste auch den weiteren Verlauf der
Verfassungsberatungen in Westdeutschland . Robert Lehr (CDU) erklärte als Berichterstatter des Rechtsund Verfassungsausschusses vor dem Zonenbeirat der britischen Zone, die zukünftige gesamtdeutsche
Verfassung müsse durch einen differenzierten Verfassungsaufbau das „politische Übergewicht einer Partei“ vermeiden. Im Parlamentarischen Rat befürwortete Lehr später eine zweite Kammer, die je zur Hälfte
aus Vertretern der Länderregierungen und aus gewählten Senatoren bestehen sollte. Er begründete diese
Konstruktion mit dem Hinweis, auf diese Weise werde die Gefahr vermieden, dass die Regierung in die
Hand einer Partei übergehe172.
Die konstitutionell-demokratischen Überlegungen zur Macht- und Gewaltenaufteilung lassen sich
ideengeschichtlich auf Montesquieu und die Montesquieu-Tradition in der Verfassungslehre
zurückführen. Montesquieu war einer der wenigen Klassiker, die in der westdeutschen
Demokratiediskussion nach 1945 wiederholt zitiert wurden. Die Vertreter der konstitutionellen
Demokratie sahen in ihm den maßgebenden Vertreter der klassischen Gewaltenteilungslehre, welche sie
mit ihren eigenen verfassungspolitischen Bestrebungen weiterzuführen glaubten. Die Übereinstimmung
zwischen der konstitutionell-demokratischen Argumentation und den Gedankengängen Montesquieus ist
170
Zur Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung A. Süsterhenn: Das
Subsidiaritätsprinzip als Grundlage der vertikalen Gewaltenteilung, in: Vom Bonner Grundgesetz zur
gesamtdeutschen Verfassung, Festschrift für Hans Nawiasky, München 1956, S. 141-155.
171
Abg. Dr. Schwalber (CSU) und Dr. Seebohm (DP) in PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 93 und 233 f.; E.
Kogon: Demokratie und Föderalismus.... S. 75.
172
Verfassungsberatende Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946, und
Verfassungsausschuß Hessen, 3. Sitzung vom 14. August 1946;
Zonenbeirat, 19. Plenarsitzung vom
25./26. Februar 1948; PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 222
56
allerdings in wesentlichen Punkten fraglich: Montesquieu nahm die staatstheoretische Unterscheidung
der drei Funktionen Legislative, Exekutive und Judikative zum Anlass, die politisch-sozialen
Machtfaktoren seiner Zeit (Monarch, Adel und Bürgertum) in das von ihm vorgeschlagene
Verfassungssystem einzubauen und ihnen bestimmte Aufgaben zuzuschreiben173. Diese
gesellschaftlich-politische Zielsetzung wurde von den Befürwortern der ausgeprägten Gewaltenteilung
nach 1945 nicht übernommen. Sie verstanden Montesquieu vielmehr als staatsrechtlichen Theoretiker und
waren der Auffassung, mit der organisatorischen Aufteilung der drei Grundfunktionen auf unterschiedliche Verfassungsorgane seine Theorie zu verwirklichen. Ihr Montesquieu-Verständnis stellt in
Wirklichkeit einen Rückgriff auf das dogmatisch-rationalistische Gewaltenteilungsschema dar, welches
im 18. und 19. Jahrhundert zunächst in Frankreich, dann in den übrigen Verfassungsstaaten Europas und
in der amerikanischen Diskussion entwickelt wurde174.
Am Beispiel der Judikative wird der Unterschied zwischen den konstitutionell-demokratischen
Gewaltenteilungsvorstellungen und der Lehre Montesquieus besonders augenfällig: Die Forderung nach
einer unabhängigen und starken Position der „dritten Gewalt“ ist als fester Bestandteil der
konstitutionellen Demokratiekonzeption anzusehen, während Montesquieu gerade diese Staatsfunktion
neutralisieren wollte und nur Exekutive und Legislative als Gewalten gelten ließ. Der Rückgriff auf
Montesquieu verbindet sich im konstitutionell-demokratischen Demokratieverständnis mit der bewussten
Abgrenzung gegenüber Rousseau, welche schließlich den FDP-Abg. Dr. Dehler im Parlamentarischen Rat
zu der Erklärung veranlasste: „Wir halten es mit Montesquieu und nicht mit Rousseau, mit dem esprit des
lois und nicht mit dem contrat social“175. Diese Gegenüberstellung erscheint auf den ersten Blick
merkwürdig, weil die Identitätslehre Rousseaus in der Demokratiediskussion nach 1945 allgemein
abgelehnt wurde. Die Befürworter beider Demokratiekonzeptionen stimmten darin überein, dass die neu
zu gründende Demokratie eine repräsentative Demokratie sein sollte.
Bei einer genaueren Betrachtung der konstitutionell-demokratischen Argumentation zeigt sich allerdings,
dass Rousseaus Identitätslehre, die später auch Gegenstand der wissenschaftlichen Demokratiediskussion
in der Bundesrepublik werden sollte176, damals gar nicht im Mittelpunkt des Interesses stand. Die
Vertreter der konstitutionellen Demokratie lehnten Rousseau nicht in seiner Eigenschaft als Theoretiker
der unübertragbaren „volonté generale“ ab, sondern als vermeintlichen Vater des sogenannten
Parlamentsabsolutismus. Eine „Verfassung à la Rousseau“, erklärte Adolf Süsterhenn im
Parlamentarischen Rat, zeichne sich durch eine „Konzentration der totalen Kompetenzfülle“ beim
Parlament aus177. Die Gegenüberstellung von Montesquieu und Rousseau bezweckte in der westdeutschen
Verfassungsdiskussion nach 1945 die Begrenzung des Parlamentseinflusses und seiner
Mehrheitsentscheidungen. Sie richtete sich damit gegen den verfassungspolitischen Leitgedanken der
sozialen Mehrheitsdemokratie. Anlass für die Gegenüberstellung von Montesquieu und Rousseau war
damit nach 1945 nicht die Frage der plebiszitären oder repräsentativen Demokratie, sondern die Frage
nach der Form des Repräsentativsystems. In diesem Punkt traten die Unterschiede zwischen den beiden
Demokratiekonzeptionen deutlich hervor: Während nach mehrheitsdemokratischer Auffassung dem
unmittelbar gewählten Parlament ein Repräsentationsmonopol zustand und alle übrigen
Verfassungsorgane ihren repräsentativen Charakter über das Parlament erhielten, sollte nach
konstitutionell-demokratischer Vorstellung das Volk durch verschiedene Organe gleichermaßen
173
Zur Motivation Montesquieus vgl. M. Drath: Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in:
Faktoren der Machtbildung, Berlin 1952, S. 99-138.
174
W. Steffani: Gewaltenteilung im demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat, in: PVS 3, 1962, S. 256-282
175
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 225
176
G. Leibholz: Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, S. 93 ff. und 247 ff.; E. Fraenkel:
Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1968, S. 81-119.
177
PR- Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30. November 1948.
repräsentiert werden178.
57
Während das englische Demokratiebeispiel in vielen Punkten Vorbild für die mehrheitsdemokratische
Konzeption war, diente die amerikanische Verfassungstradition als Vorbild für die konstitutionelle
Demokratie. Diese Verbindung lag nahe, weil die Beratung der amerikanischen Bundesverfassung
ebenfalls von der Furcht vor der unbeschränkten Mehrheitsherrschaft beeinflusst wurde. Robert Dahl
bezeichnete dementsprechend die Abwehr des „elective despotism“ als theoretische Grundlage für sein
Modell der „Madisonian democracy“179. Wenn die Vertreter der konstitutionellen Demokratie bei den
Verfassungsberatungen gelegentlich auf die amerikanische Diskussion zurückgriffen, so hing das nicht
etwa mit der Anwesenheit amerikanischer Besatzungstruppen zusammen, sondern resultierte aus einer
vergleichbaren verfassungspolitischen Zielsetzung. Die Formulierung Madisons: „In einem
republikanischen Regierungssystem dominiert notwendigerweise die Legislative. Diesem Mangel
begegnet man dadurch, daß man die Legislative in mehrere Körperschaften aufteilt“, hätte nach 1945
wortwörtlich in ein Plädoyer für das Zweikammersystem übernommen werden können180.
Im bayerischen Verfassungsausschuss verwies der CSU-Abgeordnete von Prittwitz und Gaffron, der bis
1934 Botschafter in Washington war und als Vertreter konstitutionell-demokratischer Vorstellungen
anzusehen ist, auf die Beratungen des Philadelphia-Konvents. Dort habe man bereits erkannt, dass neben
der persönlichen Tyrannenherrschaft in der „Tyrannei der Masse“ der zweite Feind der Demokratie zu
sehen sei. Aus mehrheitsdemokratischer Sicht erklärte demgegenüber Hermann Brill als hessischer
Vertreter im Herrenchiemsee-Konvent, ein „freies Leben in dem immer noch andauernden Kolonialstil
der Vereinigten Staaten“ entspreche einer völlig anderen Vorstellungswelt als die Erwartungen der
deutschen Wählerschaft in der Nachkriegssituation. Die Überlegungen Jeffersons und Hamiltons seien aus
diesem Grunde für die deutsche Demokratieproblematik nach 1945 „bestenfalls literarisch interessant“,
aber politisch nicht weiterführend181.
In der konstitutionell-demokratischen Argumentation wurde gelegentlich der „Parlamentsabsolutismus“
als das eigentliche Prinzip der Demokratie bezeichnet.. In Hessen erklärte Erich Köhler (CDU), bei den
Verfassungsberatungen der Nachkriegsjahre komme es darauf an, zu verhindern, „dass wir noch einmal in
einer totalen Herrschaft versinken, und sei es die Herrschaft der totalen Demokratie“. Ähnliche
Argumente erwähnte Carlo Schmid in seinem Bericht über den Stand der Verfassungsberatungen in
Württemberg-Baden: Bei den Vorbesprechungen glaubte man hier ebenfalls, die neue Demokratie sowohl
vor dem „nichtdemokratischen“ als auch vor dem „demokratischen“ Totalitarismus bewahren zu müssen.
Die neue Verfassung sei deshalb organisatorisch so zu gestalten, dass die Demokratie „gegen ihre eigenen
Gefahren“ geschützt werde. In der Diskussion über die zukünftige Verfassung Nordrhein-Westfalens
kennzeichnete ein Landtagsabgeordneter den aus seiner Sicht doppeldeutigen Sinn des Wortes
„Demokratie“ mit den Worten: „Das Optimum an Demokratie kann nur erreicht werden, wenn die
Demokratie versteht, mit ihren eigenen Prinzipien Maß zu halten“182.
Von neuliberaler Seite bezeichnete man ausdrücklich das liberale Prinzip, nicht das demokratische, als
Gegenpol des kollektivistischen Staates. Der „reinen“ Demokratie dagegen wurde eine „illiberale
178
Diese Alternative trug Carlo Schmid bereits als Berichterstatter in Württemberg-Baden vor (Vorläufige
Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946).
179
R. A. Dahl: A Preface to Democratic Theory. Chicago 1956, S. 4 ff.
180
Federalist, Nr. 51.
181
Verfassungsausschuss Bayern, 8. Sitzung vom 30. Juli 1946; PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 72 f.
182
Verfassungsberatende Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946; Vorläufige
Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946; Abg. Kaes (CDU) im Landtag von
Nordrhein-Westfalen, 117. Sitzung vom 14. Dezember 1949.
58
Tendenz“ zugesprochen. Hier klingt eine Differenzierung zwischen Demokratie und Liberalismus an,
die auch in den damaligen Schriften von Gerhard Leibholz zum Ausdruck kommt und letztlich auf eine
angenommene Antinomie von Freiheit und Gleichheit zurückzuführen ist183. Theodor Heuss stellte in
seinem Grundsatzreferat vor der Landesversammlung von Württemberg-Baden die Frage: „Steckt nicht
schon in der modernen Demokratie selber eine Gefahr der Verpöbelung, der Vermassung?“ Er glaubte
jedoch, diesem reservierten Demokratieverständnis und der damit verbundenen Abwertung der Weimarer
Republik energisch entgegentreten zu müssen, und fügte hinzu, für viele sei der „mögliche nächste Hitler“
zu einer Schreckfigur geworden, so dass sie „vor der Demokratie selber Angst bekommen“, weil diese
unter Umständen wieder missbraucht werden könne184.
Die ambivalente Verwendung des Wortes „Demokratie“ stimmt mit dem vorwiegend pessimistischen
Menschenbild im Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie überein, welches sich aus der
kritischen Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen der industriellen Massengesellschaft ergab.
Dem Einbruch der Vermassungstendenzen in den Bereich der politischen Entscheidungen glaubte man in
erster Linie mit verfassungspolitischen Mitteln, d. h. durch die Einschränkung des Mehrheitsprinzips
sowie durch zahlreiche Kontroll- und Ausgleichsvorkehrungen begegnen zu müssen. Diese Lagebeurteilung erklärt gleichzeitig, weshalb die Argumentation der konstitutionell-demokratischen Theoretiker
einen ausgesprochen defensiven Charakter hatte, Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie dagegen
zweifelten auch nach den zeitgeschichtlichen Erfahrungen nicht an der Demokratietauglichkeit des
modernen Menschen, weil sie für das nationalsozialistische Herrschaftssystem bestimmte
Interessengruppen und die Mängel der Weimarer Demokratie verantwortlich machten.
Die verfassungspolitischen Zielvorstellungen der konstitutionellen Demokratie wurden nach 1945 von der
CDU/CSU und teilweise auch von den liberalen Landesparteien vertreten. Die christlich-demokratischen
Gruppen verfolgten trotz ihrer personellen Heterogenität in der Verfassungsdiskussion eine einheitliche
Zielsetzung. In den Jahren 1946 bis 1947 fand - offenbar ausgelöst durch die damaligen
Verfassungsberatungen in den Ländern -  in diesen Fragen eine Konkretisierung der Vorstellungen statt,
denn die CDU/CSU vertrat damals bereits einheitlich die konstitutionell-demokratische
Verfassungskonzeption. Das Zweikammersystem und die Institution des Staatspräsidenten wurden aus
ihren Reihen vorgeschlagen und begründet. Entsprechendes gilt für die Bestrebungen, den Einfluss des
Parlaments auf die Personalia der Verfassungsgerichtsbarkeit zu begrenzen.
Das konstitutionell-demokratische Prinzip der Machtaufteilung war schon in den Gründungskreisen der
CDU/CSU vorherrschend. In das Parteiprogramm der CDU für die britische Zone vom März 1946 fand
der Grundsatz Aufnahme, die Mehrheit habe kein „willkürliches und uneingeschränktes“ Recht gegenüber
der Minderheit. Konrad Adenauer erklärte zur gleichen Zeit in seiner Kölner Universitätsrede: „Die
Demokratie erschöpft sich für uns nicht in der parlamentarischen Regierungsform oder gar in der
Herrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit. Wie die parlamentarische Regierungsform sogar zur
Herbeiführung der Diktatur missbraucht werden kann, wenn die Menschen nicht wirklich demokratisch
denken und fühlen, das haben uns die ersten Monate des Jahres 1933 gezeigt“185.
Oberhalb der Länderebene zeichnet sich der Beitrag der CDU/CSU zur Verfassungsdiskussion durch das
Nebeneinander von horizontaler und vertikaler Machtaufteilung aus. Die bereits erwähnte Unterscheidung
dieser beiden Verfassungsprinzipien ist der Schlüssel zum Verständnis der Differenzen in der
Föderalismusfrage, welche zwischen der CDU in der britischen Zone und der süddeutschen CDU/CSU
183
W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis...S. 135 und 152; G. Leibholz: Strukturprobleme...S. 152 ff.
184
Verfassungsgebende Landesversammlung für Württemberg-Baden, 2. Sitzung vom 18. Juli 1946.
185
Vgl. das Parteiprogramm von Neheim-Hüsten bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 51,
sowie Rede des ersten Vorsitzenden der CDU für die britische Zone...in der Aula der Kölner Universität...24.
März 1946.. S. 6 f.
59
bestanden. Die norddeutschen CDU-Vertreter waren der Auffassung, die Ausgewogenheit der
Verfassung sei in erster Linie durch ein System von „checks and balances“ zwischen den Organen des
Bundes und erst in zweiter Linie durch die föderative oder vertikale Machtaufteilung zu erreichen. Diese
Zielsetzung kam im Zonenbeirat deutlich zum Ausdruck, wo Adenauer die Bedeutung des
Verfassungsgerichtshofes als Gegengewicht zu Parlament und Regierung hervorhob. Der
Staatsgerichtshof, fügte er hinzu, solle nicht nur die Interessen der Länder vor der Zentralgewalt, sondern
umgekehrt auch den Bund vor „Ungehorsam oder Übergriffen“ der Länder schützen186.
Die süddeutschen Föderalisten in der CDU/CSU waren dagegen bestrebt, den Einfluss der
Landesregierungen auf die Bundespolitik zumindest durch eine entsprechende Zusammensetzung der
zweiten Kammer zu sichern. Stellenweise wurde sogar der rigorose Vorschlag gemacht, die Einrichtungen
des Bundes aus den entsprechenden Organen der Länder zu bilden. Eine dem bayerischen CSU-Politikers
Alois Hundhammer zugeschriebene Denkschrift sah zum Beispiel als zweite Kammer ein „Staatenhaus“
aus Vertretern der Landesregierungen vor. Für das „Volkshaus“ stellte Hundhammer die indirekte Wahl
über die Landtage zur Diskussion. Ein Kollegium von Regierungsvertretern aus den Ländern sollte auch
die Exekutive des Bundes bilden, der damit den Charakter eines Staatenbundes erhielt. Diese Vorschläge
wurden ganz im Sinne der konstitutionellen Demokratie mit dem Subsidiaritätsprinzip begründet. Eine
„möglichst weitgehende Gliederung und Dezentralisation des Staatsaufbaus“ betrachtete der Verfasser als
Voraussetzung für die Sicherung der Freiheit und für „staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein“.
Erst die Auflockerung des zentralistischen Staatsapparates gebe dem einzelnen die Möglichkeit, die
politischen Probleme im „kleinen überschaubaren Kreis“ zu beurteilen und zu entscheiden. Ein „zur
Masse gewordenes Volk“ sei dagegen nicht in der Lage, einen „konstitutionellen Staat“ zu tragen,
sondern werde „mit den Mitteln der Demokratie alle Sicherungen der persönlichen Freiheit hinwegfegen
und damit die Demokratie selbst aufheben“187.
Bei den Verfassungsberatungen in den Ländern vertrat von den liberalen Gruppen eigentlich nur die
hessische LDP eindeutig das konstitutionell-demokratische Verfassungskonzept. Ihr Sprecher stimmte
den Demokratievorstellungen des CDU-Fraktionsvorsitzenden Dr. Köhler ausdrücklich zu, weil hierin der
Minderheitenschutz und die „Versicherung auf Gegenseitigkeit gegen die Anwandlungen des
Machtrausches“ Berücksichtigung fanden. Das Staatspräsidentenamt wurde allerdings auch von der
hessischen LDP mit Rücksicht auf die Reichseinheit von vornherein abgelehnt. Bei den
Verfassungsdiskussionen in Nordrhein-Westfalen sprach sich der FDP-Abgeordnete Dr. Middelhauve im
Namen seiner Fraktion gegen die Einrichtung einer zweiten Kammer aus. Er stellte jedoch für die
Landesverfassung einen Vorschlag zur Diskussion, der später im Parlamentarischen Rat von der
FDP-Fraktion erneut aufgegriffen wurde: Statt des parlamentarischen Regierungssystems, das dem
Parlament jederzeit die Ablösung der Regierung ermöglicht, sollte eine auf drei oder vier Jahre gewählte
„Regierung auf Zeit“ eingerichtet werden188. Dieser Vorschlag hatte zweifellos
konstitutionell-demokratischen Charakter, weil er den politischen Einfluss der Parlamentsmehrheit
verminderte. Während das mehrheitsdemokratische Verfassungsverständnis die personelle und politische
Verbindung zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung betonte, sollte durch Einrichtung der
„Regierung auf Zeit“ auch die Beziehung zwischen Parlament und Exekutive in das System der „checks
and balances“ eingeordnet werden.
186
Zonenbeirat, 17. Plenarsitzung vom 24. November 1947
187
Vgl. den Text der Denkschrift bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen, Stuttgart 1969, S. 294 ff.
188
Abg. Euler (LDP) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 6. Sitzung vom 29. Oktober
1946: Landtag von Nordrhein-Westfalen 1. Wahlperiode, 20. Sitzung vom 27. November 1947.
60
III. Von den Frankfurter Dokumenten zum Parlamentarischen Rat
In den Jahren 1948 und 1949 gingen die westdeutschen Politiker davon aus, dass die Länder und die
Zoneneinrichtungen später in einer gesamtdeutschen Republik aufgehen würden. Die Texte der frühen
Landesverfassungen bezeichnen die von den Besatzungsmächten zum größten Teil neugeschaffenen
Länder je nach Föderalismusverständnis als „Gliedstaat der deutschen Republik“ (Hessen), „Glied der
Deutschen Republik“ (Württemberg-Hohenzollern) oder „Glied der Gemeinschaft der deutschen Länder“
(Baden). Auch die Einrichtungen des Zweizonen-Wirtschaftsrats für die britische und amerikanische Zone
standen nach ihrer Erweiterung im Februar 1948 noch unter dem Vorbehalt, es handele sich um eine
Wirtschaftsverwaltung, die in politischer Hinsicht nichts präjudiziere.
Als die Westmächte im Frühjahr 1948 auf der Londoner Sechsmächtekonferenz beschlossen, für das
Gebiet ihrer drei Besatzungszonen eine gemeinsame deutsche Regierung einzurichten, stand auch für
deutsche Politiker fest, dass der Demokratiegründungsprozess weiterhin auf Westdeutschland begrenzt
bleiben würde. Der Anstoß zur Konstituierung der Bundesrepublik kam damit von außen. Das Vorgehen
der USA, Großbritanniens und Frankreichs ist gleichermaßen auf die Verschärfung des
Ost-West-Konflikts sowie auf das Scheitern der 1945 beabsichtigten Viermächteverwaltung für
Deutschland zurückzuführen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass zwischen den ergebnislosen
Außenministerkonferenzen des Jahres 1947 in Moskau und London die Weichenstellung in Richtung auf
eine westdeutsche Staatsgründung erfolgte. Dies gilt insbesondere für die Haltung der Vereinigten
Staaten: In amerikanischen Regierungskreisen setzte sich damals in zunehmendem Maße die Auffassung
durch, die wirtschaftliche Krise Westeuropas könne nur durch ein umfassendes Hilfsprogramm gelöst
werden. Diese Überlegung führte schließlich zum European Recovery Program, das aufgrund der
maßgeblichen Beteiligung des damaligen US-Außenministers auch Marshall-Plan genannt wird.
Zumindest der westliche Teil Deutschlands sollte in dieses Programm einbezogen werden, weil das
Ruhrgebiet ein funktionswichtiges Glied der europäischen Gesamtwirtschaft darstellte. Auf englischer
und amerikanischer Seite kam die Erwartung hinzu, auf diesem Wege auch das Dilemma der finanziell
aufwendigen Besatzungspolitik lösen zu können. Auch für Frankreich verlor die Besatzungszone zu
diesem Zeitpunkt ihre Rentabilität im wirtschaftlichen Sinne.
Die Konstituierung der Bundesrepublik vollzog sich 1948/49 in drei Etappen: Zunächst mussten sich die
Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien über die Gründung eines politischen Gemeinwesens
und über die hierzu notwendigen Verfahrensweisen verständigen. Als zweite Phase folgten die
Beratungen der deutschen Vertreter (Ministerpräsidenten und Parteiführer) untereinander sowie mit den
Vertretern der Besatzungsmächte. Die dritte Phase schließlich bilden die Grundgesetzberatungen auf
Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat. Am Beginn der Weststaatsgründung steht die bereits
erwähnte Sechsmächtekonferenz in London, wo die drei Westmächte unter Hinzuziehung der
Benelux-Staaten eine Einigung über den politischen Zusammenschluss ihrer Zonen erzielten. Die
Konferenz begann Ende Februar 1948 und schloss ihre Beratungen nach mehrfacher Unterbrechung im
Juni ab.
Die Militärgouverneure Clay (USA), Robertson (Großbritannien) und Koenig (Frankreich) informierten
die westdeutschen Ministerpräsidenten am 1. Juli 1948 in Frankfurt über die Ergebnisse der Londoner
Konferenz und überreichten bei dieser Gelegenheit drei Dokumente. Dokument I der Frankfurter
Dokumente beauftragte die Ministerpräsidenten, bis zum 1. September 1948 eine verfassunggebende
Versammlung einzuberufen. Dieses Gremium sollte nach dem Wortlaut der Empfehlungen eine
demokratische Verfassung mit föderalistischer Struktur ausarbeiten, welche die individuellen Rechte
und Freiheiten garantiert. Außerdem schreibt das Dokument die Einzelheiten über Wahl und
Zusammensetzung der verfassunggebenden Versammlung vor. In Dokument II werden die
Ministerpräsidenten ermächtigt, die Ländergrenzen zu überprüfen und gegebenenfalls Änderungen
vorzuschlagen. Dokument III enthält allgemeine Richtlinien über das Verhältnis der zukünftigen
deutschen Regierung zu den Besatzungsmächten. Es stellt ein Besatzungsstatut in Aussicht, dass die
Abgrenzung deutscher und alliierter Kompetenzen vornehmen sollte189.
61
Die Frankfurter Dokumente kamen als Kompromiss der in London vertretenen Regierungen zustande und
ließen aus diesem Grunde einen breiten Interpretationsspielraum offen. Dies gilt nicht nur für die
Bemerkungen zum Besatzungsstatut, über dessen Inhalt damals auf alliierter Seite noch keine
Übereinstimmung bestand, sondern auch für den Auftrag, eine föderalistische Verfassung zu schaffen.
Der Begriff „structure gouvernementale de type fèdéral“ oder „governmental structure of federal type“
war alles andere als eindeutig. Dahinter standen vielmehr unterschiedliche Auffassungen, die bei den
interalliierten Beratungen deutlich zum Ausdruck kamen. Die Engländer und Amerikaner vertraten
gemeinsam die Ansicht, eine westdeutsche Zentralregierung müsse über ausreichende Kompetenzen zur
Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme verfügen. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die
Ziele des europäischen Wiederaufbauprogramms in Deutschland nicht erreicht würden. Auf
amerikanischer Seite war hierbei allerdings das eigene Föderalismusverständnis mit einer klaren
Aufgabentrennung zwischen Föderation und Einzelstaaten vorherrschend.
Die französischen Vorstellungen dagegen liefen auf eine lose Konföderation der westdeutschen Länder
hinaus: Die Zentralregierung hatte nur begrenzte, von den Ländern ausdrücklich delegierte Aufgaben
wahrzunehmen. Sie sollte auch in finanzieller Hinsicht von den Ländern abhängig sein und nur auf den
Gebieten der auswärtigen Beziehungen, des Zollwesens sowie der Eisenbahnen über einen eigenen
Verwaltungsapparat verfügen. Die Einigung über Dokument I erfolgte schließlich unter dem Eindruck des
Auszuges der sowjetischen Vertretung aus dem Alliierten Kontrollrat (20. März 1948). Die französische
Regierung musste nach dem demonstrativen Schritt des sowjetischen Militärgouverneurs Sokolovskij
befürchten, die Vereinigten Staaten und Großbritannien würden gegebenenfalls auch ohne französische
Mitwirkung in ihren Besatzungsgebieten ein deutsches Regierungssystem einrichten.
Nachdem sich die Londoner Konferenz vertagt hatte, fanden daher in Berlin amerikanisch-französische
Gespräche zwischen Couve de Murville, der Mitglied der französischen Delegation in London war, und
General Clay statt. Beide Seiten einigten sich, den westdeutschen Ministerpräsidenten nur allgemeine
Richtlinien für die Verfassungsberatung zu übermitteln. Clay begründete diesen Schritt später mit der
Überlegung, man habe zeitraubende Verhandlungen über Details vermeiden wollen, die später
möglicherweise in den deutschen Vorschlägen gar nicht berührt würden. Die Londoner
Sechsmächtekonferenz folgte dem in Berlin ausgearbeiteten Entwurf und nahm lediglich die
grundsätzliche Vorschrift einer föderalistischen Verfassung in das Dokument I auf. Gleichzeitig einigten
sich die Delegationen allerdings auf einen zunächst vertraulichen „Letter of Advice“, welcher den
Militärgouverneuren als Richtlinie für die Prüfung des deutschen Verfassungsentwurfes dienen sollte. In
diesem vierten Dokument findet sich die für den Parlamentarischen Rat folgenreiche Bestimmung, der
Bund dürfe Steuern nur für Zwecke erheben, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallen190.
Nach Übergabe der Frankfurter Dokumente wurde die innerdeutsche Diskussion von der Frage bestimmt,
unter welchen Bedingungen die Ministerpräsidenten dem an sie herangetragenen Vorschlag einer
Staatsgründung auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen entsprechen sollten. An der
Willensbildung zu dieser Grundsatzfrage waren nicht nur die Länderregierungen beteiligt. Unmittelbar
nach dem Frankfurter Treffen befassten sich auch die Landtage und die Führungsgremien der politischen
Parteien mit den Vorstellungen der Alliierten. Bei diesem Meinungsaustausch zeigte sich, dass alle
politischen Richtungen - mit Ausnahme der KPD - der Errichtung einer gemeinsamen Regierung für die
drei Westzonen grundsätzlich zustimmten. Gleichzeitig betonten die deutschen Politiker jedoch den
provisorischen Charakter des westdeutschen Gemeinwesen. Mit Rücksicht auf die Reichseinheit hielten
189
Vgl. den Text in PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 30-36
190
FRUS 1948, Vol. II, S. 240 f.; L. D. CIay: Decision in Germany, Garden City 1950, S. 397-407; S.
Rothstein: Die Londoner Sechsmächtekonferenz 1948 und ihre Bedeutung für die Gründung der
Bundesrepublik Deutschland, jur. Diss. Freiburg 1968, S. 43-72.
62
sie es zum Beispiel nicht für sinnvoll, das verfassungsberatende Gremium ausdrücklich als verfassunggebende Versammlung zu bezeichnen.
Die Stellungnahme der Ministerpräsidenten zu den Frankfurter Dokumenten wurde auf einer Konferenz
auf dem Rittersturz in Koblenz vom 8. bis zum 10. Juli erarbeitet. Die führenden Parteipolitiker nahmen
an den Vorbesprechungen teil und wirkten auch auf der Konferenz selbst als „Berater“ mit. In ihrer
Antwort erklärten sich die Ministerpräsidenten zwar grundsätzlich zur Annahme des in den Frankfurter
Dokumenten umschriebenen Auftrags bereit. Sie wollten gleichzeitig aber alles vermeiden, was der
politischen Integration Westdeutschlands den Charakter eines neuen Staates verleihen konnte. Statt der
unmittelbar gewählten verfassunggebenden Versammlung schlugen sie einen „Parlamentarischen Rat“
vor, der von den Landtagen benannt werden sollte. Seine Aufgabe bezeichneten sie nicht als
Verfassungsberatung, sondern als Vorbereitung eines „Grundgesetzes für die einheitliche Verwaltung des
Besatzungsgebietes“. Die Ratifizierung dieses Grundgesetzes durch ein Referendum lehnten sie ebenfalls
ab, weil ihm hiermit eine Bedeutung zugemessen werde, die eigentlich nur der zukünftigen
gesamtdeutschen Verfassung zustehe. Schließlich äußerten sie den Wunsch, dass das Besatzungsstatut vor
Beginn der Grundgesetzberatungen vorliege, damit der Parlamentarische Rat über eine sichere
Arbeitsgrundlage verfüge. Gegen Dokument III der Frankfurter Dokumente wurde bereits unmittelbar
nach der Übergabe der Einwand geltend gemacht, die Besatzungsmächte hätten hier ihre Rechte
gegenüber den Besetzten formuliert, während man auf deutscher Seite eine Festlegung der eigenen Rechte
gegenüber der Besatzungsmacht erwarte191.
Die Antwort der Ministerpräsidenten stand damit ganz im Zeichen der Provisoriumskonzeption, die bei
den dreitägigen Verhandlungen auf dem Rittersturz vor allem von Carlo Schmid vertreten wurde. Bei den
Konferenzteilnehmern setzte sich schließlich seine Argumentation durch, vorläufig könne nur ein
provisorisches Verwaltungsstatut verabschiedet werden, weil die staatliche Neuordnung lediglich einen
Teil Deutschlands umfasse und nicht als souveräne Entscheidung des deutschen Volkes anzusehen sei192.
Die Provisoriums-These fand damals auch Unterstützung durch eine Analyse des Büros für
Friedensfragen vom 5. Juli 1948. Die Sachverständigen dieses Büros, das Anfang 1947 von den
Ministerpräsidenten der englischen und amerikanischen Zone in Stuttgart eingerichtet wurde, kamen bei
der Untersuchung von Dokument III zu dem Resultat, dass die dort aufgeführten Vorbehalte der Alliierten
sich praktisch auf die gesamte Gesetzgebung erstreckten. Die Studie empfahl daher, entweder gar nicht
auf das Angebot der Westmächte einzugehen oder eine provisorische Lösung mit administrativem
Charakter anzustreben193.
Neben dem gesamtdeutschen Vorbehalt war für die Zurückhaltung der Ministerpräsidenten auch die
damalige Situation Berlins ausschlaggebend: Nach der Blockade und den Gegenmaßnahmen der
Westmächte die Luftbrücke trat Ende Juni in Aktion stellte sich die Frage, ob die Gründung eines
westdeutschen Staates die Lage der Stadt nicht zusätzlich erschweren würde. Entsprechende
Befürchtungen hatten Berliner Politiker bereits vor der Koblenzer Konferenz geäußert. Auf dem
Rittersturz selbst appellierte Luise Schröder als Vertreterin Berlins an die Konferenzteilnehmer, mit
Rücksicht auf die Reichshauptstadt und die sowjetische Zone keiner endgültigen Regelung zuzustimmen.
So kam es, dass die Koblenzer Beschlüsse eine kaum verklausulierte Ablehnung des alliierten Vorschlags
darstellen, auf dem Gebiet der drei Besatzungszonen einen westdeutschen Staat zu errichten. Die
Ministerpräsidenten betrachteten ihre Antwort allerdings auch als Positionsbestimmung für die zu
erwartenden Gespräche mit den Militärgouverneuren. Die Mehrheit von ihnen war durchaus bereit, den
191
So der württemberg-badische Ministerpräsident Reinhold Maier vor dem Landtag, 77. Sitzung vom 7.
Juli 1948; Text der Antwort in PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 143-150
192
P. Weber: Carlo Schmid...S.332-336
193
Text in PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 36-59
Vorschlägen der Frankfurter Dokumente entgegen zu kommen194.
63
Die deutsche Antwort fand wenig Beifall bei den Alliierten, die ihre Bedenken zunächst auf informellem
Wege äußerten. Vertreter der amerikanischen Militärregierung in Berlin warfen der deutschen Seite
Verantwortungsscheu vor und wiesen auf die möglichen Konsequenzen für den bedrohten Teil der Stadt
hin. Der amerikanische Militärgouverneur General Clay nahm wenige Tage später bei einer Konferenz
mit den Ministerpräsidenten seiner Zone zu den Koblenzer Beschlüssen Stellung. Er äußerte seine
Verwunderung darüber, dass die Ministerpräsidenten offenbar weniger Machtbefugnisse annehmen
wollten, als ihnen angeboten werde. Clay befürchtete neue Verhandlungen auf Regierungsebene,
Schwierigkeiten mit Frankreich sowie eine hieraus resultierende Verzögerung der wirtschaftlichen,
verwaltungsmäßigen und politischen Konsolidierung Westdeutschlands. Vertreter der britischen
Regierung wandten sich an die Parteiführer ihrer Zone und betonten den Kompromisscharakter der
Frankfurter Dokumente und die Bedeutung des französischen Sicherheitsinteresses195.
Auf französischer Seite war tatsächlich die Tendenz spürbar, sich von dem Kompromiss der Londoner
Sechsmächtekonferenz zurückzuziehen, dem die Nationalversammlung nur mit knapper Mehrheit (300
gegen 286 Stimmen) zugestimmt hatte: Bei einer internen Besprechung der Militärgouverneure am 15.
Juli äußerte General Koenig Verständnis für die Haltung der Ministerpräsidenten und schlug vor, die
Londoner Abmachungen zugunsten einer weniger weitreichenden Lösung zu modifizieren. Die Alliierten
sollten ein Besatzungsstatut erlassen und auf eine deutsche Verfassung verzichten. Damit forderte er den
Widerspruch seiner Kollegen Clay und Robertson heraus, die eine Verzögerung angesichts des
verschärften Ost-West- Gegensatzes als unverantwortlich bezeichneten. Erst kurz vor der zweiten
Frankfurter Konferenz der Militärgouverneure mit den Ministerpräsidenten am 20. Juli ließ sich General
Koenig nach der Darstellung von Clay erneut auf den Inhalt der Londoner Vereinbarungen verpflichten.
Den Ministerpräsidenten konnte daher in Frankfurt eine gemeinsame Erklärung übermittelt werden, die
den geringen Verhandlungsspielraum deutlich machte. Sie hob hervor, dass die Koblenzer Beschlüsse in
wichtigen Punkten von den Frankfurter Dokumenten abwichen und eine Abänderung dieser Dokumente
nur auf dem Wege neuer Regierungsverhandlungen möglich sei196.
Die wenig kompromissbereite Stellungnahme der Alliierten löste bei der nächsten Besprechung der
westdeutschen Ministerpräsidenten am 21. und 22. Juli eine Grundsatzdiskussion aus, die man in Koblenz
zugunsten einer einheitlichen Linie vermieden hatte. Auf Schloss Niederwald bei Rüdesheim standen sich
der von Carlo Schmid vertretene Gedanke des provisorischen Verwaltungsstatuts und der von Ernst
Reuter entwickelte Kernstaatsgedanke gegenüber. Reuter bezeichnete die politische und wirtschaftliche
Konsolidierung Westdeutschlands als Voraussetzung für eine Verbesserung der Lage Berlins und für die
“Rückkehr des Ostens zum gemeinsamen Mutterland“. Falls die politische Situation im Westen weiterhin
so ungeklärt bleibe wie bisher, könne sich die Situation der geteilten Stadt nur noch verschlechtern.
Die Ausführungen Reuters widersprachen der Stellungnahme, welche Luise Schröder 14 Tage vorher im
Namen Berlins auf der Koblenzer Konferenz abgegeben hatte. Dieser Positionswechsel war für die
Meinungsbildung der Konferenzteilnehmer in Rüdesheim von großer Bedeutung, weil mehrere
Ministerpräsidenten in Koblenz ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Weststaatslösung aufgrund der
Berliner Bedenken zurückgestellt hatten. Reuters Argumentation schien außerdem den Widerspruch
zwischen dem Ziel einer schrittweisen Ablösung der Besatzungsherrschaft im Westen sowie dem Wunsch
nach Wiederherstellung der deutschen Einheit zumindest in der Theorie auflösen zu können. Er bot damit
194
Text ebenda , S. 60-142 sowie J. Gimbel: The American Occupation of Germany. Politics and the
Military 1945-1949, Stanford 1968, S. 212; W. Brandt / R. Löwenthal: Ernst Reuter - Ein Leben für
die Freiheit. München 1957, S. 469 ff.
195
PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 151-156 sowie J. Gimbel: The American Occupation...S. 217
196
FRUS 1948, Vol. II, S. 399; C. Buffet: Mourir pour Berlin. La France et l´Allemagne 1945-1949, Paris
1991, S. 141-148 und 181 f.
64
den Ministerpräsidenten einen Ausweg aus dem Dilemma ihrer politischen Grundsätze an, mit dem sie
seit 1948 konfrontiert waren. Carlo Schmid wies zwar warnend darauf hin, man habe in Koblenz Empfehlungen für die innere Ordnung der drei westlichen Besatzungszonen beschlossen, sei aber nun unter
alliiertem Druck auf dem Wege, einen Staat zu schaffen, der Westdeutschland aufgrund von Wahlen und
die sowjetische Zone aufgrund eines angenommenen stillschweigenden Einverständnisses repräsentiere.
Seine Bedenken hatten aber nur bei dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf
(SPD) Erfolg, der sich gegenüber dem Landtag gebunden fühlte und den Beschlüssen der Konferenz nicht
zustimmte197.
Als Ergebnis der Rüdesheimer Konferenz formulierten die Ministerpräsidenten ein Memorandum, das
ihnen als Grundlage für ihr bevorstehendes Gespräch mit den Militärgouverneuren diente. Nach dem
Tenor dieses Dokuments zu urteilen, waren die deutschen Politiker grundsätzlich bereit, im Sinne der
alliierten Vorschläge zu verfahren Die Ministerpräsidenten betrachteten zwar die politische Vereinigung
der Westzonen weiterhin als „vorläufige Regelung“, zeigten sich aber entschlossen, diese „so kraftvoll
und wirksam wie möglich zu gestalten“. Im einzelnen hielten sie an der Bezeichnung „Grundgesetz“ fest
und schlugen als englische Übersetzung „basic constitutional law“ vor. Sie stellten auch Vorschläge zur
Neugliederung der Ländergrenzen in Aussicht. Die von den Alliierten hierfür gesetzte Frist (1. September
1948) schien ihnen jedoch nicht ausreichend zu sein. Die Ministerpräsidenten sprachen sich außerdem
gegen ein Verfassungsreferendum aus und empfahlen statt dessen eine Abstimmung in den Landtagen.
Auf der dritten und letzten Konferenz mit den Militärgouverneuren vor Beginn der Grundgesetzberatungen am 26. Juli 1948 in Frankfurt kam ihre Kompromissbereitschaft noch deutlicher zum
Ausdruck: Nach der Erläuterung der deutschen Vorschläge durch die Ministerpräsidenten Arnold (CDU)
und Lüdemann (SPD) gab der Hamburger Bürgermeister Brauer (SPD) die Erklärung ab, die deutschen
Vertreter seien an einer möglichst schnellen Einigung interessiert, weil sie befürchteten, andernfalls wäre
die Durchführung des Marshall-Plans für Westdeutschland gefährdet. Brauer bezeichnete die noch
bestehenden Differenzen als „Verfahrensfragen“ und fügte hinzu, man werde deshalb die Gesamtlösung
nicht scheitern lassen.
General Koenig entgegnete zunächst im Namen der Militärgouverneure, die deutschen Vorschläge
ständen im Widerspruch zu den Londoner Beschlüssen und müssten deshalb an die Regierungen
weitergeleitet werden. Als strittige Punkte nannte er den Namen der Verfassung, den Zeitpunkt für die
Neuregelung der Ländergrenzen und die Frage des Referendums. Schließlich einigte man sich auf einen
Kompromiss, der die Aufnahme der Verfassungsberatungen zum vorgesehenen Zeitpunkt ermöglichte:
Die Militärgouverneure stimmten der Bezeichnung „Grundgesetz“ mit dem Zusatz „provisorische
Verfassung“ zu. Hinsichtlich der Ländergrenzen und des Referendums hielten sie die Entscheidung ihrer
Regierungen für erforderlich. Sie sicherten aber zu, den deutschen Standpunkt zu befürworten. Die
Ministerpräsidenten erklärten sich ihrerseits bereit, einer Volksabstimmung zuzustimmen und Vorschläge
zur Neuregelung der Ländergrenzen fristgemäß vorzulegen, falls die alliierten Regierungen ihre Bedenken
nicht berücksichtigen sollten. Mit dieser Einigung, die allerdings durch ein teilweises Hinausschieben der
Probleme erkauft wurde, war der Weg frei für den Zusammentritt des Parlamentarischen Rates198.
Eine zusammenfassende Beurteilung der deutsch-alliierten Gespräche über die Gründung eines
westdeutschen Staates ist nicht zuletzt durch die Tatsache erschwert, dass wichtige Fragen noch offen
blieben und erst im weiteren Verlauf der Entwicklung geklärt oder entschieden wurden. Wer zu dem
Schluss kommt, die Ministerpräsidenten hätten schließlich doch den Inhalt der Frankfurter Dokumente
197
PR Akten und Protokolle Bd. 1, S.172-264 und die dokumentierte Darstellung bei T. Vogelsang: Die
Option für den westdeutschen Staat im Juli 1948, in: Festschrift für Hermann Heimpel, Bd. 1,
Göttingen 1971, S. 174 ff.
198
Texte in PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 270-282
65
„ohne substantielle Abstriche“ akzeptiert199, wird gleichzeitig die Frage nach dem zur Verfügung
stehenden Handlungsspielraum stellen müssen, den John Gimbel in seiner Studie über die amerikanische
Besatzungspolitik als sehr begrenzt bezeichnet. Die Entscheidungsfreiheit der deutschen Politiker wurde
vor allem durch die Berliner Blockade beeinträchtigt. Die hiermit verbundene Zuspitzung der
Ost-West-Beziehungen ließ ihre verfassungsrechtlichen Bedenken nach und nach in den Hintergrund
treten200.
Da dieser Zusammenhang den Beteiligten erst während der Beratungen mit den Militärgouverneuren
bewusst wurde, können die Koblenzer Beschlüsse nur bedingt als Maßstab für das Ergebnis der
deutsch-alliierten Verhandlungen dienen. Hinzu kommt, dass die Ministerpräsidenten bei ihrer ersten
Konferenz über den Verhandlungsspielraum der Militärgouverneure und die hinter den Frankfurter
Dokumenten stehenden Überlegungen nur unzureichend informiert waren. Die Koblenzer Beschlüsse
müssen daher auch als Maximalprogramm zu Beginn diplomatischer Gespräche gewertet werden.
Immerhin gelang es den Ministerpräsidenten, mit den Bezeichnungen „Parlamentarischer Rat“ und
„Grundgesetz“ sowie mit der Ratifizierung durch die Landtage ihre Provisoriumsthese zumindest in
terminologischer Hinsicht aufrechtzuerhalten.
Die Forderung von Koblenz, das Besatzungsstatut solle zu Beginn der Grundgesetzberatungen vorliegen,
ließ sich allerdings nicht durchsetzen: Eine Einigung über den Inhalt des Statuts erreichten die
Besatzungsmächte vielmehr erst im April 1949 auf der Washingtoner Außenministerkonferenz und damit
zu einem Zeitpunkt, als das Grundgesetz bereits die dritte Lesung im Hauptausschuss passiert hatte. Für
die Beratungen im Parlamentarischen Rat war es allerdings kein Nachteil, dass beide Dokumente
unabhängig voneinander zustande kamen. Der Kompromiss zwischen den Fraktionen wurde hierdurch
erleichtert, und die deutsche Position war in der Schlussphase der Grundgesetzberatungen stärker als zu
Beginn.
Schließlich bleibt nach diesem Überblick der Eindruck bestehen, dass die grundsätzlichen Bedenken der
Ministerpräsidenten gegen die Einrichtung eines Weststaates auf alliierter Seite kaum nachvollzogen
werden konnten, weil sie letztlich auf das Einigungsproblem der deutschen Geschichte und auf das
spezifisch deutsche Staatsverständnis zurückgehen. Der Wunsch der deutschen Politiker, zwar politische
Verantwortung in größerem Ausmaß zu übernehmen, aber gleichzeitig den nicht-staatlichen Charakter des
westdeutschen Gemeinwesens festzulegen, muss den englischen und amerikanischen Vertretern
weitgehend unverständlich gewesen sein. In ihrer Sprache ging es lediglich um die Einrichtung eines
„constitutional German government“ - so lautet die entsprechende Formulierung im englischen Text der
Frankfurter Dokumente. Die verärgerte Reaktion General Clays auf die in Koblenz beschlossenen Gegenvorschläge der Ministerpräsidenten sollte auch unter diesem Aspekt gesehen werden.
Nach der Einigung zwischen den Ministerpräsidenten und den Militärgouverneuren wurde mit
Einberufung des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee die Phase der Grundgesetzberatungen
eingeleitet. Bezeichnend für die Verhandlungsposition der Ministerpräsidenten in der Endphase der
deutsch-alliierten Gespräche über die Frankfurter Dokumente ist die Tatsache, dass sie bereits am 25. Juli
- also am Tage vor der entscheidenden dritten Konferenz mit den Gouverneuren - durch gemeinsamen
Beschluss einen Sachverständigenausschuss für Verfassungsfragen einsetzten. Dieser
Verfassungsausschuss trat auf Einladung des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard am 10. August 1948
auf der Herreninsel im Chiemsee zusammen. Jedes Land war durch einen bevollmächtigten Delegierten
vertreten; auch der Berliner Magistrat entsandte auf besondere Einladung hin als Bevollmächtigten Dr.
Otto Suhr. Hinzu kamen insgesamt 15 Mitarbeiter der Delegierten und vier Sachverständige201.
199
So W. Sörgel: Konsensus und Interessen, Stuttgart 1969, S. 53
200
J. Gimbel: The American Occupation... S. 224
201
Vgl. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 19. bis 23. August 1948, München
1948, S. 3-9 (nicht gedruckt in PR Akten und Protokolle Bd. 2)
66
Die politischen Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates wurden in der Regel bereits auf
Herrenchiemsee ausführlich diskutiert. Bei einer Untersuchung der Grundgesetzberatungen unter dem
Gesichtspunkt des Demokratieverständnisses wird man daher auf die bisher nur zum Teil gedruckten
Protokolle des Konvents zurückgreifen. Auch in der Organisation seiner Beratungstätigkeit diente der
Konvent dem Parlamentarischen Rat als Vorbild: Man praktizierte hier bereits die abwechselnde Beratung
im Plenum und in den Ausschüssen. Nach einer allgemeinen Aussprache über die zukünftige
westdeutsche Verfassung setzte der Konvent drei Unterausschüsse ein: Unterausschuß I befaßte sich u. a.
mit den Grundrechten, mit der Gliederung des Bundesgebietes sowie mit der Festlegung demokratischer
und rechtsstaatlicher Grundsätze für die Länder. Unterausschuß II behandelte die Zuständigkeitsverteilung
zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung
einschließlich der gesamten Finanzverfassung. Unterausschuß III schließlich war für den Aufbau und die
Funktionsweise der Bundesorgane zuständig.
Als Ergebnis seiner Beratungen legte der Herrenchiemsee-Konvent einen vollständigen Grundgesetzentwurf von nicht weniger als 149 Artikeln vor. Der Bericht des Konvents enthält weiterhin einen
fast 50 Druckseiten umfassenden „darstellenden Teil“ mit einer ausführlichen Übersicht zum
Diskussionsverlauf und zur Motivation seiner Mitglieder bei der Formulierung des Entwurfs. Hinzu
kommt schließlich noch ein „kommentierender Teil“ mit Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des
Verfassungsvorschlags. Der Konvent begnügte sich damit, in strittigen Verfassungsfragen zwei oder gar
drei Alternativvorschläge in den Entwurf aufzunehmen. Er verstand sich selbst als
Sachverständigenausschuss, der „keinerlei politische Entscheidungen zu treffen oder auch nur zu
empfehlen“ habe. Ziel der vorbereitenden Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee sollte das
Gegenüberstellen von Lösungsmöglichkeiten, nicht das Erarbeiten von politischen Kompromissen sein.
Es fragt sich allerdings, ob der Herrenchiemsee-Konvent nicht durch die Gründlichkeit seiner Beratungen
sowie durch den Umfang seiner Vorschläge den weiteren Verlauf der Verfassungsdiskussion präjudiziert
und damit auch politisch beeinflusst hat. Sein ursprünglicher Auftrag lautete, „Richtlinien für ein
Grundgesetz“ auszuarbeiten, um dem Parlamentarischen Rat eine Grundlage für seine Beratungen zu
vermitteln202. Im Verlauf seiner zweiwöchigen Tätigkeit ist der Konvent zweifellos über diesen Auftrag
hinausgegangen. Der den Deutschen oft nachgesagte Wesenszug „to be thorough in all things“203 hat sich
hier offenbar mit dem Interesse der Länderregierungen verbunden, vor dem Zusammentritt des
Parlamentarischen Rates den Verlauf der Grundgesetzberatungen noch einmal wirksam zu beeinflussen.
Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Frage berechtigt, ob auf Herrenchiemsee die maßgebenden
politischen Gruppierungen Westdeutschlands vertreten waren. Die Bevollmächtigten der Länder sind in
der Regel gleichzeitig als Repräsentanten ihrer Parteien anzusehen. Das trifft etwa für die späteren
Mitglieder des Parlamentarischen Rates Josef Schwalber (CSU), Adolf Süsterhenn (CDU), Carlo Schmid
(SPD) und Otto Suhr (SPD) zu. Fritz Baade und Hermann Brill gehörten der SPD, Josef Beyerle und Paul
Zürcher der CDU an. Der Vorsitzende des Herrenchiemsee-Konvents, der damalige Leiter der
Bayerischen Staatskanzlei Dr. Anton Pfeiffer, wurde später von der CSU in den Parlamentarischen Rat
entsandt.
Ein anderes Bild bieten die Mitarbeiter der Delegierten und die Sachverständigen: Sie waren den
Bevollmächtigten rein zahlenmäßig um das Doppelte überlegen und rekrutierten sich vorwiegend aus
Verwaltung und Hochschule. Diese Gruppe dominierte in der Redaktionskommission, die nach Vertagung
des Konvents den Schlußbericht verfaßte. Parteipolitiker waren bei diesem wichtigen Vorgang nicht mehr
beteiligt. Hinsichtlich der Länderrepräsentation ist im Herrenchiemsee-Konvent ein Übergewicht des
süddeutschen und ausgesprochen föderalistischen Elements festzustellen. Bei einem Zahlenvergleich
202
Ebenda., S. 4 f.
203
So J. F. Golay: The Founding of the Federal Republic of Germany, Chicago 1958, S. 23
67
zwischen Bayern und Nordrhein-Westfalen unter Einschluss der Sachverständigen und Mitarbeiter
ergibt sich zum Beispiel ein Verhältnis von 6 : 2 zugunsten Bayerns (Pfeiffer, Schwalber, Leusser,
Kollmann, Ringelmann, Nawiasky gegenüber Kordt und Berger).
In den Ausarbeitungen des Konvents kommt das Dilemma zwischen Weststaatsgründung und
gesamtdeutscher Perspektive, dem sich die Ministerpräsidenten bei ihren Verhandlungen mit den
Alliierten gegenübersahen, erneut zum Ausdruck. Im darstellenden Teil des Berichtes findet sich die
These vom „doppelten Provisorium“: Das in Westdeutschland zu gründende Gemeinwesen wird demnach
auf der einen Seite als „zeitliches Provisorium“ betrachtet, das heißt, es war als Notlösung gedacht,
welche später durch eine in freier Selbstbestimmung beschlossene gesamtdeutsche Verfassung abgelöst
werden sollte. Mit dieser Überlegung blieb der Gedanke eines Verwaltungsstatuts ansatzweise erhalten.
Andererseits spricht der Konvent von einem „räumlichen Provisorium“, weil das Grundgesetz nicht auf
das Gebiet der elf Länder beschränkt bleiben, sondern jeder Teil Deutschlands die Möglichkeit zum
Beitritt haben sollte. Dies war eine Umschreibung des Kernstaatsgedankens, wie er von Ernst Reuter auf
der Rüdesheimer Konferenz vertreten wurde. Mit seinem ausführlichen Verfassungsentwurf hat sich der
Herrenchiemsee-Konvent in der Praxis für die letztgenannte Alternative entschieden. Er hielt zwar an der
These fest, auf dem Gebiet der drei Westzonen könne nur ein „Staatsfragment“ entstehen. Der
fragmentarische Charakter sollte jedoch nicht in den Institutionen und Grundprinzipien der Verfassung
zum Ausdruck kommen, sondern in der Beschränkung ihrer Wirksamkeit durch äußere Einflüsse204.
Die rechtlichen und technischen Voraussetzungen für den Zusammentritt des Parlamentarischen Rates
haben die Ministerpräsidenten ebenfalls zu einem frühen Zeitpunkt geschaffen: Unmittelbar nach ihrer
letzten Frankfurter Besprechung mit den Militärgouverneuren schlossen die Regierungschefs ein
Abkommen, als dessen wichtigster Teil die Bestimmungen über die Verteilung der Abgeordnetensitze auf
die Länder anzusehen sind. Auf je 750 000 Einwohner sollte demnach ein Abgeordneter in den
Parlamentarischen Rat gewählt werden. Falls für ein Land mindestens 200 000 Reststimmen übrig
blieben, kam ein weiterer Abgeordneter dazu. Dieser Verteilungsschlüssel hatte zur Folge, dass die
kleinen Länder im Parlamentarischen Rat relativ günstig vertreten waren. Ein entsprechendes Gesetz
wurde im August/ September 1948 bis auf Nordrhein-Westfalen in allen Ländern gleichlautend erlassen.
Es regelte außerdem das Wahlverfahren der Abgeordneten, ihre Immunität und Aufwandsentschädigung
sowie die Nachwahl ausscheidender Ratsmitglieder205.
Als die Landesparlamente im August die Abgeordneten der verfassunggebenden Versammlung wählten,
stellte sich heraus, dass zwischen den beiden großen Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
Stimmengleichheit bestand: Beide waren mit 27 Abgeordneten im Parlamentarischen Rat vertreten. Die
FDP/DVP/LDP-Gruppen erhielten fünf, die Deutsche Partei, das Zentrum und die KPD jeweils zwei
Sitze. Insgesamt hatte der Parlamentarische Rat damit 65 stimmberechtigte Mitglieder. Hierzu kamen fünf
Berliner Delegierte (drei der SPD, je einer der CDU und der FDP angehörend), die jedoch nicht
stimmberechtigt waren. Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates bildeten Fraktionen, obwohl die
CDU/CSU und die FDP/DVP/LDP von einer einheitlichen Parteiorganisation noch weit entfernt waren.
Die Zusammenarbeit der Landes- und Zonenverbände bei den Grundgesetzberatungen hat hier den
späteren Zusammenschluss auf Bundesebene vorbereitet. Die Verteilung der Sitze auf die Parteien gab
später Anlass zu Diskussionen. Bei der Wahl durch die Landtage hatten CDU und SPD ein
Tauschgeschäft abgeschlossen. Demnach erhielt die CDU zwei Sitze im Parlamentarischen Rat für
Hamburg und Schleswig-Hostein, die ihr dort angesichts der SPD-Mehrheit nicht zustanden, während die
Sozialdemokraten in Baden und Württemberg-Hohenzollern je einen Abgeordneten wählen konnten.
Einer der Begünstigten dieser Absprache zwischen CDU und SPD war Carlo Schmid, der am 13. August
1948 vom Landtag Württemberg-Hohenzollerns gewählt wurde. Als die Differenzen zwischen den
Fraktionen im Parlamentarischen Rat zunahmen, warf Adenauer dem Regierungschef von Württemberg204
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 507-509
205
PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 283-290
68
Hohenzollern, Gebhard Müller (CDU), vor, er habe die Entsendung des wortgewaltigen
Szialdemokraten ermöglicht206.
Für die Ausarbeitung der einzelnen Abschnitte des Grundgesetzes richtete der Parlamentarische Rat fünf
Fachausschüsse ein, und zwar für Grundsatzfragen, Zuständigkeitsabgrenzung, Finanzfragen, für
Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege (Rechtspflegeausschuss) sowie für die Organisation des
Bundes. Hinzu kamen die Fachausschüsse für Wahlrechtsfragen und für das Besatzungsstatut. Außerdem
wurden ein Geschäftsordnungsausschuss und ein Überleitungsausschuss gebildet, der aber ohne politische
Bedeutung blieb. Die Grundsatzdiskussion des Parlamentarischen Rates fand vorwiegend im
Hauptausschuss statt. Dessen Aufgabe bestand darin, die Vorschläge der Fachausschüsse zu einem
Entwurf für das Plenum zusammenzufassen und gleichzeitig die politischen Vorentscheidungen zu
treffen. Im Hauptausschuss waren CDU/CSU und SPD mit je acht, die FDP mit zwei und die DP, das
Zentrum sowie die KPD mit je einem Abgeordneten vertreten. Die Bedeutung des Hauptausschusses geht
allein daraus hervor, dass er insgesamt 59 Sitzungen abhielt, während das Plenum nur zwölfmal
zusammentrat.
Während der gesamten Tagungsdauer des Parlamentarischen Rates fanden interfraktionelle
Besprechungen unter dem Vorsitz Adenauers statt. Die personelle Zusammensetzung dieses Kreises
wechselte häufig. Bis zu 20 Abgeordnete aus allen Fraktionen (mit Ausnahme der KPD) nahmen an
diesen Verhandlungen teil. Im Verlauf der Beratungen wurden außerdem drei weitere Ausschüsse
gebildet, die man von ihrer Funktion her als Koordinationsausschüsse bezeichnen kann. Sie haben vor
allem in der Schlussphase die Kompromissfindung zwischen den Fraktionen erleichtert und maßgebend
dazu beigetragen, dass schließlich eine breite Mehrheit des Parlamentarischen Rates dem Grundgesetz
zustimmte. Anfang November 1948 setzte der Ältestenrat zunächst einen „Allgemeinen
Redaktionsausschuss“ ein. Dieses Dreiergremium nahm im wesentlichen die Aufgaben des Bindegliedes
zwischen den Fachausschüssen und dem Hauptausschuss wahr. Sein Einfluss blieb jedoch nicht auf die
redaktionelle Bearbeitung der Entwürfe beschränkt. In der Besetzung Dehler (FDP), Zinn (SPD) und v.
Brentano, bzw. v. Mangoldt oder Strauß von der CDU erarbeitete der Redaktionsausschuss eine Reihe
inhaltlicher Änderungsvorschläge, die vom Hauptausschuss trotz vereinzelter Proteste als
Parteikompromisse akzeptiert wurden.
Im Anschluss an die zweite Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschuss (Januar 1949) beschlossen die
Fraktionen die Einsetzung einer Kommission, die den Namen „Fünferausschuß“ erhielt. Mitglieder waren
in der Regel die Abgeordneten v. Brentano, Kaufmann (CDU/CSU), Menzel, Schmid (SPD) und Schäfer,
bzw. Heuss, Dehler oder Höpker-Aschoff für die FDP. Je nach Beratungsgegenstand wechselte man auch
die Mitglieder aus oder zog weitere Abgeordnete hinzu. Auf diese Weise wurden die bis dahin formlos
geführten interfraktionellen Beratungen institutionalisiert, um eine möglichst schnelle Einigung über die
noch umstrittenen Passagen des Grundgesetzes zu erreichen. Als nach Überreichung des alliierten
Memorandums vom 2. März 1949 erneut interfraktionelle Besprechungen notwendig waren, beschloss
man eine Erweiterung der Fünfer-Kommission zum sogenannten „Siebenerausschuß“: Mit den
Abgeordneten Seebohm und Brockmann wurde je ein Vertreter der DP und des Zentrums
hinzugenommen, so dass nunmehr alle Fraktionen bis auf die KPD beteiligt waren. Die bayerische CSU
war weder im Allgemeinen Redaktions-, noch im Fünfer- oder im Siebenerausschuss vertreten. Sie nahm
allerdings an der weiterlaufenden interfraktionellen Besprechungen teil.
Obwohl diese Koordinierungsausschüsse in vielen Fällen über die verfassungspolitischen Alternativen
entschieden, liegt über ihre Beratungen wenig dokumentarisches Material vor. Im Gegensatz zu den
anderen Ausschüssen des Parlamentarischen Rates hat man bei den interfraktionellen Besprechungen, im
Allgemeinen Redaktionsausschuss, im Fünfer- sowie im Siebenerausschuss keine offiziellen
stenographischen oder Kurzprotokolle angefertigt. Es gibt aber zahlreiche Mitschriften und
206
Die Unionsparteien 1946-1950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU Deutschlands und
der Konferenzen der Landesvorsitzenden, Düsseldorf 1991,.S. 296 und 298 ff.
69
Aufzeichnungen über diese Gespräche, die in der Regel von Teilnehmern verfasst wurden. Der
Allgemeine Redaktionsausschuss hat seine Vorschläge mit Anmerkungen versehen, die in einigen Fällen
Rückschlüsse auf seine Motivation zulassen. Die politikwissenschaftliche Analyse der
Grundgesetzberatungen wird durch diese Dokumentationslücken nicht unwesentlich erschwert.
Der zeitliche Ablauf der Grundgesetzberatungen im Parlamentarischen Rat lässt sich in vier Abschnitte
gliedern: Seine erste Phase wird durch die Tätigkeit der Fachausschüsse bestimmt, die bei ihren
Überlegungen in der Regel vom Aufbau und von den Formulierungen des Herrenchiemsee-Entwurfs
ausgingen. In ein- oder zweimaliger Beratung erarbeiteten sie Entwürfe für die einzelnen Abschnitte des
Grundgesetzes, welche über den Allgemeinen Redaktionsausschuss dem Hauptausschuss zugeleitet
wurden. Diese Ausschussberatungen waren nichtöffentlich, weil man durch einen Verzicht auf
unmittelbare Publizität die Sachlichkeit der Diskussion und den zügigen Fortgang der Beratungen fördern
wollte. Bereits vor Abschluss der Arbeit in den Fachausschüssen kam es am 20. und 21. Oktober im
Plenum zu einer Grundsatzdiskussion über die Formulierung der Präambel sowie über die Fragen der
Finanzverfassung und der Länderkammer.
Als zweite Phase sind die beiden ersten Lesungen des Grundgesetzes im Hauptausschuss anzusehen, die
vom November 1948 bis zum Januar 1949 dauerten. Der allgemeine Redaktionsausschuss nahm nach der
ersten und zweiten Lesung zu den Beschlüssen des Hauptausschusses Stellung, und die Fachausschüsse
traten erneut zusammen. In diese zweite Phase fällt auch die erste Intervention der Alliierten: Die
Westmächte hatten sich
wie bereits dargestellt
zwischen den beiden Sessionen der Londoner
Sechsmächtekonferenz darauf geeinigt, den Ministerpräsidenten zunächst nur die allgemeinen Prinzipien
der zukünftigen Verfassung mitzuteilen. Die vielfältigen Probleme der alliierten Deutschlandpolitik
(Besatzungsstatut, Berliner Blockade, Eingliederung der französischen Zone in die Bizone) verhinderten
dann offenbar eine Präzisierung des alliierten Standpunktes zum Bund-Länder-Verhältnis. Im Hintergrund
stand aber immer noch die vertrauliche Londoner Vereinbarung mit weiteren Einzelheiten zur
bundesstaatlichen Struktur. Dieses sogenannte vierte Frankfurter Dokument war für die Militärgouverneure bestimmt und wurde den deutschen Vertretern zunächst nicht mitgeteilt. Lediglich zur
Finanzverfassung erhielt der Vizepräsident des Parlamentarischen Rates, der SPD-Abgeordnete
Schönfelder, am 30. Oktober von alliierter Seite die Information, der Bund solle berechtigt sein, auch für
Steuern, die ihm nicht zustehen, einheitliche Sätze festzulegen. Die Verwaltung und Verwendung dieser
Abgaben müsse jedoch ausschließlich den Ländern vorbehalten bleiben207.
Am 22. November 1948 überreichten die Militärgouverneure schließlich dem Präsidenten des
Parlamentarischen Rates ein Memorandum mit Erläuterungen zu Dokument I der Frankfurter Dokumente,
das die bisher vertraulichen Londoner Abmachungen enthielt. Dieses Memorandum bekräftigte noch
einmal den alliierten Standpunkt zur Finanzverfassung und äußerte sich auch zu anderen Punkten der
Föderalismus-Problematik (Zweikammersystem, Bundesbefugnisse in Polizeiangelegenheiten,
Verfassungsgerichtsbarkeit und Errichtung von Bundesbehörden). Insgesamt war die alliierte
Stellungnahme aber vom Tenor her nicht so dringend, als dass sich der Parlamentarische Rat veranlasst
sah, sie in seinem eigenen Entwurf unmittelbar zu berücksichtigen. Der Präsident des Rates, Dr.
Adenauer, erklärte vor dem Hauptausschuss zur Übergabe des Dokuments, die alliierten
Verbindungsstäbe hätten ausdrücklich betont, sie wollten die Entscheidung des Parlamentarischen Rates
nicht beeinflussen, sondern nur „einige Sätze aus dem Ihnen bekannten Dokument Nr.1“ erläutern. Der
Hauptausschuss nahm daraufhin eine Entschließung an, die das Memorandum ausdrücklich als
„Erläuterung“ der Frankfurter Dokumente bezeichnete und hinzufügte: „Die Abgeordneten des
Parlamentarischen Rates setzen die Beratungen als Vertreter des deutschen Volkes fort, dessen Vertrauen
sie nach Bonn entsandt hat“208. Auf deutscher Seite war man offensichtlich bestrebt, die alliierte
207
PR-Akten und Protokolle Bd. 8, S. 18-23
208
PR-Hauptausschuß, 9. Sitzung vom 25. November 1948 und der mehrsprachige Text des
Memorandums vom 22.11.1948 im PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 37-42
70
Intervention herunterzuspielen, um später aus einer besseren Position heraus mit den Militärgouverneuren über den Gesamtentwurf des Grundgesetzes zu verhandeln.
Im Anschluss an die Übergabe des Memorandums fand in Frankfurt eine Besprechung zwischen den drei
Militärgouverneuren und einer Delegation des Parlamentarischen Rates statt. Bei dieser Gelegenheit
wurden nicht nur Fragen des Besatzungsstatuts, sondern auch Verfassungsprobleme erörtert, zu denen
eine Einigung zwischen den Fraktionen noch ausstand. Die dortige Verhandlungsführung Konrad
Adenauers, der als Präsident des Parlamentarischen Rates Vorsitzender der deutschen Delegation war,
löste eine heftige Kontroverse zwischen den Parteien und damit die erste Krise im Rat aus. Die Fraktionen
der SPD, FDP und des Zentrums warfen Adenauer vor, er habe entgegen vorheriger Abmachung die
Finanzverfassung und die Zweikammerfrage zur Sprache gebracht. Auf diese Weise sei den Militärgouverneuren die Möglichkeit eröffnet worden, bei den Differenzen der deutschen Parteien eine
Schiedsrichterrolle zu übernehmen209.
Mit diesem Intermezzo wurde die dritte Phase der Grundgesetzberatungen eingeleitet. Sie stand im
Zeichen der Bestrebungen, einen Kompromiss zwischen den divergierenden Auffassungen im
Parlamentarischen Rat und zwischen den Parteien herbeizuführen und damit eine breite Mehrheit für das
Grundgesetz zu erreichen. Zu diesem Zweck konstituierte sich der bereits erwähnte „Fünferausschuss“.
Zwischen dem 26. Januar und dem 5. Februar 1949 einigten sich hier die Vertreter der drei größten
Fraktionen über die umstrittenen Punkte und legten schließlich einen durchgehend formulierten
Grundgesetzentwurf vor. Dieser Vorschlag diente dem Hauptausschuss als Grundlage für seine dritte
Lesung, die aufgrund der Vorarbeiten nur drei Tage in Anspruch nahm.
Nach Abschluss der Beratungen im Hauptausschuss erhielten die Militärgouverneure am 10. Februar vom
Präsidenten des Parlamentarischen Rates ein Exposé mit Erläuterungen zur Fassung der dritten Lesung.
Diese Zusammenstellung hatte der SPD-Abgeordnete Zinn in Übereinstimmung mit den Fraktionen
ausgearbeitet. Sie sollte den alliierten Stellen als Unterlage für ihre internen Besprechungen dienen und
hob den föderalistischen Charakter des Entwurfs hervor210. Die Gouverneure bestätigten zunächst, dass sie
das Grundgesetz in der vom Hauptausschuss verabschiedeten Fassung überprüfen und die Entscheidung
ihrer Regierung einholen würden, falls der Entwurf den Londoner Vereinbarungen widerspreche. Am 2.
März überreichten sie schließlich den Vertretern des Parlamentarischen Rates auf einer kurzfristig angesetzten Besprechung eine ausführliche Stellungnahme zum Entwurf des Grundgesetzes. Ihr Memorandum
stellt fest, das Grundgesetz weiche in mehreren Punkten von den alliierten Richtlinien ab. Es führt im
einzelnen sieben Änderungswunsche auf, von denen die Vorschläge zur Aufteilung der
Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern sowie zur Finanzverfassung besondere
Erwähnung verdienen.
Mit dem alliierten Memorandum vom 2. März 1949 begann die zeitweise turbulente vierte Phase der
Grundgesetzberatungen. Die Weiterführung der deutsch-alliierten Verhandlungen und der Gespräche
zwischen den Parteien erwies sich als äußerst schwierig, weil der innerdeutsche Kompromiss des
Fünferausschusses durch die Einwände der Besatzungsmächte in Frage gestellt war. Die interfraktionellen
Beratungen wurden gleichzeitig im größeren Kreis und im Rahmen des Siebenerausschusses geführt, der
sich in informellen Kontakten mit den Verbindungsoffizieren sowie anhand der zunächst nicht
mitgeteilten französischen Fassung des Memorandums zusätzliche Informationen über die alliierten
Vorstellungen verschaffte. Der Ausschuss schlug zweimal Kompromissformulierungen vor (am 10. und
18. März.), die jedoch von den Militärgouverneuren nicht akzeptiert wurden.
209
PR Akten und Protokolle Bd. 8, S.61 ff. und 76 ff.; PR-Hauptausschuss, 28. Sitzung vom 18.
Dezember 1948; K. Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Stuttgart 1965, S. 159 ff.; R. Morsey: Die
Rolle Konrad Adenauers im Parlamentarischen Rat (VjZG 18, 1970, S. 73-78)
210
Text in PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 101-105
71
Die scheinbar ausweglose Situation änderte sich auch nicht, als die Außenminister Frankreichs,
Großbritanniens und der USA Anfang April in Washington zusammentraten und eine Reihe von
Vereinbarungen bezüglich Westdeutschlands trafen (u. a. die Abkommen über Dreimächtekontrolle, über
Reparationen, über verbotene und beschränkte Industrien sowie über die Kontrolle des Ruhrgebietes). Die
Washingtoner Außenministerkonferenz legte den Entwurf des Besatzungsstatuts vor und ließ dem
Parlamentarischen Rat am 5. April eine Erklärung zukommen, in der sie ihn zur Weiterarbeit am
Grundgesetz ermunterte, ohne jedoch die strittigen Verhandlungspunkte mit einem Wort zu erwähnen.
Die sozialdemokratische Partei betrachtete die Formulierungen des Siebenerausschusses vom 17. März als
die äußerste Grenze ihrer Konzessionsbereitschaft. Sie stellte den Gedanken des Verwaltungsstatuts
erneut zur Diskussion, indem sie einen „auf das Notwendigste beschränkten“ Grundgesetzentwurf veröffentlichte.
Erst am 22. April gaben die Militärgouverneure überraschend ein zweites Dokument zum Grundgesetz
bekannt, das zu den Fragen der Finanzverfassung sowie der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und
Ländern eine kompromissbereite Haltung erkennen ließ und die starren Instruktionen des Memorandums
vom 2. März praktisch zurücknahm. Die Außenminister hatten dieses Dokument bereits am 8. April auf
der Washingtoner Konferenz unterzeichnet und den Militärgouverneuren mit der Anweisung zugeleitet, es
zu einem geeigneten Zeitpunkt dem Parlamentarischen Rat mitzuteilen. Clay wandte sich jedoch zunächst
gegen seine Übergabe und wurde hierin von dem französischen Militärgouverneur General Koenig
unterstützt. Er argumentierte, eine Überreichung dieser konzilianten Erklärung vor Wiederaufnahme der
Beratungen im Parlamentarischen Rat hätte sich als Stellungnahme zugunsten der sozialdemokratischen
Position ausgewirkt und die politische Neutralität der Gouverneure hinsichtlich der innerdeutschen
Auseinandersetzungen in Frage gestellt211. Die Bekanntgabe am 22. April bestätigte tatsächlich die Politik
der SPD, während die CDU/ CSU die Haltung der Alliierten offensichtlich falsch eingeschätzt hatte. In
diesem Zusammenhang wurde auch die Vermutung geäußert, die sozialdemokratische Führung sei von
englischer Seite über die Konzessionsbereitschaft der Alliierten informiert worden und habe daher in der
Schlussphase der Grundgesetzberatungen ihre unnachgiebige Haltung ohne Risiko beibehalten können212.
Nach der Erklärung der Militärgouverneure vom 22. April konnten die Grundgesetzberatungen in kurzer
Zeit zum Abschluss gebracht werden. Die noch ausstehenden Lesungen nahmen kaum mehr als zwei
Wochen in Anspruch. Zunächst einigten sich die Fraktionen in zweitägigen Beratungen auf Vorschläge,
die den alliierten Verbindungsoffizieren noch am 24. April übergeben wurde. Am nächsten Tag fand
bereits die entscheidende Konferenz zwischen einer Delegation des Parlamentarischen Rates unter dem
Vorsitz von Dr. Adenauer und den Militärgouverneuren statt, die ebenfalls zu einer grundsätzlichen
Einigung über die noch strittigen Verfassungsprobleme führte. Der Allgemeine Redaktionsausschuss in
der Besetzung Dehler (FDP), v. Mangoldt (CDU) und Zinn (SPD) übernahm die Aufgabe, das Ergebnis
der deutsch-alliierten Besprechungen in den vorliegenden Entwurf einzuarbeiten. Er berücksichtigte
hierbei auch die Beschlüsse des Fünfer- sowie des Siebenerausschusses, soweit diese nicht inzwischen
überholt waren. Nach erneuten interfraktionellen Besprechungen wurde der zusammenfassende Entwurf
des Redaktionsausschusses dem Hauptausschuss als Grundlage für eine vierte Lesung vorgelegt. Obwohl
damit insgesamt über 100 Änderungsanträge eingereicht waren, konnte der Hauptausschuss diese Lesung
bis auf einige Punkte, die zurückgestellt wurden, in einer Sitzung am Abend des 5. Mai abschließen.
Fünf Stunden später trat bereits das telegraphisch einberufene Plenum zusammen, um die zweite Lesung
des Grundgesetzes in Angriff zu nehmen. Auch hier verlief die Beratung reibungslos: Neben der
redaktionellen Änderung einiger Überschriften wurden lediglich vier Artikel umformuliert. Bei der
Abstimmung standen 47 Ja-Stimmen allerdings zwei Gegenstimmen der KPD und 15 Enthaltungen
gegenüber. Die dritte Lesung des Grundgesetzes wurde daraufhin für den 8. Mai angesetzt und begann mit
einer allgemeinen Aussprache zum Grundgesetzentwurf. Mehrere Redner erinnerten daran, daß dies der
211
212
L. D. Clay: Decision in Germany... S. 431 f.
K. Adenauer: Erinnerungen 1945-1953... S. 170 f.; J. F. Golay: The Founding... S. 100 ff.
72
Jahrestag der deutschen Kapitulation und des Endes der NS-Herrschaft sei. Am 8. Mai 1945 waren die
Deutschen nach den Worten von Theodor Heuss „erlöst und vernichtet in einem“213.
Anschließend fand eine Einzelberatung statt, die jedoch nur noch zu geringfügigen Änderungen der
vorliegenden Fassung führte. In der darauf folgenden namentlichen Schlussabstimmung wurde das
Grundgesetz mit 53 gegen 12 Stimmen angenommen. Für das Grundgesetz stimmten die Abgeordneten
der SPD, der CDU, der FDP sowie zwei CSU-Abgeordnete. Gegen die neue Verfassung votierten die
Abgeordneten der Deutschen Partei, des Zentrums, der KPD und sechs Abgeordnete der CSU. Nachdem
die Militärgouverneure am 12. Mai mit ihrem „Letter of Approval“ ihre Zustimmung gegeben hatten,
wurde das Grundgesetz den Volksvertretungen der westdeutschen Länder zur Ratifizierung vorgelegt. Da
alle Länderparlamente bis auf den Bayerischen Landtag zustimmten, konnte es am 23. Mai 1949 in Bonn
feierlich unterzeichnet werden und trat mit seiner gleichzeitigen Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt in
Kraft.
213
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 542
73
IV. Vorentscheidungen oder offene Fragen?
Die Entstehung des Grundgesetzes kann nur unter Berücksichtigung der innen- und außenpolitischen
Rahmenbedingungen angemessen beschrieben werden. Eine Interpretation des Parlamentarischen Rates
muss vor allem den Spielraum seiner Mitglieder berücksichtigen, weil die politische Relevanz der
Grundgesetzberatungen nur auf diese Weise zu bewerten ist. Hierbei geht es um die Frage: War der
Parlamentarische Rat eine Versammlung, welche die sozialen Strukturen Westdeutschlands beeinflussen
wollte und konnte, oder hatte er nur die Aufgabe, für die bereits getroffenen Weichenstellungen den
verfassungsmäßigen Rahmen zu schaffen? Im ersten Fall wäre er als ein politisches Gremium anzusehen,
im zweiten Fall als eine Zusammenkunft von juristischen Experten, die für ein bereits bestehendes
Gebäude den verfassungsrechtlichen “Überbau” zu erarbeiten hatten.
Die Beantwortung dieser Frage ist auch in der Zeitgeschichtsforschung und in der Politikwissenschaft
umstritten. Mehrere Autoren vertreten die Präjudizierungsthese. Die Besatzungsmächte und die
Wirtschaftspolitik der Zweizonen-Verwaltung haben demnach bewirkt, dass die wichtigsten
Entscheidungen für die weitere Entwicklung Westdeutschlands bereits vor dem Zusammentritt des
Parlamentarischen Rates getroffen wurden214. Andererseits lässt sich nachweisen, dass grundlegende
Fragen der Sozial- und Wirtschaftsordnung während der Grundgesetzberatungen noch in der Schwebe
waren und erst nach der Bundestagswahl vom August 1949 entschieden wurden. Diese Offenheit der
Situation soll im folgenden anhand von vier Beispielen erläutert werden.
Die Außenpolitik der vier Besatzungsmächte wird in diesem Zusammenhang nicht ausführlicher
behandelt. Aber auch sie war 1948/ 49 aus der Sicht der deutschen Politiker keineswegs so eindeutig, wie
man aus heutiger Perspektive vermutet. Der Inhalt des angekündigten Besatzungsstatuts blieb z.B. bis
zum Ende der Grundgesetzberatungen unbestimmt. Schwerwiegender war die Unsicherheit über die
Zukunft Berlins, denn die sowjetische Blockade des Westteils der Stadt begann bereits vor dem
Zusammentritt des Parlamentarischen Rates und wurde erst nach Fertigstellung des Grundgesetzes
aufgehoben.
Die Zuspitzung des Ost-West-Konflikts hat auf den Inhalt des Grundgesetzes einen sehr viel geringeren
Einfluss gehabt als in der Literatur oft behauptet wird. Von großer Bedeutung für die westdeutschen
Politiker war jedoch die Möglichkeit, dass Großbritannien und die USA den Plan der Weststaatsgründung
wieder aufgaben zugunsten einer “Trizonenverwaltung” mit Frankreich oder eines erneuten
Kompromissversuchs mit Moskau. Erste Warnungen in diese Richtung gab es bereits während des
Herrenchiemsee-Konvents, der im August 1948 einen Grundgesetzentwurf formulierte. Der
amerikanische Verbindungsoffizier Carl J. Friedrich erklärte einem Mitglied des Konvents, die
Grundgesetzberatungen sollten weitergeführt werden, obwohl aufgrund der seit 2. August 1948 laufenden
214
H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln- Opladen 1970, insbes. S. 66
ff.; H. Thum: Mitbestimmung in der Montanindustrie. Der Mythos vom Sieg der Gewerkschaften, Stuttgart
1982, S. 30 f.; M. Held: Sozialdemokratie und Keynesianismus, Frankfurt/M.-New York 1982, S. 207 ff.;
G. J. Trittel: Von der “Verwaltung des Mangels” zur “Verhinderung der Neuordnung”...in: C. Scharf/ H.-J.
Schröder (Hrsg.): Die Deutschlandpolitik Großbritanniens und die britische Zone 1945-1949, Wiesbaden
1979, S. 132 u.147; W. Abelshauser; Die verhinderte Neuordnung? Wirtschaftsordnung und
Sozialstaatsprinzip in der Nachkriegszeit (Politische Bildung 9, 1976, Heft 1, S. 53 - 72), S. 54
74
Viermächtegespräche in Moskau mit einer Genehmigung durch die Militärgouverneure möglicherweise
nicht zu rechnen sei215.
Carlo Schmid (SPD), der ebenfalls am Herrenchiemsee-Konvent teilnahm, erklärte deshalb einen Monat
später auf dem Parteitag in Düsseldorf: “Welcher Schlag würde der deutschen Demokratie versetzt, wenn
sich in Moskau oder anderswo die vier Besatzungsmächte auf eine andere Politik einigen würden als die
des Londoner Abkommens...”. Der amerikanische Militärgouverneur Clay berichtete dementsprechend
am 18. September 1948 nach Washington, der Parlamentarische Rat gehe “very cautiously” vor und sei
wegen der Haltung der drei Westmächte gegenüber der Sowjetunion besorgt216.
Die Unsicherheit der westdeutschen Politiker über die Deutschlandpolitik der vier Besatzungsmächte
blieb auch in den folgenden Monaten bestehen, zumal über den Inhalt des Besatzungsstatuts wenig zu
erfahren war. Ende Januar 1949 erhielten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates erneut die
Information, in Washington habe das Interesse an der Errichtung einer westdeutschen Regierung
nachgelassen. Konrad Adenauer und Jakob Kaiser befürchteten, eine sowjetisch-amerikanische
Annäherung in der Berlin-Frage werde “auf unserem Buckel” erfolgen217.
1. Parteipolitik und Personalentscheidungen im Frankfurter Wirtschaftsrat
Als sich abzeichnete, dass die Pariser Außenministerkonferenz vom April/Mai und Juni/Juli 1946 für
Deutschland ohne Ergebnis enden würde, erklärte der amerikanische Außenminister Byrnes die
Bereitschaft der USA, ihre Besatzungszone mit jeder anderen Zone zum Zwecke einer gemeinsamen
Wirtschaftspolitik zusammenzuschließen. Dieses Angebot wurde im Alliierten Kontrollrat der vier
Mächte wiederholt und von der britischen Regierung angenommen. In den letzten Monaten des Jahres
1946 fanden zahlreiche Gespräche zur Organisation der “Bizone” zwischen den beiden
Besatzungsmächten und den deutschen Verwaltungen statt. Die hektische Vorbereitung des
Zonenzusammenschlusses hatte zur Folge, dass deutsche Bizonen-Behörden bereits tätig waren, bevor das
entsprechend englisch-amerikanische Abkommen am 2. Dezember 1946 in New York unterzeichnet
wurde und zu Jahresbeginn 1947 in Kraft trat. Die Hauptmotive für diesen Schritt bildeten die kritische
Wirtschafts- und Ernährungslage in Deutschland sowie der Erkenntnis, dass bei einer weiteren Aufteilung
in vier separate Wirtschaftsgebiete keine Besserung zu erwarten sei. Vor allem die britische Regierung
war bei der Finanzierung des Defizits ihrer Besatzungszone an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit
gegangen und hoffte, die USA würden den größten Teil der gemeinsamen Kosten übernehmen.
Die Zeit der Zweizonen-Wirtschaftsverwaltung ist vielschichtig und bedarf einer sorgfältigen Analyse.
Dass es sich um eine reine Wirtschaftsverwaltung handelte, war die Arbeitshypothese der Briten und
Amerikaner. Die Bizone sollte auf keinen Fall als politischer Zusammenschluss erscheinen, da man eine
gemeinsame Deutschlandpolitik der vier Besatzungsmächte oder ein gemeinsames Vorgehen mit
Frankreich noch nicht ausschließen wollte. In Wirklichkeit trieben die Deutschen im Rahmen dieser
Organisationsstruktur ungeniert Politik, und zwar nicht nur Wirtschaftspolitik, sondern auch Partei-,
Personal- und Koalitionspolitik. Sie ließen sich hiervon auch durch die dringende Mahnung der
215
Dr. Beyerle, HCh - Unterausschuß I, 5. Sitzung vom 19.8. 1948.
216
Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SPD vom 11. bis 14. September 1948 in Düsseldorf,
Berlin - Bonn 1976, S. 47 f.; J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General Lucius D. Clay. Germany 19451949, Vol. II, Bloomington - London 1974, S. 859.
217
Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, bearb. von R.Salzmann,
Stuttgart 1981, S. 366 f. und 399 f.; Die Unionsparteien 1946-1950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft
der CDU/CSU Deutschlands und der Konferenzen der Landesvorsitzenden, bearb. von B. Kaff, Düsseldorf
1991, S. 413.
75
Militärgouverneure zur konstruktiven Arbeit nicht abhalten.
Andererseits sind die Vorgänge und Entscheidungen in den Frankfurter Institutionen der Bizone unlösbar
mit dem Beginn des Wirtschaftswunders verbunden. Die Neigung zur Legendenbildung ist deshalb nicht
nur in populärwissenschaftlichen Darstellungen und in den Berichten der Zeitzeugen, sondern auch in der
Zeitgeschichtsschreibung spürbar. Die wirtschaftspolitische Entwicklung von 1948 bis 1951 erscheint
verkürzt und ineinandergeschoben. Der genaue Ablauf der Ereignisse muss gelegentlich zurechtgerückt
werden, damit Ursache und Wirkung zu erkennen sind.
Angesichts der politischen und wirtschaftspolitischen Komplexität ist es sinnvoll, die Bizone mit dem
Blick auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates unter zwei Aspekten genauer zu betrachten: Auf
der einen Seite haben die partei- und personalpolitischen Entscheidungen in Frankfurt die spätere
Entwicklung der Bundesrepublik über den wirtschaftspolitischen Bereich hinaus maßgebend geprägt.
Andererseits ist der Ablauf der Ereignisse im Wirtschaftsrat wegen der Neigung zu vorschnellen
Interpretationen genauer darzustellen. Außerdem ist die damalige Bewertung der Bizonen-Politik aus
deutscher und alliierter Sicht zu berücksichtigen.
Nach den Vorstellungen der beiden Militärregierungen wurden im Herbst 1946 für die beiden Zonen fünf
einheitliche deutsche Verwaltungen für Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft, Verkehr, Finanzen
sowie für Post- und Fernmeldewesen gegründet. Jede der fünf Verwaltungen unterstand einem
Verwaltungsrat, bestehend aus den entsprechenden Fachministern der Länder in der britischen und
amerikanischen Zone. Dieser wählte einen Vorsitzenden, der die Funktion des Behördenchefs der
Verwaltung wahrnahm.
Bereits bei den ersten Wahlen der fünf Vorsitzenden spielten die Parteien eine maßgebende Rolle, obwohl
auch parteilose Kandidaten gewählt wurden. Besonders umstritten war die Wahl des hessischen
Wirtschaftsministers Rudolf Mueller zum Vorsitzenden der Wirtschaftsverwaltung. Die SPD hatte hierfür
Viktor Agartz, den Leiter des Zentralamts für Wirtschaft in der britischen Zone vorgeschlagen. Der
politische Charakter dieser Entscheidung kommt im Kommentar Konrad Adenauers deutlich zum
Ausdruck, denn der damalige Vorsitzende der CDU in der britischen Zone erklärte wenige Tage später,
Mueller sei parteilos, stehe aber der CDU nahe. Mit seiner Wahl seien die “Sozialisierungsbestrebungen
des Herrn Agartz und der SPD und der britischen Regierung wohl erledigt”218. Auch bei der Wahl der
anderen Vorsitzenden-Posten kamen die Sozialdemokraten nicht zum Zuge. Sie wurden von Vertretern
der FDP (Mattes, Dietrich), der CDU (Blank) oder von Parteilosen (Schiller) besetzt.
In den folgenden Monaten änderte sich die Zusammensetzung des aus den Wirtschaftsministern der
Länder bestehenden Verwaltungsrats für Wirtschaft zugunsten der SPD. Im Januar 1947 gelang es ihr
sogar, die Wirtschaftsministerien in allen Ländern der britischen und amerikanischen Zone zu besetzen.
Mueller wurde daraufhin wieder abgelöst und durch den Sozialdemokraten Viktor Agartz ersetzt219. Die
Personalpolitik der Parteien spielte demnach in Frankfurt bereits eine dominierende Rolle bevor Ludwig
Erhard dort die politische Bühne betrat, und bevor die Währungsreform in Sichtweite kam.
Die Bizonen-Verwaltung war in ihrer ersten Form allerdings wenig effektiv. Die lag nicht nur an der
Aufteilung der einzelnen Verwaltungen auf fünf verschiedene Städte, sondern auch an der
unübersichtlichen Kompetenzverteilung, durch die vorübergehend der wirtschaftspolitische Einfluss der
Länder wieder verstärkt wurde. In London und Washington hielt man jedoch daran fest, die Bizone für
den Beitritt weiterer Besatzungszonen offen zu halten und den Eindruck eines separaten politischen
Zusammenschlusses in Westdeutschland zu vermeiden. Zu einer Reorganisation der Bizone erklärten sich
218
Konrad Adenauer und die CDU in der britischen Besatzungszone 1946-1949, Bonn 1975, S. 190
219
G. Ambrosius: Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945-1949, Stuttgart
1977, S. 61 ff.
76
die beiden Besatzungsmächte deshalb erst nach dem “Hungerwinter” 1946/47 und nach der
ergebnislosen Moskauer Außenministerkonferenz vom März/April 1947 bereit.
Die Organisationsform der “zweiten Stufe” trug bereits die wesentlichen Merkmale eines
Regierungssystems: Als Zweizonen-Parlament wurde ein Wirtschaftsrat eingerichtet. Er hatte
Gesetzgebungsbefugnisse und wählte die Direktoren. Seine 52 Mitglieder wurden allerdings von den
Landtagen und damit indirekt gewählt. Der Exekutivrat war ein Zwitter zwischen Exekutive und
Länderkammer. Er bestand aus je einem Vertreter der acht Landesregierungen, sollte die Ausführung der
Beschlüsse des Wirtschaftsrats überwachen und besaß das Vorschlagsrecht für die Wahl der Direktoren.
Diese standen an der Spitze der nach wie vor fünf Verwaltungen, deren Arbeit vom Exekutivrat
koordiniert werden sollte220.
Im Bizonen-Parlament, dem indirekt gewählten Wirtschaftsrat, waren CDU/CSU und SPD mit je 20
Abgeordneten gleich stark vertreten. Die liberalen Landesparteien verfügten über vier, die KPD über drei,
das Zentrum und die Deutsche Partei über je zwei und die WAV aus Bayern über einen Sitz. Im
Exekutivrat dagegen hatten die Vertreter der SPD sechs Stimmen, die Unionsparteien jedoch nur zwei.
Der angesichts dieser Konstellation zu erwartende Disput über die Person des Wirtschaftsdirektors sollte
sich als eine folgenschwere Weichenstellung für die spätere politische Entwicklung der Bundesrepublik
erweisen: Die beiden ersten Vorschläge des Exekutivrats nominierten für die Bereiche Wirtschaft und
Finanzen Kandidaten der SPD, für die drei übrigen Direktorenstellen Kandidaten der CDU. Nachdem die
beiden SPD-Kandidaten für das Wirtschaftsressort (Kubel und Potthoff) am 24. Juli 1947 mit 27:21
Stimmen vom Wirtschaftsrat abgelehnt worden waren, erklärte der sozialdemokratische
Fraktionsvorsitzende Schoettle, seine Partei werde alle Kandidaten zurückziehen und in die Opposition
gehen. Der Exekutivrat legte daraufhin mit Billigung der SPD eine dritte Liste bestehend aus CDU/CSUKandidaten vor, die mit 26, bzw. 27 Stimmen vom Wirtschaftsrat gewählt wurden. Das Amt des
Wirtschaftsdirektors fiel an Johannes Semler (CSU)221.
Nach den bisher vorliegenden Dokumenten betrachtete die SPD die Besetzung des Wirtschaftsdirektors
als “conditio sine qua non” für ihre “Regierungsbeteiligung” auf Zweizonen-Ebene. Sie hatte schon vor
Beginn der Direktorenwahlen dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU “gedroht”, bei Ablehnung ihres
Kandidaten für dieses Amt in die Opposition zu gehen. Von Seiten der CDU/CSU wurde offenbar als
Kompromiss vorgeschlagen, die SPD solle für das Amt des Wirtschaftsdirektors auf die
Wirtschaftsministerien in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen verzichten. Der Präsident des
Wirtschaftsrates Köhler (CDU), sprach sich in der Unionsfraktion sogar dafür aus, das Amt des
Wirtschaftsdirektors den Sozialdemokraten zu überlassen.
Sowohl Adenauer, der zweimal zu Fraktionssitzungen nach Frankfurt reiste, als auch Schumacher
drängten jedoch auf ein kompromisslose Haltung. Adenauer wollte nicht nur die Besetzung des
Wirtschaftsressorts erreichen, sondern auch einen klaren Trennungsstrich zur SPD ziehen. Er erwartete
hiervon die Stärkung seiner eigenen Position in der Auseinandersetzung mit dem christlich-sozialen
Flügel der CDU in der britischen Zone. Schumacher setzte in der damaligen Situation auf die
Oppositionsrolle und erhoffte sich hiervon Vorteile bei zukünftigen Wahlen. Einem Kritiker des
Oppositionskurses schrieb er wenige Tage nach der ersten Frankfurter Direktorenwahl: “Wir sind jetzt in
der Periode der zukünftigen Majoritätsbildung. Dieser Kampf ist noch längst nicht entschieden.
Gleichgültig, ob das ganze Deutschland oder sein Westen zuerst zum Zuge kommt, werden wir in
absehbarer Zeit die Umwandlung des Wirtschaftsrates in ein politisches Parlament erleben. Für diesen
220
H. Potthoff/ R. Wenzel: Handbuch politischer Institutionen und Organisationen 1945-1949, Düsseldorf
1983, S. 188 ff.
221
Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebiets 1947-1949,
Band 2, München-Wien 1977, 2. Vollversammlung vom 23./24. Juli 1947, S. 25-39
Augenblick müssen wir gerüstet sein.”222.
77
In der praktischen Arbeit des Wirtschaftsrates wurde der Gegensatz zwischen den beiden großen Parteien
durch den Druck der Probleme gemildert. Die CDU/CSU-Direktoren konnten zwar in der Regel mit der
Unterstützung der FDP und der Deutschen Partei rechnen, verfügten damit aber noch nicht über eine
arbeitsfähige Mehrheit. Die SPD-Fraktion bekannte sich ausdrücklich zur konstruktiven Opposition und
war bestrebt, die konkreten Entscheidungen im Wirtschaftsrat mitzugestalten. Von der sachlichen Seite
her war diese Kooperationspolitik unproblematisch, da es sich nicht um grundlegende wirtschaftliche
Entscheidungen, sondern um eine Verbesserung des Zuteilungs- und Lenkungsmechanismus, um die
optimale Verwaltung des akuten Mangels handelte. Aus politischer Sicht erwies sich die “konstruktive
Opposition” allerdings nicht als widerspruchsfrei. Acht Monate später erklärte der SPDFraktionsvorsitzende Schoettle in der Diskussion vor der Wahl Ludwig Erhards zum Wirtschaftsdirektor:
“Wir haben uns in vielen Fällen so intensiv an der Erarbeitung der Gesetzestexte beteiligt, dass mancher
von unseren Freunden im Lande den Eindruck hatte, dass wir die Arbeit machen und die anderen die
Regierung darstellen”223.
Durch die erneute Reform der Bizonen-Strukturen im Februar 1948 wurde die politische Konstellation
zunächst nicht verändert. Im Wirtschaftsrat saßen jetzt doppelt so viele Abgeordnete wie vorher. Der
Verteilungsschlüssel nach Ländern und Parteien blieb jedoch gleich, so dass sich die
Mehrheitsverhältnisse nicht verschoben. Der Exekutivrat wurde durch einen Länderrat ersetzt, der
aufgrund seiner geänderten Kompetenzen als zweite Kammer anzusehen war. Er bestand aus je zwei
Vertretern der Landesregerungen, hatte das Recht der Gesetzesinitiative sowie ein aufschiebendes
Vetorecht gegen Gesetzesvorhaben des Wirtschaftsrats. Die fünf Direktoren der Verwaltungen wurden zu
einem regierungsähnlichen Verwaltungsrat zusammengefasst, an dessen Spitze ein Oberdirektor stand.
Die Sozialdemokratische Partei beschloss bereits vor Konstituierung des erweiterten Wirtschaftsrats, in
der Opposition zu bleiben. Über die Besetzung des Oberdirektors gab es lange Diskussionen innerhalb der
CDU/CSU sowie mit der FDP, die den früheren Reichsminister Dietrich als eigenen Kandidaten
präsentierte. Schließlich wurde der Kölner Oberbürgermeister Hermann Pünder (CDU) gewählt. Er erhielt
allerdings nur 40 Stimmen von den insgesamt 104 Abgeordneten des Wirtschaftsrats. Seine Bestätigung
im Länderrat erfolgte mit der klaren Mehrheit von 14 zu zwei Stimmen, d. h. mit der Zustimmung mehrerer sozialdemokratischer Vertreter. Die Direktoren der Verwaltungen wurden in ihren Ämtern
bestätigt. Lediglich für das Wirtschaftsressort musste ein neuer Direktor gefunden werden: Der CSUWirtschaftdirektor Johannes Semler hatte am 4. Januar 1948 in Erlangen auf einer Parteiveranstaltung die
amerikanische Besatzungsmacht kritisiert und die Maislieferungen aus den USA als “Hühnerfutter”
bezeichnet. Er wurde daraufhin trotz aller Rechtfertigungsversuche von den Militärgouverneuren Clay
und Robertson wegen “malicious opposition to the Occupying Powers” entlassen224.
Die Suche nach einem Nachfolger für Semler verlief ähnlich wechselvoll wie die Nominierung des neuen
Oberdirektors. In der CDU/CSU-Fraktion zog man zunächst fünf Kandidaten in die engere Wahl, von
denen der DP-Politiker und spätere Bundesverkehrsminister Seebohm favorisiert wurde. Die FDP trat für
den parteilosen liberalen Wirtschaftsfachmann Ludwig Erhard ein und erhob dessen Wahl zur Bedingung
für die weitere Zusammenarbeit mit der CDU/CSU. Erhard war bis Ende 1946 bayerischer
222
Vgl. die Details in: Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone ...S. 368 ff.; Die
CDU/CSU im Frankfurter Wirtschaftsrat. Protokolle der Unionsfraktion 1947-1949, Düsseldorf 1988, S.
28 und 43-55 sowie C. Stamm (Hrsg.): Die SPD-Fraktion im Frankfurter Wirtschaftsrat 1947-1949, Bonn
1993, S. 7 ff. Hier S. 18 f. das zitierte Schreiben Schumachers an Berger vom 7. 8. 1947.
223
G. Ambrosius: Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft... S. 141 f.; Wörtliche Berichte... 12.
Vollversammlung vom 2. 3. 1948, S. 331
224
W. Benz: Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik. Stationen einer Staatsgründung 1946-1949,
Frankfurt 1984, S. 95 ff. und J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General L. D. Clay. Germany 1945-1949,
Bloomington-London 1974, Vol II, S. 528
78
Wirtschaftsminister gewesen und leitete zu Beginn des Jahres 1948 die “Sonderstelle Geld und Kredit”,
welche sich mit der Vorbereitung der Währungsreform befasste. Aus Sicht der FDP war er in fachlicher
und politischer Hinsicht geeignet und erklärte sich auch ohne Zögern bereit, das Amt des Wirtschaftsdirektors zu übernehmen. Trotzdem verlief seine Wahl nicht reibungslos: Jakob Kaiser reiste aus
Berlin an, um die CDU/CSU-Fraktion von der Wahl des liberalen Wirtschaftsfachmanns abzubringen.
Zugunsten der Zusammenarbeit mit der FDP verzichtete die CDU/CSU schließlich auf die Nominierung
Seebohms und entschied sich für Erhard. “Die verschiedentlich gehegten Bedenken wurden zugunsten der
Fraktionsdisziplin zurückgestellt” - heißt es im Fraktionsprotokoll225. Die FDP besaß in dieser Situation
ein wirksames Druckmittel, denn nur mit ihrer Zustimmung war es möglich, die leeren Stimmzettel der
SPD und der KPD in einer Geschäftsordnungsdebatte für ungültig erklären zu lassen. Keiner der
Direktoren erreichte bei der Wahl die absolute Mehrheit von 53 Stimmen. Ludwig Erhard wurde am 2.
März 1948 mit 48 Stimmen zum Wirtschaftsdirektor gewählt226.
Die Wahl Erhards verstärkte die Bindungen zwischen der CDU/CSU und der FDP im Wirtschaftsrat. Eine
formelle Koalition wurde jedoch nicht geschlossen. Der Fraktionsvorsitzende der Union, Holzapfel,
rechnete lediglich mit einer “teilweisen Unterstützung” von Seiten der Freien Demokraten. Das wichtigste
Ergebnis der Wahl des liberalen Wirtschaftsdirektors war die Gewichtsverlagerung in der Unionsfraktion
zugunsten des Wirtschaftsflügels. Die Reaktion in der CDU/CSU auf die Grundsatzrede Erhards vor dem
Wirtschaftsrat am 21. April 1948 fiel eher zurückhaltend aus. Bezeichnend war, dass in der anschließenden Aussprache kein Gewerkschaftsvertreter aus der Unionsfraktion das Wort ergriff. Mit der
Wahl Erhards vergrößerte sich auch der Abstand zwischen den beiden großen Parteien. Der SPDFraktionsvorsitzende erklärte: “Die Fronten sind klar” und schloss jede Verständigung mit der CDU/CSU
aus. Diese vorschnelle Polarisierung unterstellte dem “Regierungslager” jedoch eine Homogenität, die
zum damaligen Zeitpunkt keineswegs vorhanden war.
Die forschen wirtschaftspolitischen Schritte Erhards unmittelbar vor und nach der Währungsreform vom
Juni 1948 wurden innerhalb der CDU/CSU mit Distanz beobachtet. Dies gilt auch für Konrad Adenauer,
der in einem Brief an Erhard vom 9. August seine Besorgnis wegen der “Preissteigerungen” äußerte. Er
ermahnte den Wirtschaftsdirektor, auch an die Folgen für die bevorstehenden Kommunalwahlen in
Nordrhein-Westfalen zu denken227. Als der Preisauftrieb anhielt, nahmen die kritischen Stimmen aus dem
Unionslager zu. Paul Bausch, der stellvertretende CDU-Vorsitzende in Nord-Württemberg, forderte z. B.
Ende August 1948 einen Kurswechsel in der Frankfurter Politik und sprach sich für eine Zusammenarbeit
mit der SPD aus. Erhard wurde eingeladen, seine Politik auf dem Parteitag der CDU in der britischen
Zone am 29. August zu erläutern. Er interpretierte hier die Preissteigerungen als Übergangserscheinungen
und stellte ein deutsches Utility-Programm in Aussicht, welches die wichtigsten Gebrauchsgüter zu
mäßigen Preisen auf den Markt bringen sollte. Erhard bezeichnete bei dieser Gelegenheit sein Konzept
erstmals als “soziale verpflichtete Marktwirtschaft” und vertrat die Auffassung, die
Einkommensunterschiede könnten in Zukunft “nur relativ schwach” sein, blieben aber als Leistungsanreiz
unverzichtbar. Er verteidigte in seinem Referat die Warenhortung als notwendiges Element der Währungsreform und stellte in Aussicht, dass die “Sünder” im Zuge des Lastenausgleichs “ihrer Früchte
wieder beraubt werden”.
Die Reaktion des CDU-Zonenparteitags auf die Rede Erhards war offenbar gemischt: Das Protokoll
verzeichnet mehrfach Zustimmung; andererseits gab es skeptische Kommentare, insbesondere von
Vertretern der Sozialausschüsse. Johannes Albers warnte in seinem Korreferat vor schweren sozialen
225
Die CDU/CSU im Frankfurter Wirtschaftsrat ... S. 157
226
V. Hentschel: Ludwig Erhard . Ein Politikerleben, München 1996, S. 53 f.; Wörtliche Berichte ... 12.
Vollversammlung vom 2. März 1948, S. 322-342
227
Wörtliche Berichte ... 14. Vollversammlung am 21. 4. 1948, S. 436-455; Adenauer. Briefe 1947-1949, o.
O., o. J., S. 287
79
Konflikten, falls die Preis den Löhnen “davonlaufen”. Die Bevölkerung müsse zu der Überzeugung
kommen, “dass es nicht nur für einzelne Kreise, sondern für alle aufwärts geht”. Bezeichnend ist auch,
dass Konrad Adenauer in seinem ausführlichen Einführungsreferat sowie in seinem Schlusswort das
Thema Wirtschaftspolitik aussparte und Ludwig Erhard nicht einmal erwähnte. Die Resolution des
Parteitags sprach sich zwar für die “konsequente Fortsetzung des von der CDU im Wirtschaftsrat
eingeschlagenen Weges” aus, monierte aber “Missstände in der Preisgestaltung” und forderte die
Bekämpfung des Preiswuchses228. Dass Adenauer Erhards Rede als “ausgezeichnete Empfehlung für den
Wahlkampf” bezeichnete und ihren Druck veranlasste, ist eine Legende229. Auch das Urteil eines
Adenauer-Biographen: ”Erhard kommt großartig an”, lässt sich angesichts des Protokolls kaum
nachvollziehen230
In Frankfurt kritisierte vor allem der Länderrat mit Unterstützung der CDU/CSU-Minister die
Preisentwicklung. Die Länderkammer der Bizone geriet hierdurch zunehmend in Opposition zur Mehrheit
des Wirtschaftsrates, die Erhard weiterhin unterstützte. In mehreren Landtagen fanden im Herbst 1948 wenige Wochen nach Zusammentritt des Parlamentarischen Rates - Preisdebatten statt. Die Kritik aus der
bayerischen CSU an Erhard und am Ernährungsdirektor Schlange-Schöningen hatte in dieser Situation
einen nicht zu überhörenden verfassungspolitischen Beigeschmack, denn sie verband sich mit der Kritik
am “Frankfurter Zentralismus”231.
Auch außerhalb der Parteien und Parlamente sank die Zustimmung zur Politik des Wirtschaftsdirektors: In
mehreren Städten demonstrierten Tausende gegen die “Wucherpreise”. Am 30. Oktober 1948 kam es in
Stuttgart nach einer Gewerkschaftsveranstaltung zu Ausschreitungen, bei denen Scheiben zu Bruch
gingen und amerikanische Autos mit Steinen beworfen wurden. Der US-Militärgouverneur Clay reagierte
mit einem mehrtägigen Ausgehverbot für die gesamte Bevölkerung der Stadt232. Die Gewerkschaften
planten im Herbst 1948 einen Generalstreik aus Protest gegen die Frankfurter Wirtschaftspolitik. Die
Stuttgarter Demonstrationen und die Reaktion Clays waren schlechte Vorzeichen für dieses Unternehmen,
denn die Gewerkschaftsführung befürchtete Auflagen oder sogar ein Verbot durch die Besatzungsmächte.
Nach einer Besprechung am 8. November stimmten die beiden Militärgouverneure Clay und Robertson
zu, “da die Demonstration gewerkschaftlichen und keinen politischen Charakter habe”.
Der Streik fand am 12. November 1948 statt und war auf 24 Stunden befristet. Kundgebungen und
Versammlungen wurden mit Rücksicht auf die Stuttgarter Vorgänge nicht angesetzt. Ein
Unterstützungstelegramm des FDGB aus der sowjetischen Zone, welches den “Einsatz” von 9 Millionen
Gewerkschaftlern gegen die “Reaktion” anbot, hatte vor dem Hintergrund der Berliner Blockade den
entgegengesetzten Effekt. Wegen der Abwertung ihrer Guthaben durch die Währungsreform konnten die
Gewerkschaften auch keine Streikunterstützung zahlen. Trotz der einschränkenden Bedingungen
beteiligten sich in der Bizone mehr als 9 Millionen Arbeitnehmer und damit etwa 80 % der Beschäftigten
am Streik.
Der Streikaufruf der Gewerkschaften forderte die Verkündung des wirtschaftlichen Notstandes und hatte
durchaus politischen Charakter. Ein Lastenausgleich, der den Sachwertbesitz und die Sachwertgewinne
aus der Währungsreform erfasst, stand ebenso auf der Wunschliste wie die Überführung der
Grundstoffindustrie in Gemeineigentum und die gleichberechtigte Mitwirkung der Gewerkschaften in
228
V. Hentschel: Ludwig Erhard ... S. 81 f. sowie die Texte in: Konrad Adenauer und die CDU der britischen
Besatzungszone.... S. 581-713
229
So T. Eschenburg u. a.: Jahre der Besetzung 1945-1949, Stuttgart-Wiesbaden 1983, S. 437 f.
230
H.-P. Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 602
231
G. Ambrosius: Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft... S. 186 f.
232
L. D. Clay: Decision in Germany, Westport 1970 (Reprint von 1950), S. 296 f.
80
allen Organen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung233. Im Dezember 1948 vertraten nach einer
Befragung 70 % der Westdeutschen die Auffassung, die Behörden sollten die Preise wieder kontrollieren.
Erhard war aufgrund der Preissteigerungsrate, wie sein Biograph unter Berufung auf die Umfrageergebnisse des Allensbacher Instituts feststellt, “unversehens zum unpopulärsten Mann in Deutschland”
geworden234.
Auch die Unterstützung der Parteien, die für die Zweizonen-Wirtschaftspolitik verantwortlich zeichneten,
ließ in der Bevölkerung zu wünschen übrig: Die seit Januar 1946 durchgeführten Befragungen der
amerikanischen Militärregierung in ihrer Zone zeigen einen Rückgang der CDU/CSU Befürworter von 46
% im März 1946 auf 24 % Anfang August 1948. Bis Ende August sank die Unterstützung der
Unionsparteien erneut bis auf 20 %. Auch die SPD-Kurve in der US-Zone war leicht rückläufig, nachdem
die Partei im Januar/ Februar 1947 mit 38 und 37 % ihren Höchststand erreicht hatte. Im August/
September 1948 lagen die Sozialdemokraten aber 1 - 3 % vor den Unionsparteien235.
Die Umfragen der Besatzungsmacht waren “restricted” und den deutschen Politikern kaum bekannt. Diese
orientierten sich in erster Linie an Wahlergebnissen. Nachdem der Parlamentarische Rat seine Beratungen
aufnahm, fanden zunächst am 17. Oktober 1948 in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen statt. Die
CDU blieb hier stärkste Partei, musste aber gegenüber den Kommunalwahlen von 1946 deutliche Verluste
hinnehmen (-7,4 % in den Gemeinden, -5,4 % in den Ämtern und -8,4 % in den Kreisen). Insgesamt
verlor die CDU ca. 6.000 Mandate. Die SPD schnitt 3 - 4 % besser als bei den 1946er Wahlen ab und
gewann ca. 1.500 Mandate hinzu. Die Zentrumspartei und die FDP konnten ihren Stimmenanteil teilweise
bis auf 12,2 % bzw. 6,9 % steigern.
Bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein, die eine Woche später stattfanden, konnte die CDU
ihren Stimmenanteil in den Kreisen leicht und in den Gemeinden deutlich verbessern (+5,6 %). Die SPD
hielt ihre Position und lag gleichauf mit den Christdemokraten. Die Länder der französischen
Besatzungszone wählten am 14. November 1948 ihre Gemeinde- und Kreisvertretungen neu. Im südlich
gelegenen Baden verlor die CDU als BCSV ca. 10 % der Stimmen und ca. 1000 Mandate. Die SP (auf
französisches Insistieren noch ohne D) gewann 6,9 % und 8 % hinzu, während die Demokraten (später
FDP) mit 13,6 % und 19,1 % ihre starke Position behielten. In Württemberg - Hohenzollern waren die
CDU Verluste mit ca. 20 % noch deutlicher: Ihr Anteil bei den Gemeinderatswahlen sank von 38,3 % im
Jahre 1946 auf 20 %. In den Kreisen, wo die Wahl am 5. Dezember nachgeholt wurde, kam die CDU nach
62,8 % für 1946 nur noch auf 41 %. Die SPD musste in Württemberg-Hohenzollern leichte Verluste
hinnehmen, bewegte sich aber mit 10,5 % und 15,2 % auf niedrigem Niveau. Im dritten Land der
französischen Besatzungszone, in Rheinland-Pfalz, gab es am 14. November ebenfalls deutliche CDUVerluste: von 45,2 % auf 26,3 % in den Gemeinden und von 54,9 % auf 44,6 % in den Kreisen. Die
Sozialdemokraten kamen in den Gemeinden auf 25,2 % (plus 0,7 % gegenüber 1946) und in den Kreisen
34,1 % (plus 3,9 %).Bei den Kommunalwahlen in Niedersachsen am 28. November 1948 war die CDU
wieder erfolgreich und verbesserte sich in den Gemeinden von 15 % im Jahre 1946 auf 22,7 %. Auch in
den Kreisen schnitt sie mit 24,3 % etwas besser ab als 1946 (22,5 %). Die SPD verzeichnete hier leichte
Verluste, lag aber mit 39, 6 % (Kreistage) und 36,4 % (Gemeinden) immer noch deutlich vor der Union.
Bemerkenswert war in Niedersachsen das gute Resultat der NLP (später Deutsche Partei) mit 19,1 % bzw.
20,0 %. Den Schlusspunkt für 1948 setzten die Stadt- und Bezirksverordnetenwahlen in West-Berlin, das
damals durch die Luftbrücke versorgt wurde: Am 5. Dezember gewann die SPD hier 64 % der Stimmen
und steigerte sich gegenüber 1946 um nahezu 16 %. Die CDU kam auf ca. 19 % und musste gegenüber
233
G. Beier: Der Demonstrations- und Generalstreik vom 12. November 1948, Frankfurt/M.- Köln 1974, S.
34 ff.; E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung 1945-1952, Frankfurt 1970, S. 141 ff.
234
V. Hentschel: Ludwig Erhard... S. 74; E. Noelle/ E. P. Neumann: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 19471955, Allensbach 1956, S. 154; W. A. Boelcke: Die Kosten von Hitlers Krieg, Paderborn 1985, S. 202 f.
235
A. J. Merritt/ R. L. Merritt: Public Opinion in Occupied Germany, Urbana usw. 1970, S. 48 f.
81
der vorangehenden Wahl Verluste von etwa 2,5 % hinnehmen. Bemerkenswert beim Berliner Ergebnis
ist das gute Abschneiden der FDP, deren Wählerschaft von 9,3 % bzw. 9,4 % im Jahre 1946 auf 16,1 %
anstieg236.
In den ersten Monaten der Bonner Grundgesetzberatungen bestand demnach in den wichtigen Fragen der
Koalitionspolitik, der Wahlchancen und der Wirtschaftpolitik eine offene Situation: Die Zusammenarbeit
von CDU/CSU, DP und FDP im Zweizonen-Wirtschaftsrat erscheint aus späterer Sicht zwar als
Vorentscheidung. Im Herbst 1948 betrachteten aber die Politiker aller Parteien die Frankfurter
Wirtschaftspolitik mit Vorbehalten. Der parteilose Wirtschaftsdirektor Erhard war in der CDU/CSU
umstritten, und die Fortsetzung der Zusammenarbeit von Unionsparteien, Deutscher Partei und den
Liberalen im Wirtschaftsrat war keineswegs sicher. Die Deutsche Partei kündigte Ende August 1948
sogar ihre Fraktionsgemeinschaft mit der Union und begründete dies mit Differenzen in der Agrar- und
Sozialpolitik237.
Im Grunde hatte nur die SPD eindeutig Position bezogen, wenn man von der grundsätzlich ablehnenden
Haltung der beiden KPD-Abgeordneten im Wirtschaftsrat absieht. Bei der ersten Direktorenwahl vom Juli
1947 vertraten die Sozialdemokraten fragwürdige Maximalforderungen. Statt alle Wirtschaftsministerien
in den Ländern und das Amt des Wirtschaftsdirektors besetzen zu wollen, wäre auch ein
personalpolitischer Kompromiss mit der CDU/CSU in Frankfurt möglich gewesen. Das Angebot der
CDU, das Direktorenamt für Wirtschaft den Sozialdemokraten zu überlassen, falls diese auf zwei oder
drei Landeswirtschaftsministerien verzichten, erscheint rückblickend als eine versäumte Gelegenheit,
wenn es denn ernst gemeint war. Die SPD hätte aufgrund ihrer starken Position im Exekutivrat aber die
Möglichkeit gehabt, diesen oder einen anderen Kompromiss mit der CDU/CSU durchzusetzen. Statt
dessen entschied man sich zu einem Zeitpunkt für die Oppositionsrolle, als der Marshall-Plan gerade
angekündigt war und alle wirtschaftspolitischen Entscheidungen von Gewicht noch von den
Besatzungsmächten getroffen wurden. Die Begründung für den freiwilligen Schritt in die Opposition
lautete, die Wirtschaftspolitik der Union und ihrer Hilfstruppen werde scheitern. Die SPD bleibe hiervon
unbelastet und könne danach die ersten westdeutschen Wahlen aufgrund ihrer guten Ausgangsposition für
sich entscheiden. Diese vom Parteivorsitzenden Kurt Schumacher durchgesetzte Linie war in ihrer
Begründung hypothetisch und hatte nach außen hin einen vulgär-marxistischen Beigeschmack. Der
wichtigste Grund für Schumachers Haltung dürfte seine Überzeugung gewesen sein, die CDU (die “große
Herde”) sei keine Parteigründung von Dauer. In ihrer Frankfurter Politik sei sie eine “starre Rechtspartei”,
führe sich aber in ihrer Sprache als soziale Mittelpartei auf, erklärte er vor dem SPD-Parteitag im
September 1948238.
Schumachers Begründung konnte die Widersprüche der SPD-Politik in Frankfurt nicht ausräumen: Die
angekündigte “konstruktive Opposition” lief auf eine Politik des “als ob” hinaus. Sie wollte auf eine
Mitwirkung nicht verzichten, um die Voraussetzungen für zukünftige Reformen im sozialdemokratischen
Sinne zu schaffen, betonte aber andererseits die Abgrenzung zum gegnerischen Lager, das in der
damaligen Situation noch gar kein Lager war. Diese inkonsequente Haltung veranlasste z.B. die
sozialdemokratische Fraktion im Wirtschaftsrat, das Bewirtschaftungsnotgesetz abzulehnen und wenig
später den Durchführungsverordnungen zum Gesetz zuzustimmen. Das “Leitsätzegesetz”, welches den
Wirtschaftsdirektor Erhard nach der Währungsreform zur Aufhebung der Bewirtschaftung ermächtigte,
wurde von der SPD-Fraktion ebenfalls abgelehnt, während die sozialdemokratischen Politiker im
Länderrat zustimmten239.
236
H. Potthoff/ R. Wenzel: Handbuch... S. 334 ff.
237
Die CDU/CSU im Frankfurter Wirtschaftsrat... S. 26
238
Kurt Schumacher: Reden-Schriften-Korrespondenzen 1945-1952, hrsg. v. W. Albrecht, Bonn 1985, S. 582
u. 607
239
C. Stamm (Hrsg.): Die SPD-Fraktion... S. 70 f., 110 f. und 228; G. Ambrosius: Die Durchsetzung der
sozialen Marktwirtschaft...S.137-142 und 175-181 sowie zur Bewertung K. Klotzbach: Der Weg zur
82
Die Problematik der sozialdemokratischen Politik im Zweizonen-Wirtschaftsrat wurde allerdings erst
später deutlich. In den letzten Monaten des Jahre 1948 waren Parteipolitik und Wirtschaftspolitik in der
Schwebe. Dies gilt auch für die politische Zukunft des Frankfurter Wirtschaftsdirektors. Ein
Stimmungsumschwung trat erst zu Jahresbeginn 1949 ein: Der Preisauftrieb ließ nach, die Löhne
begannen langsam zu steigen, und das nächste Problem der Wirtschaftsentwicklung, die zunehmende
Arbeitslosigkeit, war noch nicht spürbar. Erst zu diesem Zeitpunkt, als die Bonner Grundgesetzberatungen
bereits ihrem Ende zugingen, kam es zum “Bündnis” zwischen Erhard und der Union, dessen Motive
Volker Hentschel anschaulich geschildert hat. Erhard suchte eine Partei, die ihm nach Gründung der
Bundesrepublik die Fortsetzung seiner politischen Laufbahn und den Weg in das seiner Überzeugung
nach nur ihm zustehende Amt des Wirtschaftsministers sichern konnte. Führende Politiker der CDU
suchten nach einem für den ersten Bundestagswahlkampf geeigneten wirtschaftspolitischen Konzept.
Konrad Adenauer wandelte sich vom Skeptiker zum Befürworter der Politik des Wirtschaftsdirektors. Mit
Ehrhard und seiner Marktwirtschaft konnte man aus seiner Sicht den bevorstehenden
Bundestagswahlkampf führen und nebenbei das für viele in der CDU/CSU höchst lästige Ahlener
Programm in den Hintergrund treten lassen. Die enge Verbindung zwischen dem nach wie vor parteilosen
Wirtschaftsdirektor und der CDU wurde auf der Sitzung des CDU-Zonenausschusses der britischen Zone
am 25. Februar 1949 hergestellt. Während Adenauer bei der Vorstellung Erhards auf dessen Verbindung
mit der FDP anspielte, erklärte dieser zu Beginn seines Referats, daß er sich der CDU zugehörig fühle und
den bevorstehenden Wahlkampf für diese Partei bestreiten werde240.
Die von Erhard vertretene Wirtschaftspolitik war auch nach seinem “Bündnis” mit der CDU keineswegs
unumstritten: Mit Beginn des Jahres 1949 stabilisierten sich die Preise und die Kosten der Lebenshaltung
sanken angesichts ansteigender Löhne. Gleichzeitig stiegen jedoch die Arbeitslosenzahlen sprunghaft an.
Während die Erwerbslosenquote im letzten Quartal 1948 noch bei 5,3 Prozent lag, betrug sie zu Beginn
des Jahres 1949 8,0 Prozent und erhöhte sich bis zum ersten Quartal 1950 auf 12,2 Prozent. Zu den
ungelösten Problemen gehörte auch der ursprünglich zusammen mit der Währungsreform geplante
Lastenausgleich. Die Besatzungsmächte hatten eine reine Geldreform angeordnet, die den Sachbesitz
unangetastet ließ. Sie hatten den Wirtschaftsrat beauftragt, den Lastenausgleich bis zum Jahresende zu
regeln. Der Wirtschaftsrat begnügte sich jedoch mit einem Soforthilfegesetz und überließ die
abschließende Regelung dem zukünftigen Bundesparlament. Im November 1948, drei Monate nach dem
Soforthilfegesetz, waren bei einer Befragung in der amerikanischen Zone mehr als 80 Prozent von der
Durchführung des Lastenausgleichs überzeugt, mehr als die Hälfte hielten die Durchführung für
dringend241.
Noch im Januar des Jahres 1950 monierte die amerikanische Marshallplanverwaltung die
Beschäftigungspolitik der Bundesregierung und die passive Handelsbilanz. Zwei Wochen später legten
die Wirtschaftsberater der Alliierten Hohen Kommission eine kritische Analyse der westdeutschen
Wirtschaftspolitik vor, die kurz darauf im SPIEGEL publiziert wurde. Die Wirtschaftsberater
bezeichneten die Massenarbeitslosigkeit, die Investitionsschwäche und die unzureichenden Ausfuhren als
Hauptprobleme der westdeutschen Wirtschaft. Sie warfen der Bundesregierung vor, sie habe keines dieser
drei dringenden Probleme ernsthaft in Angriff genommen. Der Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950
schien die wirtschaftliche Situation zunächst weiter zu verschärfen. Die erhöhte Nachfrage nach Gütern
auf dem Weltmarkt löste aber in der zweiten Jahreshälfte von 1950 in Westdeutschland einen Boom aus.
Die Industrieproduktion und die Löhne stiegen erheblich, die Arbeitslosigkeit sank von 12,2 auf 8,2
Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis
1965, Berlin-Bonn 1982, S.110 ff. und 135 f.
240
V. Hentschel: Ludwig Erhard... S. 80 ff. sowie die Protokolle des Zonenausschusses in: Adenauer und die
CDU der britischen Besatzungszone... S. 803 und 838 f.
241
A. J. Merritt/ R. L .Merritt (Hrsg.): Public Opinion in Occupied Germany ... S. 287 f.
83
Prozent. Die Bundesrepublik schaffte (nach der Terminologie von Abelshauser) in diesem Jahr den
Übergang von der “Mangelwirtschaft” zur “Arbeitsgesellschaft”. Die “nostalgische Retrospektive” neigt
allerdings dazu, das “Wirtschaftswunder” vorzudatieren und mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948
beginnen zu lassen242.
2. Sozialisierung
Als Beleg für die These von der frühzeitigen Präjudizierung der Wirtschaftsordnung dient vor allem das
Scheitern der Sozialisierungsbestrebungen. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen hierbei die hessische
Sozialisierung aufgrund des Art. 41 der Landesverfassung und das Veto der britischen Militärregierung
gegen die vom Landtag Nordrhein-Westfalens beschlossene Überführung der Kohlenindustrie in
“Gemeineigentum”. Die Vorbehalte der amerikanischen Militärregierung gegen “public ownership”
veranlassten den stellvertretenden Militärgouverneur Clay bereits im Jahre 1946, gleichzeitig mit der
Volksabstimmung über die hessische Verfassung eine separate Abstimmung über den sogenannten
Sozialisierungsartikel anzuordnen. Beide Abstimmungen ergaben jedoch am 1. Dezember 1946 mit 76,8
% für den Verfassungsentwurf und 71,9 % für Art. 41 ein klares positives Votum.
Die hessische Landesregierung setzte für die in “Gemeineigentum” überführten Betriebe Treuhänder ein,
und der Landtag blieb bei seinen Beratungen über ein Ausführungsgesetz zunächst unbehelligt. Mit dem
Gesetz Nr. 75, das die britische und die amerikanische Militärregierung gemeinsam für die beiden Zonen
am 10. November 1948 in Kraft setzten, wurden jedoch der Kohlebergbau sowie die Eisen- und
Stahlindustrie aus der ohnehin dürftigen hessischen “Sozialisierungsmasse” herausgelöst. Da aufgrund
späterer Gerichtsurteile kommunale Betriebe sowie Klein- und Mittelbetriebe ebenfalls aus der
Treuhänderschaft entlassen wurden, blieben praktisch nur die Kasseler Verkehrsgesellschaft, fünf
Kleinbahnen, die Hessischen Braunkohlen- und Ziegelwerke sowie die Eisenerzeugung bei Buderus
übrig. Die Betriebe wurden später entweder eingestellt oder wegen mangelnder Rentabilität vom Lande
Hessen wieder “reprivatisiert”243.
Die hessischen Sozialisierungsbemühungen bildeten den Anlass für Legendenbildung: So wird in der
Literatur mehrfach behauptet, General Clay habe sein Veto gegen die Durchführung des Art. 41 der
Hessischen Verfassung eingelegt, was in dieser Form unzutreffend ist. Gimbel berichtet vom Einspruch
der amerikanischen Militärregierung gegen die Sozialisierung von Teilen der IG-Farben-Industrie. Die
Chemie war aber weder von Art. 41 noch von den Ausführungsbestimmungen betroffen244. Der
schwerwiegendste Eingriff in die hessische Sozialisierung, das britisch-amerikanische
Entflechtungsgesetz Nr. 75 vom 10. November 1948, erfolgte allerdings erst zu einem Zeitpunkt, als das
Grundgesetz im Parlamentarischen Rat bereits Gestalt annahm und die Bildung einer westdeutschen
Regierung für Beginn des Jahres 1949 erwartet wurde.
Die Ausführungsgesetzgebung zu Art. 41 der Hessischen Verfassung war bis dahin kaum
vorangekommen. Nach den Vorstellungen des hessischen Wirtschaftsministers Koch sollte die hessische
Sozialisierung als Modell für andere Länder und eine zukünftige Bundesgesetzgebung dienen. Er
erarbeitete mit seinen Mitarbeitern einen perfektionistischen Entwurf, der die Bildung von
Sozialgemeinschaften als Rechtsträger der in Gemeineigentum überführten Unternehmen vorsah. Das
Gesetz über die Sozialgemeinschaften wurde erst im Sommer 1948 im Kabinett ausführlich beraten und
scheiterte am 27. Oktober 1950 mit Stimmengleichheit (41 zu 41) im hessischen Landtag. Zur
Verzögerung trugen Interpretationsfragen des hessischen Verfassungstextes, wie etwa die Unterscheidung
242
W. Abelshauser: Die langen fünfziger Jahre, Düsseldorf 1987, S. 28 ff. und S. 78 sowie V. Hentschel:
Ludwig Erhard...S. 111 ff.
243
G. Winter: Sozialisierung in Hessen 1946-1955 (Kritische Justiz 7, 1974, S. 157-175)
244
J. Gimbel: The American Occupation of Germany, Stanford 1968, S. 117 und 292.
84
zwischen Stahl und Eisen erzeugenden und verarbeitenden Betrieben, bei. Ein Haupthindernis war die
hessische Diskussion über die Frage, ob die kommunalen Versorgungs- und Verkehrsbetriebe sich bereits
in Gemeineigentum befinden. Mit dem Ausbau der Zweizonen-Wirtschaftsverwaltung und dem
Gründungsprozess der Bundesrepublik wurde der Sinn einer auf Hessen beschränkten Sozialisierung
immer fragwürdiger, weil das Ziel nicht nur in der Enteignung, sondern vor allem im Aufbau neuer
Leitungs- und Mitbestimmungsstrukturen bestand. Dieses Ziel war aber ab 1947 nur oberhalb der
Länderebene zu realisieren245.
Das zweite Sozialisierungsbeispiel, die Kohleindustrie im Ruhrgebiet und um Aachen, hatte allerdings im
Unterschied zu Hessen höchste nationale und internationale Bedeutung. Die Besatzungsmächte und die
Nachbarstaaten Deutschlands bewerteten die Schwerindustrie an der Ruhr als das Hauptinstrument für die
deutsche Aggression im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Die Kontrolle dieses Industriekomplexes aus
Kohle, Eisen und Stahl schien aus wirtschaftlichen und politischen Überlegungen unverzichtbar zu sein.
Die britische Militärregierung beschlagnahmte am 22. Dezember 1945 zunächst die Ruhrbergwerke und
verwaltete sie durch die Besatzungsbehörde North German Coal Control (NGCC). Dieser Schritt war
zwar mit der Ankündigung verbunden, die Zechen würden den alten Eigentümern nicht mehr
zurückgegeben. Hinter dieser Erklärung standen aber zunächst keine Sozialisierungsabsichten. Die
Schwerindustrie an der Ruhr sollte nach den damaligen Planungen der britischen Regierung in einer
internationalen Holding-Gesellschaft zusammengefasst werden, an der die Besatzungsmächte und die
Anliegerstaaten zu beteiligen waren.
Da man die Sowjetunion als Besatzungsmacht von der Internationalisierung der Ruhr kaum ausschließen
konnte, verlor dieses Konzept mit dem zunehmenden Misstrauen Londons gegenüber der sowjetischen
Deutschlandpolitik an Bedeutung. Die Vereinigung von SPD und KPD zur SED unter dem Druck der
sowjetischen Militärregierung im April 1946 wurde von der britischen Regierung als Anzeichen für das
selbständige Vorgehen Moskaus in der eigenen Zone bewertet. Zur gleichen Zeit lehnte die Sowjetunion
im Alliierten Kontrollrat ein gemeinsames Export-Import-Programm für alle Zonen ab, während die
Einrichtung zentraler Verwaltungsstellen am Widerstand Frankreichs scheiterte. Im Foreign Office rückte
man unter dem Eindruck dieser Entwicklung von der Internationalisierung des Ruhrgebietes ab und suchte
nach einer britischen Lösung des Problems, die man im Vickers-Plan zu finden glaubte. Dieser von dem
Juristen Sir Geoffrey Vickers entwickelte Plan sah vor, dass die Schwerindustrie an der Ruhr in
deutschem Besitz bleiben, aber in “public ownership” überführt werden sollte.
Damit rückte die Sozialisierung in den Mittelpunkt der britischen Überlegungen. Zum Vickers-Plan
gehörte auch die Bildung eines neuen Landes in der britischen Besatzungszone. Es sollte als Rechtsträger
des öffentlichen Eigentums dienen und zur Ruhr-Industrie in einem ähnlichen Verhältnis stehen wie die
britische Regierung zum National Coal Bord. Auch der Vickers-Plan sah eine internationale Kontrolle
vor, die aber erst mit Beendigung des Besatzungsregimes eingerichtet werden und die britische Kontrolle
fortführen sollte246. Im Sinne dieser neuen Konzeption beschloss die Londoner Regierung bereits im Juni
1946 die Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Am 20. August 1946 wurde auch die Eisen- und
Stahlindustrie von der Militärregierung beschlagnahmt und, analog zu den Kohlezechen, der North
German Iron and Steel Control (NGISC) unterstellt. Am 22. Oktober 1946 gab der britische
Außenminister Bevin vor dem Unterhaus eine Erklärung zur Deutschlandpolitik ab, in der er versicherte,
die Ruhrindustrie werde nicht den Magnaten (magnates) zurückgegeben, die Hitler finanzierten und mit
der deutschen Militärmaschine eng verbunden waren. Sie solle vielmehr in öffentliches Eigentum des
245
H. Koch (Hrsg.): Die Sozialgemeinschaften. Entwurf des hessischen Sozialisierungsgesetzes mit
Begründung..., o. O., o. J. (1948); D. Gosewinkel: Adolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats
aus dem Geist der Sozialdemokratie 1945-1961, Bonn 1991, S. 95 ff.; K. Klotzbach: Der Weg zur
Staatspartei... S. 137 ff.
246
R. Steininger: Die Rhein - Ruhr - Frage im Kontext britischer Deutschlandpolitik, in: H. A. Winkler
(Hrsg.): Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945-1953, Göttingen 1978, S. 118 ff.
deutschen Volkes überführt werden (“owned and worked by the German people”)247.
85
In der Verwirklichung des Sozialisierungsziels war die britische Regierung aber keineswegs so
entschlossen, wie die Erklärung ihres Außenministers erwarten ließ. Dies lag zunächst an Differenzen
innerhalb des Kabinetts: Während Bevin dem neuen Land Nordrhein-Westfalen die Eigentumsrechte
übertragen wollte, plädierte der Deutschlandminister Hynd dafür, die Eigentumsfrage vorläufig offen zu
lassen und die Treuhänder für die Schwerindustrie in der britischen Zone durch den Zonenbeirat zu
ernennen. Die weitere Entwicklung wurde mehr und mehr von der kritischen Ernährungslage in der
britischen Besatzungszone und von den zunehmenden Kosten der Zone für den britischen Steuerzahler
bestimmt. Beide Probleme konnten nur gelöst werden, wenn die USA bei der Bildung der Bizone den
größten Teil der Finanzierung übernahmen. Zwischen Washington und London diskutierte man sogar den
Tausch der Besatzungszonen. Das Bizonen-Abkommen vom 2. Dezember 1946 erwähnte die
Sozialisierungsproblematik nicht. Die beiden Außenminister Bevin und Byrnes kamen nach der
Darstellung von Steininger überein, diese Frage auszuklammern, so dass die britische Regierung vor dem
Unterhaus erklären konnte, sie halte an ihrer bisherigen Politik in dieser Frage fest248.
Der erste Schritt der Britischen Regierung in diese Richtung, ein Kabinettsbeschluss vom Februar 1947
zur Ernennung deutscher Treuhänder (custodians) für die Betriebe an der Ruhr, stieß aber bereits auf
internationale Proteste. Die Niederlande, Belgien und Luxemburg verlangten eine Garantie der
Beteiligungen ihrer Unternehmen und Aktionäre an der Ruhrindustrie. Die französische Regierung
machte außerdem sicherheitspolitische Bedenken gegen die Konzentration der Eigentumstitel bei einer
deutschen Landesregierung geltend. In Paris hielt man an der Internationalisierung des Ruhrgebietes fest.
Die Londoner Regierung verschob unter dem Eindruck der Proteste die Ernennung von Treuhändern und
forderte von Frankreich sowie den Benelux-Staaten zunächst eine Übersicht ihrer Besitzstände an der
Ruhr. Eventuelle Entschädigungsansprüche durften nach Londoner Auffassung auf keinen Fall den
britischen Haushalt belasten249.
Von größerer Bedeutung für die Sozialisierungsfrage waren jedoch im Frühjahr 1947 die zunehmende
Wirtschaftskrise Europas und die Entschlossenheit der USA, diese Krise (auch im eigenen Interesse) zu
lösen. Die Wirtschaftskrise war nicht zuletzt durch eine Energiekrise bedingt, und die wichtigste
europäische Energiequelle stellte der deutsche Kohlenbergbau dar. Da die Förderleistung im Ruhrbergbau
im Frühjahr 1947 erneut absank, schien sich die Krise zu verschärfen. US-Außenminister Marshall
bezeichnete dementsprechend in seiner Rundfunkansprache im Anschluss an die Moskauer
Außenministerkonferenz die Kohleförderung als das vorrangige Problem des deutschen Wiederaufbaus250.
Gegen eine Veränderung der Eigentums- und Managementstrukturen in diesem sensiblen Bereich
sprachen aus amerikanischer Sicht nicht nur grundsätzliche Erwägungen, sondern vor allem die aktuelle
Notlage. Ende Juni 1947, wenige Wochen nach Ankündigung seines Plans, ließ Marshall seinem
britischen Kollegen mitteilen, er bewerte das britische Kohlenmanagement als “pathetisch”. Zur Frage der
Sozialisierung erklärte er: “time does not permit of experimentation”251.
Mit den Verhandlungen über die Revision des Bizonen-Abkommens vom 2. Dezember 1946 stieg der
247
Text bei B. Ruhm von Oppen (Hrsg.): Documents on Germany under Occupation 1945-1954, London
1955, S. 184.
248
R. Steininger: Die Rhein - Ruhr - Frage ..., S. 160.
249
H. Lademacher: Die britische Sozialisierungspolitik an Rhein und Ruhr, in C. Scharf/ H.-J. Schröder
(Hrsg.): Die Deutschlandpolitik Großbritanniens und die britische Zone 1945-1949, Wiesbaden 1979, S.
70 und 74 ff.
250
Rundfunkerklärung Marshalls vom 24.4.1947 in: B. Ruhm von Oppen (Hrsg.): Documents..., S. 219 ff.
251
FRUS 1947, Vol. II, S. 929.
86
amerikanische Einfluss proportional zu den erwarteten finanziellen Leistungen aus Washington. Auf
der Washingtoner Kohlenkonferenz vom August/ September 1947 beschlossen die USA und
Großbritannien die Einrichtung einer gemeinsamen Kohlekontrolle (US/UK Coal Control Group), die an
die Stelle der britischen NGCC trat. Unter ihrer Aufsicht wurde eine “Deutsche Kohlen-Bergbau-Leitung”
(DKBL) eingerichtet.
Zur Eigentumsfrage enthielt der Konferenzbericht jedoch “ only the vaguest reference”, indem er die USamerikanische Position erwähnte, eine Sozialisierung solle so lange aufgeschoben werden wie die
Kohleforderung ein Problem darstelle. Beide Regierungen waren der Auffassung, eine
Kohlesozialisierung zuzulassen, wenn sie von den Deutschen auf demokratischem Wege beschlossen
werde252. Außenminister Marshall äußerte gegenüber dem französischen Botschafter in Washington im
September 1947, für die britische Regierung sei offenbar die Sozialisierung (nationalisation) der Zechen
der wichtigste Punkt, während die USA die maximale Förderungsleistung als vorrangiges Ziel betrachte.
Alle übrigen Fragen könnten jedoch geklärt werden “ as soon as the coal begins to roll out of the Ruhr in
adequate volume”253.
Die im Sommer 1947 beginnenden Beratungen des Landtages von Nordrhein-Westfalen über ein Gesetz
zur Sozialisierung der Kohleindustrie standen deshalb von Anfang an unter ungünstigen Vorzeichen.
Vorgesehen war die Überführung der Zechen und Betriebe in das Eigentum des Landes und die
Einrichtung einer “Selbstverwaltung Kohle”. Deren Hauptorgan, der “Kohlerat”, sollte aus Vertretern des
Landtages, der Gewerkschaften, der Gemeinden und der Unternehmen gebildet werden. Nach
ausführlichen Beratungen und taktischen Manövern innerhalb der von Adenauer geführten CDU-Fraktion
lag das Gesetz schließlich am 6. August 1948 zur Schlussabstimmung vor und wurde mit den Stimmen
von SPD, KPD und Zentrum angenommen. Die FDP-Fraktion lehnte ab, und die CDU-Fraktion enthielt
sich der Stimme254. Auf der gleichen Sitzung wählte der Landtag von Nordrhein-Westfalen bereits die
Abgeordneten für den Parlamentarischen Rat. Am 23. August 1948 verweigerte die britische
Militärregierung ihre Zustimmung zum Sozialisierungsgesetz mit der Begründung, die Kohleindustrie
gehöre zum “nationalen Vermögen”. Über die zukünftige Eigentumsform könne deshalb nicht ein Land
allein, sondern nur eine repräsentative und aus freier Wahl hervorgegangene deutsche Regierung
(government) entscheiden. Diese Begründung der Ablehnung hatte der britische Militärgouverneur
Robertson bereits im Februar 1948 nach einem Gespräch mit seinem amerikanischen Kollegen Clay
entworfen255.
Dass die Politik der Washingtoner Regierung entscheidend für den vorläufigen Verzicht auf die
Sozialisierung der Kohleindustrie des Ruhrgebiets war, steht aufgrund der inzwischen geöffneten Archive
außer Zweifel. Umstritten ist, ob es sich hierbei um eine konsequente Politik der Wiederherstellung
privatkapitalistischer Verhältnisse oder um eine situationsbedingte Entscheidung handelt, die sich aus der
desolaten Wirtschaftslage Europas sowie aus den Beziehungen zwischen den Besatzungsmächten ergab.
Die Untersuchungen von John Gimbel, Dörte Winkler, Horst Lademacher, Rolf Steininger, Carsten
Lüders und Wolfgang Krieger zeichnen ein differenziertes Bild der US-amerikanischen Deutschlandpolitik: Auf der einen Seite traten der Kriegs- und der Marineminister (Patterson und Forrestal) sowie der
Militärgouverneur Clay und sein Wirtschaftsberater Draper aus ideologischen Gründen für die
Verzögerung und Verhinderung von Sozialisierungsmaßnahmen ein. Sie waren überzeugt, die Deutschen
selbst würden sich für das private Unternehmertum entscheiden, sobald sich ihre Versorgungssituation
verbessert. Marineminister Forrestal sah in der Sozialisierung sogar einen “opening wedge for
252
FRUS 1947, Vol. II, S. 962-966.
253
FRUS 1947, Vol. III, S. 746 f.
254
ausführlicher P. Hüttenberger: Nordrhein-Westfalen und die Entstehung seiner Parlamentarischen
Demokratie, Siegburg 1973, S. 410 ff.
255
H. Lademacher: Die britische Sozialisierungspolitik..., S. 85.
communism”256.
87
Im Außenministerium (State Department) war man jedoch der Auffassung, die Deutschen sollten über
ihre Wirtschaftsordnung selbst entscheiden. Ein Veto gegen eventuelle Sozialisierungsgesetze konnte
nach Ansicht des für Deutschland zuständigen Beamten Riddleberger nur Ressentiments gegen die USA
auslösen. Unter dem Eindruck der kritischen Situation des Frühjahres 1947 schloss sich das
Außenministerium jedoch der Linie des Kriegs- und Marineministeriums an und stimmte dem
aufschiebenden Veto gegen die Kohlesozialisierung zu. Marshall war nicht bereit, seinen
Wiederaufbauplan für Europa durch eine Reorganisation der Kohleförderung im Ruhrgebiet zu
gefährden257. Die Vorstellungen des amerikanischen Militärgouverneurs Clay gingen allerdings weiter:
Sein Mitarbeiter William Draper hatte vor der Washingtoner Kohlekonferenz vorgeschlagen, die Kohlesozialisierung für fünf Jahre aufzuschieben. Diese Forderung wurde von der britischen Delegation mit
Erfolg zurückgewiesen. Clay selbst meinte während der Konferenz resignierend, sie sei “ too obnoxious
to the British”258.
Teilweise neigen die Autoren dazu, die Intentionen Clays mit der amerikanischen oder mit der britischamerikanischen Politik gleichzusetzen. So wird im Widerspruch zum dokumentierten Konferenzergebnis
behauptet, die Washingtoner Kohlenkonferenz habe einen fünfjährigen Sozialisierungsstop
beschlossen259. Außerdem findet man in der Literatur häufig die These, der Marshall-Plan habe
Veränderungen der Eigentumsverhältnisse von Großunternehmen ausgeschlossen. Dieses Argument ist
wenig überzeugend, da sich nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den Empfängerländern
Frankreich und Italien ein erheblicher Wirtschaftssektor im öffentlichen Besitz befand.
Die Auffassung, der Ost-West-Konflikt habe zum Scheitern der deutschen und britischen
Sozialisierungspläne beigetragen, ist zutreffend, wenn man bei der Argumentation einen großen Bogen
schlägt. Die Londoner Deutschlandpolitik wäre möglicherweise bei einer funktionierenden
Viermächteverwaltung nicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten, und das Ruhrgebiet hätte sich im
Rahmen eines gesamtdeutschen Export-Import-Programms durchaus als Trumpfkarte der britischen
Politik erweisen können. Dies wiederum hätte der Londoner Labour-Regierung eine selbständige
Eigentumspolitik ermöglicht. Der Ost-West-Konflikt behinderte aus dieser Perspektive die britischen
Reformvorstellungen für die deutsche Wirtschaft. Die konkreten Anstöße für die wirtschaftspolitischen
Entscheidungen ergaben sich aber aus dem wachsenden Defizit der britischen Besatzungszone, aus der
europäischen Wirtschaftskrise und aus dem Entschluss Washingtons, das europäische und das
westdeutsche Problem durch ein breit angelegtes Hilfsprogramm zu lösen.
Die Sozialisierungsdiskussion war mit dem aufschiebenden Veto Robertsons gegen das nordrheinwestfälische Sozialisierungsgesetz aber keineswegs beendet. Die Position der britischen und der
amerikanischen Besatzungsmacht, eine zukünftige deutsche Regierung könne über die Eigentumsstruktur
der Großindustrie frei entscheiden, wurde mehrfach wiederholt und ist keineswegs als Lippenbekenntnis
zu bewerten. Auf der Londoner Sechsmächtekonferenz, die den Weg zur Gründung der Bundesrepublik
ebnete, spielte die Eigentumsstruktur an der Ruhr eine wichtige Rolle. Der britische Vertreter, Sir William
Strang, sprach sich gegen eine Internationalisierung der Besitzverhältnisse oder des Managements aus und
256
FRUS 1947, Vol. II, S. 928.
257
D. Winkler: Die amerikanische Sozialisierungspolitik in Deutschland 1945-1948, in: H. A. Winkler
(Hrsg.): Politische Weichenstellungen..., S. 105 f.
258
FRUS 1947, Vol. II, S. 964-966; J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General Lucius D. Clay..Vol. I... S.
413.
259
so W. Krieger: General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik, Stuttgart 1987, S. 298;
H. Thum: Mitbestimmung in der Montanindustrie, Stuttgart 1982, S. 30; J. Gimbel: The American
Occupation..., S. 158.
88
plädierte für “German public ownership of selected heavy industries”. Die französische Delegation und
die Vertreter der Benelux-Staaten traten demgegenüber für eine internationale Kontrolle der deutschen
Schwerindustrie ein. Der amerikanische Vertreter, Botschafter Douglas, bekräftigte jedoch die angloamerikanische Kompromissformel: Das deutsche Volk (“within such Germany as might be
reconstituted...”) werde die Frage der Sozialisierung frei entscheiden, wenn hieraus auch nach seiner
persönlichen Ansicht die Gefahr einer wirtschaftlichen Machtkonzentration in den Händen der Regierung
entstehen könnte260.
Während der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates die erste Lesung des Grundgesetzes in Angriff
nahm, trat das bereits erwähnte Entflechtungsgesetz Nr. 75 der britischen und amerikanischen
Militärregierung in Kraft (10. November 1948). Hier finden wir ebenfalls die Absichtserklärung, über das
Eigentum der Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie solle eine repräsentative und frei gewählte deutsche
Regierung (government) entscheiden. Die französische Regierung protestierte mit den bereits bekannten
Argumenten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der französische Außenminister Schumann
damals von einer bevorstehenden Sozialisierung der deutschen Schwerindustrie ausging. Er bezweifelte
am 18. November 1948 auf der Pariser Außenministerkonferenz und in anschließenden Gesprächen, dass
eine deutsche Regierung überhaupt privates Eigentum an diesen Industrien zulassen werde261.
Die Eigentumsfrage der Ruhrindustrien war demnach während der Beratungen des Parlamentarischen
Rates aus Sicht der drei Besatzungsmächte noch offen. Mit der Einigung der USA, Großbritanniens,
Frankreichs und der Benelux-Staaten über den Text des Ruhrstatuts am 28. Dezember 1948 änderte sich
diese Haltung nicht. Im gleichzeitig veröffentlichten Communique heisst es vielmehr ausdrücklich: “The
agenda of the meeting did not include the question of the final ownership of the industries concerned and
this question is in no way affected by the discussions or the draft agreement”262. Während die Bonner
Grundgesetzberatungen zu Ende gingen, bekräftigten der britische und der amerikanische Militärgouverneur ihre Haltung zu dieser Frage noch einmal in einem “Joint Statement” zur Mitbestimmung und
Sozialisierung vom 1. März 1949. Sie verwiesen auf die USA, wo man das private Unternehmertum
bevorzuge, und auf den öffentlichen Sektor in der britischen Industrie. In beiden Ländern könne die
Bevölkerung “from time to time” über die ihren Bedingungen entsprechende Unternehmensstruktur
entscheiden. Die Militärgouverneure fügten hinzu: “...so must you decide here in Germany”263.
Die Vermutung, mit dem Übergang zur Marktwirtschaft nach der Währungsreform vom 20. Juni 1948
hätte die Sozialisierungsfrage auf deutscher Seite an politischer Relevanz verloren, entspricht nicht der
damaligen Situation. Eine Umfrage der amerikanischen Militärregierung vom Februar 1949 zeigt, dass
eine Mehrheit der Deutschen die Sozialisierung (social ownership) der Ruhrindustrie befürwortete. In der
US-Zone sprachen sich hierfür 51 %, in Berlin 66 % und in Bremen 63 % der Befragten aus. Die
Rückgabe der Betriebe an private Eigentümer wurde zu diesem Zeitpunkt in der US-Zone nur von 31 %
der Befragten unterstützt (Berlin 25 %, Bremen 30 %)264.
260
FRUS 1948, Vol. II, S. 93/94 und S. 98-100.
261
FRUS 1948, Vol. II, S. 517-522 und 548.
262
Ebenda, S. 577 ff.
263
B. Ruhm von Oppen: Documents..., S. 366; anders T. Eschenburg u. a.: Jahre der Besetzung 1945-1949..
..S. 251: “Für die Besatzungsmacht war die Sozialisierungsfrage mit dem Gesetz Nr. 75 erledigt...”
264
Opinion Surveys Branch OMGUS, Report No 179, “German Desires and Expectations on Future
Ownership of the Ruhr Factories”, 1 July 1949 (Amerikahaus München)
89
3. Mitbestimmung
Die politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegsjahre um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer
werden ähnlich kontrovers interpretiert, wie die Bestrebungen zu Änderung der Eigentumsverhältnisse. In
der Weimarer Diskussion hatten sich die Gewerkschaften auf die überbetriebliche Mitbestimmung
konzentriert und unter Bezugnahme auf Art. 165 der Weimarer Reichsverfassung die gleichberechtigte
Mitwirkung in den wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörperschaften sowie bei der staatlichen Kontrolle
der Wirtschaft gefordert. Aufgrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik erblickten Parteien und Gewerkschaften nach 1945 in der “Demokratisierung des Betriebes”, d.h. in der
betrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer, ein Ziel von gleich großer Bedeutung. Der Alliierte
Kontrollrat beschloss am 10. April 1946 ein Rahmengesetz über Betriebsräte, welches vom
angelsächsischen Rechtsverständnis geprägt war. Die Einrichtung von Betriebsräten war demnach
freigestellt; ihre Aufgaben und Rechte sollten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt
werden265.
Die Gewerkschaften strebten jedoch eine verbindliche Regelung der Rechte der Betriebsräte sowie ihre
eigene Beteiligung an der innerbetrieblichen Mitbestimmung an. Sie konzentrierten sich deshalb auf
entsprechende Ermächtigungen in den Landesverfassungen und hieran anknüpfende Betriebsrätegesetze.
Hierbei konnten sie auf die Unterstützung der SPD, der KPD und großen Teilen der CDU rechnen.
Während die Landesverfassungen der amerikanischen Zone bereits im Dezember 1946 in Kraft waren,
zogen sich die Beratungen der Betriebsrätegesetze hin. Am hessischen Beispiel, das auch in dieser
Hinsicht Modellfunktion hatte, lässt sich die teilweise bewusst herbeigeführte Komplikation der Materie
deutlich nachvollziehen. Das hessische Betriebsrätegesetz wurde schließlich am 26. Mai 1948 vom
Landtag beschlossen. Am 10. Januar hatte bereits die Bremische Bürgerschaft ein Betriebsrätegesetz
verabschiedet, und am 18. August folgte ein entsprechendes Gesetz für Württemberg-Baden. In der
französischen Zone beschloss der badische Landtag am 24. September 1948 ein Betriebsrätegesetz sowie
ein Gesetz über Fachkommissionen, welches die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in wirtschaftliche
Fragen einschloss. Die Verabschiedung dieser Gesetze erfolgte vergleichsweise spät und zu einem
Zeitpunkt, als sich die Errichtung einer deutschen Regierung für die drei Westzonen bereits
abzeichnete266.
Die zeitliche Nähe zu den Grundgesetzberatungen bildete gleichermaßen den Anlass und die offizielle
Begründung für das Einschreiten der amerikanischen Militärregierung: Der amerikanische
Militärgouverneur Clay suspendierte Anfang September 1948 zunächst die Bestimmungen zur
wirtschaftlichen Mitbestimmung im hessischen und einen Monat später die entsprechenden Paragraphen
im württemberg-badischen Betriebsrätegesetz. Er übte ab Januar 1949 zusammen mit dem britischen
Militärgouverneur Robertson Druck auf den französischen Militärgouverneur Koenig aus, das badische
Mitbestimmungsgesetz nicht zu genehmigen. Koenig hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das
Betriebsrätegesetz unterzeichnet. Unter dem Eindruck der Einwände Clays lehnte er jedoch die
Zustimmung zum Gesetz über die Fachkommissionen ab. In Bremen verzichtete man offenbar von
vornherein auf Mitbestimmungsregelungen im Betriebsrätegesetz.
Das Hauptmotiv Clays war, ebenso wie in der Sozialisierungsfrage, seine Überzeugung von der
Überlegenheit des privaten Unternehmertums. Die Mitwirkung der Betriebsräte beim Management
gefährdete seiner Auffassung nach den Wiederaufbau und sei mit der Gefahr kommunistischer Einflüsse
verbunden. Er äußerte sogar die Auffassung, die Mitbestimmung der Arbeiter sei schädlicher für die
wirtschaftliche Entwicklung als die Sozialisierung (national ownership) von Betrieben. Zum Teil waren
seine Argumente aber pragmatisch begründet: Die zukünftige Bundesregierung konnte aus seiner Sicht
265
E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung ...S. 64 ff. und S. 90
266
A.R.L. Gurland: Die CDU/CSU. Ursprünge und Entwicklung bis 1953, Frankfurt 1980, S. 339 ff.; C.
Kleßmann: Betriebsräte und Gewerkschaften in Deutschland 1945-1952, in: H.A. Winkler
(Hrsg.):Politische Weichenstellungen... S. 67 ff. und E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung... S. 163 f.
90
nicht erfolgreich sein, wenn die Länder eine unterschiedliche Wirtschaftspolitik betrieben. Eine
Landesgesetzgebung zur Mitbestimmung hielt er deshalb für ebenso fragwürdig wie zur Sozialisierung.
Die späte Verabschiedung der Mitbestimmungsklauseln im Jahre 1948 erweckte bei ihm den Eindruck,
die Landespolitiker seien bestrebt, “ to get this legislation on the books”, bevor das westdeutsche
Grundgesetz in Kraft trete. Clay vermutete auch nicht ganz zu Unrecht, sein französischer Kollege Koenig
habe dem badischen Betriebsrätegesetz zugestimmt, um die wirtschaftspolitische Zuständigkeit der
Länder zu untermauern und die Grundgesetzberatungen in diese Richtung zu beeinflussen267.
Das Hauptargument der amerikanischen Militärregierung lautete mit Billigung der Washingtoner
Ministerien, zuerst müsse das bevorstehende Grundgesetz über die Zuständigkeiten zur Gesetzgebung in
Wirtschaftsfragen entscheiden. Falls die Mitbestimmung nicht in die Zuständigkeit des
Bundesgesetzgebers fallen, könnten die suspendierten Bestimmungen der Betriebsrätegesetze aus den
Ländern in Kraft treten. Obgleich Clay und seine Mitarbeiter jede gesetzliche Regelung im Bereich des
Managements gerne verhindert hätten, war die von ihnen verkündete Politik nur eine “policy of
postponement”, eine Aufschiebung der Entscheidung bis zum Zusammentritt eines westdeutschen
Parlaments. Die USA blieben auch nach der Gründung der Bundesrepublik bei dieser Linie: Wirtschaftsfragen wurden vom parlamentarischen Rat der konkurrierenden Gesetzgebung zugeordnet. Landesgesetze
waren demnach in diesem Bereich zulässig, solange der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen
Gebrauch machte. Der amerikanische Hohe Kommissar McCloy forderte deshalb im März 1950
Bundeskanzler Adenauer auf, für eine gesetzliche Regelung der Mitbestimmung zu sorgen. Am 7. April
1950 genehmigte McCloy das Inkrafttreten der von Clay suspendierten Mitbestimmungsklauseln des
hessischen und des württemberg-badischen Betriebsrätegesetzes. Er stärkte hiermit die Position der
Gewerkschaften und beschleunigte die Verhandlungen über die Montan-Mitbestimmung268.
In der britischen Besatzungszone nahm die Auseinandersetzung einen anderen Verlauf. Da es hier noch
keine Landesverfassungen gab, fehlte der Anknüpfungspunkt für eine gesetzliche Regelung. Im Sinne des
Kontrollratsgesetzes vom 10. April 1946 schlossen jedoch die Betriebsräte von 21 Betrieben bis zum
Herbst 1947 Vereinbarungen mit den Arbeitgebern. In mehreren Fällen wurden diese
Betriebsvereinbarungen durch Streiks erzwungen. Hinter der paritätischen Mitbestimmung blieben die
Resultate allerdings weit zurück. Dieses Ziel konnten die Gewerkschaften nur im Bereich der Eisen- und
Stahlindustrie erreichen. Die Betriebe dieser Branche wurden von der britischen Militärregierung am 20.
August 1946 beschlagnahmt und, wie bereits erwähnt, von der Besatzungsbehörde NGISC (North German Iron and Steel Control) kontrolliert. Die NGISC richtete mit der “Treuhandverwaltung” eine
deutsche Unterbehörde ein, die eine “Entflechtung” (decartelization) der Konzerne vorzubereiten und die
Aktien zu verwalten hatte.
Auf Einladung des Leiters der NGISC, Harris-Burland, fanden von November 1946 bis Januar 1947
mehrere Gespräche mit dem deutschen Leiter der Treuhandverwaltung, Dinkelbach, und der
Gewerkschaftsführung der britischen Zone statt. Hierbei einigte man sich auf die paritätische Besetzung
des Aufsichtsrats sowie auf einen Vertreter der Arbeitnehmer im Vorstand der “entflochtenen”
Unternehmen, der für Personal und soziale Fragen zuständig sein sollte. Die Initiative der britischen
Militärregierung zur Einführung einer Arbeitnehmermitbestimmung, die es in den verstaatlichten
Industrien Großbritanniens nicht gab, resultierte vorwiegend aus pragmatischen Überlegungen: Man
wollte auf diese Weise das Interesse der Arbeiter am Betrieb sowie an der Produktion erhöhen, damit die
Zahlungen aus dem britischen Haushalt für die eigene Besatzungszone reduziert werden konnten. HarrisBurland versicherte bei diesen Gesprächen mehrfach, die zu entflechtenden Betriebe würden den alten
Eigentümern nicht zurückgegeben.
267
E. Schmidt, ebenda, S. 161 ff.; J. Gimbel: The American Occupation... S. 236 f. sowie J. E. Smith (Hrsg.):
The Papers of General Lucius D. Clay... Vol. II...S. 689, 981, 989 f. und 1027.
268
H. Thum: Mitbestimmung in der Montanindustrie... S. 39 f.
91
Die Vertreter der Konzerne machten den Gewerkschaftlern im Januar 1947 weitgehende
Mitbestimmungsangebote in der Absicht, die Entflechtung doch noch zu verhindern oder zumindest zu
begrenzen. Diese Offerten kamen jedoch zu spät, denn zu diesem Zeitpunkt hatten sich die
Treuhandverwaltung und die Gewerkschaftsführung bereits über die Besetzung der Vorstands- und
Aufsichtsratsposten in den ersten vier der neu zu bildenden Unternehmen geeinigt. Bis März 1947 wurden
insgesamt 25 Eisen und Stahl produzierende Betriebe aus den alten Konzernen ausgegliedert. Ihre
Aufsichtsräte hatten elf Mitglieder, von denen je fünf die Interessen der Unternehmer und der
Arbeitnehmer vertraten. Das elfte Mitglied ernannte die Treuhandverwaltung. Im Vorstand der
Unternehmen wurde der Posten des Arbeitsdirektors eingerichtet. Er konnte nur mit Zustimmung der im
Aufsichtsrat sitzenden Betriebsräte und Gewerkschaftler besetzt werden269.
Die Entwicklung in der Kohleindustrie einerseits sowie bei Eisen und Stahl auf der anderen Seite verlief
damit unterschiedlich. Bei der Kohle stand das Ziel der Überführung in Gemeinwirtschaft im
Vordergrund. Das entsprechende Sozialisierungsgesetz des Landtages Nordrhein-Westfalen wurde aber
erst im August 1948 verabschiedet und scheiterte am aufschiebenden Widerspruch der amerikanischen
Besatzungsmacht. Die Mitbestimmungsregelung in der Eisen- und Stahlindustrie dagegen wurde bereits
anderthalb Jahre früher mit britischer Zustimmung beschlossen und blieb bestehen. In diesem
Zusammenhang wird oft übersehen, dass die zwischen Amerikanern und Engländern im Sommer 1947
vereinbarte Neuorganisation der Kohleindustrie ebenfalls eine Mitbestimmungsregelung beinhaltete: Dem
Leiter der Deutschen Kohlenbergbauleitung (DKBL), Heinrich Kost, stand ein Beirat zur Seite, der mit je
sechs Vertretern der Unternehmer und Arbeitnehmer paritätisch besetzt war. Von den sechs
Abteilungsdirektoren der DKBL wurden zwei auf Vorschlag der Gewerkschaften bestimmt270.
In der bereits erwähnten gemeinsamen Erklärung vom 1. März 1949 zu den “industrial relations in
Germany” nahmen der amerikanische und der britische Militärgouverneur auch zur Mitbestimmung
Stellung. Sie betonten die Entscheidungsfreiheit der Deutschen und erklärten noch einmal ihre Vorbehalte
gegen eine Regelung durch Landesgesetze, bevor die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern
entschieden sei. Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern über Mitbestimmung
könnten jedoch bereits vorher beschlossen werden271.
Hinsichtlich der Mitbestimmung in Großbetrieben bestand demnach zur Zeit der Grundgesetzbeartungen
eine ähnlich offene Situation wie in der Frage des Gemeineigentums. Die amerikanische Militärregierung
hatte zwar auf Länderebene die Mitbestimmungsklauseln der Betriebsrätegesetze suspendiert.
Entsprechenden Entscheidungen des Bundesgesetzgebers wollte und konnte sie jedoch nicht
widersprechen.
4. Öffentlicher Dienst
Unter dem Eindruck der kontroversen zeitgeschichtlichen Diskussion über die Eigentums- und
Mitbestimmungsfragen traten andere Bereiche der Nachkriegspolitik in den Hintergrund, obwohl sie für
die politische Struktur der Bundesrepublik eine gleich große Bedeutung haben sollten. Dies gilt z. B. für
den öffentlichen Dienst. Seine Neuordnung war zwischen den Deutschen und den Besatzungsmächten so
umstritten, dass dieser Konflikt die nicht unwesentlichen innerdeutschen Differenzen überlagerte. In der
Diskussion ging es um zwei Probleme, die miteinander eng verbunden waren: Einerseits um eine
grundsätzliche Neuordnung des deutschen Beamtentums, die vor allem von den Briten und Amerikanern
gefordert wurde, andererseits um das soziale Problem der “verdrängten” Beamten, welches vor allem die
269
E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung... S. 75-82; H. Thum: Mitbestimmung... S. 31-36.
270
G. Müller-List: Die Entstehung der Montanmitbestimmung, in: W. Först (Hrsg.): Zwischen
Ruhrkontrolle und Mitbestimmung, Köln 1982, S. 121-142, S. 218.
271
B. Ruhm von Oppen (Hrsg.): Documents... S. 365 f.
92
deutschen Politiker berührte. Die Bezeichnung “verdrängte Beamte” bezog sich zunächst auf alle
Beamten und Versorgungsempfänger (Pensionäre, Witwen, Kinder etc.), die aufgrund von Flucht und
Vertreibung oder wegen Auflösung des Dienstherren (z. B. des Deutschen Reiches) ohne Stelle oder
Bezüge waren. Später rechnete man auch die wesentlich kleinere Zahl derjenigen hinzu, die aufgrund von
Entnazifizierungsverfahren entlassen oder nicht wieder eingestellt wurden. Die verdrängten Beamten
wurden nach Kriegsende von den Ländern mit Übergangszahlungen versorgt. Die Beträge lagen aber weit
unter den Bezügen der Kollegen im Amt. Die Heimatvertriebenen forderten z. B. die Gleichstellung der
Pensionen von “Flüchtlingsbeamten” mit einheimischen Beamten.
Während die Sowjetische Militäradministration bereits im September 1945 das Deutsche Beamtengesetz
von 1937 aufhob und damit die Beamten durch Staatsangestellte ersetzte, versuchten die Briten und
Amerikaner, eine Reform des öffentlichen Dienstes mit Unterstützung der deutschen Parteien und
Parlamente zu erreichen. Die amerikanische Militärregierung wurde als erste initiativ und veranlasste die
Ministerpräsidenten ihrer Zone, bereits im Herbst 1946 (und damit vor der Wahl der ersten Landtage)
Beamtengesetze zu erlassen. Nach amerikanischen Vorstellungen sollten Personalämter eingerichtet, der
Unterschied zwischen Angestellten und Beamten beseitigt, und alle Stellen ausgeschrieben werden. Für
die Stellenbesetzung sollte die gegebenenfalls durch Prüfung festzustellende Qualifikation und nicht der
formale Bildungsabschluss entscheidend sein.
Die Umsetzung dieser Vorstellungen stieß jedoch in den Landesverwaltungen auf hinhaltenden und
erfolgreichen Widerstand. Die zuständigen Abteilungen der amerikanischen Militärregierung kritisierte
mehrfach die unzureichenden Kompetenzen der eingerichteten Personalämter, das de facto bestehende
Juristenmonopol, die Überbewertung formaler Schul- und Studienabschlüsse sowie die Bevorzugung
früherer nationalsozialistischer Beamter. Eine Änderung der deutschen Praxis konnten die USAmerikaner jedoch in ihrer Zone bis zu Gründung der Bundesrepublik nicht erreichen, obwohl sie von
den deutschen Gewerkschaften unterstützt wurden. Ein Grund hierfür war die starke Vertretung des “öffentlichen Dienstes” in Parteien und Parlamenten. Die Militärregierung hatte es versäumt, die Wahl von
Beamten in die Landtage im Sinne der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative zu
unterbinden. Der Landtag von Württemberg-Baden z. B. war zu dieser Zeit zu 48 % mit Beamten
besetzt272.
In der britischen Zone galt für die deutschen Behörden das von nationalsozialistischen Elementen
“gereinigte” Beamtengesetz von 1937, welches auch in der französischen Besatzungszone
weiterverwendet wurde. Die britische Militärregierung vertrat in ihrer Beamtendirektive vom Juni 1946
das Prinzip der Dezentralisierung: Die Parlamente in den Gemeinden, Kreisen und Ländern sollten jeweils
eigene Regeln für die Anstellung ihrer Bediensteten sowie für Beförderung, Entlassung, Bezahlung,
Pensionen usw. aufstellen. Auf diese Weise wollte man den traditionellen deutschen Beamtenapparat
auflösen.
Dieses Konzept war jedoch nach den Worten eines auf britischer Seite Beteiligten “one of those British
ideas which could never have worked”. Es stieß auf energischen Widerstand der deutschen Parteien und
war offenbar auch objektiv unpraktikabel. Darüber hinaus deckten sich die britischen Vorstellungen mit
den amerikanischen, legten aber größeren Wert auf die parteipolitische Neutralität der Bediensteten im
Sinne des eigenen “Civil Service”. Die historische Begründung der Reformen aus britischer und
amerikanischer Sicht war ebenfalls ähnlich. Der preußische Beamte hatte nach den Worten des für
Verwaltungsfragen zuständigen Mitglieds der britischen Militärregierung bei aller Gewissenhaftigkeit
einen entscheidenden Nachteil: Er war kein Zivilist, sondern “a soldier in civilian clothes”273.
272
W. Benz: Versuche zur Reform des öffentlichen Dienstes in Deutschland (VjZG 29, 1981, S. 216-245) S.
220-225
273
R. Ebsworth: Restoring Democracy in Germany, London-New York 1960, S. 142 ff.
93
Die Landespolitiker der britischen Zone verhielten sich gegenüber diesen Reformvorstellungen genauso
zurückhaltend wie ihre Kollegen in der amerikanischen Zone. Widerstand regte sich nicht nur bei der
alten Beamtenschaft und im Adenauer-Flügel der nordrhein-westfälischen CDU. Auch
sozialdemokratische Landesminister legten Wert auf die Einheitlichkeit des öffentlichen Dienstrechts.
Führende Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher und der nordrhein-westfälische Innenminister Walter
Menzel wandten sich außerdem gegen die von den Briten geforderte politische Neutralisierung des
Beamtentums. Hierdurch werde die bis 1945 vorherrschende, angeblich “unpolitische” Beamtenschaft
gestärkt und der Einfluss der Mitglieder demokratischer Parteien in den Verwaltungen geschwächt. Auch
die Gewerkschaft ÖTV meldete Widerspruch gegen die Reformbestrebungen an, weil sie Nachteile für
die Bahn- und Postbediensteten sowie eine Abwanderung ihrer Mitglieder zu den sich neu
organisierenden Beamtenverbänden befürchtete. Mit der Währungsreform nahm die Reformbereitschaft
auf deutscher Seite weiter ab. Der Spielraum der öffentlichen Haushalte wurde durch die Einführung der
DM erheblich eingeschränkt, so dass Länder- und Kommunen jede Reform ablehnten, die möglicherweise
mit einem erweiterten Kündigungsschutz für Angestellte und einer verbesserten Altersversorgung
verbunden war274.
Nach dem Zusammenschluss der britischen und amerikanischen Besatzungszone zur Bizone mit
Jahresbeginn 1947 waren die beiden Besatzungsmächte gemeinsam bestrebt, zumindest für das deutsche
Bizonen-Personal eine Regelung durchzusetzen, die ihren Vorstellungen entsprach. Das “Bipartite Civil
Service Committee” legte bereits im Dezember 1946 entsprechende Richtlinien vor, die den britischen
und amerikanischen Reformvorschlägen auf Länderebene entsprachen. Anstellung und Beförderung
sollten sich nach Eignung und Befähigung richten, die parteipolitische Tätigkeit der Bediensteten sollte
begrenzt und ein Personalamt eingerichtet werden. Freie Stellen waren auszuschreiben, und die
Unterscheidung zwischen Beamten und Angestellten sollte wegfallen.
Die Reaktion des Zweizonen-Wirtschaftsrats ließ auf sich warten. Nach einer energischen Mahnung durch
das BICO (Bipartite Control Office) verabschiedete er schließlich am 22. April 1948 ein Übergangsgesetz
zur Rechtsstellung der Bediensteten, welches einige Forderungen der Besatzungsmächte berücksichtigte.
Im Juni 1948 wurde außerdem ein Personalamt eingerichtet. Die anglo-amerikanischen Dienststellen
stimmten dieser vorläufigen Regelung unter der Bedingung zu, daß der Verwaltungsrat bis zum 1.
Oktober 1948 dem Wirtschaftsrat einen vollständigen Entwurf des neuen Personalgesetzes zur Beratung
vorlegt. Die deutschen Parteien hielten das Übergangsgesetz für ausreichend und schlugen den beiden
Besatzungsmächten vor, angesichts der inzwischen begonnnen Grundgesetzberatungen des
Parlamentarischen Rats auf ein Personalgesetz zu verzichten. Lediglich die SPD-Fraktion des
Wirtschaftsrats scherte im September 1948 aus der “Ablehnungsfront” aus und plädierte für eine “völlig
neue Lösung” des öffentlichen Dienstrechts.
In den Ausschüssen des Frankfurter Wirtschaftsrats wurde in den darauffolgenden Monaten über ein
entsprechendes Gesetz beraten. Hierbei war aber nicht zu übersehen, dass die deutschen Politiker und
Beamten „auf Zeit” spielten. Neben den Landesregierungen plädierten auch die ÖTV und der
Beamtenausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes für einen Aufschub der gesetzlichen Regelung
bis die zukünftige westdeutsche Verfassung verabschiedet sei. Der Zweizonen-Wirtschaftsrat befasste
sich erst im März 1949 mit dem Problem der „verdrängten” Beamten, d. h. zu einem Zeitpunkt als die
Grundgesetzberatungen kurz vor dem Abschluss standen. Der Länderrat der Bizone vertrat
dementsprechend die Auffassung, die Problematik sei auf Zweizonen-Ebene „nicht mehr mit der
erforderlichen Gründlichkeit” zu lösen. Die Regelung müsse vom zukünftigen Bundesgesetzgeber
erfolgen275.
274
ausführlicher C. Garner: Zerschlagung des Berufsbeamtentums? Der deutsche Konflikt um die
Neuordnung des öffentlichen Dienstes 1946-1948 am Beispiel Nordrhein-Westfalens (VjZG 39, 1991, S.
55-101) sowie U. Reusch: Deutsches Berufsbeamtentum und britische Besatzung. Planung und Politik
1943-1947, Stuttgart 1985, S. 240 ff.
275
U. Wengst: Beamtentum zwischen Reform und Tradition, Düsseldorf 1988, S. 24 f. und 58 ff.
94
Wie der Verlauf der Diskussion zeigte, legten die Besatzungsmächte besonderen Wert auf die Aufhebung
des Unterschieds zwischen Beamten und Angestellten sowie auf die Einschränkung der politischen
Tätigkeit und des passiven Wahlrechts der Bediensteten. Bei den deutschen Parteien bestand dagegen
Einigkeit, alle Bestimmungen zurückzuweisen, deren Ziel die Begrenzung der politischen Rechte von
Beamten und Angestellten war. Auch die britischen Vorstellungen einer Dezentralisierung des
öffentlichen Dienstrechts wurden nach wie vor abgelehnt. Dies bedeutet aber nicht, dass auf deutscher
Seit überhaupt keine Reformbereitschaft bestand. Eine gegenüber dem Beamtentum kritische Haltung war
in der westdeutschen Öffentlichkeit deutlich spürbar. Sie wurde durch die weitgehende personelle
Kontinuität in den Behörden nach der Auflösung des „Dritten Reiches” gefördert. Hinzu kamen die
Mängel der „Zuteilungswirtschaft” in der Nachkriegssituation, denn die Befriedigung der einfachsten
Lebensbedürfnisse (Wohnung, Nahrungsmittel etc.) hing von entsprechenden „Bewilligungen” der
Behörden ab. Außerdem gab es unübersehbare Ansätze zur Korruption im öffentlichen Dienst. Die
nordrhein-westfälische Regierung ernannte im Herbst 1947 sogar einen „Staatskommissar”, der gegen
Korruption und Schwarzhandel vorgehen sollte276.
Die Vorstellungen der deutschen Parteien zur Reform des öffentlichen Dienstes waren in den Jahren
1947/48 trotz der gemeinsamen „Abwehrfront” gegen die Pläne der Besatzungsmächte keineswegs
einheitlich. Die KPD orientierte sich an der Abschaffung des Beamtentums in der sowjetischen Zone. Die
SPD war im Prinzip reformfreudig, verzichtete aber darauf, die vom Parteitag in Hannover 1946
ausgesprochene Forderung eines einheitlichen Dienstrechts zu konkretisieren. Die Positionen und
Interessen der Gewerkschaften dämpften offenbar die sozialdemokratische Reformbereitschaft. In der
CDU und in der Zentrumspartei standen sich Traditionalisten und Reformer gegenüber und selbst die FDP
als exponierte Vertreterin der „hergebrachten Grundsätze” war zumindest an einer zahlenmäßigen
Reduzierung der Beamtenzahl interessiert277.
Die unterschiedlichen Vorstellungen auf deutscher Seite und die gemeinsame Frontstellung gegen die
Reformvorschläge der Briten und Amerikaner hatten zur Folge, dass die Frage des öffentlichen Dienstes
bis in die Beratungen des Parlamentarischen Rats hinein und darüber hinaus offen blieb. In der
Beamtenfrage wurde eine „policy of postponement” mit umgekehrten Vorzeichen betrieben: Bei
Sozialisierungs- und Mitbestimmungsentscheidungen begründeten General Clay sowie das Washingtoner
Kriegs- und Marineministerium den Aufschub mit den bevorstehenden Grundgesetzberatungen und der
Zuständigkeit des zukünftigen westdeutschen Parlaments. Beim öffentlichen Dienst versuchten die
Besatzungsmächte dagegen noch unmittelbar vor Gründung der Bundesrepublik ihre Vorstellungen
zumindest im Bereich der Bizone durchzusetzen. Als deutlich wurde, dass der Parlamentarische Rat im
Grundgesetz keine Reform des öffentlichen Dienstes festschreiben würde, oktroyierten die britische und
amerikanische Militärregierung am 18. Februar 1949 das Gesetz Nr. 15 für die Verwaltungsangehörigen
der Bizone, welches ihren Reformvorstellungen entsprach. Nach der ersten Bundestagswahl starteten die
Briten und Amerikaner mit Zustimmung des französischen Militärgouverneurs den verzweifelten und
vergeblichen Versuch, das Bizonen-Gesetz auch auf die Bundesbeamten auszudehnen278.
276
P. Hüttenberger: Nordrhein-Westfalen... S. 302 ff.
277
C. Garner: Zerschlagung des Berufbeamtentums... S. 72 f.
278
U. Reusch: Deutsches Berufsbeamtentum... S. 28-31.
95
V. Der Konsensusbereich in der Verfassungsdiskussion nach 1945
1. Die Entscheidung für eine parlamentarische und parteienstaatliche Demokratie
Obwohl die politische Auseinandersetzung nach 1945 im Mittelpunkt dieser Studie steht, darf die
gemeinsame Basis der unterschiedlichen Neuordnungsvorstellungen nicht unberücksichtigt bleiben. Die
beiden Demokratiekonzeptionen waren durch einen Konsensusbereich miteinander verbunden, der
schließlich trotz aller Auffassungsunterschiede die Einigung über die verfassungsmäßigen Grundlagen des
westdeutschen Gemeinwesens ermöglicht hat. Bei der Darstellung dieses Konsensusbereichs werden die
Beratungen über das Grundgesetz eine ausführlichere Berücksichtigung finden als bisher. Der Vorgriff
auf den Parlamentarischen Rat ergibt sich dabei aus dem Aufbau dieser Studie: Die beiden Konzeptionen
der „sozialen Mehrheitsdemokratie” und der „konstitutionellen Demokratie” dienen im weiteren Verlauf
der Untersuchung als Kriterien für die Einordnung und Bewertung des Gründungsvorgangs von 1948/49.
Die nachfolgende Interpretation der Grundgesetzberatungen in Kapitel VI. ist dementsprechend unter dem
Gesichtspunkt unterschiedlicher Demokratievorstellungen geschrieben. Aufgrund dieser Gliederung
erscheint es sinnvoll, die gemeinsamen Ziele der Parteien und Fraktionen des Parlamentarischen Rates in
die hier anschließende Darstellung einzubeziehen.
Zum Konsensusbereich der Nachkriegsdiskussion gehört zunächst das übereinstimmende Votum aller
politischen Richtungen für die parlamentarische Demokratie, deren Willensbildungsprozess durch die
Konkurrenz und das Zusammenspiel politischer Parteien bestimmt wird. Diese Entscheidung wurde
damals unter den Nachkriegspolitikern als selbstverständlich betrachtet, nachdem sich in den Jahren
1945/46 ein Parteiensystem konstituiert hatte, welches trotz bemerkenswerter Abweichungen
(Neugründung der CDU/CSU) an das Weimarer Vorbild anknüpfte. Offen bleibt allerdings, wieweit die
Anerkennung des Parteiwesens damals von der Bevölkerung der drei westlichen Besatzungszonen
nachvollzogen wurde. Aus den Repräsentativumfragen der amerikanischen Militärregierung, die seit dem
Herbst 1945 in regelmäßiger Folge durchgeführt wurden, ergibt sich hierzu kein eindeutiges Bild: Im
Dezember 1945 waren nur etwa 4 % der Bevölkerung in der amerikanischen Zone Parteimitglieder; 21 %
der Befragten äußerten allerdings zu diesem Zeitpunkt die Absicht, einer Partei beizutreten. Im März 1946
hatte sich die Mitgliedschaft der Parteien auf rund 7 % erhöht, während nur noch 16 % beitrittswillig
waren. Aus beiden Befragungen geht hervor, dass ein Block von 77 % (75 % im Dezember 1945) der
Gesamtbevölkerung weder Mitglied einer Partei war noch die Absicht zum Parteibeitritt hatte. Diese
Gruppe begründete ihre Zurückhaltung teils mit einem allgemeinen politischen Desinteresse (35 %), teils
mit dem Mangel an politischer Information, die den Befragten zum Parteibeitritt notwendig erschien (9
%). 22 % führten weitere Gründe an, wie z. B. die Antwort, Frauen sollten sich aus der Politik
grundsätzlich zurückhalten. Bemerkenswert ist außerdem, dass sich bei drei Befragungen vom November
1945 bis zum März 1946 die Mehrheit für ein Drei- oder Vierparteiensystem aussprach (50 %, später 63
% der Befragten). Die Abschaffung der Parteien überhaupt fand nur bei 1–2 % Zustimmung, während im
März 1946 immerhin 11 % für das Einparteiensystem eintraten.
Die oft geäußerte Vermutung, die deutsche Bevölkerung sei damals aufgrund der widrigen
Lebensbedingungen an politischen Dingen desinteressiert gewesen, wird durch eine Befragung über
“political meetings” nicht bestätigt: Der Prozentsatz derjenigen, denen politische Veranstaltungen nach
Aufhebung des alliierten Verbots als sinnvoll und nützlich erschienen, stieg vom November 1945 bis zum
März 1946 von 60 auf 72 %. Im gleichen Zeitraum sank die Anzahl der Befragten, die hierzu keine
Meinung hatten, von 29 auf 12 %279.
279
Surveys Section, Intelligence Branch - Information Control Division: OMGUS-USFET Report No. 3
(März 1946 - Amerikahaus München).
96
Die Parteien fanden auch in der weitverzweigten Publizistik der Nachkriegsjahre zunehmend
Anerkennung. Sie wurden nicht mehr, wie noch zur Zeit der Weimarer Republik, lediglich als
„notwendiges Übel” der modernen Demokratie betrachtet. Bei den Verfassungsberatungen in den Ländern
scheute man sich jedoch, hieraus die Konsequenzen zu ziehen und die Parteien verfassungsrechtlich zu
institutionalisieren. Die Länderverfassungen der Jahre 1946/47 enthalten zwar ausführliche
Bestimmungen über das Gesetzgebungsverfahren und die Arbeitsweise der Landtage. Was das
Parteiwesen betrifft, folgen sie jedoch in der Regel der Weimarer Reichsverfassung, welche die
politischen Parteien lediglich in Art. 130 unter einem eher negativen Aspekt erwähnt280.
Wie aus dem Bericht Carlo Schmids vor der Vorläufigen Volksvertretung Württemberg - Badens
hervorgeht, wurde in diesem Zusammenhang auch über die Frage diskutiert, ob der einzelne Abgeordnete
Vertreter des “ganzen Volkes”, des Wahlkreises oder der Partei sei, die ihn zur Wahl nominiert. Man habe
trotz aller Bedenken – sagte Schmid – die “alte Formel” wiederaufgenommen, der Parlamentarier vertrete
die Gesamtbevölkerung und sei nur seinem Gewissen verantwortlich. Aus diesen Erwägungen verzichte
der Verfassungsentwurf bewusst darauf, die Parteien “formell in der Verfassung zu nennen und damit zu
Elementen des Verfassungsgefüges zu machen”. Eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser
vorherrschenden Auffassung stellt die badische Verfassung vom Mai 1947 dar: Den Parteien gilt hier ein
eigener Abschnitt des Verfassungstextes, der ausführliche Bestimmungen enthält über die freie
Parteibildung, über die Beitritts- und Austrittsmöglichkeit der Mitglieder, über die Aufgaben
oppositioneller Parteien sowie über die Möglichkeit des Verbots verfassungsfeindlicher Parteien durch
den Staatsgerichtshof281. Diese Regelung ist weitergehender und ausführlicher als der spätere
Parteienartikel im Grundgesetz (Art. 21 GG).
Das parlamentarische Regierungssystem, nach dessen Grundidee die Regierung durch das Votum des
Parlaments eingesetzt und jederzeit wieder abgelöst werden kann, war in der Nachkriegsdiskussion nicht
unumstritten. Vor allem in Süddeutschland betrachtete man 1945/46 die schweizerische Verfassung als
ein nachahmenswertes Modell für eine “feste Regierung”, die während der ganzen Legislaturperiode im
Amt bleibt. Ab 1947 spielten ähnliche Überlegungen, wie bereits erwähnt, auch in den
Verfassungsvorstellungen der FDP eine Rolle. Theodor Heuss nahm bei der Verfassungsdiskussion in
Württemberg-Baden allerdings gegen diese Pläne Stellung. Er erklärte, die Politik der Schweiz sei seit der
Sicherung ihrer Neutralität innen- und außenpolitisch als eine “wunderbare Entwicklung” anzusehen, von
der man nicht erwarten könne, sie werde sich in Deutschland wiederholen. Für die deutschen Verhältnisse
schien ihm eine “starre” Lösung der Beziehung zwischen Parlament und Regierung nicht sinnvoll zu sein,
weil die vielfältigen Probleme des inneren Wiederaufbaus und die unsichere außenpolitische Situation ein
beweglicheres Verfassungssystem verlangten282.
Im Verfassungsentwurf für Bayern war zunächst eine Regierung auf Zeit vorgesehen. Sie ging offenbar
auf die Initiative des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner und des Staatsrechtlers
Hans Nawiasky zurück, die beide ihre Emigrationsjahre in der Schweiz verbrachten. Hoegner schrieb
damals zu diesem Entwurf: „Das Parlamentarische System, nach welchem die Regierung jederzeit durch
ein Misstrauensvotum des Parlaments gestürzt werden kann, ist beseitigt. Der Ministerpräsident wird
vielmehr vom Landtag auf vier Jahre gewählt, kann aber natürlich zurücktreten. Diese Regelung
entspricht dem einmütigen Wunsch aller Reformer der Demokratie, jeder Regierung eine
Arbeitsmöglichkeit zu sichern, wozu eine längere Amtsdauer erforderlich ist.” Im weiteren Verlauf der
280
R. Thoma: Über Wesen und Erscheinungsformen der modernen Demokratie, Bonn 1948, S.17, sowie
Art. 130 WRV: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“.
281
Vorläufige Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946; Verfassung des
Landes Baden vom 22. Mai 1947, Art. 118-121.
282
Vorschlag Walter (CDU) und die Entgegnung Heuss (DVP) in der Verfassunggebenden
Landesversammlung für Württemberg-Baden, 2. Sitzung vom 18. Juli 1946.
97
bayerischen Verfassungsberatungen wurde jedoch diese Konstruktion im Sinne des „abgeschwächten”
Parlamentarismus verändert, indem man den keineswegs eindeutigen Passus hinzufügte, der Ministerpräsident müsse zurücktreten, „wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten
zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen”. Das kann in der politischen Praxis gleichbedeutend
sein mit dem parlamentarischen System, wenn der Ministerpräsident entsprechend verfährt. Es kann aber
auch zur Folge haben, dass ein widerstrebender Regierungschef durch den Verfassungsgerichtshof zum
Rücktritt gezwungen werden muss283.
Bei den Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee, die der Vorbereitung des Grundgesetzes galten,
wurde der Plan einer Regierung auf Zeit erneut diskutiert. Der Verfassungskonvent kam jedoch zu der
Auffassung, dieses Regierungssystem bringe gerade in Deutschland Risiken und Nachteile mit sich,
obwohl es in anderen Ländern erfolgreich praktiziert werde. Die überwiegende Mehrheit seiner Mitglieder
war der Ansicht, dass die Regierung „grundsätzlich vom Vertrauen der Mehrheit des Bundestages
abhängig bleiben” solle284.
Im Parlamentarischen Rat leistete der Organisationsausschuss die Vorarbeit zum organisatorischen Teil
des Grundgesetzes und kam in diesem Zusammenhang auch auf die Regierungsform zu sprechen. Der
FDP-Abgeordnete Dr. Dehler schlug vor, eine „Regierung auf Zeit” zu schaffen, und berief sich hierbei
auf die entsprechende Regelung der bayerischen Verfassung. Nach seinem Entwurf sollte der
Bundeskanzler durch eine Bundesversammlung (Bundestag und Bundesrat in gemeinsamer Sitzung)
gewählt und vom Bundespräsidenten auf die Dauer von vier Jahren ernannt werden. Obwohl diese
Überlegungen bei den beiden großen Fraktionen des Parlamentarischen Rates auf Ablehnung stießen, und
damit kaum Aussicht auf ihre Verwirklichung bestand, wurde Dehler zusammen mit seinem
Fraktionskollegen Dr. Becker im Januar 1949 in dieser Frage erneut initiativ. Ihr Vorschlag forderte jetzt
nicht nur die „Regierung auf Zeit”, sondern darüber hinausgehend auch die Vereinigung der beiden Ämter
des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten.
Carlo Schmid (SPD) erwiderte auf diesen Vorschlag mit den gleichen Argumenten, die Theodor Heuss
1946 in Württemberg-Baden angeführt hatte: Regierungen auf Zeit erschienen ihm nur dort sinnvoll, wo
eine stabile Sozialstruktur vorhanden sei und „wo man es sich leisten kann, auch dringende Dinge auf die
nächste Wahlperiode zu vertagen”. Diese Bedingungen waren nach seiner Auffassung in der Schweiz und
in den Vereinigten Staaten gegeben. Dort aber, wo sich die gesellschaftlichen Verhältnisse gewollt oder
ungewollt „in Bewegung” befänden – wie etwa im Nachkriegsdeutschland –, müsse das
Regierungssystem „elastisch” sein. Nur auf diese Weise könnten die gesellschaftlichen Veränderungen
gegebenenfalls auch einen Regierungswechsel bewirken, den er als „Ventil” für den Ausgleich sozialer
Spannungen bezeichnete285. Für die Ablehnung der „Regierung auf Zeit” war damit nach 1945 nicht nur
die Erinnerung an das Weimarer Präsidentenamt ausschlaggebend, sondern auch die Einsicht in die
sozialen Probleme der Nachkriegszeit sowie in die enge Verbindung zwischen Staatsverfassung und
Gesellschaftsstruktur.
Übereinstimmung zwischen den demokratischen Parteien und den politischen Strömungen in
283
W. Hoegner: Der bayerische Verfassungsentwurf (Die Neue Zeitung v. 7.6.1946); W. Hoegner: Der
schwierige Außenseiter, München 1959, S. 250 ff.; Verfassungsausschuss Bayern, 24. Sitzung v. 28.
8.1946 sowie H. Nawiasky / C. Leusser: Die Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember
1946. Systematischer Überblick und Handkommentar, Bd. 1, München 1948, S. 121
284
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 551
285
PR-Organisationsausschuss, 5. Sitzung vom 23. September 1948, Stenoprot. S.25-58, und 8. Sitzung
vom 30. September 1948, Stenoprot. S. 23-59 sowie die Diskussion im PR- Hauptausschuss, 32.
Sitzung vom 7. Januar 1949; U. Wengst: Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie,
München 1997, S. 124 ff. und den Text des Becker/ Dehler - Vorschlags vom 11.1.1949 in ADL, FDPFraktion Parlamentarischer Rat D 2 - 2282
98
Westdeutschland bestand weiterhin über die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte. Bereits bei
den Verfassungsberatungen der Länder war man sich einig, dass diese Rechte die Grundlage der neu zu
errichtenden Demokratie bilden. Es gebe zwar die verschiedensten Formen des demokratischen Lebens,
erklärte der Sozialdemokrat Wilhelm Keil in Württemberg-Baden, aber “nur einen Grundsatz der
Wahrung der persönlichen Rechte des Menschen”. Diese Renaissance der Grundrechte ist als
unmittelbare Reaktion auf das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus anzusehen. Die nahezu
unbegrenzten Eingriffsmöglichkeiten des totalitären Regimes in den Lebensbereich des einzelnen sollten
nach 1945 durch ein Rechtssystem abgelöst werden, welches die Sicherheit und persönliche Freiheit des
Menschen gewährleistet. Im weiteren Verlauf der Demokratiediskussion fand auch die
Grundrechtsproblematik in der sowjetisch besetzten Zone mehr und mehr Beachtung. Der
Herrenchiemsee-Konvent zum Beispiel erklärte in deutlicher Anspielung auf die dortige Beschränkung
der Grundfreiheiten, ein “gesamtdeutsches Bekenntnis” zu den Grundrechten erscheine ihm notwendig,
weil diese Rechte immer noch schwerer Bedrohung ausgesetzt seien286.
Der Konsensus über die Grundrechte war allerdings, wie sich im Parlamentarischen Rat zeigen sollte, von
begrenzter Tragweite. Einerseits wollte man den Grundrechten die Bedeutung von Rechtsnormen geben,
mit denen nach den Worten Carlo Schmids „ein Anwalt vor Gericht plädieren kann, und die nicht erst
durch ein Gesetz in anwendbares Recht transformiert werden müssen”287. Offenbar hatte man aber bei der
Formulierung der Länderverfassungen von 1946/47 noch nicht erkannt, dass die Konsequenz dieser
Forderung eine Beschränkung auf die individuellen Freiheits-, Gleichheits- und Eigentumsrechte war,
weil sich nur diese Rechte – im Gegensatz zu den „sozialen Grundrechten” – exakt bestimmen und ohne
weiterführende Gesetzgebung auf dem Rechtswege durchsetzen lassen. Andererseits bestand die Tendenz,
auch „soziale Grundrechte” sowie Aussagen über die Wirtschaftsordnung und kulturelle Fragen in die
Verfassung aufzunehmen.
Die Grundrechtsdiskussion der Nachkriegszeit ist demnach nicht widerspruchsfrei: Während die
Forderung nach rechtlicher Verbindlichkeit eine Eingrenzung des Grundrechtsverständnisses bewirkte,
verlangte der Gedanke des “demokratischen Fundamentalismus” seine Ausweitung. Die
Menschenrechtsdiskussion auf internationaler Ebene wies in die zuletzt genannte Richtung: Von der
Forderung Franklin D. Roosevelts nach “Freiheit von Not” im Jahre 1942 bis zur
Menschenrechts-Erklärung der Vereinten Nationen vom Dezember 1948 lässt sich hier eine Erweiterung
des Grundrechtsverständnisses um die soziale Problematik feststellen.
Am Beispiel der Grundrechtsdiskussion tritt die Belastung des Demokratiegründungsprozesses durch die
Anwesenheit der Besatzungsmächte besonders deutlich hervor. Es bestand nämlich die Gefahr, dass die in
den Landesverfassungen oder später im Grundgesetz verankerten Rechte durch Besatzungsrecht verletzt
und schließlich auch politisch diskreditiert wurden. Die Diskussion hierüber nahm vor allem im
französisch besetzten Baden breiten Raum ein, weil hier die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät
der Universität Freiburg in einer Eingabe an die verfassungsberatende Versammlung auf den Widerspruch
zwischen Grundrechtsproklamation und Besatzungsrecht hingewiesen hatte. Die paradigmatische
Bedeutung der Landesverfassungen für die zukünftige Reichsverfassung und die positive Einschätzung
der weiteren Entwicklung veranlassten jedoch die deutschen Politiker, in dieser Belastung eine vorübergehende Beeinträchtigung der demokratischen Grundsätze zu sehen. Das gleiche Problem stellte sich später
bei den Beratungen zum Grundgesetz: Auch hier drohte eine Beschränkung der Grundrechte durch das
Besatzungsstatut, und man diskutierte die Frage, ob diese “Hypothek” nicht auch im Verfassungstext
erwähnt werden müsse. Man verzichtete schließlich hierauf, weil eine derartige Bestimmung von den
286
W. Keil in seinem Bericht (Verfassunggebende Landesversammlung für Württemberg-Baden, 4.
Sitzung vom 16.9.1946); R. Haerdter: Die neuen Menschenrechte (Die Gegenwart vom 31.1.1947)
sowie PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 512 f.
287
Vorläufige Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946, und ähnlich in PR
Akten und Protokolle Bd. 9, S. 37
99
Besatzungsmächten als “Blanko-Vollmacht” aufgefasst werden konnte, während sie durch einen
uneingeschränkten Grundrechtskatalog stets auf die demokratiegemäße Begrenzung ihrer Herrschaft
hingewiesen wurden288.
Die Politiker und Verfassungsexperten der Nachkriegszeit waren bemüht, durch eine Neuordnung der
Staatsorgane, ihrer Kompetenzen und ihres Zusammenspiels die Funktionstüchtigkeit des
Regierungssystems gegenüber dem Weimarer Vorbild zu erhöhen. Die Vorschläge zur Verbesserung des
Regierungssystems nahmen vorwiegend auf die Endphase der Weimarer Demokratie Bezug. Der
Übergang zum Präsidialsystem, das schließlich die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ermöglichte,
war nach Auffassung der Nachkriegspolitiker auf verfassungspolitische Mängel zurückzuführen, die sich
beim Aufbau der zweiten deutschen Republik auf keinen Fall wiederholen durften. Das Interesse der
“Verfassungsväter” (und der vier Verfassungsmütter) im Bund und in den Ländern für diesen
folgenschweren Abschnitt der jüngsten deutschen Geschichte ist auch darauf zurückzuführen, dass sie
diesen Zeitraum aus eigener Anschauung erlebt hatten und in der Regel bereits damals verantwortliche
Positionen in Parlamenten, Verwaltung oder Wissenschaft innehatten. Bei den Parteipolitikern aus der
Weimarer Zeit trat das Bewusstsein hinzu, für das Scheitern der ersten deutschen Republik mitverantwortlich zu sein.
Die verfassunggebenden Versammlungen der Nachkriegsjahre (und insbesondere der Parlamentarische
Rat) sahen sich aufgrund dieser Erfahrungen zu zahlreichen Neuregelungen im organisatorischen Teil der
Verfassung veranlasst. Ihre Überlegungen galten hierbei – wie bereits im vorangehenden Abschnitt
angedeutet – vorwiegend dem Amt des Staatsoberhaupts, der Auflösung des Parlaments und der Stellung
der Regierung im Verfassungssystem. Die weitgehende Übereinstimmung der demokratischen Parteien in
diesen Fragen des Verfassungsaufbaus ist auf das allen gemeinsame Motiv zurückzuführen, welches der
sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Katz vor dem Parlamentarischen Rat mit den Worten zum
Ausdruck brachte: “Wir wissen genau, dass hinter der Krise des demokratischen Systems der Diktator
lauert”289.
Die Reichsverfassung von 1919 beruhte auf dem Dualismus zwischen Präsident und Parlament, der sich
rückblickend als eine verhängnisvolle Fehlkonstruktion erwiesen hat. Beide Institutionen konnten für sich
in Anspruch nehmen, in der unmittelbaren Volkswahl ihre Grundlage zu haben und damit über die gleiche
demokratische Legitimation zu verfügen. Die Regierung nahm eine vermittelnde und, wie sich später
herausstellte, labile Position zwischen diesen Polen des Verfassungsmodells ein: Der Reichskanzler
wurde vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen (Art. 53 WRV), benötigte gleichzeitig jedoch für
seine Regierungstätigkeit das Vertrauen des Reichstages (Art. 54 WRV). Diese beiden Bedingungen
waren nur so lange zu vereinbaren, als sich Präsident und Reichstag auf einen Kanzler einigen konnten.
Falls dies nicht gelang, oder im Parlament keine Mehrheitsbildung zustande kam, lag ein Konflikt
zwischen den beiden Machtzentren des Verfassungssystems nahe, der dann in der Endphase tatsächlich
auch mit den Mitteln der Notverordnungspolitik und der Parlamentsauflösung ausgetragen wurde.
Verfassungsgeschichtlich lässt sich dieses Modell auf Robert Redslob zurückführen, dessen Thesen zum
“wahren Parlamentarismus” von Hugo Preuß und maßgebenden Mitgliedern der Weimarer
Nationalversammlung in modifizierter Form übernommen wurden. Der “echte” Parlamentarismus
zeichnet sich demnach durch ein Gleichgewicht zwischen Staatsoberhaupt und Parlament aus, so dass der
Reichstag der “Gegenkontrolle” des Reichspräsidenten unterlag290. Das Vorbild der Weimarer
288
Dr. Fecht (BCSV) als Berichterstatter vor der Beratenden Versammlung Badens, 11. Sitzung vom
10.4.1947 und HCh-Unterausschuss I: Grundsatzfragen, 4. Sitzung vom 18. August 1948 (vor allem
die Beiträge von Danckwerts und Schmid)
289
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 231
290
U. Scheuner: Das Amt des Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung.
Tübingen 1966, S. 13-22, und F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz,
Tübingen 1962, S. 25 ff.
100
Konstruktion war zweifellos die vorausgehende alte Reichsverfassung: Der Reichspräsident nahm eine
dem Kaiser vergleichbare bevorzugte Stellung im Verfassungssystem ein, während sich in der Position
von Parlament und Regierung die historische Vorbelastung des deutschen Parlamentarismus
widerspiegelt.
Wieweit diese Traditionen auch nach 1945 wirksam waren, zeigen die bereits erwähnten Vorschläge zur
Einrichtung von Staatspräsidenten in den Ländern. Theodor Heuss stellte damals angesichts der Entwürfe
in Württemberg-Baden die Frage, ob diese Institution nicht eine „Misstrauensaktion gegen die
Demokratie” und eine „verfassungsmäßig embryonale Vorleistung für den kommenden Diktator”
darstelle291. Bei den süddeutschen Verfassungsberatungen stand der (Landes-)Präsident noch im
Mittelpunkt der Kontroverse zwischen den beiden Konzeptionen der konstitutionellen Demokratie und der
sozialen Mehrheitsdemokratie. In den Verfassungsvorschlägen der Parteien für die politische Integration
der drei Westzonen zeichnet sich jedoch bereits ein Konsensus über die Gestaltung des Präsidentenamts
ab: Das zukünftige Staatsoberhaupt sollte nach übereinstimmender Auffassung aller politischen Richtungen auf keinen Fall erneut die Kompetenzen seines Weimarer Vorgängers erhalten.
Auch föderalistische Motive sprachen für eine Beschränkung der Machtbefugnisse des Präsidenten:
Während ein neben der Landesregierung stehender Staatspräsident die Eigenständigkeit des betreffenden
Landes unterstrich, stärkte ein machtvoller Bundespräsident die Zentralgewalt und verminderte damit den
Einfluss der Länder im Verfassungssystem. 1947 wurde allerdings verschiedentlich noch an der
Volkswahl des Präsidenten festgehalten. Der sozialdemokratische Verfassungsexperte Dr. Walter Menzel
sprach sich in seinem Grundsatzreferat vor dem Nürnberger Parteitag zwar gegen ein
Notverordnungsrecht des Präsidenten aus, weil damit den Parteien die „politische Verantwortung
abgenommen” werde, befürwortete jedoch die unmittelbare Wahl des Staatsoberhauptes für einen
Zeitraum, der über der Legislaturperiode des Parlaments liege. In den Verfassungsrichtlinien der FDP für
die britische Zone wird zur gleichen Zeit ebenfalls noch die Volkswahl des zukünftigen Präsidenten
vorgeschlagen292.
Die Mehrheit des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, der im August 1948 von den westdeutschen
Ministerpräsidenten einberufen wurde, sprach sich für einen Bundespräsidenten mit begrenzten
Befugnissen aus, der von Bundestag und Bundesrat gewählt werden sollte. Eine Minderheit des Konvents
schlug dagegen vor, die Funktionen des Staatsoberhauptes von einem Dreierkollegium wahrnehmen zu
lassen, welches aus den Präsidenten der beiden Kammern und dem Kanzler bestehen sollte. Dieses
Kollegium sei ein „neues demokratisches Organ”, das sich durch die unterschiedlichen Funktionen seiner
Mitglieder selbst kontrolliere. Zugunsten der Kollegiallösung wurde weiterhin angeführt, der Gedanke des
pouvoir neutre sei überholt. Die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit hätten vielmehr bewiesen, daß
in „Grenzsituationen der Politik” kein Präsident neutral über den Parteien stehen könne293.
Auf sozialdemokratischer Seite war im Jahre 1948 die Auffassung vorherrschend, mit Rücksicht auf den
vorläufigen Charakter der westdeutschen Verfassung auf das Präsidentenamt überhaupt zu verzichten.
Auf Herrenchiemsee erklärte der sozialdemokratische Vertreter Hessens, Hermann Brill: „Einen
Bundespräsidenten halte ich schlechterdings für entbehrlich . . . Ich sehe nicht ein, warum wir in einer
staatlichen Ordnung, die hoffentlich nur zwei oder drei Jahre dauert, uns mit einem solchen Requisit
versehen sollten”294. Den beiden Menzel - Entwürfen zum Grundgesetz vom August und September 1948
291
T. Heuss in der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden, 2. Sitzung vom 18.
Juli 1946
292
Protokoll SPD Parteitag 1947, S. 132; Richtlinien für die künftige Verfassung, ausgearbeitet durch das
FDP-Mitglied Johannes Siemann, 27. August 1947 ( ADL 132 FDP - brit. Zone, Staat und Verfassung,
Außenpolitik)
293
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 546 ff.
294
Ebenda, S. 85
101
fehlt ebenfalls die Einrichtung des Bundespräsidenten. Im Parlamentarischen Rat vertraten die
sozialdemokratischen Sprecher zunächst die Kollegiallösung. Später schlug Dr. Katz (SPD) vor, zwar den
Bundespräsidenten in der Verfassung vorzusehen, dieses Amt jedoch bis zur Klärung der
außenpolitischen Situation vom Präsidenten des Bundestages wahrnehmen zu lassen. Erst mit der
Ablehnung dieses Vorschlags in der ersten Lesung des Hauptausschusses verzichtete der Parlamentarische
Rat auf alle Alternativ- oder Übergangslösungen295.
Bei der Beratung des Grundgesetzes waren alle politischen Richtungen bestrebt, die Gleichgewichtskonstruktion der Weimarer Reichsverfassung zu vermeiden und die Stellung des Parlaments sowie
der parlamentarisch gewählten Regierung auf Kosten des Präsidentenamtes zu stärken. Dieses Bestreben
kommt zunächst in dem Verzicht auf die unmittelbare Wahl des Staatsoberhauptes durch das Volk zum
Ausdruck. Der CDU-Abg. Dr. Süsterhenn erklärte hierzu vor dem Plenum des Parlamentarischen Rates,
die Weimarer Präsidentenwahlen hätten erwiesen, dass die Volkswahl für das deutsche Volk nicht die
geeignete Form ist. Im Jahre 1925 sei der „Kandidat der Reaktion” gewählt worden, und 1932 hätten die
demokratischen Kräfte durch ihre Unterstützung der Wiederwahl Hindenburgs „aus Angst vor dem Tode
Selbstmord begangen”296. In die gleiche Richtung zielen die ebenfalls vom Parlamentarischen Rat
vorgenommene Verkürzung der Amtszeit auf fünf Jahre und die Beschränkung der Wiederwahl des
Bundespräsidenten. Da das Grundgesetz auf Einrichtungen der plebiszitären Willensbildung bewusst
verzichtet, verlor der Bundespräsident auch das dem Reichspräsidenten zustehende Recht, einen
Volksentscheid über Gesetze anzuordnen, die das Parlament bereits beschlossen hatte.
Übereinstimmung bestand auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat weiterhin über den Verzicht
auf ein Notverordnungsrecht des Präsidenten im Sinne des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung. Die
an der Grundgesetzberatung beteiligten Politiker berücksichtigten nicht nur die instrumentale, sondern
auch die psychologische Wirkung dieses für das Schicksal der Weimarer Demokratie verhängnisvollen
Artikels: Der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Menzel sagte hierzu im Plenum des
Parlamentarischen Rates, vor 1933 sei es für die Parteien sehr leicht gewesen, die politische
Verantwortung „abzuwälzen”, weil in der „politischen Kulisse” immer der Reichspräsident mit seinem
Notverordnungsrecht bereitstand297. Mit der Neufassung des Präsidentenamtes im Grundgesetz war die
Absicht verbunden, das Parteienparlament zur Verantwortlichkeit zu zwingen und auf diesem Wege seine
Position im Verfassungssystem zu stärken.
Neben der Frage des Notverordnungsrechts wurden nach 1945 vor allem die Rolle des Präsidenten bei der
Regierungsbildung und seine Befugnis zur Parlamentsauflösung diskutiert298. In diesen beiden Punkten
sollte das Bestreben der Nachkriegspolitiker besonders deutlich zum Ausdruck kommen, die
parlamentarische Regierungsform gegenüber Weimar zu verbessern. Die Einflussmöglichkeiten des
Weimarer Reichspräsidenten auf die Regierungsbildung betrachteten sie mit Recht als eine der
Voraussetzungen für den Weg zum Präsidialsystem und damit auch für die Machtübernahme Hitlers. Im
Herrenchiemsee-Konvent bestand deshalb bereits eine grundsätzliche Übereinstimmung, dass die
Regierung in ein „möglichst enges Verhältnis zum Bundestag gebracht werden müsse”. Der Kanzler sollte
vom Parlament gewählt und nicht, wie nach Art. 53 der Weimarer Verfassung, vom Präsidenten ernannt
werden. Der Herrenchiemsee-Konvent blieb jedoch auf halben Wege stehen, weil er im Art. 87 seines
Entwurfs ein aufschiebendes Veto des Bundespräsidenten gegen den vom Bundestag „benannten” Kanzler
vorsah.
295
Vgl. JöR, N. F. Bd. 1, S. 379 f. und V. Otto: Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates. Ein
Beitrag zur Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1971, S. 138 ff.
296
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 66
297
a. a. O. , S.77
298
vgl. hierzu die systematische Darstellung von Jean Amphoux: Le Chancellier Fédéral dans le Régime
Constitutionnel de la République Fédérale d`Allemagne, Paris 1962, S. 30-116.
102
Der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates nahm zunächst einen sozialdemokratischen Antrag an,
welcher die Kanzlerwahl ausschließlich dem Parlament zusprach und den Bundespräsidenten zur
Ernennung des Gewählten verpflichtete. Auf Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses
entschied man sich schließlich für einen Mittelweg zwischen der reinen Parlamentswahl und der
Nominierung durch den Präsidenten: Der Bundespräsident erhielt das Vorschlagsrecht im ersten
Wahlgang; falls sein Kandidat nicht die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält,
geht das Vorschlagsrecht auf das Parlament über. Diese Regelung erlaubt es dem Präsidenten nicht mehr,
dem Bundestag einen Kanzler aufzuzwingen. Lediglich bei unübersichtlichen Mehrheits- und
Koalitionsverhältnissen hat er die Möglichkeit – wie der CDU-Abgeordnete Dr. von Mangoldt im
Hauptausschuss betonte -, durch seinen Vorschlag das Ergebnis der Kanzlerwahl und die
Zusammensetzung der Regierung zu beeinflussen299.
Während der Weimarer Reichspräsident aufgrund seiner Machtbefugnisse die Position eines
“Ersatzkaisers” einnahm, hat sich der Parlamentarische Rat bei der Formulierung der Kompetenzen und
Aufgaben des Staatsoberhaupts im wesentlichen am Vorbild der konstitutionellen Monarchie orientiert300.
Die Vorschläge zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems
bezogen sich nach 1945 allerdings nicht nur auf das Präsidentenamt, sondern auch auf die Stellung der
Regierung im Verfassungssystem. Bereits in den Ländern und auf Herrenchiemsee war man bestrebt, die
Führungsrolle und die Verantwortlichkeit des Ministerpräsidenten stärker herauszustellen als in der
Weimarer Reichsverfassung. Erst der Parlamentarische Rat verwirklichte das “Kanzlerprinzip” in vollem
Umfang, indem er dem Regierungschef laut Verfassung die alleinige Entscheidung über die Berufung und
Entlassung seiner Kabinettskollegen zusprach. In der politischen Praxis ist der Kanzler hierbei allerdings
an die Koalitions- und Mehrheitsverhältnisse im Parlament gebunden.
Ein bemerkenswerter Versuch zur Stabilisierung der parlamentarischen Regierung mit verfassungspolitischen Mitteln war nach 1945 zweifellos das konstruktive Misstrauensvotum. Sein
Grundgedanke besteht darin, den Sturz der Regierung durch das Parlament nur zuzulassen, wenn
gleichzeitig ein neuer Kanzler gewählt wird. Diese Verfassungskonstruktion ist auf die politischen
Verhältnisse in den Ländern gegen Ende der Weimarer Republik zurückzuführen: In Preußen, Bayern,
Württemberg, Hessen und Hamburg waren zwischen 1930 und 1933 oft mehrere Jahre lang
geschäftsführende Regierungen im Amt, denen eine regierungsunfähige Landtagsmehrheit aus KPD,
NSDAP und DNVP gegenüberstand. Schon damals gab es Reformbestrebungen mit dem Ziel, die
amtierende Landesregierung vor heterogenen Parlamentsmehrheiten zu schützen und das
Misstrauensvotum mit der Regierungsneubildung zu verbinden301. In den Verfassungsüberlegungen des
Widerstandes und der Emigration bestand bereits ein weitgehender Konsensus über die Neufassung des
Misstrauensvotums: Ein Programmentwurf der sozialdemokratischen Politiker Stampfer, Geyer und
Rinner vom November/ Dezember 1933 schlägt zum Beispiel vor, die Ablösung des Regierungschefs nur
noch durch die Wahl eines Nachfolgers zuzulassen302. Eine Denkschrift des Kreisauer Kreises aus dem
Jahre 1942 nimmt ebenfalls den Grundgedanken des konstruktiven Misstrauensvotums vorweg. Sie sieht
vor, dass der vom Reichspräsidenten mit Zustimmung des Reichstages zu ernennende Reichskanzler nur
gestürzt werden kann, wenn das Parlament gleichzeitig einen neuen Kanzler vorschlägt303.
299
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 550 f. und 597 sowie PR- Hauptausschuss, 4. Sitzung vom 17.
November 1948
300
so V. Otto: Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates... S. 146 ff.
301
F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz... S. 102 ff.
302
Text bei E. Matthias - W. Link (Hrsg.): Mit dem Gesicht nach Deutschland, Düsseldorf 1968, S. 208.
303
Text bei G. van Roon: Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen
Widerstandsbewegung. München 1967, S. 546 f.
103
Bei den Verfassungsberatungen der Jahre 1946/47 formulierte man zunächst eine Vorform des
konstruktiven Misstrauensvotums. Nach den Verfassungen von Baden, Württemberg-Baden,
Württemberg-Hohenzollern und Bremen muss die Regierung im Falle des Misstrauensvotums ihren
Rücktritt erklären, der jedoch erst wirksam wird, wenn der Landtag eine neue Regierung wählt304.
Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum konstruktiven Misstrauensvotum, das die
Rücktrittsverpflichtung unmittelbar an die Nachfolgewahl bindet. Der Herrenchiemsee-Konvent
formulierte das modifizierte Misstrauensvotum dem Sinne nach zum erstenmal so, wie es später auch in
das Grundgesetz übernommen wurde. Im Art. 90 seines Entwurfs heißt es: „Der Bundestag kann dem
Bundeskanzler sein Misstrauen nur dadurch aussprechen, dass er den Bundespräsidenten unter Benennung
eines Nachfolgers ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen.”. Über diese Verfassungsbestimmung bestand
weitgehende Übereinstimmung, denn der Konvent erwähnt weder im Entwurf noch im kommentierenden
Teil eine abweichende Auffassung. Zur Begründung seines Vorschlags führt der Bericht über den
Verfassungskonvent die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit an. Damals sei das Misstrauensvotum oft von
negativen Mehrheiten beschlossen worden, die selbst nicht beabsichtigten, sich auf ein politisches
Konzept zu einigen und eine Regierung zu bilden. Aufgrund dieser Konstellation hätten
geschäftsführende Regierungen oft für längere Zeit die Regierungsaufgaben wahrnehmen müssen. Mit der
Vorschrift einer konstruktiven Mehrheit glaubte der Konvent, den Missbrauch dieses Votums als „Akt
bloßer Obstruktion” in Zukunft vermeiden und die „echten parlamentarischen Spielregeln”
wiederherstellen zu können305.
Aufgrund dieser Vorarbeiten fand der Gedanke des positiven oder konstruktiven Misstrauensvotums in
der Generaldebatte des Parlamentarischen Rates bei den Sprechern der beiden großen Fraktionen, Dr.
Süsterhenn (CDU) und Dr. Menzel (SPD), uneingeschränkte Zustimmung306. Im weiteren Verlauf der
Beratungen gab es hierzu eine Grundsatzdiskussion im Hauptausschuss, aus der hervorgeht, dass sich die
beteiligten Politiker der beschränkten Wirksamkeit dieser Verfassungsklausel durchaus bewusst waren.
Der Abgeordnete Dr. v. Mangoldt (CDU) stellte die Frage, ob hier tatsächlich eine „Patentlösung”
vorliege oder nicht vielmehr die Verfassungswirklichkeit verschleiert werde. Sobald der Kanzler die
Mehrheit im Parlament verliere, müsse man bereits mit Koalitionsverhandlungen hinter seinem Rücken
rechnen. Auch der Bundestag sei in dieser Situation kaum noch arbeitsfähig. Für die politische Praxis
würden sich daher „sehr unangenehme Verhältnisse” ergeben. Nach Auffassung Dr. Dehlers (FDP) kann
die Neufassung des Misstrauensvotums über das Vorliegen einer parlamentarischen Krise nicht
hinwegtäuschen, die seiner Ansicht nach nur durch die Auflösung des Parlaments zu beheben war. Die
sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Katz und Dr. Greve sahen zwar ebenfalls die Grenzen des
konstruktiven Misstrauensvotums und bezeichneten es als „eine mehr oder weniger brauchbare
verfassungsrechtliche Konstruktion”. Die Fassung von Herrenchiemsee schien ihnen jedoch den Vorteil
der größeren Klarheit zu haben. Wenn der Kanzler schon die Mehrheit im Parlament verlor, sollte er nicht
noch zusätzlich mit einem „offiziellen Misstrauensvotum” belastet werden307.
Vieles spricht dafür, dass der Parlamentarische Rat von dieser Regelung in erster Linie eine
psychologische Wirkung und weniger die Verbesserung der machtpolitischen Position des bedrohten
Kanzlers erwartete. Das Misstrauensvotum hat allerdings in der gesamten Geschichte der Weimarer
Republik nur zweimal zum Sturz der Reichsregierung geführt – und zwar im Mai 1926 gegenüber der
304
Verfassung des Landes Baden vom 22. Mai 1947, Art. 80; Verfassung für Württemberg-Baden vom
28. November 1946, Art. 73; Verfassung für Württemberg-Hohenzollern vom 20. Mai 1947, Art. 51;
Landesverfassung der Freien und Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947, Art. 110.
305
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 552 und 598
306
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 60 und 73 f.
307
PR-Hauptausschuss, 3. Sitzung vom 16. November 1948
104
zweiten Regierung Luther und im September des gleichen Jahres gegenüber dem dritten Kabinett des
Reichskanzlers Marx, der dem Zentrum angehörte. In der Regel gab der Zerfall der Koalition den Anstoß
für den Rücktritt der Regierungen, und diese Möglichkeit bleibt auch nach der Neuformulierung des
Misstrauensvotums im Bonner Grundgesetz uneingeschränkt bestehen308.
2. Volksentscheid und Parlamentsauflösung
Die drei größten Fraktionen des Parlamentarischen Rates kamen zu der übereinstimmenden Auffassung,
auf plebiszitäre Verfahrensweisen im Grundgesetz zu verzichten. Volksbegehren und Volksentscheid sind
dementsprechend auf Bundesebene im Gegensatz zu den Länderverfassungen nicht vorgesehen. Die
einzige Ausnahme bildet hier die Volksabstimmung bei der Änderung der Ländergrenzen nach Art. 29 des
Grundgesetzes. Außerdem wurde die Möglichkeit der Bundestagsauflösung vom Verfassungsgeber
beschränkt, wenngleich es über das Ausmaß dieser Beschränkung in den siebziger und achtziger Jahren
Diskussionen gab.
Die Kritik an den etablierten Parteien der Bundesrepublik und der Erfolg der Bürgerbewegung in der
DDR haben dazu geführt, dass die partizipatorischen Elemente der Demokratie bereits in den achtziger
Jahren diskutiert und mit der deutschen Einigung in den Mittelpunkt der Verfassungsdebatte rückte. In
diesem Zusammenhang griff man auch auf die Entscheidungen des Parlamentarischen Rates zurück und
stellte die Frage, weshalb die Autoren des Grundgesetzes für eine nahezu lupenreine repräsentative Form
der Demokratie optierten. Die Antwort auf diese Frage ist schwierig, weil nur vier Mitglieder des Rates
für plebiszitäre Instrumente eintraten und deshalb kaum Anreiz für ausführliche Diskussionen bestand.
Die Entscheidung für die repräsentative Willensbildung schien für die weitaus meisten Mitglieder des
Parlamentarischen Rates nicht nur selbstverständlich, sondern auch unproblematisch zu sein. Carlo
Schmid (SPD) erklärte zu Beginn der Grundgesetzberatungen, ob der Bürger in Form der repräsentativen
oder der plebiszitären Demokratie an der Gesetzgebung teilnehme, sei „im allgemeinen eine
Zweckmäßigkeitsfrage”309. Man hat den Eindruck, die Problematisierung des Themas habe erst mit der
Wiederbewaffnungsdiskussion der fünfziger Jahre begonnen.
Der Parlamentarische Rat hatte über zwei unterschiedliche Abstimmungsvarianten zu entscheiden: Auf
der einen Seite stellte sich die nur beiläufig erörterte Frage nach der Aufnahme von Volksabstimmungen in
das Grundgesetz, auf der anderen Seite stand die ursprünglich von den Besatzungsmächten
vorgeschlagene Volksabstimmung über das Grundgesetz selbst zur Diskussion. Die Gründe für den
Verzicht auf eine Volksabstimmung über das Grundgesetz wurden nicht immer offen diskutiert und
protokolliert, weil sie in einem engen Zusammenhang mit der Ost-West-Auseinandersetzung um Berlin
standen und das Verhältnis zu den Besatzungsmächten unmittelbar betrafen. Die beginnende Berliner
Blockade veranlasste die Ministerpräsidenten im Juli 1948, die Volksabstimmung abzulehnen und statt
dessen die Ratifizierung des Grundgesetzes durch die Landtage vorzuschlagen. Hierbei ging es nicht um
die pseudoplebiszitären Propagandaaktionen des von der SED gesteuerten „Deutschen Volkskongresses”,
sondern um die Machtmittel der sowjetischen Besatzungsmacht. Die Moskauer Führung um Stalin konnte
eine Volksabstimmung zum Anlass nehmen, den Druck auf West-Berlin zu verstärken. Gleichzeitig
dachte man an das von den Westmächten angekündigte Besatzungsstatut, dessen Inhalt noch unbestimmt
war. Dass die Abstimmung über das Grundgesetz zu einem Votum gegen das Besatzungsstatut werden
könnte, war nicht ganz auszuschließen. Das Provisoriumskonzept der westdeutschen Politiker sollte
ebenfalls ernst genommen werden. Mit ihrer These, im Westen werde kein Teilstaat, sondern nur eine
Übergangslösung geschaffen, rechtfertigten sie ihre Politik in den Landesparlamenten sowie gegenüber
308
F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz... S. 79 ff.
309
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 36
105
kommunistischen und nationalen Kritikern.
Bei der späteren Diskussion zur Volksabstimmung über das Grundgesetz wurde häufig übersehen, dass
die Besatzungsmächte ein risikoreiches Abstimmungsverfahren festgelegt hatten. Die Londoner
Sechsmächtekonferenz forderte eine Abstimmung in den einzelnen Bundesländern. Falls die Bevölkerung
in zwei Dritteln der Länder (d. h. in acht von elf) zustimmte, war demnach das Grundgesetz angenommen.
Vier kleine Länder dagegen konnten die Verfassung zu Fall bringen, obwohl sie - wie der schleswigholsteinische Ministerpräsident Lüdemann bei der Ministerpräsidentenkonferenz auf dem Rittersturz
bemerkte - noch nicht einmal ein Drittel der Einwohner Westdeutschlands stellten. Es ging also bei dem
von den Besatzungsmächten vorgeschlagenen Referendum nicht um eine Mehrheitsentscheidung der
westdeutschen Bevölkerung, sondern es bestand die Gefahr, dass eine Minderheit von weniger als 20 %
der Abstimmenden ein negatives Ergebnis herbeiführen könnte310.
Nachdem der Herrenchiemsee-Konvent die Volksabstimmung in den Ländern und die Annahme des
Grundgesetzes durch Landtagsbeschlüsse als gleichwertige Alternativen vorgeschlagen hatte, schob der
Parlamentarische Rat das Problem zunächst vor sich her. Der Organisationsausschuss legte erst Anfang
Dezember 1948 auf Mahnung des Allgemeinen Redaktionsausschusses einen Entwurf vor, der einen
Volksentscheid entsprechend der Londoner Vereinbarungen vorsah. Der Hauptausschuss nahm diesen
Vorschlag am 7. Dezember zunächst ohne Debatte mit nur einer Gegenstimme an .
Die Militärgouverneure vermieden in dieser Phase eine genaue Aussage zur Ratifizierungsfrage. Als
Adenauer am 18. November dem britischen Militärgouverneur seine Bedenken wegen der geringen
Vorbereitungszeit für die Abstimmung vortrug, schlug dessen Berater Steel vor, die Bundestagswahl und
die Abstimmung über das Grundgesetz am gleichen Tag abzuhalten. Am 17. Dezember erklärten die
Militärgouverneure, die Fassung des Hauptausschusses mit der damals in Art. 148 e vorgesehenen
Volksabstimmung in den Ländern entspreche den alliierten Vorgaben. Falls diese Fassung geändert
werde, wären sie bereit, hierüber zu beraten. In Wirklichkeit waren nicht nur die Engländer und
Franzosen, sondern auch die Amerikaner mit einer Ratifizierung durch die Landtage längst einverstanden.
General Clay hatte aber durchgesetzt, die deutsche Seite über die Konzessionsbereitschaft nicht zu
informieren, weil er ein Referendum für die bessere Lösung hielt311.
Auf deutscher Seite sprach sich der SPD-Vorstand eindeutig gegen die vom Hauptausschuss der
Parlamentarischen Rates vorgesehene Volksabstimmung aus. In der Fraktion solle „klar gemacht
werden”, heißt es im Sitzungsprotokoll vom 10./11. Dezember 1948, dass die Ratifizierung durch die
Landtage die einzige Chance sei, „relativ schnell zum Ende zu kommen”. Die SPD-Abgeordneten im
Parlamentarischen Rat vertraten von da an in den Ausschüssen konsequent diese Linie und benutzten die
Zeitplanung als Hauptargument. In der FDP-Fraktion setzten sich Dr. Dehler und Dr. Becker energisch für
die Volksabstimmung ein, während Theodor Heuss Bedenken hatte, Abstimmung und Bundestagswahl an
einem Tag stattfinden zu lassen. Die Unionsfraktion des Parlamentarischen Rates entschied sich am 20.
Januar 1949 ohne ersichtliche Differenzen für die Volksabstimmung über das Grundgesetz312.
Anfang Februar deutete sich aber bereits ein Meinungswandel in der Unionsfraktion an, der für die
weitere Entwicklung entscheidend sein sollte. Adenauer trat bei einer Besprechung mit den
Ministerpräsidenten im Gegensatz zu seinen Fraktionskollegen für eine Abstimmung in den Landtagen
310
PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 94; ausführlicher K. Niclauß: Der Parlamentarische Rat und die
plebiszitären Elemente (APuZ B 45/92, S. 3-15)
311
PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 35 f. und 70 f.; O. Jung: Grundgesetz und Volksentscheid, Opladen
1994, S. 221 f. und 268 ff.
312
SPD-PV, Protokoll v. 10./11.12.1948 (AdsD); O. Jung: Grundgesetz und Volksentscheid.... 260 f. und
263 f.; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, Stuttgart
1981,.S. 350
106
ein. Die CDU/CSU revidierte nach und nach ihren Beschluss für die Volksabstimmung und schwenkte
ab März 1949 auf die SPD-Linie ein. Der Grund für diesen Wandel ist in der zunehmenden
Auseinandersetzung über die Berücksichtigung des sogenannten Elternrechts sowie über die Anerkennung
des Reichskonkordats von 1933 im Grundgesetz zu sehen. Diese Diskussion wird im VI. Kapitel
ausführlicher geschildert. Sie führte auch zu Anträgen, Volksbegehren und Volksentscheid in das
Grundgesetz aufzunehmen.
Adenauer spielte im Januar 1949 selbst mit dem Gedanken eines speziellen Volksentscheides für
weltanschauliche Fragen, weil zu diesem Zeitpunkt eine Fusion zwischen CDU und Zentrumspartei
erreichbar schien. Die ganze Gefahr dieses Manövers wurde ihm aber bewusst, als der Bischof von
Münster, Keller, Anfang Februar den Standpunkt vertrat, er müsse aufgrund der Ablehnung des
Elternrechts durch den Parlamentarischen Rat den Katholiken das “Nein” in der Abstimmung zum
Grundgesetz empfehlen. Adenauer schrieb einen alarmierenden Brief an den Kölner Erzbischof Frings,
der die „katastrophale Bedeutung” dieses Schrittes für die CDU/CSU deutlich machte: Sie würde im
Vorfeld der ersten Bundestagswahl für das Grundgesetz stimmen, während maßgebende Vertreter der
Kirche ihre Gläubigen dazu auffordern, gegen die Verfassung zu votieren. Für Adenauer und viele andere
CDU/CSU-Politiker war die Landtagsabstimmung angesichts dieser Perspektive der sicherere Weg. Der
spätere Außenminister v. Brentano z.B. gehörte aber zur „rigorosen Minderheit” (O. Jung) und hielt zusammen mit der FDP bis zum Schluss an der Forderung nach Volksabstimmung fest313.
Angesichts der insgesamt dürftigen Quellenlage sollte man sich vor einer monokausalen Erklärung des
Verzichts auf die Volksabstimmung über das Grundgesetz hüten. Die Einflussnahme der Kirchen und
insbesondere die katholische „Volksbewegung” für das Elternrecht leisteten aber zweifellos einen
wichtigen Beitrag zum Konsensus der beiden großen Parteien in dieser Frage. Entgegen der Interpretation
von Otmar Jung war in der Endphase der Grundgesetzberatungen die „Gefahr aus Münster” um ein
vielfaches höher als die im Parlamentarischen Rat kaum wahrgenommene kommunistische Gefahr aus
Ost-Berlin.
In der Frage nach der Aufnahme von Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz schien sich zu
Beginn des Parlamentarischen Rates eine Kontroverse anzukündigen. Statt dessen breitete sich aber
zwischen den Fraktionen aber ein übereinstimmendes Desinteresse aus, das erst im Dezember 1948 durch
konkrete Anträge zur Einführung plebiszitärer Verfahrensweisen unterbrochen wurde. Bei der
Eröffnungsdiskussion des Plenums erklärte der sozialdemokratische Sprecher Dr. Walter Menzel, man
werde Volksbegehren und Volksentscheide “unter bestimmten technischen Voraussetzungen” zulassen
müssen. Er vertrat damit die Linie seiner beiden Vorentwürfe zum Grundgesetz, die eine entsprechende
Möglichkeit eröffneten. Menzels Ausführungen stimmten auch mit den 1947 vom Parteitag der SPD
beschlossenen „Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik” überein. Die Richtlinien sahen
allerdings einen Volksentscheid „nur für bestimmte, in der Verfassung festgelegte Fälle” vor. Die generelle Regel lautete: „Die Gesetze werden vom Reichstag beschlossen”. Menzel hatte 1947 vor dem
Parteitag argumentiert, falls man „das schwerfällige Instrument des Volksentscheids” in allen Fällen
zulasse, könne sich das Parlament bei unbequemen Entscheidungen der Verantwortung entziehen314. Die
Volksgesetzgebung war nach sozialdemokratischen Verfassungsvorstellungen von vornherein der
Parlamentsgesetzgebung unterordnet. An erster Stelle stand das Ziel, den Entscheidungsspielraum und die
Verantwortlichkeit der Parlamentsmehrheit sicherzustellen.
Theodor Heuss (FDP) widersprach Menzel mit dem oft zitierten “Cave canem” und warnte davor, die
“künftige Demokratie” mit Volksbegehren und Volksentscheid zu belasten. Er begründete seine
Ablehnung mit der typisch konstitutionell-demokratischen Argumentation, die unmittelbare Demokratie
313
PR Akten und Protokolle Bd. 11, S. 86; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle
der Unionsfraktion, Stuttgart 1981, S. 407 und 544; Adenauer. Briefe 1947-1949, o.O.,o.J. S. 397 ff.
314
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 77; Protokoll SPD Parteitag 1947, S. 131 und 226
107
sei nur in überschaubaren Bereichen praktikabel. In der “großräumigen Demokratie” und “in der Zeit
der Vermassung und Entwurzelung” werde sie jedoch zu einer “Prämie für jeden Demagogen”. Menzel
berichtete dem Parteivorstand in Hannover über die ablehnende Haltung des FDP-Sprechers zu
Volksbegehren und Volksentscheid und fügte hinzu, man habe in der sozialdemokratischen Fraktion des
Parlamentarischen Rates hierüber noch nicht gesprochen, werde dies aber nachholen315. Eine Erörterung
in der Fraktion fand aber offenbar nicht statt, denn in den folgenden Berichten Menzels wird das Thema
nicht mehr erwähnt. Auch auf den Vorstandssitzungen der SPD wurden Volksbegehren und Volksentscheid nicht erörtert, obwohl die Parteiführung ausführlich und zum Teil kontrovers über
Einzelbestimmungen des Grundgesetzentwurfs diskutierte. Das Thema verschwand im Parlamentarischen
Rat für nahezu drei Monate von der Bildfläche. Die Sozialdemokraten hielten es offenbar für
nebensächlich und sahen keinen Anlass, eine aus ihrer Sicht überflüssige Kontroverse mit den Liberalen
anzuzetteln. Für eine Furcht vor kommunistischer Agitation gibt es in den vertraulichen Berichten
Menzels und bei den Beratungen des Vorstandes keinen Anhaltspunkt.
Als die Fraktion des Zentrums Anfang Dezember 1948 den offenbar hastig formulierten Antrag auf
Aufnahme des Volksentscheides ins Grundgesetz einbrachte, hatte der Hauptausschuss des
Parlamentarischen Rates gerade das sogenannte Elternrecht in erster Lesung abgelehnt316. Das Ziel des
Antrags war offenbar, nach Verabschiedung des Grundgesetzes eine entsprechende Regelung durch
Volksbegehren und Volksentscheid durchzusetzen. In der Eröffnungsdebatte des Plenums vom September
1948 hatte der Zentrumssprecher Brockmann die Verfahrensweisen der unmittelbaren Demokratie
überhaupt nicht erwähnt. Dass die KPD sich der Initiative des Zentrums anschloss und ebenfalls einen
Antrag auf Volksbegehren stellte, der allerdings besser formuliert war, trug ebenfalls nicht zur
Glaubwürdigkeit des Vorhabens bei.
SPD und FDP waren angesichts der damals anlaufenden katholischen Unterschriftenaktion nicht bereit,
ein Vehikel für das Elternrecht in das Grundgesetz aufzunehmen. Andererseits waren beide Fraktionen
auch nicht daran interessiert, die Auseinandersetzung mit den Kirchen über die Fragen des
Erziehungswesens und der Konkordate zu verschärfen. Dr. Heuss und Dr. Katz griffen deshalb in ihrer
Entgegnung auf ihre persönlichen Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik zurück, die aus
heutiger Sicht kritisch kommentiert werden können. Der Hinweis von Katz, es sei „unpraktisch, in den
jetzigen aufgeregten Zeiten derartige Zweifelsfragen zum Gegenstand großer Debatten zu machen”, kann
als Hinweis auf die damals aktuellen politischen Motive bewertet werden. Der Zentrumsantrag wurde
auch von den Sprechern der CDU im Hauptausschuss (Dr. v. Mangoldt, Dr. Fecht) abgelehnt und
scheiterte dort mit 18 zu 3 Stimmen317.
Der Plan eines Volksentscheids bei Änderungen des Grundgesetzes hatte im Parlamentarischen Rat
größere Erfolgsaussichten. Nach dem Entwurf des Herrenchiemsee-Konvents sollten alle
Verfassungsänderungen nicht nur mit Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat, sondern
außerdem in einer Volksabstimmung beschlossen werden. In der ersten Lesung des Hauptausschusses
verzichtete man auf die obligatorische Volksabstimmung bei allen Verfassungsänderungen. Ein
Volksentscheid sollte nur noch notwendig sein, falls ein Viertel der Mitglieder des Bundestages und des
Bundesrates dies verlangt. Bei den interfraktionellen Besprechungen vom 25. Januar 1949 kam man
überein, die Möglichkeit des Verfassungsreferendums ganz aus dem Grundgesetzentwurf zu streichen. Da
die Aufzeichnungen über diese Besprechung keinen Hinweis auf die Motive enthalten, ist man bei der
Interpretation auf die vorangehenden Diskussionen angewiesen. Wie aus den Beratungen des
Hauptausschusses hervorgeht, hatte die SPD-Fraktion bereits Anfang Dezember 1948 vergeblich die
315
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 111 f.; Menzel an Ollenhauer vom 17. September 1948 (NL C.
Schmid, 1162 - AdsD)
316
vgl. hierzu Kapitel VI.4.
317
PR-Hauptausschuss, 22. Sitzung vom 8. Dezember 1948
108
Streichung der Volksabstimmung über Verfassungsänderungen beantragt. Die von Dr. Katz hierzu
vorgetragene Begründung entsprach dem Grundgedanken der sozialen Mehrheitsdemokratie: Da für
Änderungen des Grundgesetzes bereits die Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat
vorgeschrieben war, bot die Volksabstimmung eine weitere Möglichkeit der „Verzögerung” und
„Verschleppung” bei „notwendig werdenden dringenden Verfassungsänderungen”. Der Vorschlag,
zusätzlich zur Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern auf Antrag einer Minderheit von Abgeordneten
noch eine Volksabstimmung stattfinden zu lasen, war in der Tat eine Anhäufung von „checks and
balances” und damit eine typisch konstitutionell-demokratische Konstruktion318. Ob die SPD bei den
interfraktionellen Besprechungen ihre Auffassung durchsetzte, oder die Teilnehmer von CDU/CSU, FDP
und DP (das Zentrum und die KPD waren auf dieser Sitzung nicht vertreten) die Fragwürdigkeit des
Entwurfs einsahen, bleibt offen.
Der Parlamentarische Rat verzichtete damit auf die in anderen Verfassungsstaaten und in den
Bundesländern vorgesehenen Verfahrensweisen der unmittelbaren Demokratie. Die einzige Ausnahme
war das sogenannte Territorialplebiszit nach Art. 29 GG. Es schreibt Volksabstimmungen bei Änderung
der Ländergrenzen vor und war zwischen Fraktionen unumstritten, obwohl die Festlegung des
Abstimmungsverfahrens einigen Zeitaufwand erforderte. Volksbegehren und Volksentscheid lagen
sozusagen quer zu den im Parlamentarischen Rat vertretenen Demokratiekonzeptionen: Aus Sicht der
sozialen Mehrheitsdemokratie beeinträchtigten sie die zentrale Position des Parlaments im
Verfassungssystem, aus Sicht der konstitutionellen Demokratie bedrohten sie das System der „checks and
balances” einschließlilch der Mitwirkungsrechte des Bundesrates319.
Die Frage der Parlamentsauflösung gehört ebenfalls zum Problembereich der unmittelbaren Demokratie,
denn eine vorzeitige Neuwahl der Abgeordneten löst zwar im Gegensatz zum Volksentscheid keine
Sachprobleme. Sie verbessert aber durch Personalentscheidungen möglicherweise die Voraussetzungen
für neue Wege und Lösungen. Der sozialdemokratische Verfassungsexperte Dr. Walter Menzel stellte zu
Beginn der Grundgesetzberatungen sogar den Volksentscheid über die Auflösung des Parlaments zur
Diskussion320. Der Parlamentarische Rat war jedoch in erster Linie bemüht, bei der Regelung der
Bundestagsauflösung eine mit der Weimarer Republik vergleichbare Entwicklung auszuschließen.
Nach Art. 25 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 hatte der Reichspräsident das Recht zur
Reichstagsauflösung und war hierbei an zwei Bedingungen gebunden: Die Auflösung durfte nur „einmal
aus dem gleichen Anlass” erfolgen und musste außerdem vom Reichskanzler gegengezeichnet werden.
Diese beiden Beschränkungen erwiesen sich in der Verfassungspraxis als unwirksam. Zur ersten
Bedingung setzte sich die staatsrechtliche Auslegung durch, der „Anlass” sei stets auf den Einzelfall
begrenzt. Da die politischen Verhältnisse sich dauernd ändern, könne man in Wirklichkeit kaum jemals
von einem „gleichen” Anlass sprechen321. Die Gegenzeichnungspflicht durch den Kanzler war vor allem
in der Schlussphase der Republik als Kontrollmittel wirkungslos, weil ein vom Misstrauensvotum
bedrohter Reichskanzler kaum interessiert sein konnte, die Auflösung zu verhindern. Das Auflösungsrecht
bildetet neben dem Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung und dem Recht des Reichspräsidenten zur
Nominierung des Kanzlers die Voraussetzung für die Präsidialregierungen unter Hindenburg und wurde
in der Nachkriegsdiskussion entsprechend kritisch bewertet.
Nachdem sich 1946/47 die Pläne zur Einführung von Staatspräsidenten in den Ländern nicht durchsetzen
konnten, entschieden sich hier die Verfassungsgeber in der Regel für die Selbstauflösung des Landtages
318
PR-Hauptausschuss, 12. Sitzung vom 1. Dezember 1948; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S.
360 ff.
319
K. Niclauß: Der Parlamentarische Rat und die plebiszitären Elemente...S. 11 ff.
320
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.77
321
F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz... S. 50
109
oder für die Auflösung aufgrund von Volksbegehren und Volksentscheid. Eine Selbstauflösung des
Parlaments sehen auch die beiden Menzel-Entwürfe von 1948 vor322. Der Herrenchiemsee-Konvent lehnte
diese Möglichkeit jedoch ab, weil dem Parlament und den Parteien hiermit ein Ausweg eröffnet werde,
sich in kritischen Situationen der Verantwortung zu entziehen. Auch die Parlamentsauflösung durch
Volksentscheid fand bei den Beratungen zum Grundgesetz keine Unterstützung mehr. Im
Parlamentarischen Rat waren alle Fraktionen bestrebt, Parlamentsauflösungen in Zukunft zu erschweren.
Bei den ausführlichen Beratungen über die Wahl des Bundeskanzlers stellte sich jedoch heraus, dass diese
Möglichkeit bei der Regierungsbildung nicht auszuschließen war. Falls sich die Mehrheit des
neugewählten Bundestages nicht auf einen Kanzler einigen kann, hat daher der Bundespräsident die Wahl,
entweder einen Minderheitenkanzler zu ernennen oder das Parlament aufzulösen. Im weiteren Verlauf der
Grundgesetzberatungen erwies sich eine zweite Variante der Bundestagsauflösung als notwendig: Der aus
den Abgeordneten v. Brentano (CDU), Dehler (FDP) und Zinn (SPD) bestehende Allgemeine
Redaktionsausschuss ging der Frage nach, was passiert, wenn ein Parlament der Regierung die
Unterstützung verweigert, gleichzeitig aber „an seinen Sesseln klebt” (Dehler) und kein konstruktives
Misstrauensvotum zustandebringt. Als Lösung bot sich die Vertrauensfrage im Sinne des späteren Art. 68
GG an: Wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht von der Mehrheit
der Mitglieder des Bundestags positiv beantwortet wird, kann dieser dem Bundespräsidenten die
Auflösung des Bundestags vorschlagen.
Der Parlamentarische Rat betrachtete diese Grundgesetzbestimmung als ein Instrument zur Stärkung der
Regierung. Umstritten ist, ob die Autoren des Grundgesetzes darüber hinaus dem Bundeskanzler den Weg
zu Neuwahlen eröffnen wollten, wie er 1972 und 1982 begangen wurde. Für diese Interpretation sprechen
die Ausführungen von Dr. Rudolf Katz (SPD), der den Grundgesetzartikel zur Vertrauensfrage
formulierte. Katz erklärte in der ersten Lesung des Hauptausschusses, bei der Vertrauensfrage handele es
sich nicht nur um einen Ausweg „im Falle eines ernsthaften politischen Konflikts”, sondern auch um ein
Auflösungsrecht „für den Fall, dass die Bundesregierung den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage
durch das Volk entscheiden zu lassen”. Bei der zweiten Lesung im Hauptausschuss wiederholte Katz
diese Interpretation und erklärte: „Der Sinn des Artikels . . . ist, der Regierung die Chance einer Neuwahl
zu geben, wenn sie es für gegeben erachtet”323.
3. Demokratie- und Verfassungsschutz in der Nachkriegsdiskussion
Der Versuch, das parlamentarische Regierungssystem mit institutionellen Reformen zu stabilisieren,
wurde in der Nachkriegsdiskussion von Überlegungen begleitet, die man zusammenfassend als den
Grundsatz der abwehrbereiten Demokratie bezeichnen kann. Diese Überlegungen ergaben sich aus den
Erfahrungen der Weimarer Republik: Damals benutzten antidemokratische Bewegungen die
demokratischen Rechte und Freiheiten zum Kampf gegen die Demokratie und hatten hiermit schließlich
auch Erfolg. Ein bezeichnendes Beispiel für diese Methode war die von Hitler schon in den zwanziger
Jahren propagierte Legalitätstaktik des Nationalsozialismus. Das Weimarer Verfassungssystem billigte
grundsätzlich allen die demokratischen Rechte ohne Ansehen ihrer politischen Zielvorstellungen und
Absichten zu. Nach 1945 dagegen war man allgemein der Auffassung, nur wer auf dem Boden der
demokratischen Verfassung stehe, könne die politischen Freiheiten für sich in Anspruch nehmen. An die
Stelle der “formalen Toleranz” von Weimar solle eine “gegenseitige Toleranz” treten nach dem Grundsatz: Die Demokratie toleriert nur diejenigen, die auch ihrerseits bereit sind, die demokratische
322
Text bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 269 und 282.
323
PR-Hauptausschuss, 4. und 33. Sitzung vom 17.11.1948 und 8.1.1949, Stenoprot. S. 44 und 415; K.
Niclauß: Mehr Spielraum für den Kanzler (Die Zeit, 3. 12. 1982, S. 5)
110
Grundordnung anzuerkennen.
Bereits zur Zeit der Weimarer Republik gab es allerdings Ansätze, den Grundsatz der abwehrbereiten
Demokratie zu verwirklichen. Von den Verordnungen im Anschluss an die Ermordung des
Zentrumspolitikers Matthias Erzberger (August 1921) bis zum Verbot der SA und SS im gesamten
Reichsgebiet (April 1932) diente das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 mehrfach
zur Bekämpfung antidemokratischer Bestrebungen. Außerdem bestand die Möglichkeit, durch
Verfassungsänderungen über die Neutralität der Reichsverfassung gegenüber verfassungsfeindlichen
Bestrebungen hinauszugehen. Diesen Weg beschritt man mit dem “Gesetz zum Schutz der Republik” vom
Juli 1922, das fünf Jahre lang galt und 1927 für weitere zwei Jahre verlängert wurde. Für eine erneute
Verlängerung war jedoch im Jahre 1929 die notwendige Zweidrittelmehrheit im Reichstag nicht mehr zu
erreichen, weil sich die DNVP unter der Führung Hugenbergs inzwischen gegen das Gesetz aussprach.
Die Verfassungsmäßigkeit dieser Schutzgesetzgebung konnte damals – und hier liegt der entscheidende
Unterschied zu den Nachkriegsregelungen – mit guten Gründen in Frage gestellt werden. Das Vorgehen
gegen antidemokratische Kräfte aufgrund des berüchtigten Art. 48 der Reichsverfassung war zwar
verfassungsmäßig besser fundiert, hing aber vom guten Willen des Reichspräsidenten ab. Die Aufhebung
des SA- und SS-Verbots unter der Kanzlerschaft Papens unterstrich die Ambivalenz dieser Möglichkeit,
denn der Republikschutz trat hier hinter dem Ziel zurück, die NSDAP in das Regierungskonzept
einzubeziehen oder zumindest ihre Tolerierung zu erkaufen324.
Das Prinzip der abwehrbereiten Demokratie lässt sich bis auf die Diskussionen in der deutschen
Emigration zurückverfolgen. Der Ausdruck selbst (militant democracy) wurde zuerst von dem
Verfassungsrechtler Karl Loewenstein benutzt. Loewenstein sprach bereits 1937 in der „American
Political Science Review“ den vom Faschismus bedrohten Demokratien das Recht zu, Grundrechte
aufzuheben und gegebenenfalls nichtdemokratische Parteien sowie paramilitärische Verbände zu
verbieten. Der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner schildert in seinen Erinnerungen ähnliche
Überlegungen. Er bezieht sich hierbei auf eine internationale Juristenkonferenz, die 1937 in Paris stattfand
und sich zu dem Grundsatz „Demokratie nur für Demokraten” bekannte325.
Mit Beginn der Verfassungsberatungen in Westdeutschland fand der Gedanke der abwehrbereiten
Demokratie bereits allgemeine Anerkennung, wenn er auch noch nicht in allen Landesverfassungen
eindeutig festgelegt wurde. In Baden sagte hierzu der Abg. Dr. Fecht (BCSV) als Berichterstatter, der
vorliegende Entwurf der Landesverfassung enthalte das, was der Weimarer Verfassung gefehlt habe –
nämlich den Grundsatz, dass jeder außerhalb der Verfassung stehe, sobald er die demokratischen Rechte
in verfassungswidriger Weise missbrauche. Der Betreffende habe damit auch das Recht verwirkt, “sich
gegenüber Notwehrhandlungen des Staates auf verfassungsmäßige Grundrechte und Freiheiten zu
berufen”. Carlo Schmid bezeichnete 1946 in Württemberg-Baden die Meinungsfreiheit, die
Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit als Grundrechte, welche in antidemokratischer Weise
Verwendung finden könnten. “Wir wollen uns nicht wieder dadurch lächerlich machen”, fügte er hinzu,
“dass wir uns von Leuten, die politisch kein anderes Ziel hatten, als die Freiheit auszulöschen, grinsend
vorhalten lassen: Wenn ihr uns daran hindert, dann verstoßt ihr gegen das Prinzip der Freiheit!”326.
Der Gedanke der abwehrbereiten Demokratie kommt dementsprechend in mehreren frühen
Landesverfassungen zum Ausdruck. Sie enthalten bereits die Möglichkeit zur Aberkennung von
324
G. Jasper: Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer
Republik 1922-1930. Tübingen 1963, S. 69 ff. und 277 ff.
325
K. Loewenstein: Militant Democracy and Fundamental Rights, in: APSR, Vol. XXXI, 1937, S. 417 ff.
und 638 ff.; ders.: Controle législatif de l´extrémisme politique dans les démocraties européennes, Paris
1939; W. Hoegner: Der schwierige Außenseiter... S. 250
326
Beratende Versammlung Badens, 11. Sitzung vom 10. April 1946 sowie Vorläufige Volksvertretung
für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946.
111
Grundrechten, wie sie später als „Grundrechtsverwirkung” mit dem Art. 18 in das Grundgesetz
aufgenommen wurde. Die hessische Verfassung nennt in diesem Zusammenhang die Rechte der freien
Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie das Recht zur “Verbreitung
wissenschaftlicher und künstlerischer Werke”. Über die Frage, ob im konkreten Einzelfall der Entzug
dieser Rechte zulässig ist, hat der Staatsgerichtshof auf dem Beschwerdewege zu entscheiden. In
Württemberg-Baden nahm man ähnliche Bestimmungen in die Grundrechtsartikel zur freien
Meinungsäußerung und zum Vereinigungsrecht auf. Besonders weitgehend ist die Regelung der
badischen Verfassung, weil sie die Verwirkung aller Grundrechte zulässt. Die Aberkennung von
Grundrechten wird im Verfassungstext ausdrücklich als eine “Notwehrhandlung des Staates” bezeichnet,
über deren Berechtigung der Verfassungsgerichtshof zu entscheiden hat. Die Verfassungen von Baden
und Rheinland-Pfalz erweitern dieses Prinzip auf das Parteiensystem: Sie sehen das Verbot von
verfassungswidrigen Parteien oder ihren Ausschluss von Wahlen und Abstimmungen vor327.
Nach dem Vorbild der Länderverfassungen war man auch bei den Grundgesetzberatungen bestrebt, das
Prinzip der abwehrbereiten Demokratie in erster Linie durch die Einschränkung bestimmter Grundrechte
zu verwirklichen. Der Entwurf von Herrenchiemsee enthält in Art. 20 bereits die Bestimmung, wer die
Freiheit der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit zum
Kampf gegen die freiheitliche und demokratische Grundordnung verwende, könne sich in Zukunft nicht
mehr auf diese Grundrechte berufen. Der Konvent erläuterte diesen Grundsatz mit dem Hinweis, “daß
jede Demokratie, die in diesem Punkt achtlos ist, in Gefahr steht, selbstmörderisch zu werden”. Die
Möglichkeit zur Einschränkung des Vereinigungsrechtes wurde außerdem durch einen Zusatz zu Art. 9
(Vereinigungsfreiheit) bekräftigt. Demnach sind alle Vereinigungen verboten, welche die Demokratie
oder die Völkerverständigung gefährden. Für die Parteien sah der Konvent eine Sonderregelung vor, die
bereits weitgehend dem Grundgesetz entspricht: Ein Parteienverbot sollte aufgrund dieser Bestimmung
nur vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden können, falls die betreffende Partei die
“Beseitigung der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung” anstrebt328. Über alle
Verfassungsbestimmungen dieser Art bestand auf Herrenchiemsee eine grundsätzliche Übereinstimmung.
Ein abweichendes Votum wird weder im Text des Entwurfs noch im kommentierenden Teil des Berichts
erwähnt.
Im Parlamentarischen Rat wurde der Kreis der in Frage kommenden Rechte gegenüber Herrenchiemsee
erweitert: Nach und nach traten mit der Lehrfreiheit, dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, dem
Eigentum sowie dem Asylrecht weitere Grundrechte hinzu. Umstritten blieb allerdings, ob die
Grundrechtsverwirkung von vornherein durch das Verfassungsgericht ausgesprochen oder erst auf
Beschwerde des Betroffenen bestätigt werden sollte, wie es der Herrenchiemsee-Entwurf vorsah. Gegen
den Beschwerdeweg sprach sich im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates vor allem der
FDP-Abgeordnete Dr. Dehler aus: Er befürchtete, jede Polizeibehörde und Verwaltungsstelle könne auf
diese Weise Grundrechte suspendieren. Der Betroffene sei dann „praktisch vogelfrei”. Er müsse sich an
die Gerichte wenden und zusehen, wie er zu seinem Recht komme. Der Hauptausschuss entschloss sich
unter dem Eindruck dieser Bedenken mit 13:7 Stimmen, die Kompetenz zur Aberkennung von
Grundrechten allein dem Bundesverfassungsgericht zuzusprechen329. Die Endfassung des Art. 18 erhielt
dementsprechend den Zusatz: „Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen”.
Über die Möglichkeit des Parteienverbots gab es im Parlamentarischen Rat keine Meinungsverschiedenheiten mehr. Wie aus den Beratungen des Organisationsausschusses hervorgeht, bewerteten
327
Vgl. die Verfassungen von Hessen (Art. 17), Württemberg-Baden (Art. 11 und 15), Baden (Art. 118
und 124) sowie Rheinland-Pfalz (Art. 133).
328
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 516, 581 f. und 589
329
PR- Hauptausschuss, 44. Sitzung vom 19. Januar 1949.
112
die Mitglieder des Rates ein eventuelles Verbot nicht nur als rechtliche, sondern auch als politische
Entscheidung. Nach den Worten des sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Katz konnten politische
Gesichtspunkte dafür sprechen, „dass auch Parteien, die im übrigen bedenklich erscheinen, vorläufig
geduldet werden”. Sein Fraktionskollege Dr. Löwenthal gab zu bedenken, ob es zweckmäßig sei,
antidemokratische Parteien in die Illegalität zu drängen, wo sie schwerer zu fassen seien. Der Ausschuss
wandte sich aufgrund dieser Erwägungen dagegen, eine „feste Marschroute” für das Verfassungsgericht
festzulegen330.
Der Parlamentarische Rat ließ durch den politischen Charakter des Verfahrens bewusst die Möglichkeit
offen, verfassungsfeindlichen Parteien nicht mit dem Instrumentarium des Demokratieschutzes, sondern
in der demokratischen Auseinandersetzung entgegenzutreten. Die innere Problematik der “abwehrbereiten
Demokratie” entspricht allerdings weitgehend dem Problem der Notstandsregelung in demokratischen
Verfassungen: Die Demokratie kann im Unterschied zu autoritären und totalitären Regimen nur bedingt
durch Kontrollen und Sanktionen aufrechterhalten werden. Da sie ihre Legitimität von der freiwilligen
Zustimmung zum Gemeinwesen und vom Konsensus unterschiedlicher Interessen und Ideen ableitet,
verbindet sich mit dem Demokratieschutz in der oben beschriebenen Form immer ein gewisser Selbstwiderspruch. Die Anwendung dieser Bestimmungen setzt eine Unterscheidung zwischen verfassungsmäßiger und verfassungsfeindlicher Opposition voraus, die im konkreten Einzelfall nicht leicht
zu treffen ist. Einerseits können die regierenden Parteien in Versuchung geraten, eine zwar unbequeme,
aber verfassungsmäßige Opposition zu unterdrücken, andererseits liegt es für verfassungsfeindliche
Bestrebungen nahe, die Schutzbestimmungen der Verfassung durch Legalitätstaktik zu umgehen. Mit der
Möglichkeit des Parteienverbots besteht gleichzeitig für das demokratische Parteiensystem die Gefahr der
Erstarrung: Da sich die etablierten Parteien auf diesem Wege der Konkurrenz von „Außenseitern”
entledigen können, verlieren sie möglicherweise ihre Dynamik und ihre Anpassungsfähigkeit an neue
gesellschaftliche Entwicklungen. Das Verbot unbedeutender verfassungsfeindlicher Parteien kann
außerdem unter politischen Gesichtspunkten überflüssig sein, während das Verbot einer Massenpartei
wenig Erfolg verspricht331. Der Parlamentarische Rat hat versucht, die innere Problematik des Demokratieschutzes zu lösen, indem er seine Anwendung den Verwaltungsinstanzen weitgehend entzog und in
die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts verwies.
Zum Bereich des Verfassungsschutzes gehörte nach 1945 auch der Versuch, für bestimmte Teile der
geschriebenen Verfassung ein Änderungsverbot durchzusetzen und auf diesem Wege zur Stabilisierung
der neu zu errichtenden Demokratie beizutragen. Diese Bestrebungen sind ebenfalls aus der Reaktion auf
die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Machtergreifung zu verstehen. Wie bereits oben
erwähnt, waren nach dem Wortlaut der Reichsverfassung von 1919 und nach vorherrschender Auffassung
der Staatsrechtslehre die Möglichkeiten zur Verfassungsänderung unbegrenzt. Vorausgesetzt wurde
lediglich, dass die notwendigen Mehrheiten für das Änderungsgesetz zustande kamen. In dem damals
weitverbreiteten Kommentar von Anschütz heißt es zu dieser Frage: „Auf dem durch Art. 76 geregeltem
Gesetzgebungswege können . . .Verfassungsrechtsänderungen jeder Art bewirkt werden: nicht nur minder
bedeutsame, mehr durch technische als durch politische Erwägungen bedingte, sondern auch bedeutsame,
einschließlich solcher, die sich auf die rechtliche Natur des Reichsganzen (Bundesstaat), die
Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern, die Staats- und Regierungsform des Reiches und
der Länder (Republik, Demokratie, Wahlrecht, Parlamentarismus, Volksentscheid, Volksbegehren) und
andere prinzipielle Fragen (Grundrechte!) beziehen”332.
Diese Verfassungsinterpretation ging bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik Hand in Hand
330
PR- Organisationsausschuss, 6. Sitzung vom 24. September 1948, Stenoprotokoll S. 34 f.
331
Diese Gesichtspunkte bei K. Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Karlsruhe 1972, S. 275 ff.
332
G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Berlin 1933, S. 403
113
mit der politischen Praxis, durch verfassungsändernde Ermächtigungsgesetze das Gesetzgebungsrecht
vom Parlament an die Regierung zu delegieren. Ursprünglich waren diese Ermächtigungen auf bestimmte
Gebiete begrenzt und zeitlich befristet. Außerdem hatte der Reichstag das Recht, die betreffenden
Verordnungen gegebenenfalls außer Kraft zu setzen. Unter dem Eindruck der Krisensituation des Jahres
1923 erhielt jedoch die Exekutive zum ersten Mal eine unbegrenzte Ermächtigung zugesprochen: Die
damalige Regierung Stresemann wurde am 13. Oktober 1923 beauftragt, alle „Maßnahmen zu treffen,
welche sie auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet für erforderlich und dringend” hielt,
und konnte hierbei auch von den Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung abweichen. Diese
verhängnisvollen Präzedenzfälle dienten Hitler als Vorbild und Rechtfertigung für sein eigenes
Ermächtigungsgesetz, das am 24. März 1933 unter der umfassenden Bezeichnung „Gesetz zur Behebung
der Not von Volk und Reich“ mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit verabschiedet wurde.
Die Weimarer Erfahrungen veranlassten den Parlamentarischen Rat, für jede Verfassungsänderung eine
ausdrückliche Änderung des Grundgesetztextes zu verlangen. Außerdem sprachen sich die
Nachkriegspolitiker für eine „halbstarre Verfassung” aus. Verfassungsvorschriften, auf deren
Wirksamkeit ein demokratisches System nicht verzichten konnte, sollten demnach von jeder
Verfassungsänderung ausgeschlossen sein333. Die frühen Landesverfassungen sind auch in dieser Hinsicht
Vorläufer des Grundgesetzes: Die badische Verfassung zum Beispiel legt fest, dass ihre
„Grundbestandteile” auch durch ein verfassungsänderndes Gesetz nicht beseitigt werden können. Die
Verfassungen von Bayern und Württemberg-Baden bezeichnen Anträge auf Verfassungsänderung, welche
dem demokratischen Grundgedanken der Verfassung widersprechen, als unzulässig. Die hessische
Verfassung erklärt die Grundrechte zum festen Bestandteil der Verfassung und enthält außerdem die
Bestimmung: „Die Errichtung einer Diktatur, in welcher Form auch immer, ist verboten”334. Nach dem
Vorschlag des Herrenchiemsee-Konvents sollten alle Anträge zur Änderung des Grundgesetzes, die auf
eine Beseitigung der „freiheitlichen und demokratischen Grundordnung” hinauslaufen, unzulässig sein.
Der Konvent bemerkt hierzu im darstellenden Teil seines Berichts, das „föderative Grundelement” werde
in diesem Zusammenhang bewusst nicht erwähnt, weil man ihm diesen „letztgültigen Rang” nicht
zugestehen wolle335.
Trotz dieser Vorarbeiten entwickelte sich im Parlamentarischen Rat eine ausführliche Diskussion zum
Verfassungsänderungsverbot. Über die Zielsetzung und die zeitgeschichtliche Begründung dieser Klausel
bestand zwar allgemeine Übereinstimmung; umstritten war jedoch ihre politische Wirksamkeit. Der
sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Katz vertrat im Organisationsausschuss die Ansicht, die
Bestimmung des Herrenchiemsee-Entwurfs sei überflüssig, denn der Vorsitzende des Parlaments dürfe
derartige Anträge gar nicht zur Abstimmung stellen. Sie könne in dieser Form auch die Errichtung einer
Diktatur nicht wirksam verhindern. Der Allgemeine Redaktionsausschuss sprach sich ebenfalls für die
Streichung aus, weil revolutionäre Gruppen ihre Ziele nicht in der Form von Anträgen zum Ausdruck
bringen336 .Aufgrund dieser Bedenken entschloss sich der Parlamentarische Rat, nur den
bundesstaatlichen Aufbau sowie Art. 1 und Art. 20 GG von der Verfassungsänderung auszunehmen. Man
war sich darin einig, mit dieser Festlegung keine Revolution verhindern zu können. Eine
antidemokratische Machtergreifung sollte sich aber in Zukunft nicht mehr auf eine scheinbare
Rechtmäßigkeit berufen können. Der Abg. Dr. Dehler erklärte hierzu vor dem Hauptausschuss, man habe
333
Zum Begriff der halbstarren Verfassung R. Thoma: Über Wesen und Erscheinungsform der modernen
Demokratie... S. 36.
334
Vgl. die Verfassungen von Baden (Art. 92), Bayern (Art. 75), Hessen (Art. 26 und 150) und
Württemberg-Baden (Art. 85).
335
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 558
336
PR-Organisationsausschuss, 14. Sitzung vom 14. Oktober 1948, Stenoprot. S. 30; PR-Drucksache Nr.
318 vom 26. November 1948
114
diese „Barriere” aufgerichtet mit der Absicht, der Revolution die „Maske der Legalität” zu nehmen337.
Schließlich kann man die Frage stellen, ob die Bekenntnisse der westdeutschen Politiker zur Idee des
vereinten Europa als Beitrag zum Schutz der Demokratie und zum Schutze der Deutschen vor sich selbst
zu interpretieren sind. Die Europaidee erschien in der Nachkriegssituation vielen als Rettungsanker, da
das Nationale in Deutschland diskreditiert und angesichts von Besetzung und Teilung des Landes ohne
rechten Anknüpfungspunkt war. Die angesehene Zeitschrift “Die Gegenwart” beleuchtete diese Motive zu
Beginn des Jahres 1949 in einem Beitrag mit dem Titel “Flucht nach Europa”338. Im Parlamentarischen
Rat bestand aber unabhängig hiervon der Konsensus, das Grundgesetz nach Europa hin offen zu halten.
Dies ist zunächst darauf zurückzuführen, dass führende Mitglieder des Rates, wie Konrad Adenauer und
Carlo Schmid, bereits in der europäischen Einigungsbewegung aktiv waren. Hinzu kam der realpolitische
Gedanke an die Zukunft des Ruhrgebiets: Die Londoner Sechsmächtekonferenz hatte bereits im Frühjahr
1948 beschlossen, die dortige Kohle- und Stahlproduktion von einer internationalen Behörde verwalten zu
lassen339. Mitglieder des Parlamentarischen Rates schlugen vor, ähnliche Formen der Zusammenarbeit für
die Bereiche der Energie und der Flugsicherheit zu entwickeln. Ein dritter Gesichtspunkt war das
Sicherheitsbedürfnis Westdeutschlands: Bereits zu Beginn der Grundgesetzberatungen stimmte man
überein, dass der zukünftige Bundesstaat einem kollektiven Sicherheitssystem beitreten und in diesem
Zusammenhang auf Hoheitsrechte verzichten sollte340.
337
PR-Hauptausschuss, 36. Sitzung vom 12. Januar 1949
338
Die Gegenwart, Februar 1949
339
PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 11 und 14 ff.
340
ausführlicher M. Bermanseder: Die europäische Idee im Parlamentarischen Rat, Berlin 1998
115
VI. Die Demokratiediskussion im Parlamentarischen Rat
Der Konsensus im Parlamentarischen Rat bildete die Grundlage für das spätere Regierungssystem der
Bundesrepublik. Er steht deshalb im Mittelpunkt der meisten Untersuchungen zur Entstehung des
Grundgesetzes. Interessanter sind aber die Kontroversen des Parlamentarischen Rates, weil sie die
unterschiedlichen Demokratievorstellungen der Nachkriegszeit deutlich zum Ausdruck bringen. Die
folgende Interpretation geht von der politischen Auseinandersetzung der Jahre 1946/47 aus und
untersucht, in welcher Form die beiden Konzeptionen der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ und der
„konstitutionellen Demokratie“ die Entstehung des Grundgesetzes beeinflussten. Die
Demokratiediskussion im Parlamentarischen Rat wird anhand von fünf Verfassungsproblemen untersucht,
die bei den Grundgesetzberatungen im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zwischen den
Parteien und Fraktionen standen: Die Form und die Rechte der Länderkammer, die Stellung der Judikative
im Verfassungssystem, die Grundrechtsproblematik, die Gesetzgebungsbefugnisse und die Aufteilung der
Verwaltungskompetenzen einschließlich der Finanzverwaltung.
Im Verlauf dieser Untersuchung wird sich zeigen, dass die Beratungen des Parlamentarischen Rates nicht
„aus sich heraus“ zu erklären sind. Die politischen Ziele der „Verfassungsväter“ und der vier weiblichen
Autoren des Grundgesetzes sind erst in Zusammenhang mit der Neuordnungsdiskussion sinnvoll zu
interpretieren, die seit 1945 in Westdeutschland geführt wurde. Die Motive und taktischen Überlegungen
der beteiligten Politiker werden in den Aufzeichnungen über die Grundgesetzberatungen oft nur angedeutet und lassen sich nicht auf den ersten Blick rekonstruieren. Gelegentlich retuschierte man im
Parlamentarischen Rat sogar das gedruckte Protokoll, um den Kontrahenten zu schonen und die Wirkung
nach außen zu dämpfen341.
Der dezente Beratungsstil des Parlamentarischen Rates ist nicht in erster Linie auf die Kultiviertheit der
maßgebenden Politiker zurückzuführen, sondern auf die äußeren Bedingungen: Man hatte den Auftrag,
unter einer Besatzungsherrschaft eine Verfassung zu formulieren, die anschließend von den Besetzern
gebilligt werden musste. Die Besatzungsmächte stellten gleichzeitig mit der Übergabe der Frankfurter
Dokumente zwar ein Besatzungsstatut in Aussicht, welches die deutschen und alliierten Rechte abgrenzen
sollte. Der Inhalt dieses Statuts blieb jedoch bis zum Ende der Grundgesetzberatungen unbestimmt. Hinzu
kam die Ungewissheit angesichts der Blockade West-Berlins. Diese begann bereits vor dem
Zusammentritt des Parlamentarischen Rates und wurde erst nach Fertigstellung des Grundgesetzes
aufgehoben.
341
In der Debatte über die Geltung des Reichskonkordats vom 20. Juli 1933 übte der Abg. Zinn (SPD) Kritik am
Verhalten der Katholischen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus. Seine Rede wurde im Protokoll des
Hauptausschusses vom 20. Januar 1949 „entschärft“; der ungekürzte Redetext im Nachlass Menzel R 2 - AdsD.
116
1. Funktion und Zusammensetzung der Länderkammer
a. Die Positionen
Bisher hat man die Beratungen des Parlamentarischen Rates über die Kompetenzen und die Struktur des
Bundesrates vorwiegend unter dem Gesichtspunkt des Ländereinflusses im politischen System der
Bundesrepublik untersucht, so dass die Zweikammerfrage als ein Teilaspekt der umfassenderen
Föderalismusproblematik erschien. Diese Betrachtungsweise entspricht der deutschen
Verfassungstradition, weil hier die Mitwirkung der Einzelstaaten an den politischen Entscheidungen des
Reiches immer als Maßstab für den föderalistischen Gehalt der Verfassung galt. Die Vielschichtigkeit des
Bicameralismus und seine Bedeutung für das Demokratieverständnis wurden dabei nicht immer
ausreichend berücksichtigt. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates selbst haben damals offenbar die
Problematik der zweiten Kammer differenzierter gesehen. So erklärte zum Beispiel der
CDU-Abgeordnete Dr. Lehr vor dem Plenum, Zweikammersystem und Föderalismus dürfe man nicht als
„identische Begriffe“ betrachten, denn eine zweite Kammer sei sowohl in einem Bundesstaat als auch in
einem Einheitsstaat denkbar. Konrad Adenauer wiederholte diese Überlegung wenige Tage später vor
dem Zonenausschuss einer Partei und äußerte sich bei dieser Gelegenheit ausführlicher über die Notwendigkeit von zwei Kammern. Die Deutschen seien „labil“ und neigten zum Radikalismus „sowohl nach
der linken wie nach der rechten Seite“. Zur Zeit werde diese Neigung noch durch den Schock des
Zusammenbruchs und die Anwesenheit der Besatzungsmächte gebremst. Für die Zukunft sei der eine von
der „Massenstimmung losgelöste Struktur“ unbedingt erforderlich. Adenauer war auch der Überzeugung,
das Fehlen einer vollwertigen zweiten Kammer sei der Hauptfehler der Weimarer Republik gewesen342.
Bereits zu Beginn der Grundgesetzberatungen bestand zwischen den Fraktionen des Parlamentarischen
Rates Übereinstimmung, dass neben dem unmittelbar gewählten Parlament eine weitere Kammer als
Vertretung der Länder eingerichtet werden sollte, damit das bundesstaatliche Element des neuen
Gemeinwesens in der Verfassung ausreichend zur Geltung komme. Die entsprechende Empfehlung des
Herrenchiemsee-Konvents wurde zu Beginn der Grundgesetzberatungen im zuständigen
Organisationsausschuss des Parlamentarischen Rates bestätigt, als sich auf die Frage des
Ausschussvorsitzenden gegen die Errichtung einer zweiten Kammer an sich kein Widerspruch erhob343.
Über die konkrete Gestaltung der zweiten Kammer bestanden jedoch Auffassungsunterschiede. Aus einer
genaueren Durchsicht der Beratungen geht hervor, dass die Form ihrer Mitwirkung beim
Gesetzgebungsverfahren in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist: Im Hauptausschuss
des Parlamentarischen Rates wurde diese Frage von den Abgeordneten Rudolf Katz (SPD) und Robert
Lehr (CDU) übereinstimmend als das „Kernproblem“ und als „entscheidender Punkt“ der Beratungen
bezeichnet. Für Adolf Süsterhenn (CDU), der als prononcierter Vertreter der Länderinteressen gelten
kann, hatte die Gleichberechtigung der zweiten Kammer größere Bedeutung als die Frage ihrer
Zusammensetzung. Er erklärte, seine Fraktion werde „unter allen Umständen an der Forderung nach
Gleichberechtigung festhalten“, gleichgültig wie die innere Struktur dieser Kammer aussehen möge344.
Die Frage der Gleichberechtigung oder Nichtgleichberechtigung im Gesetzgebungsverfahren erhielt
damit auf Bundesebene eine ähnliche Schlüsselfunktion wie bei den Verfassungsberatungen in den
342
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 219; Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 19461949. Dokumente zur Gründungsgeschichte der CDU, Bonn 1975, S. 20 f.; G. Bergmann: Der Staatsratsgedanke
im parlamentarischen Deutschland, Baden-Baden 1994, S. 141-153 sowie die föderalistische Interpretation bei R.
Ley: Föderalismusdiskussion innerhalb der CDU/CSU, Mainz 1978, S. 77-94
343
PR-Organisationsausschuss, 3. Sitzung vom 21. September 1948, Stenoprot. S. 3
344
PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30. November 1948.
117
Ländern von 1946/47. Auch im Parlamentarischen Rat gibt ihre Beantwortung Aufschluss über die
unterschiedlichen Demokratievorstellungen der Fraktionen und Gruppierungen.
Für eine gleichberechtigte Mitwirkung der zweiten Kammer bei der Gesetzgebung sprachen sich im
Plenum des Parlamentarischen Rates vor allem die Abgeordneten Dehler (FDP), Lehr (CDU) und
Süsterhenn (CDU) aus. Sie begründeten ihre Forderung mit Argumenten, welche für die
konstitutionell-demokratische Position typisch sind und zum größten Teil bereits bei den Beratungen der
Landesverfassungen Verwendung fanden. Dehler beschwor die Versammlung, man habe vielleicht die
letzte Chance, in Deutschland eine „gesunde Demokratie“ zu schaffen. Aus der geschichtlichen Erfahrung
glaubte er den Beweis dafür antreten zu können, dass nur diejenigen Demokratien Bestand haben, welche
auf „einer gewissen Vielfältigkeit“ und ausgleichenden Einrichtungen beruhen. Die „stilgerechten“
Demokratien aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, zu denen er auch die Weimarer Republik zählte,
seien demgegenüber wesentlich anfälliger für die Gefahren der Diktatur gewesen. Man dürfe daher nicht
dem „Gesetz der Ästhetik“ folgen, sondern müsse „Gegengewichte“ schaffen. Er war der Auffassung,
eine gleichberechtigten zweiten Kammer werde das „Gesetz der Polarität“ verwirklichen und eine
fruchtbare Spannung im Verfassungssystem schaffen. Auf diese Weise entstehe ein „Kondominium“, weil
ein Gesetz nur durch die positive Entscheidung beider Kammern verabschiedet werde.
Gleichzeitig kam in den Ausführungen Dehlers die Frontstellung zur sozialen Mehrheitsdemokratie
deutlich zum Ausdruck: Seine Bemerkung, die Gleichberechtigung bilde ein Gegengewicht gegen den
„von uns nicht für glücklich gehaltenen übermächtigen Parlamentarismus“, bezog sich auf den
verfassungspolitischen Grundgedanken dieser Demokratievariante. Auch mit der Tendenz zum Sozialund Verteilungsstaat, die aus mehrheitsdemokratischer Sicht uneingeschränkt akzeptiert wurde, setzte er
sich kritisch auseinander. Gleichberechtigte Kammern waren in seinen Augen ein Regulativ gegen
„überstürzte und nicht überdachte Gesetzgebung. Er hielt es für sinnvoll, wenn man eine „Bremse“
einrichte gegen die „Krankheit unserer Zeit“, nämlich gegen die „Hypertrophie der Gesetzgebung“, die
auf dem Wahnglauben beruhe, „dass man das Leben normieren könne“.
Neben Dehler plädierte im Parlamentarischen Rat vor allem Robert Lehr (CDU) für den Grundgedanken
der „Polarität“ und für eine Ausbalancierung der Kräfte im Verfassungssystem. Der
„Parlamentsabsolutismus“ schien ihm vermeidbar zu sein, wenn neben das vorwärtsdrängende Element
des Parlaments ( „bewegt von seinen Parteien, die wetteifernd um die Probleme des Tages ringen“) ein
Element der Kontinuität, der Stabilität und des ruhigen Abwägens trete. Bezeichnend für die
konstitutionell-demokratische Sicht der nationalsozialistische Machtergreifung ist außerdem Dehlers
Frage, wie Entwicklung im Jahre 1933 verlaufen wäre, wenn zum Ermächtigungsgesetz die Zustimmung
einer voll gleichberechtigten zweiten Kammer notwendig gewesen wäre. Auch Adolf Süsterhenn (CDU)
setzte sich zu Beginn der Grundgesetzberatungen für eine gleichberechtigte zweite Kammer ein, weil
seiner Ansicht nach die politische Willensbildung „grundsätzlich zweigleisig“ erfolgen sollte. Er
befürwortete eine pluralistische Gestaltung von Staat und Gesellschaft, in der jede Machtkonzentration
von vornherein verhindert werde. Als historisches Vorbild für seine Überlegungen nannte er die Ideen
Montesquieus, insbesondere den Grundsatz, dass jede Macht der Gefahr des Missbrauchs ausgesetzt sei
und jeder Mensch geneigt sei, „die Gewalt, die er hat, zu missbrauchen, bis er Schranken findet“. Konrad
Adenauer hatte aktuellere Motive im Sinn und argumentierte vor der CDU/CSU-Fraktion, man müsse sich
davor schützen, dass sich nach der Wahl die Majorität einer Partei ergibt, die anschließend die
„Sozialisierung von Eisen, Kohle, Elektrizität, Chemie usw.“ durchführen könne. Diese Gefahr bestehe,
wenn die Sozialdemokratie „mit der KPD die Mehrheit bekommt“345.
Ein zusätzliches Argument für die Gleichberechtigung der beiden Kammern lieferte der unmittelbar vor
Zusammentritt des Parlamentarischen Rates veröffentlichte Verfassungsentwurf des „Deutschen
Volksrates“ in der sowjetischen Zone. Der Entwurf gilt als Vorbild der im Oktober 1949 verabschiedeten
345
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 57, 225 f., 228 f. und 518; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat.
Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, eingel. und bearb. von Rainer Salzmann, Stuttgart 1981, S. 144 f.
118
DDR-Verfassung und sah eine Länderkammer vor, die jedoch lediglich ein Einspruchsrecht gegen die
Gesetzesbeschlüsse der Volkskammer hatte. Dem Abgeordneten Schwalber (CSU) diente dies als weiterer
Beweis für die Gefahren, welche sich aus dem „Übergewicht“ der unmittelbar gewählten Kammer für den
„Bestand einer wirklichen Demokratie“ ergeben. In der Schlussphase der Grundgesetzberatungen wurde
dieser Gesichtspunkt noch einmal geltend gemacht, als Dr. Lehr (CDU) vor einem
„Parlamentsabsolutismus nach volksdemokratischem Muster“ warnen zu müssen glaubte346.
Die Gegner einer gleichberechtigten zweiten Kammer argumentierten im Sinne der sozialen
Mehrheitsdemokratie: Sie waren der Auffassung, der Bundestag sei als „die vom Volk zur Gesetzgebung
berufene Kammer“ anzusehen und müsse aus diesem Grunde über die „Superiorität“ beim
Zustandekommen der Gesetze verfügen. Diese Position wurde im Parlamentarischen Rat nicht nur von
sozialdemokratischer Seite, sondern auch von den Sprechern der Zentrumsfraktion vertreten. Bei
Gleichberechtigung beider Kammern rechnete man mit Konfliktsituationen, welche gegebenenfalls die
Gesetzgebungsprozess hemmen oder gar zum Erliegen bringen könnten. Die Zentrumsabgeordnete
Helene Wessel äußerte im Hauptausschuss, wenn beide Kammern einen übereinstimmenden Beschluss
fassen müssten, damit überhaupt Gesetze zustande kommen, schaffe man ein Regierungssystem, dessen
Parlamentarismus „von vornherein gefährdet“ sei. Hier wird deutlich, dass die Vertreter der sozialen
Mehrheitsdemokratie im Verlust der Funktionsfähigkeit die eigentliche Gefahr für den Bestand der neu zu
errichtenden Demokratie erblickten. Rudolf Katz (SPD) erklärte hierzu vor dem Plenum: „Wenn der
Apparat, den wir jetzt aufstellen, nicht funktioniert, wenn die Spielregeln, die wir jetzt schaffen, nicht zu
einem guten demokratisch-politischen Erfolg führen, dann wird am Horizont der nächste Diktator
auftauchen“. Nach mehrheitsdemokratischer Auffassung sollte die zweite Kammer beim
Gesetzgebungsverfahren lediglich ein Einspruchsrecht besitzen347.
Neben der Alternative: Gleichberechtigung oder Vetorecht stand die Frage der Zusammensetzung im
Mittelpunkt der Diskussion über die Länderkammer. Die Vorschläge hierzu müssen zunächst unabhängig
von der Gleichberechtigungsfrage erläutert werden, obwohl sich beide Probleme im Verlauf der
Grundgesetzberatungen unlösbar miteinander verbanden. Grundsätzlich standen zwei Möglichkeiten zur
Wahl, die bereits auf Herrenchiemsee durchdiskutiert und in den Verfassungsentwurf des Konvents aufgenommen wurden. Als erste Variante schlug der Herrenchiemsee-Entwurf die Einrichtung eines
Bundesrates vor, in den die Landesregierungen je nach Größe des Landes ein bis drei
Regierungsmitglieder entsenden. Als zweite Variante wird eine Senatslösung entwickelt. Die Senatoren
sollten demnach von den Landtagen nach dem Mandatsverhältnis der dort vertretenen Parteien gewählt
werden348.
Obwohl die Zusammensetzung der zweiten Kammer im zukünftigen Reich Bundesstaat bereits vor dem
Zusammentritt des Herrenchiemsee-Konvents auf der Tagesordnung der verfassungspolitischen
Diskussion stand, war die Haltung der Parteien hierzu wesentlich unbestimmter als in der Frage der
Gleichberechtigung. In der ersten Phase der Grundgesetzberatungen hatten sich die beiden großen
Fraktionen des Parlamentarischen Rates noch nicht eindeutig festgelegt, so dass sich hier ein breiter
Spielraum für taktische Manöver anbot. Die SPD beschloss bereits im Juli 1947 auf ihrem Nürnberger
Parteitag „Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik“, die dem Senatsprinzip folgten.
Vorgesehen war ein Reichsrat, dessen Mitglieder von den Landtagen gewählt werden. In dem Entwurf
einer „Westdeutschen Satzung“ - verfasst von dem nordrhein-westfälischen Innenminister Walter Menzel
und als Grundlage für die sozialdemokratischen Abgeordneten im Parlamentarischen Rat gedacht - stand
jedoch neben der Senatslösung auch die Wahl der Ländervertreter durch die Regierungen und damit das
Bundesratsprinzip zur Diskussion. Eine zweite Fassung dieses Menzel-Entwurfs, die nur 14 Tage später
346
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 94 und S. 518
347
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 231; PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30. November 1948
348
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 545 und 592
119
veröffentlicht wurde, entschied sich wieder ausschließlich für die Senatslösung. Auf Herrenchiemsee
und im Parlamentarischen Rat trat die SPD für das Senatsprinzip ein, bis sie sich aus taktischen
Überlegungen, welche im einzelnen noch dargestellt werden, schließlich doch für das Bundesratsprinzip
entschied.
Die Haltung der CDU/CSU in dieser Frage war uneinheitlich: Die süddeutschen Parteiverbände sprachen
sich eindeutig für das Bundesratsprinzip aus. Der Verfassungsentwurf des Ellwanger Kreises schlug
dementsprechend einen Bundesrat aus weisungsgebundenen Mitgliedern der Landesregierungen vor. Die
CDU-Führung der britischen Zone dagegen strebte eine gemischt zusammengesetzte Kammer an, um
neben dem Bundesrats- auch das Senatsprinzip zur Geltung zu bringen. Die von Robert Lehr ausgearbeiteten Verfassungsrichtlinien für den Zonenbeirat sahen eine zweite Kammer vor, welche aus
Mitgliedern der Landesregierungen und aus gewählten Senatoren bestehen sollte. Eine dritte Gruppe ihrer
Mitglieder war vom Bundes- oder Reichspräsidenten „aus dem Kreise hervorragender und verdienter
Männer des kulturellen und öffentlichen Lebens“ zu ernennen349.
Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates kamen die Differenzen zwischen nord- und
süddeutschen CDU/CSU-Kreisen deutlich zum Ausdruck: Die Abgeordneten Süsterhenn und Schwalber
setzten sich im Plenum für einen aus Mitgliedern der Landesregierungen bestehenden Bundesrat ein,
während der nordrhein-westfälische CDU-Abgeordnete Lehr für einen „Halbsenat“ plädierte, d. h. für
eine zweite Kammer, in der Regierungsmitglieder und indirekt gewählte Senatoren gleichermaßen vertreten sein sollten. Konrad Adenauer lehnte in der CDU/CSU-Fraktion den Bundesrat ab, weil dieser eine
Vertretung der Länderbürokratie sei und „gegenüber der Volkskammer kein Gewicht bekommen“ werde.
Die zukünftige zweite Kammer sollte indirekt von den Landtagen gewählt werden. Hierbei war nach den
Vorstellungen Adenauers ein „gewisser Prozentsatz“ für Länderminister zu reservieren.
Die Überlegungen der FDP zur Zusammensetzung der zweiten Kammer entsprachen weitgehend den
Vorstellungen der norddeutschen CDU-Kreise. Bereits die für den Zonenbeirat erarbeiteten
Verfassungsrichtlinien der FDP in der britischen Zone stimmten mit dem Entwurf Robert Lehrs überein,
denn sie sahen ebenfalls eine aus Regierungsvertretern, Senatoren und ernannten Mitgliedern bestehende
zweite Kammer vor. Im Parlamentarischen Rat setzte sich Thomas Dehler als Sprecher der FDP-Fraktion
für den „Halbsenat“ ein. Er erwartete von dieser gemischten Kammer einen Ausgleich der Nachteile, die
seiner Ansicht nach sowohl dem Senats- als auch dem Bundesratsprinzip anhafteten. Die Fraktionen des
Zentrums und der Deutschen Partei sprachen sich im Parlamentarischen Rat für das Bundesratsprinzip
aus, während die KPD für einen nach Möglichkeit unmittelbar gewählten Senat eintrat350.
Insgesamt standen damit bei den Grundgesetzberatungen drei Vorschläge für die Zusammensetzung der
zweiten Kammer zur Diskussion, die alle an historische Vorbilder anknüpfen konnten. Der amerikanische
Senat bildete das klassische Beispiel für eine bundesstaatliche Kammer, deren Mitglieder zunächst von
den Parlamenten der einzelnen Staaten und später von der Bevölkerung unmittelbar gewählt wurden. Das
Bundesratsprinzip dagegen gilt als typisches Element der deutschen Verfassungstradition. Es lässt sich bis
auf den Norddeutschen Bund und die Reichsverfassung von 1871 zurückverfolgen. In der
Nationalversammlung von 1918/19 konnten sich die Bestrebungen zur Neufassung der Länderkammer
nicht durchsetzen. Der Reichsrat der Weimarer Verfassung bestand dementsprechend (wie seine
Vorgänger) aus instruierten Vertretern der Länderregierungen. Als Vorbild für den „Halbsenat“
schließlich bezeichneten die FDP-Vertreter im Parlamentarischen Rat die Verfassungsüberlegungen von
1848: Damals hatte die Frankfurter Nationalversammlung ein Staatenhaus vorgeschlagen, dessen
349
W. Sörgel: Konsensus und Interessen, Stuttgart 1969, S. 263-293 und S. 297 ff.; R. Ley: Föderalismusdiskussion
innerhalb der CDU/CSU...S. 51 und 61 sowie: Zonenbeirat. Deutsches Sekretariat J. Nr. 1280/47 vom 29.8.1947 (
ADL 132 FDP brit. Zone, Staat und Verfassung, Außenpolitik)
350
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 46-69, S. 89-103 und S. 217-248; Die CDU/CSU im Parlamentarischen
Rat...S.37 ff. sowie: Zonenbeirat a. a. O.
120
Mitglieder je zur Hälfte von den Regierungen und den Parlamenten der Gliedstaaten gewählt werden
sollten351.
Die maßgebenden Vertreter der Bundesratslösung argumentierten konstitutionell-demokratisch: Sie sahen
im Senat kein ausreichendes Gegengewicht zur Volkskammer, weil der Einfluss zentraler Parteiinstanzen
in diesem Fall eine „Gleichschaltung“ beider Kammern herbeiführen könne. Der Abgeordnete Seebohm
(DP) befürchtete sogar, aus der Senatslösung könne sich „eine Art Überparlamentarismus“ ergeben. Eine
kritische Einstellung gegenüber dem Parteiwesen klingt bei diesen Stellungnahmen deutlich mit. Bereits
der Herrenchiemsee-Konvent hatte in seiner Begründung der Bundesratslösung darauf hingewiesen, im
Gegensatz zum Senat sei hier „eine höhere Objektivität der zweiten Kammer gegenüber der laufenden
Parteipolitik“ gewährleistet. Die Vertreter des Halbsenats versprachen sich von ihrer Lösung ebenfalls,
dass sie den Gleichlauf beider Kammern verhindern und den Einfluss der zentralen Parteiführungen
neutralisieren werde. Robert Lehr glaubte, mit dieser Form der zweiten Kammer vermeiden zu können,
„dass die Regierung in die Hand einer einzelnen Partei gerät“, und wiederholte damit ein Argument,
dessen sich Erich Köhler (CDU) zur Begründung der konstitutionellen Demokratiekonzeption bei den
hessischen Verfassungsberatungen bedient hatte352.
Auf der anderen Seite kam die Senatslösung dem Konzept der sozialen Mehrheitsdemokratie entgegen,
weil von den zwar parteimäßig festgelegten, aber nicht an irgendwelche Länderinstanzen gebundenen
Senatoren einen geringerer Widerstand gegen die Gesetzgebungstätigkeit der unmittelbar gewählten
Legislative erwarteten - insbesondere, wenn diese Gesetzgebung den wirtschaftspolitischen Zielen galt,
die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie eng verbunden waren. Rudolf Katz (SPD) forderte deshalb, im
Falle der Bundesratslösung müsse das Vetorecht der zweiten Kammer abgeschwächt werden353.
Zusammenfassend kann man aber lediglich von einer gewissen Nähe des Senatsprinzips zur sozialen
Mehrheitsdemokratie sprechen. Ähnliches gilt für die Verbindung der Bundesrats- oder Halbsenatslösung
mit den Ideen der konstitutionellen Demokratieauffassung.
Besondere Beachtung verdienen die Vorstellungen der süddeutschen Föderalisten innerhalb der
CDU/CSU-Fraktion zur Zweikammerfrage, weil sie im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen dem
Bundesratsprinzip größere Bedeutung zumaßen als der Gleichberechtigung der Länderkammer. Sie
betrachteten die Landesregierungen und ihre Bürokratien als unverzichtbare Elemente einer
Gewaltenteilung im konstitutionell-demokratischen Sinn, als „reale Machtfaktoren“, von denen der
Verfassungsgeber auszugehen habe354.
b. Der Verlauf der Beratungen
Die unterschiedlichen Ausgangspositionen in der Zweikammerfrage erscheinen zunächst verwirrend. Rein
zahlenmäßig hatte jedoch der sogenannte Halbsenat die größte Aussicht, vom Parlamentarischen Rat
akzeptiert zu werden. Falls sich die gesamte CDU/CSU-Fraktion auf eine teils nach dem Bundesrats-, teils
nach dem Senatsprinzip zusammengesetzte Kammer einigte, hätte bei Zustimmung der FDP zur Annahme
dieses Vorschlags im Hauptausschuss und im Plenum jeweils nur eine Stimme gefehlt. Da beide
Fraktionen außerdem die Gleichberechtigung der zweiten Kammer in der Gesetzgebung anstrebten, wäre
ein auf diesem Wege zustande gekommener Halbsenat gleichbedeutend mit einer klaren Entscheidung
zugunsten der konstitutionellen Demokratiekonzeption in der wichtigen Zweikammerfrage gewesen.
351
Vgl. den Überblick bei K. Neunreiter: Der Bundesrat zwischen Politik und Verwaltung. Heidelberg 1959, S. 1116; Heuss und Dehler im Plenum: PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 110 f. und 224
352
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 222; PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30. November 1948;
Verfassungsausschuss Hessen, 3. Sitzung vom 14. August 1946 sowie PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 540
353
PR-Organisationsausschuß, 13. Sitzung vom 13. Oktober 1948, Stenoprot. S. 52.
354
So Süsterhenn (CDU) in PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 64
121
Bei den Beratungen im Organisationsausschuss zeigte sich bereits, dass insbesondere Robert Lehr (CDU),
der gleichzeitig Vorsitzender dieses Ausschusses und persönlich ein Anhänger des Senatsprinzips war, die
Verständigung mit der FDP auf der Basis einer gemischt zusammengesetzten Kammer anstrebte355. In der
Grundsatzdiskussion des Plenums über die Länderkammer am 21. Oktober 1948 verstärkte sich der
Eindruck einer bevorstehenden Koalition zwischen CDU/CSU und FDP in dieser Frage: Lehr erläuterte
als Sprecher seiner Fraktion die Vorteile der Kombination von Senats- und Bundesratsprinzip. Er hob
dabei hervor, in diesem Gremium komme neben der „Sachkunde der Regierungsvertreter“ auch die
Erfahrung des „älteren Staatsmannes“ zum Ausdruck komme. Durch das senatoriale Element werde die
von den Gegnern des Bundesrates befürchtete „Herrschaft der Ministerialbürokratie“ neutralisiert. Mit
seiner Anregung, die Senatoren aus einer von der jeweiligen Regierung dem Landesparlament vorgelegten
Liste wählen zu lassen, kam Lehr den Vertretern des Bundesratsprinzips entgegen. Gleichzeitig schlug er
jedoch vor, die Regierungsvertreter in der zweiten Kammer nicht an Weisungen zu binden und frei
abstimmen zu lassen - eine Regelung, die den Interessen der süddeutschen Föderalisten zweifellos
widersprach.
Thomas Dehler schloss sich diesen Ausführungen an und erklärte, die von Lehr vorgetragene Konzeption
der zweiten Kammer sei auf die Initiative der FDP-Fraktion zurückzuführen. Als Vorzug des Halbsenats
führte er ebenfalls an, man vermeide mit dieser Lösung sowohl die Nachteile des Senats- als auch des
Bundesratsprinzips. Neben der Tendenz zur Bürokratisierung erblickte er in der reinen Bundesratslösung
einen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip, weil dann in der zweiten Kammer legislative Entscheidungen ausschließlich durch Vertreter der Länderexekutiven getroffen würden. Bei einer reinen
Senatslösung schien ihm andererseits die Gefahr zu bestehen, dass sich beide Kammern durch den
„gleichen politischen Querschnitt“ auszeichnen und damit ihre Polarität hinfällig werde. Die Absicht, den
Vertretern der Länderregierungen ein freies Mandat zuzubilligen, bezeichnete er allerdings als eine
Illusion. Diese würden vielmehr zwangsläufig als Exponenten ihrer Regierung auftreten und dem
Grundgedanken dieser Verfassungskonstruktion entsprechend auch auftreten müssen.
In der gleichen Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates kam zum Ausdruck, dass die Deutsche Partei
zwar weiterhin das Bundesratsprinzip vertrat, aber die von CDU und FDP vorgetragene
Kompromisslösung keineswegs grundsätzlich ablehnte. Ihr Sprecher meldete lediglich Bedenken gegen
das Vorschlagsrecht der Regierungen zur Wahl der Senatoren an, weil auf diesem Wege die Opposition in
den Ländern von der Vertretung in der zweiten Kammer des Bundes ausgeschlossen werden könne356.
Im Anschluss an diese Grundsatzdiskussion arbeiteten die Befürworter der gemischt zusammengesetzten
Kammer eine Reihe von Entwürfen aus, um ihre Vorstellungen zu konkretisieren und in eine
verfassungsgemäße Form zu bringen. Alle Vorschläge in dieser Richtung gingen selbstverständlich von
der Gleichberechtigung beider Kammern beim Gesetzgebungsverfahren aus, während die
Zusammensetzung der Länderkammer teilweise bizarre Formen annahm. Ein FDP-Antrag vom 18.
November sah einen aus Regierungsvertretern bestehenden Bundesrat vor. Lediglich bei
Gesetzesbeschlüssen sollten Senatoren hinzutreten, die von den Landesparlamenten gewählt wurden. Die
CDU/CSU unterbreitete einen Vorschlag, der die Einrichtung zweier Kurien innerhalb der Länderkammer
vorsah. Bei der Gesetzgebung waren sowohl die Senats- als auch die Bundesratskurie stimmberechtigt,
während zu Verwaltungsentscheidungen nur die Bundesratskurie Stellung nahm. Da von
sozialdemokratischer Seite gegen derartige Verfassungskonstruktionen der Vorwurf erhoben wurde, sie
ließen die politische Verantwortung für die Gesetzesentscheidungen nicht mehr klar erkennen, schlug
Konrad Adenauer im weiteren Verlauf der Diskussion sogar ein Dreikammersystem mit Bundestag, Senat
und einem separaten Länderorgan vor. Ein Antrag der Deutschen Partei folgte der gleichen Überlegung:
355
356
PR-Organisationsausschuss, 3. Sitzung vom 21. September 1948, Stenoprot., S. 30 ff. und 40 ff.
Vgl. die Diskussion im Plenum, PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 217-248, sowie J. F. Golay: The Founding of
the Federal Republic of Germany, Chicago 1958, S. 49
122
Der Bundesrat war erneut aufzugliedern in zwei aus Senatoren und Regierungsvertretern bestehende
Kurien, die bei der Gesetzgebung gleichberechtigt, aber getrennt mitzuwirken hatten. Damit sollte die
Verantwortlichkeit bei den Abstimmungen der heterogen zusammengesetzten Länderkammer transparent
werden357.
Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie fühlten sich in dieser Situation in die Defensive gedrängt
und zur Überprüfung ihrer Ausgangsposition veranlasst. Die sozialdemokratische Fraktion sah ihr
vorrangiges Ziel, die dominierende Stellung des unmittelbar gewählten Parlaments, gefährdet. Sie
erklärte sich schließlich bereit, gegebenenfalls auf das Senatsprinzip zu verzichten, wenn hierdurch eine
gleichberechtigte zweite Kammer verhindert werden konnte. Als sich die SPD mit ihrem Antrag vom 23.
November 1948 überraschend für das Bundesratsprinzip aussprach, lagen diesem Positionswechsel eine
ganze Reihe taktischer Überlegungen zugrunde: In der CDU/CSU-Fraktion hoffte man mit diesem Schritt
ein Abrücken der süddeutschen Föderalisten von der Halbsenatslösung zu bewirken, die den
Länderinteressen ja nur zum Teil gerecht wurde. Die maßgebenden sozialdemokratischen Politiker waren
über die Differenzen innerhalb der christlich-demokratischen Fraktion recht gut unterrichtet, wie z. B. aus
den „Berichten des Genossen Menzel“ hervorgeht358. Sie wussten, dass die eigentlichen Initiatoren der
gemischten Kammer aus der britischen Zone kamen und in der Gesamtfraktion gegenüber den
Abgeordneten der französischen und amerikanischen Zone zahlenmäßig in der Minderheit waren. Falls es
durch diese Kehrtwendung zum Bundesratsprinzip gelang, den bevorstehenden Kompromiss zwischen
den Vertretern der konstitutionellen Demokratieauffassung über die gemischte Zusammensetzung der
zweiten Kammer doch noch zu verhindern, stand damit gleichzeitig auch ihre Übereinstimmung in der
Gleichberechtigungsfrage zur Disposition. Da die FDP-Fraktion die Machtverteilung der konstitutionellen
Demokratie nur auf Bundesebene vertrat und an der vertikalen Machtaufteilung zwischen Bund und
Ländern weniger interessiert war, schien es zumindest zweifelhaft, ob sie einem in der Gesetzgebung
gleichberechtigten Bundesrat zustimmen würde.
Vor dem Hintergrund dieser Motive und Befürchtungen kam es zu Kontakten zwischen der
sozialdemokratischen Fraktion des Parlamentarischen Rates und Vertretern der süddeutschen
Länderinteressen. Bekannt geworden ist das Gespräch zwischen dem SPD-Verfassungsexperten Walter
Menzel und dem bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard, von dem Theodor Heuss später sagte, es
sei die Geburtsstunde des Bundesrates gewesen. Dieses Gespräch fand am Abend des 26. Oktober 1948
im Bonner Hotel Königshof statt. Neben Ehard und Menzel nahmen der Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion im Parlamentarischen Rat, Anton Pfeiffer (CSU) und Karl Schwend, ein Mitarbeiter Ehards, teil.
Das Ergebnis des Gesprächs lautete, dass die SPD bereit war, auf den Senat zu verzichten und für einen
Bundesrat zu stimmen. Als Gegenleistung sollte die CSU (und in ihrem Gefolge die Unionsfraktion) die
generelle Beschränkung der Bundesratskompetenzen auf ein Vetorecht gegen die Gesetze des Bundestags
akzeptieren. Lediglich beim Finanzausgleich und bei der Änderung der Bundeskompetenzen soll Menzel
die Gleichberechtigung der Länderkammer zugestanden haben. Dass Ehard bei diesem Gespräch auch die
Bundesfinanzverwaltung zugesagt habe, ist nicht zu belegen und wird von Koch und Gelberg bestritten.
Letzterer vermutet, hierbei handele es sich um ein „von Adenauer in die Welt gesetztes Gerücht“359.
Die Bedeutung des Gesprächs wurde durch die anschließende politische Auseinandersetzung in der
CDU/CSU hochgespielt. Dies führte später zur Legendenbildung, an der Ehard und Schwend, aber auch
namhafte Historiker ihren Anteil hatten360. Hierbei wird der frühe Zeitpunkt des Treffens übersehen. Die
357
PR-Drucksachen Nr. 296, 297 und 298 sowie Süsterhenn (CDU) im PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30.
November 1948; R. Ley: Föderalismusdiskussion...S. 77 ff.
358
 Bericht des Genossen Walter Menzel
359
vom 15. Oktober 1948 ( NL C. Schmid, 1162 - AdsD)
Heuss im Plenum, PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 523-533; P. J. Kock: Bayerns Weg in die Bundesrepublik,
Stuttgart 1983, S. 301; K.-U. Gelberg: Hans Ehard. Die föderalistische Politik des bayerischen Ministerpräsidenten
1946-1954, Düsseldorf 1992, S. 215
360
K.-U. Gelberg a. a. O. ...S. 216 ff.
123
erste Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates hatte noch nicht
begonnen, und eine Reihe grundsätzlicher Fragen, wie etwa die Zusammensetzung des Bundesrats, waren
noch ungeklärt. Man wird die Absprachen zwischen Menzel und Ehard als situationsbedingte
Übereinstimmung zwischen den Prinzipien der sozialen Mehrheitsdemokratie und den Interessen der
süddeutschen Landesregierungen interpretieren, die eine eigenständige Variante der konstitutionellen
Demokratie vertraten. Taktik und Ressentiment spielten ebenfalls eine Rolle: Ehards Versuch vom 7.
Oktober, der Unionsfraktion die Bundesratslösung nahe zu bringen, war unter tatkräftiger Mitwirkung
Adenauers gescheitert. Die Fraktion votierte nach Ehards Rede mit 22 zu 1 Stimmen bei 4 Enthaltungen
für den gemischt zusammengesetzten Halbsenat. Aus der Sicht Menzels ging es zunächst darum, die im
Parlamentarischen Rat drohende Mehrheitsentscheidung für eine gleichberechtigte gemischte zweite
Kammer zu durchkreuzen.
Während die SPD-Fraktion in den darauf folgenden Wochen an der Bundesratslösung festhielt, fand die
entscheidende Debatte in der Unionsfraktion am 25. und 26. November 1948 in Gegenwart der
CDU/CSU-Minister-präsidenten statt. Drei Tage vorher hatten die Militärgouverneure dem
Parlamentarischen Rat in einem Aide-mémoire ihre Auffassung von einer föderalistischen Verfassung
erläutert und hierbei eine zweite Kammer vorgeschlagen, welche die einzelnen Länder repräsentiere und
deren Interessen sichere. Mit dem Rückenwind dieser Intervention plädierte der bayerische Ministerpräsident diesmal sehr viel wirkungsvoller für den Bundesrat als Anfang Oktober. Er ging bei seiner
Argumentation allerdings von der vollen Gleichberechtigung der Länderkammer aus, obwohl er wusste,
dass die anderen Fraktionen diese Bedingung kaum akzeptieren würden. Adenauer bezeichnete den
Bundesrat als „nach jeder Richtung ein Unglück“ und behauptete, mit dieser Lösung sei dem
föderalistischen Gedanken nicht gedient. Er blieb aber mit seinen Einwänden in der Minderheit: Die
CDU/CSU-Fraktion beschloss mit 13 zu 9 Stimmen, für einen dem Bundestag gleichberechtigten
Bundesrat einzutreten, in dem die Länder ein nach ihrer Größe gestaffeltes Stimmrecht besitzen sollten361.
Als die Zweikammer-Problematik am 30. November 1948 erstmals im Hauptausschuss behandelt wurde,
entschied man zunächst nur über die Zusammensetzung. Dies erwies sich im Sinne der sozialen
Mehrheitsdemokratie als vorteilhaft, denn sowohl die Vertreter von CDU/CSU und SPD als auch die
Sprecher der Deutschen Partei und des Zentrums sprachen sich für das Bundesratsprinzip aus. Für die
Freien Demokraten erklärte Theodor Heuss unter Hinweis auf den Positionswechsel der beiden großen
Fraktionen ebenfalls seine Zustimmung zum Bundesrat. Er hielt aber den ursprünglichen Antrag der
FDP-Fraktion aufrecht, beim Gesetzgebungsverfahren eine Ergänzung des Bundesrates durch indirekt
gewählte Senatoren vorzusehen. Lediglich der KPD-Abgeordnete Renner vertrat weiterhin das
Senatsprinzip. Die Einrichtung des Bundesrates wurde daher mit einer angesichts der Ausgangspositionen
überraschenden Mehrheit von 16 : 1 Stimmen beschlossen. Der weitergehende FDP-Antrag, den
Bundesrat durch Senatoren zu ergänzen, wurde mit 18 Stimmen abgelehnt.
Erst nach dieser Beschlussfassung kam in derselben Sitzung des Hauptausschusses die Alternative:
Gleichberechtigung oder Vetorecht zur Sprache. In dieser Frage gelang es zunächst nicht, einen
Ausgleich der unterschiedlichen Auffassungen zu erreichen. Die CDU-Abgeordneten Süsterhenn, Strauß
und Lehr traten für die Gleichberechtigung des Bundesrates bei der Verabschiedung von Gesetzen ein und
wurden hierin von dem Sprecher der Deutschen Partei unterstützt, während sich die Vertreter der SPD,
des Zentrums und der KPD für ein Vetorecht aussprachen. Für die FDP gab der Abgeordnete Max Becker
die Erklärung ab, seine Fraktion hätte zwar bei der Senatslösung die volle Gleichberechtigung der zweiten
Kammer befürwortet. Nach der Entscheidung für das „reine Bundesratssystem“ sei jedoch die Haltung der
Freien Demokraten in der Kompetenzfrage wieder offen. Er beantragte daher, die Beschlussfassung über
die entsprechenden Artikel des Abschnitts „Die Gesetzgebung“ auszusetzen, und der Hauptausschuss
stimmte dem Antrag zu.
Mit dieser Stellungnahme der FDP-Fraktion war jedoch auch die Entscheidung für das Bundesratsprinzip
erneut in Frage gestellt, denn der sozialdemokratische Abgeordnete Rudolf Katz hatte bereits vorher
361
Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 64 ff. und S. 191-225
124
angekündigt, falls sich eine Mehrheit zugunsten der Gleichberechtigung abzeichne, werde die SPD
möglicherweise einen erneuten Frontwechsel vornehmen und auf das Senatsprinzip zurückkommen. Die
enge Verbindung beider Probleme führte schließlich dazu, dass am nächsten Tag mit dem Votum der FDP
für das Bundesratsprinzip auch die Entscheidung gegen die prinzipielle Gleichberechtigung beider
Kammern fiel. Der Sprecher der Freien Demokraten verwies in dieser Sitzung zwar noch einmal auf die
aus seiner Sicht grundsätzlichen Mängel des Bundesrates, fügte aber hinzu, nach Auffassung der
FDP-Fraktion sei das „retardierende Element, das in jedem Oberhaus stecken soll . . . genügend gewahrt“.
Die CDU/CSU- Fraktion beharrte auf ihrer Forderung nach Gleichberechtigung und erhob die
Formulierung: „Ein Bundesgesetz kommt durch übereinstimmenden Mehrheitsbeschluss beider Häuser
zustande“ zum Antrag. Der Antrag wurde mit 12 : 9 Stimmen abgelehnt, d. h. mit den Stimmen der SPD,
FDP, des Zentrums und der KPD gegen das zustimmende Votum von CDU/CSU und DP362. Diese
Entscheidung hat der Parlamentarische Rat auch in den nachfolgenden Lesungen des Grundgesetzes nicht
mehr revidiert.
Nachdem sich der Hauptausschuss gegen die Gleichberechtigung der zweiten Kammer entschieden hatte,
stand allerdings die konkrete Formulierung des Vetorechts für den Bundesrat noch aus. Die Beratung
dieses Punktes ist als eine Fortsetzung der Gleichberechtigungsdiskussion zu verstehen, und die
Vorschläge hierzu entsprachen ebenfalls den unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen: Die Vertreter
der konstitutionellen Demokratie traten für ein starkes Vetorecht der zweiten Kammer ein, wenn sie schon
ihre Forderung auf Gleichberechtigung nicht hatten durchsetzen können. Die Befürworter der
mehrheitsdemokratischen Konzeption dagegen waren an einer abgeschwächten Form des Vetos
interessiert. Der Bundestag als unmittelbar gewähltes Parlament sollte ihrer Ansicht nach bei seiner
Gesetzgebung möglichst wenig behindert werden und den Einspruch der Länderkammer leicht
zurückweisen können.
Auf der einen Seite beantragte daher der CDU-Abgeordnete Dr. Süsterhenn, zur Ablehnung eines Vetos
die Dreiviertelmehrheit der Bundestagsmitglieder vorzuschreiben, und wurde hierbei vom Sprecher der
Deutschen Partei unterstützt. Außerdem sollte der Bundestag erst nach einer Frist von drei Monaten über
den Einspruch des Bundesrates entscheiden, damit die umstrittene Frage in der Öffentlichkeit ausführlich
diskutiert werden könne. Auf der anderen Seite schlug der sozialdemokratische Abgeordnete Friedrich.
Maier vor, bereits der absoluten Mehrheit des Bundestages das Recht zuzubilligen, einen Einspruch der
zweiten Kammer zurückzuweisen. Er folgte damit den beiden Verfassungsentwürfen seines
Fraktionskollegen Walter Menzel. Nach den sozialdemokratischen Verfassungsrichtlinien von 1947 war
hierzu allerdings schon die einfache Mehrheit des unmittelbar gewählten Parlaments ausreichend363.
Der Hauptausschuss übernahm jedoch den Kompromissvorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses, welcher neben der Einigung auf das Bundesratsprinzip auch vorsah, dass der
Bundestag das Veto der Länderkammer mit Zweidrittelmehrheit zurückweisen konnte. Menzel berichtete
noch im Dezember 1948 an den Parteivorstand der SPD nach Hannover, es sei zwar gelungen, die
Befugnisse des Bundesrates im wesentlichen auf ein Vetorecht zu begrenzen. Zur Überwindung dieses
Einspruchs benötige man aber leider im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit. Diese Konzession habe
Rudof Katz der CDU/CSU beim Bundesratskompromiss „auf seine eigene Verantwortung“ gemacht. Im
Parteivorstand der SPD wurde diese Klausel stark kritisiert, weil dies - wie Willi Eichler mit Recht
bemerkte - bedeutete, dass SPD und Unionsparteien im Parlament über die Zurückweisung des
Einspruchs einer Meinung sein müssten. Der Bundesrat würde auf diese Weise „immer vollberechtigt
mitregieren“ 364.
362
PR-Hauptausschuss, 11. und 12. Sitzung vom 30. November und 1. Dezember 1948
363
PR-Hauptausschuß, 12. Sitzung vom 1. Dezember 1948; Text der Entwürfe bei W. Sörgel: Konsensus und
Interessen... S. 264, 274 und 287
364
Menzel an Ollenhauer und Heine 4. 12. 1948 (NL C. Schmid 1162 - AdsD); Sitzung des SPD PV am 29./30. 10.
1948 (PV - Protokolle 1948 - AdsD)
125
Im Zuge des „großen Kompromisses“, der zwischen den Fraktionen zu Beginn des Jahres 1949
ausgehandelt wurde, griff man auch die Veto-Frage wieder auf. Die SPD setzte hier mit Unterstützung der
FDP den Verzicht auf die Zweidrittelmehrheit durch. Statt dessen einigte man sich bei den
interfraktionellen Besprechungen am 25. Januar 1949 auf das ins Grundgesetz aufgenommene abgestufte
Einspruchsrecht: Falls der Bundesrat seine Einwände mit Zweidrittelmehrheit beschloss, so konnte sie der
Bundestag ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit seiner Mitglieder zurückweisen. Ein im Bundesrat mit
absoluter Mehrheit beschlossenes Veto sollte der Bundestag aber bereits mit der Mehrheit seiner
Mitglieder ablehnen können. Diese Regelung stand der mehrheitsdemokratischen Konzeption näher als
die ursprünglich vorgesehene Fassung. Der Herrenchiemsee-Konvent hatte sie bereits für die sogenannte
abgeschwächte Bundesratslösung vorgesehen.
Im Anschluss an diese Einigung formulierte der Fünferausschuss auch zum erstenmal den Gedanken des
Vermittlungsausschusses. Dieser sollte bereits vor einem eventuellen Einspruch des Bundesrates in
Aktion treten. Die Gründe für seine Aufnahme in den Entwurf sind in der politischen Auseinandersetzung
zu suchen. Entscheidend dürfte gewesen sein, dass hiermit auf indirektem Wege eine Verzögerung des
Einspruchsverfahrens erreicht wird, wie sie von Adolf Süsterhenn (CDU) und Hans-Christoph Seebohm
(DP) im Hauptausschuss vergeblich beantragt wurde. Die Einführung des Vermittlungsausschusses
verstärkte den suspensiven Charakter des Bundesratsvetos und kam damit der konstitutionell-demokratischen Zielsetzung entgegen365.
Obwohl die unterschiedlichen Demokratievorstellungen bei der Diskussion über die Rolle der zweiten
Kammer im Gesetzgebungsverfahren besonders deutlich zum Ausdruck kamen, blieb die Forderung nach
Gleichberechtigung nicht auf diesen Bereich beschränkt. Der Herrenchiemsee-Konvent hatte z.B. in
seinem Entwurf auch die Wahl des Bundespräsidenten durch ein übereinstimmendes Votum beider
Kammern zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlag wurde im Parlamentarischen Rat vor allem von der
CDU/CSU-Fraktion aufgegriffen. Dr. Lehr betonte hierzu vor dem Hauptausschuss, er halte die
„Vollberechtigung der zweiten Kammer in jeder Beziehung für notwendig“. Der
Gleichberechtigungsanspruch bei der Präsidentenwahl scheiterte jedoch bereits in der ersten Lesung des
Hauptausschusses, weil er lediglich die Unterstützung der Deutschen Partei fand und dementsprechend
mit 11 : 9 Stimmen zugunsten der Wahl durch die Bundesversammlung abgelehnt wurde366.
Ähnlich verlief die Diskussion über die Beteiligung der zweiten Kammer an der Regierungsbildung: Der
Herrenchiemsee-Konvent empfahl, den Bundesrat als „Legalitätsreserve“ an der Regierungsbildung zu
beteiligen. Nach einer bestimmten Frist sollte demnach das Recht zur Regierungsbildung auf die zweite
Kammer unter Mitwirkung des Bundespräsidenten übergehen. In der einleitenden Grundsatzdiskussion
des Parlamentarischen Rates befürwortete Süsterhenn (CDU) diese Lösung und bezeichnete sie als eine
Sicherung für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems. Nach ausführlicher Diskussion in
den Ausschüssen entschied sich jedoch der Parlamentarische Rat, die Kompetenz und die Verantwortung
für die Regierungsbildung bis auf ein begrenztes Mitwirkungsrecht des Präsidenten ausschließlich dem
Bundestag zu übertragen. Bis zur zweiten Lesung im Hauptausschuss (Januar 1949) legten die Fraktionen
der CDU/CSU und der Deutschen Partei mehrfach Anträge mit dem Ziel vor, den Ausweg einer
Kanzlerwahl durch den Bundesrat offen zu halten, ohne allerdings eine Revision der einmal getroffenen
Entscheidung zu erreichen367.
Zusammenfassend kann man die Lösung des Zweikammerproblems durch den Parlamentarischen Rat als
einen Kompromiss bezeichnen, der den mehrheitsdemokratischen Intentionen weitgehend entsprach. Die
365
PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 301 sowie Bd. 11, S. 61
366
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 594; PR-Hauptausschuss, 10. Sitzung vom 30. November 1948, und die
Entstehungsgeschichte von Art. 54 GG in: JöR, N. F. Bd. 1, S. 399 ff.
367
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 60 (Süsterhenn) sowie Bd. 2, S. 550 f. und 597; JöR, N. F. Bd. 1, S. 426 ff.
126
FDP-Fraktion hat am Zustandekommen dieses Kompromisses maßgebenden Anteil gehabt, weil sie
sich in der Zweikammerfrage zunehmend den Verfassungsvorstellungen der sozialen
Mehrheitsdemokratie annäherte. Vor allem nach der Entscheidung für das reine Bundesratsprinzip kann
man hier von einem Positionswechsel sprechen: Als die Formulierung des Vetorechts im Organisationsausschuss erneut zur Sprache kam, schlug Dr. Dehler (FDP) vor, die im Bundestag erforderliche
Stimmenzahl zur Überwindung des Vetos der Länderkammer von zwei Dritteln auf die Hälfte der
gesetzlichen Mitgliederzahl herabzusetzen, obwohl er in der vorangegangenen Diskussion immer für die
Gleichberechtigung beider Kammern eingetreten war.
Der eigentliche Gewinner beim Pokern um die zweite Kammer war der Sozialdemokrat Walter Menzel.
Er brachte das Bauernopfer des Senats, um die Gleichberechtigung der Länderkammer zu verhindern, und
konnte sich hierbei auf die Rückendeckung seiner Parteizentrale in Hannover stützen. Auch die SPDFraktion im Parlamentarischen Rat folgte seinem riskanten Manöver, obwohl z.B. Carlo Schmid
ursprünglich den Senat favorisierte. Der kritische Punkt in Menzels Taktik war die über lange Zeit
festgeschriebene Vorschrift einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag für die Zurückweisung eines Vetos
des Bundesrates. Bei einer Parteienkonstellation, die auf den Dualismus zwischen dem Regierungs- und
dem Oppositionslager hinauslief, hätte diese Bestimmung den gleichen Bremseffekt für die
sozialdemokratischen Ziele haben können, wie die Gleichberechtigung der Länderkammer. In der
Schlussphase der Grundgesetzberatungen gelang es Menzel, diese kritische Stelle durch das abgestufte
Einspruchsrecht des Bundesrates zu entschärfen368.
2. Zustimmungsgesetze
Die positive Bewertung der vom Parlamentarischen Rat gefundenen Lösung des Zweikammerproblems
aus der Sicht der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ wird allerdings durch den Verlauf der Beratungen über
die Zustimmungsgesetzgebung eingeschränkt: Der Parlamentarische Rat sprach sich zwar grundsätzlich
gegen die Gleichberechtigung beider Kammern aus, billigte dem Bundesrat aber gleichzeitig für
bestimmte Bereiche der Gesetzgebung ein Zustimmungsrecht zu. Zustimmungsgesetze dürfen nicht mit
verfassungsändernden Gesetzen verwechselt werden, zu deren Verabschiedung man allgemein eine
Zweidrittelmehrheit beider Kammern für notwendig hielt. In bestimmten Fragen sollte vielmehr trotz des
allgemein geltenden Vetorechts die Zustimmung beider Kammern erforderlich sein und damit sozusagen
ein Reservat der Gleichberechtigung erhalten bleiben. Die Beratungen zur Zustimmungsgesetzgebung
sind deshalb als eine Fortsetzung der Gleichberechtigungsdiskussion anzusehen.
Die enge Verbindung zwischen Zustimmungsgesetzgebung und Gleichberechtigungsfrage wird durch den
Verlauf der Beratungen bestätigt: Die Einrichtung besonderer Zustimmungsgesetze spielte offenbar
bereits in dem Gespräch zwischen Menzel und Ehard vom 26. Oktober 1948 eine Rolle, denn der SPDAbgeordnete Katz schlug am folgenden Tag vor, der Bundesrat solle generell nur ein Vetorecht, in der
Frage des Finanzausgleichs jedoch ein volles Zustimmungsrecht erhalten369. Der Allgemeine Redaktionsausschuss legte dementsprechend Ende November einen fünf Punkte umfassenden Katalog der
Zustimmungsgesetze vor, der vom Hauptausschuss bei der ersten Lesung des Grundgesetzes auf vier
Punkte reduziert wurde. Inhaltlich ging es hierbei um Steuern, die den Ländern zufließen, um den
Finanzausgleich zwischen den Ländern sowie um die Errichtung neuer Bundesbehörden und das
Weisungsrecht des Bundes gegenüber den Landesbehörden.
368
PR-Organisationsausschuss, 29. Sitzung vom 11. Januar 1949, Stenoprot. S. 18; P. Weber: Carlo Schmid 18961979. Eine Biographie, München 1996, S. 361 ff. sowie zur Gesamtbewertung Menzels: G. Hirscher:
Sozialdemokratische Verfassungspolitik und die Entstehung des Bonner Grundgesetzes. Eine biographische
Untersuchung zur Bedeutung Walter Menzels, Bochum 1989
369
PR Akten und Protokolle Bd.11, S. 33
127
Bereits bei dieser Gelegenheit gab es erste Versuche, den Bereich der Zustimmungsgesetzgebung über das
unmittelbare Länderinteresse hinaus zu erweitern und auf diesem Wege die Polarität beider Kammern im
konstitutionell - demokratischen Sinne zumindest teilweise wiederherzustellen. Die Abgeordneten
Seebohm (DP) und Süsterhenn (CDU) beantragten im Hauptausschuss vergeblich, die
Zustimmungspflicht des Bundesrates auf alle Steuer- und Finanzgesetze (einschließlich der Anleihen) zu
erweitern370. Der Katalog des Allgemeinen Redaktionsausschusses wurde aber bis auf redaktionelle
Änderungen auch in der zweiten Lesung des Hauptausschusses aufrechterhalten.
Bei den interfraktionellen Besprechungen am 25. Januar 1949 schlug die CDU/CSU-Fraktion
überraschend die Erweiterung der Zustimmungsgesetzgebung vor. Sie präsentierte einen aus dreizehn
Punkten bestehenden Katalog, der so wichtige Materien wie die Überführung in Gemeineigentum, die
Energiewirtschaft, die Koordination der Kriminalpolizei sowie die Rechtsverhältnisse im öffentlichen
Dienst umfasste. In den anschließenden Beratungen des Fünferausschusses wurde auch die
Zustimmungsgesetzgebung in den „großen Kompromiß“ einbezogen. Die SPD-Fraktion akzeptierte neun
Positionen des Katalogs unter der Voraussetzung, dass eine Bundesfinanzverwaltung eingerichtet werde.
Außerdem erreichte sie in dieser Situation die bereits erwähnte Streichung der Zweidrittelmehrheit des
Bundestages für die Zurückweisung des Bundesratsvetos. John Ford Golay bezeichnet in seiner
Darstellung den Bereich der Zustimmungsgesetze mit Recht als eine „elastische Klausel“, die den
Kompromiss in anderen wichtigen Fragen erleichtert hat371.
Die These vom politischen Zusammenhang zwischen Finanzverwaltung und Zustimmungsgesetzgebung
findet im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen ihre Bestätigung: Als die Fraktionen des
Parlamentarischen Rats auf die Intervention der Militärgouverneure hin eine zwischen Bund und Ländern
geteilte Finanzverwaltung akzeptieren mussten, wurde auch die Ausweitung der
Zustimmungsgesetzgebung rückgängig gemacht. Bei den Beratungen zwischen den Fraktionen, die
unmittelbar vor der entscheidenden Frankfurter Besprechung mit den Militärgouverneuren am 25. April
1949 stattfanden, reduzierte ein fünfköpfiger Unterausschuss den Umfang der Zustimmungsgesetzgebung
auf sechs Bereiche. Hierbei wurde auch die Zustimmungspflicht des Bundesrates zur Überführung von
Grundeigentum und Produktionsmitteln in Gemeineigentum „geopfert“ - wie der CDU-Abgeordnete
Theophil Kaufmann vor seiner Fraktion formulierte. Der Unterausschuß verzichtete auf einen speziellen
Grundgesetzartikel zur Zustimmungsgesetzgebung und beschloss, die Zustimmungspflicht dort in das
Grundgesetz aufzunehmen, wo die entsprechende Gesetzesmaterie behandelt wird. Der bayerische
Ministerpräsident kommentierte diese Entwicklung mit den Worten, man habe die Zustimmung des
Bundesrates auf dem Gebiet der Sozialisierung und Enteignung „jetzt plötzlich zum Fenster
hinausgeworfen“372.
Die Zustimmungsgesetzgebung wurde damit etwa auf den gleichen Umfang zurückgeführt, den sie zu
Beginn der Beratungen hatte, nachdem sie zeitweise die tatsächliche Gleichberechtigung beider Kammern
herbeizuführen drohte. So wie die Zustimmung des Bundesrates in der Endfassung des Grundgesetzes
formuliert wurde, war sie nach Auffassung des Parlamentarischen Rates eine Garantie der Bundesländer
und ein „wirksame(r) Riegel“ gegen die Verletzung ihrer Rechte373. Das Zustimmungsrecht des Bun370
Dieser schließlich zu einem Antrag vereinigte Vorschlag wurde mit den Stimmen der SPD, FDP und des
Zentrums gegen das Votum der CDU/CSU und DP mit 11:9 Stimmen abgelehnt ( PR-Hauptausschuß, 12. Sitzung
vom 1. Dezember 1948)
371
PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 302 sowie Bd. 11, S. 63 f. und 69; J. F. Golay: The Founding...S. 55 f.; R.
Ley: Föderalismusdiskussion...S. 136 ff.
372
PR Akten und Protokolle Bd. 11, S.166 ff. ; Die Unionsparteien 1946-1950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft
der CDU/CSU Deutschlands und der Konferenzen der Landesvorsitzenden, bearb. von Brigitte Kaff, Düsseldorf
1991, S. 489 f. und .S. 523
373
So zum Beispiel der Abg. Dr. Lehr (CDU) in der dritten Lesung des Plenums, PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.
128
desrates sollte die Länder lediglich vor einer „Unitarisierung“ durch Verfassungs- und
Gebietsänderungen oder durch Eingriffe in ihre Verwaltung und ihre finanziellen Grundlagen bewahren.
Für die Aufgabe der Gesetzgebung war nach Ansicht des Verfassungsgebers in erster Linie der Bundestag
zuständig. Bei der Schlussabstimmung zum Grundgesetz kommentierte der sozialdemokratische Abg. Dr.
Menzel die gefundene Lösung allerdings sehr vorsichtig: Er zeigte sich zwar befriedigt darüber, dass die
Länderkammer „jetzt im wesentlichen auf ein reines Veto beschränkt“ sei, fügte jedoch hinzu, durch eine
Erweiterung der Zustimmungsgesetzgebung könne sich „auf wichtigen Gebieten eine Hemmung für eine
reibungslose Weiterentwicklung“ ergeben. Die sozialdemokratische Fraktion habe sich mit dieser
Regelung nur einverstanden erklärt, weil sie „dafür auf anderen Gebieten bessere Lösungen“
verwirklichen konnte374.
3. Die Judikative als Gegenstand der Demokratiediskussion
Neben der Diskussion über die Länderkammer geben die Grundgesetzberatungen zum Bereich der
Rechtsprechung Aufschluss über die im Parlamentarischen Rat vertretenen Demokratievorstellungen. Im
Gegensatz zum Zweikammerproblem wurde allerdings das Thema „dritte Gewalt“ im Plenum des
Parlamentarischen Rates kaum zur Sprache gebracht, sondern vorwiegend in den zuständigen
Ausschüssen diskutiert. Stellenweise nahm die Beratung dieser Materie den Charakter einer juristischen
Fachdiskussion an, was sicher auf die große Zahl ausgebildeter Juristen unter den Abgeordneten
zurückzuführen ist (32 von 65). Auch im zuständigen „Ausschuss für Verfassungsgerichtsbarkeit und
Rechtspflege“ im Folgenden als Rechtspflegeausschuss bezeichnet - waren mit dem
CDU-Abgeordneten. Schröter und dem DP-Abgeordneten Heile lediglich zwei Nichtjuristen vertreten375.
Ein weiterer Grund für die Neigung zur Fachdiskussion war fehlende Klarheit über die Organisationsform
der oberen Bundesgerichtsbarkeit. Neben dem Verfassungsgerichts stellte man sich ein oberstes
Bundesgericht vor, dem die Aufgabe zufallen sollte, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in ihren
verschiedenen Bereichen zu sichern376. Unter diesem Aspekt schien die Berücksichtigung
organisatorischer und verfahrensrechtlicher Fragen bei den Beratungen durchaus berechtigt. Die
Gewerkschaften zum Beispiel legten Wert auf ein oberstes Arbeits- und Sozialgericht, dessen Einrichtung
im Text des Grundgesetzes garantiert werden sollte. Sie richteten bereits frühzeitig eine entsprechende
Eingabe an den Parlamentarischen Rat und sicherten sich die Unterstützung der SPD-Fraktion für dieses
Anliegen. Wie der Bericht des Abgeordneten Menzel über ein Gespräch zwischen der Fraktionsführung
und Gewerkschaftsvertretern zeigt, ging es hierbei keineswegs um eine rein organisatorische Frage.
„Sobald die allgemeine Justiz den Grad der Vollkommenheit erreicht haben sollte, den wir erhoffen“,
schrieb Menzel, könnten auch „die Arbeitsgerichte wieder in die allgemeine Justiz eingebaut werden“377 .
Die nachfolgende Analyse beabsichtigt nun keineswegs, eine umfassende Darstellung der
Grundgesetzberatungen zum gesamten Komplex der Rechtsprechung zu geben. Sie wird vielmehr eine
Reihe von Fragen herausgreifen, deren Beratung die beiden unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen
deutlich hervortreten lässt. In diesem Zusammenhang verdienen drei Einzelprobleme besondere
519
374
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 523
375
Vgl. die Übersicht bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 262
376
Hierzu die Entstehungsgeschichte des Art. 95 GG in JöR, N. F. Bd. 1, S. 690 ff. und die Diskussion im PRHauptausschuss, 24. Sitzung vom 9. Dezember 1949
377
Menzel an Ollenhauer und Heine vom 1. 10. 1948 (NL C. Schmid 1162 - AdsD) sowie die Eingabe des
Gewerkschaftsrats der vereinten Zonen an den Präsidenten des Parlamentarischen Rats vom Oktober 1948
(Bestand Schumacher 238 - AdsD)
129
Beachtung: An erster Stelle ist die Frage der personellen Besetzung des Verfassungsgerichts zu
nennen, welche bereits bei den Beratungen der Länderverfassungen in den Jahren 1946/47 politische
Bedeutung erlangte. Zweitens ging es um die Wahl der Richter im Bund und in den Ländern, während als
dritter Punkt die Einführung der Richteranklage Anlass zur Kontroverse zwischen den Fraktionen gab.
Die Ausgangspositionen zum Fragenkreis der rechtsprechenden Gewalt lassen sich dabei folgendermaßen
charakterisieren: Die verfassungspolitische Zielsetzung der konstitutionellen Demokratie verlangte eine
möglichst weitgehende Eigenständigkeit der Rechtspflege, welche sich gleichzeitig im Sinne der
politischen Machtaufteilung auswirken sollte. Die Judikative wurde im Rahmen dieser
Demokratievorstellung als „dritte Säule“ der neu zu gründenden Demokratie betrachtet und gleichrangig
neben Legislative und Exekutive gestellt. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie erkannten die
Unabhängigkeit der Rechtsprechung ebenfalls an. Sie bezweifelten jedoch die demokratische
Standfestigkeit dieser Säule und hielten deshalb ihre parlamentarische Kontrolle für notwendig. Diese
Kontrolle sollte sich in erster Linie auf die Personalentscheidungen im Justizbereich beziehen.
Die Auffassungsunterschiede über die Stellung der Judikative wurden bei der Diskussion über die
Besetzung des Verfassungsgerichtshofes deutlich sichtbar. Bereits der Herrenchiemsee-Konvent hat sich
mit dieser Frage ausführlich beschäftigt. Die konstitutionell-demokratische Sicht des Problems wurde hier
von dem Mitglied der nordrhein-westfälischen Delegation Dr. Berger vertreten. Berger, damals Richter
am Obersten Gerichtshof für die Bizone in Köln, setzte sich vor dem Plenum des Konvents dafür ein, dass
in den Verfassungsgerichtshof „nur Juristen kommen, die die Rechtsfragen entscheiden und sich nicht mit
politischen Erwägungen belasten“. Der Vorsitzende und die Hälfte der Richter am Verfassungsgericht
sollten seiner Auffassung nach Berufsrichter sein, die andere Hälfte zumindest die Fähigkeit zum
Richteramt besitzen.
Die Gegenposition hierzu bezog Carlo Schmid, der für Württemberg-Hohenzollern am Verfassungskonvent teilnahm. Er hielt es für sinnvoll, im Verfassungsgerichtshof auch das „Nichtfachrichterelement“ zur Geltung zu bringen. Gerade auf dem Gebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit war
nach seinen Worten die Gefahr einer „déformation professionnelle“ gegeben, die sich darin äußern könne,
„Dinge für Rechtsfragen zu halten, die in Wirklichkeit politische Fragen sind“. Das Verfassungsgericht
habe jedoch bei seinen Entscheidungen neben den juristischen Argumenten auch politische
Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Schmid führte als Beispiel hierfür das Verbot von Parteien an. Es ging
ihm bei seiner Argumentation weniger um die Frage der formalen Qualifikation; er wollte vielmehr
sicherstellen, dass „politische Menschen“ nicht aufgrund ihrer fehlenden „fachlichen“ Vorbildung von der
Wahl zum Verfassungsrichter ausgeschlossen blieben. Der Herrenchiemsee-Konvent entschied sich
schließlich für die Formulierung, mindestens die Hälfte der Verfassungsrichter sei aus dem Kreis der
Richter an oberen Bundesgerichten und an den höchsten Gerichtshöfen der Länder zu wählen. Der
Vorsitzende sollte außerdem die Befähigung zum Richteramt haben. Die Auswahlmöglichkeit für die
Wahl der richterlichen Mitglieder wurde damit auf einen verhältnismäßig kleinen Personenkreis
beschränkt378.
Im Parlamentarischen Rat wurden die Personalprobleme zunächst durch die Organisationsprobleme der
obersten Gerichtsbarkeit überlagert. Im Rechtspflegeausschuss war zunächst die Vorstellung
vorherrschend, das oberste Gericht solle mit einem hierfür einzurichtenden Senat auch die
Verfassungsstreitigkeiten entscheiden. Vor der ersten Lesung im Hauptausschuss stellte jedoch der mit
Zinn (SPD), Strauß (CDU) und Dehler (FDP) besetzte Allgemeine Redaktionsausschuss die Weichen in
Richtung eines separaten Bundesverfassungsgerichts. Er legte am 5. Dezember 1948 einen entsprechenden Formulierungsvorschlag vor, der auch Grundregeln zur Wahl und Zusammensetzung des
Gerichts enthielt. Im Hauptausschuss setzte sich aber die Auffassung durch, die Details zum
Bundesverfassungsgericht dem zukünftigen Gesetzgeber zu überlassen. Er strich auch die Befähigung
378
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 432 f. und 600; H. Laufer: Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess.
Studien zum Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1968, S. 35 ff.
130
zum Richteramt als Qualifikationsmerkmal des Präsidenten und der Senatsvorsitzenden. Der
Parlamentarische Rat verzichtete damit auf jede zahlenmäßige Festlegung und beschränkte sich auf die
allgemeine Vorschrift, das Verfassungsgericht sei mit Bundesrichtern und Beisitzern zu besetzen.
Beibehalten wurde lediglich die bereits auf Herrenchiemsee beschlossene Regelung,
die
379
Verfassungsrichter jeweils zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat zu wählen .
Das Bestreben, Einzelheiten der Verfassungsgerichtsbarkeit dem Gesetzgeber zu übertragen, blieb nicht
auf die Personalia beschränkt. Der spätere Artikel 93 des Grundgesetzes führt zwar in vier Punkten
Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts auf, verweist aber im Übrigen auf das Grundgesetz und
die Bundesgesetzgebung. Auch die Beantwortung der wichtigen Frage, in welchen Fällen den
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft zukommt, wurde dem Bundesgesetzgeber
überlassen, obwohl der Entwurf des Grundgesetzes hierfür bis zur dritten Lesung des Hauptausschusses
eine spezielle Bestimmung enthielt. Die beiden großen Fraktionen erhofften sich vom Aufschub dieser
Probleme offenbar Vorteile für die eigene Zielsetzung. Golay hat bereits in seiner Studie hervorgehoben,
die Mehrheit des Bundestages verfüge über einen breiten Spielraum bei der Einrichtung des
Verfassungsgerichts und könne seine Zusammensetzung festlegen380. Die Kompromisslösung entsprach
deshalb durchaus den Intentionen der sozialen Mehrheitsdemokratie, denn sie überließ die Gestaltung der
Verfassungsgerichtsbarkeit dem zukünftigen Parlament.
Zum kontroversen Bereich der Grundgesetzberatungen über den Abschnitt Rechtsprechung gehört neben
der personellen Besetzung des Verfassungsgerichts auch der Wahlmodus für die Bundesrichter. Die
entsprechende Diskussion in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rates bezog sich vor allem auf die
Einrichtung von Richterwahlausschüssen  und zwar sowohl für die Wahl der Richter am geplanten
Obersten Bundesgericht als auch an den sogenannten oberen Bundesgerichten, die für das Gebiet der
ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz- sowie der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit errichtet werden
sollten. Diese Form der Richterbestellung war in der bisherigen deutschen Verfassungsentwicklung ohne
Vorbild; lediglich die Nachkriegsverfassungen von Hessen und Bremen sahen damals eine vergleichbare
Regelung vor381. Da im Parlamentarischen Rat außerdem über eine Rahmenbestimmung zur Anstellung
der Richter in den Ländern beraten wurde, welche ebenfalls die Einrichtung von Wahlausschüssen vorsah,
bezog sich die Diskussion auf das Personalproblem im gesamten Bereich der Judikative.
In dieser Diskussion spielte die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit eine große Rolle: Die
mehrheitsdemokratischen Vorstellungen zur Richterwahl beruhten auf der gleichen
Zeitgeschichtsinterpretation, die auch als Motivationsgrundlage für das Gesamtkonzept der sozialen
Mehrheitsdemokratie anzusehen ist. Die Richterschaft gehörte demnach zu den sozialen Gruppen, welche
der Weimarer Republik ablehnend gegenüberstanden und aufgrund dieser Haltung für das Scheitern der
Republik mitverantwortlich waren. Ihre Einstellung nach 1933 wurde von mehrheitsdemokratischer Seite
als unverhüllte Kapitulation vor den neuen Machthabern angesehen und ebenfalls heftig kritisiert. Die
sozialdemokratische Abgeornete Elisabeth Selbert führte im Hauptausschuss zahlreiche Beispiele aus
ihrer Anwaltstätigkeit vor 1945 an, die den gnadenlosen Charakter der Rechtsprechung im Dritten Reich
dokumentierten. Im Plenum äußerte sich Walter Menzel (SPD) kritisch zur Rolle der Justiz in den Jahren
1918 bis 1945 und forderte Garantien dafür, dass die richterliche Gewalt nicht noch einmal zur
„Unterhöhlung des demokratischen Staates“ beitrage382.
Diese Gefahr sollte durch die Richterwahlausschüsse abgewendet werden. Sie waren als
379
PR-Hauptausschuss, 23., 37. und 57. Sitzung vom 8.12.48, 13.1.49 und 5.5.49; PR-Drucksache Nr. 343 vom
5.12.1948 sowie die Übersicht im JöR, N.F., Bd. 1, S. 682 ff.
380
J. F. Golay: The Founding... S. 183 f.
381
Art. 127 der hessischen Verfassung vom 1.12.1946 und Art. 136 der bremischen Verfassung vom 21.10.1947.
382
PR-Hauptausschuss, 24. Sitzung vom 9. Dezember 1948 und PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 78
131
personalpolitisches „Sicherheitsventil“ gedacht und sollten nicht nur die sachlichen Qualifikation der
Bewerber, sondern auch ihre „demokratischen Zuverlässigkeit“ prüfen. Dieses politische Prüfungs- und
Auswahlverfahren stand nach mehrheitsdemokratischer Auffassung nicht im Widerspruch zum Prinzip
der richterlichen Unabhängigkeit; es wurde vielmehr aufgrund der zeitgeschichtlichen Erfahrungen als
Voraussetzung für die Wiedereinführung dieser Unabhängigkeit angesehen. Die Forderung Carlo
Schmids, man müsse die Unabhängigkeit der Rechtsprechung garantieren und gleichzeitig dafür Sorge
tragen, dass sie nicht „gegen die Demokratie missbraucht werden kann“383, sollte mit Hilfe dieser
Einrichtung auf dem Wege der Personalkontrolle verwirklicht werden. Im Mittelpunkt der
mehrheitsdemokratischen Vorstellungen zur Richterwahl stand deshalb die Zielsetzung, neben den
Vertretern der Exekutive auch Parlamentarier an den Wahlausschüssen zu beteiligen und hiermit dem
unmittelbar gewählten Parlament einen maßgebenden Einfluss auf das Personal der dritten Gewalt zu
sichern.
Die Vertreter der konstitutionellen Demokratiekonzeption waren in diesen Fragen entgegengesetzter
Auffassung: Das Verhältnis der Richterschaft zum Dritten Reich und zur Weimarer Republik musste ihrer
Ansicht nach wesentlich differenzierter gesehen werden. Gegen eine pauschale Verurteilung der
Richterschaft sprach sich im Hauptausschuss vor allem der Thomas Dehler (FDP) aus. Er erklärte, nach
seinen persönlichen Erfahrungen habe sich ein großer Teil der Richter im Rahmen des damals Möglichen
gegen das nationalsozialistische Unrecht zur Wehr gesetzt. Man könne auch gerechterweise „den
deutschen Richter nicht damit belasten, dass die deutsche Politik gefehlt hat“, denn die Richterschaft habe
im Dritten Reich unter dem „Zwang des Gesetzes“ gestanden. Dehler wurde in seiner Argumentation von
dem CDU-Abgeordneten de Chapeaurouge unterstützt, der hinzufügte, in Hamburg zum Beispiel seien
bisher keine „Missstände“ aufgrund der Tatsache aufgetreten, dass Richter früher der NSDAP angehört
hätten.
Aus dieser Sicht schien die Einrichtung von Richterwahlausschüssen nicht unbedingt erforderlich zu sein.
Sie wurde daher auch von den Abgeordneten Dehler und Seebohm (DP) grundsätzlich abgelehnt. Dehler
bezeichnete die Ernennung der Richter als Aufgabe der zuständigen Stellen in der Exekutive, d. h. in
erster Linie des Justizministers. Bei Einschaltung eines Wahlausschusses bestand seiner Auffassung nach
die Gefahr, dass die Wahl der Richter „nach politischen Gesichtspunkten, nicht nach rein fachlichen und
charakterlichen Gesichtspunkten“ erfolge. Seebohm erblickte in der Einrichtung von Wahlausschüssen
eine „Vermischung der exekutiven und legislativen Gewalten“ und befürwortete ebenfalls die Ernennung
durch den Justizminister oder durch das gesamte Kabinett.
Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten kam im Parlamentarischen Rat eine Einigung über die Wahl der
Bundesrichter durch einen Richterwahlausschuss und über die Besetzung dieses Wahlausschusses
zustande. Dieses Ergebnis scheint auf den ersten Blick den Mehrheitsverhältnissen in den Ausschüssen
sowie im Plenum zu widersprechen. In diesem Punkt bestand jedoch eine Interessenübereinstimmung
zwischen der mehrheitsdemokratischen Zielsetzung und den süddeutschen Länderinteressen, die bereits
zum Ausdruck kam, als der Allgemeine Redaktionsausschuss den Gedanken des Wahlausschusses im
Dezember 1948 zum erstenmal formulierte: Entscheidend war aus Sicht der Länder, dass die
Landesjustizminister in diesem Ausschuss halbparitätisch vertreten sein sollten. Die CDU/CSU-Fraktion
schloss sich im weiteren Verlauf der Beratungen diesem Vorschlag an, obwohl z.B. ihr Vertreter im
Rechtspflegeausschuss, Paul de Chapeaurouge, in der ersten Lesung des Hauptausschusses noch
Bedenken gegen den Wahlausschuss geltend gemacht hatte. Die FDP blieb bei ihrer ablehnenden Haltung
und beantragte in der zweiten Lesung des Hauptausschusses die Streichung des entsprechenden Absatzes
aus dem Entwurf. Ihr Abgeordneter Max Becker erklärte hierzu, seine Fraktion sei grundsätzlich der
Meinung, „dass der Wahlausschuss nicht das gegebene Gremium für die Wahl der Richter ist“.
Einen anderen Verlauf nahm die Diskussion über die ursprünglich als Art. 129 a in den Entwürfen
383
Dr. Selbert (SPD) im PR-Hauptausschuss, 24. Sitzung vom 9. 12. 1948; Schmid (SPD) in PR Akten und
Protokolle Bd. 9, S. 37
132
vorgesehene Bestimmung, auch den Ländern die Einrichtung von Richterwahlausschüssen
vorzuschreiben, die zusammen mit dem Landesjustizminister die Landesrichter auswählen sollten. Neben
den bereits erwähnten grundsätzlichen Bedenken gegen die Richterwahl wurden auch föderalistische
Einwände geltend gemacht. Im Hauptausschuss scheiterte deshalb der Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses mit der bindenden Vorschrift für die Länder in der Abstimmung mit 12 (CDU/CSU,
FDP, DP, Z) gegen 9 Stimmen (SPD, KPD). Die sozialdemokratische Fraktion schlug daraufhin die
Umwandlung der bindenden Vorschrift in eine Kann-Bestimmung vor und leitete damit die
Beschlussfassung über den späteren Art. 98 Abs. 4 des Grundgesetzes ein384. Die auf Parlamentseinfluss
ausgerichtete mehrheitsdemokratische Zielsetzung traf hier auf den Widerstand der
konstitutionell-demokratischen Verfassungskonzeption und der Länderinteressen.
Auch bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates über die Aufnahme der Richteranklage in das
Grundgesetz bestimmte die Problematik der richterlichen Unabhängigkeit den Verlauf der Diskussion.
Diese Unabhängigkeit wurde von den Vertretern der sozialen Mehrheitsdemokratie aufgrund der
zeitgeschichtlichen Erfahrungen gleichermaßen als Bestandteil der demokratischen Grundordnung und
(im Falle des Missbrauchs) als Gefahr für den demokratischen Staat betrachtet. Man war auf dieser Seite
der Auffassung, der besonderen Position, die der Richter im Vergleich zum weisungsgebundenen
Beamten innehabe, müsse auch eine besondere Verantwortlichkeit entsprechen. Wenn der „Richter als
Person“ einerseits in den Genuss bestimmter Schutzbestimmungen komme, erklärte Carlo Schmid vor
dem Hauptausschuss, müsse auf der anderen Seite die Bevölkerung vor dem Missbrauch dieser
Privilegien geschützt werden.
Die Initiative zur Einführung der Richteranklage ging von der sozialdemokratischen Fraktion aus: Nach
einem Vorschlag des Abg. Zinn für den Rechtspflegeausschuss konnten sowohl Bundes- als auch
Landesrichter ihr Amt durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes verlieren, falls keine
Gewähr mehr bestand, dass sie ihre Aufgaben „im demokratischen Geiste des Grundgesetzes und des
sozialen Verständnisses“ wahrnehmen. Zinn verwies auf das Recht zur Richterabsetzung nach der
kanadischen, der südafrikanischen und der australischen Verfassung sowie nach der Verfassung der
Vereinigten Staaten. Als unmittelbares Vorbild für den Parlamentarischen Rat sind jedoch die
entsprechenden Bestimmungen der vorausgehenden Länderverfassungen anzusehen. Von
sozialdemokratischer Seite wurde vor allem auf die hessische Regelung Bezug genommen: Hier kann der
Staatsgerichtshof auf Antrag des Landtages (oder des Justizministers im Einvernehmen mit dem
Richterwahlausschuss) Richter gegebenenfalls entlassen, wenn sie ihr Amt nicht „im Geiste der
Demokratie und des sozialen Verständnisses“ ausüben. Die Verfassung Bremens aus dem Jahre 1947
sieht für die Richteranklage ein vergleichbares Verfahren vor.
Mit der Richteranklage sollte nach den Worten des Abg. Zinn (SPD) die Möglichkeit gegeben sein,
„unabhängig von einem konkreten und individuellen Verschulden gegenüber dem Richter die
Vertrauensfrage zu stellen“. Die sozialdemokratische Abgeordnete Elisabeth Selbert hob diese Überlegungen noch deutlicher hervor. Sie bezeichnete die Einstellung zum demokratischen Staat und zu den
Grundrechten als die maßgebenden Kriterien für die Richteranklage und hielt es für sinnvoll, Richter auch
dann aus dem Amt zu entlassen, wenn sie „ohne Schuld unfähig sind, in diesem Geist Recht zu
sprechen“385. Der mehrheitsdemokratische Charakter dieser Vorschläge kommt in der Zuständigkeit des
Verfassungsgerichts zum Ausdruck, auf dessen Zusammensetzung das Parlament einen unmittelbaren
Einfluss ausüben sollte. Die Parlamentsmehrheit sollte außerdem das Antragsrecht zur Einleitung des
Verfahrens erhalten.
384
PR-Hauptausschuß, 24. Sitzung vom 9. 12. 1948; PR-Drucksache Nr. 343 vom 5. 12. 1948; JöR, N. F. Bd. 1, S.
719 ff.
385
PR-Hauptausschuss, 37. und 38. Sitzung vom 13. Januar 1949, sowie Art. 127 der hessischen Verfassung vom
11.12.1946 und Art. 136 der bremischen Verfassung vom 21.10.1947.
133
Die konstitutionell-demokratische Gegenposition wurde auch in dieser Frage vor allem von der
FDP-Fraktion vertreten: Ihre Sprecher im Hauptausschuss, Thomas Dehler und Max Becker,
befürworteten zwar die Möglichkeit der Richteranklage. Diese sollte aber nach ihren Vorstellungen nicht
vor dem Verfassungsgericht, sondern vor einem obersten Dienststrafgericht erfolgen. Als Begründung
führten sie an, in dieser Sache dürfe die Entscheidung nicht einem Gerichtshof übertragen werden, der
zum Teil auf „parteipolitischer Grundlage“ zusammengesetzt sei. Dehler befürchtete sogar, Richter
könnten „unter den Druck eines politischen Tribunals“ geraten , und sprach dem „politisch akzentuierten
Gerichtshof“ die Fähigkeit ab, das Verhalten eines Richters in einem Rechtsverfahren sachgemäß
beurteilen zu können. Die Richteranklage vor dem Verfassungsgericht widersprach seiner Ansicht nach
den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der richterlichen Unabhängigkeit. Richter, die den
Anforderungen ihres Amtes nicht gewachsen sind, sollten sich vor ihresgleichen verantworten. Sie
forderten außerdem, dem beschuldigten Richter sei vor dem Disziplinargericht ein vorsätzlicher Verstoß
gegen die demokratische Verfassung nachzuweisen; ein „grobfahrlässiges Verhalten“ des Betroffenen
rechtfertigte ihrer Ansicht nach keine Amtsenthebung386.
Während der Vorschlag, die Richteranklage einem obersten Dienststrafgericht zu übertragen, bei den
beiden großen Fraktionen keine Unterstützung fand, löste die Frage des Vorsatzes eine
Grundsatzdiskussion aus, in deren Verlauf die unterschiedlichen Auffassungen noch einmal deutlich
hervortraten. Die Bedingung des vorsätzlichen Verstoßes widersprach den mehrheitsdemokratischen
Intentionen, weil damit statt des Maßstabes der „Demokratietauglichkeit“ das individuelle Verschulden
zum Gegenstand des Anklageverfahrens wurde. Die sozialdemokratischen Abgeordneten Schmid, Selbert
und Zinn erklärten im Hauptausschuss, mit dieser Präzisierung werde die Richteranklage an
strafrechtliche Normen gebunden. Bei einem vorsätzlichen Verstoß gegen die Verfassung liege bereits der
nach dem Strafgesetzbuch strafbare Tatbestand der Rechtsbeugung vor, so dass die Aufnahme der Richteranklage ins Grundgesetz weitgehend überflüssig werde. Der Hauptausschuss folgte jedoch dem
Vorschlag der FDP und nahm nur das Wort „vorsätzlich“ in den Grundgesetzentwurf auf. Der Beschluss
kam mit 11 Stimmen der CDU/CSU, FDP und DP gegen 10 Stimmen der SPD, KPD und des Zentrums
zustande387. Eine Einigung zeichnete sich erst im Dezember 1948 im Allgemeinen Redaktionsausschuss
ab, wo Walter Strauß (CDU) und Georg August Zinn (SPD) einen Kompromissvorschlag erarbeitete,
welcher mit Billigung der SPD-Fraktion in die Endfassung des Art. 98 GG übernommen wurde: Das
Bundesverfassungsgericht hat demnach dem beschuldigten Richter einen vorsätzlichen Verstoß gegen die
Verfassung nur dann nachzuweisen, wenn es seine Entlassung aus dem Dienst anordnet. Für die
Versetzung in den Ruhestand oder in ein nichtrichterliches Amt gilt diese Einschränkung des
Tatbestandes nicht.
Die Kompromisslösung zur Richteranklage entsprach insofern noch der mehrheitsdemokratischen
Zielsetzung, als für die Versetzung oder Pensionierung eines Bundesrichters kein individueller
Schuldbeweis vorgeschrieben wird. Die Entfernung aus dem Amt ist weiterhin möglich, und der
„besondere Charakter“ des Anklageverfahrens ist damit gewahrt. Die Vorschrift einer Zweidrittelmehrheit
im Bundesverfassungsgericht für die Einleitung des Verfahrens trug aber dazu bei, dass die
Richteranklage eine theoretische Möglichkeit blieb. Ihre verbindliche Einführung in den Ländern
scheiterte aus den gleichen Gründen wie die Wahlvorschriften für Landesrichter. Angesichts des
föderalistischen Widerstands einigte man sich auch hier auf eine Kann-Bestimmung (Art. 98 Abs. 5 GG),
die es den Ländern freistellt, für die Landesrichter eine entsprechende Regelung zu treffen388.
386
PR-Hauptausschuss, 25. und 37. Sitzung vom 9. 12. 1948 und 13. 1. 1949, sowie H. Laufer:
Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess... S. 65 f.
387
PR-Hauptausschuss, 25., 37. und 38. Sitzung vom 9. 12. 1948 und 13. 1. 1949 sowie Art. 88 der Verfassung von
Württemberg-Baden vom 28. 11. 1946
388
PR-Hauptausschuss, 25. Sitzung vom 9. 12. 1948; PR Akten und Protokolle Bd. 11, S. 120 und 263 f.
134
Im Unterschied zu den Beratungen über die Zweikammerfrage fand im Bereich der Judikative keine
Annäherung zwischen den Fraktionen der SPD und FDP statt. Für die Konstellation im Parlamentarischen
Rat zu den Fragen der Richterwahl, der Richteranklage und der Besetzung des Verfassungsgerichts ist
vielmehr bezeichnend, dass die konstitutionell-demokratische Konzeption in erster Linie von der FDP
vertreten wurde. In der CDU/CSU-Fraktion, deren Haltung nicht immer einheitlich war, gab es
Berührungspunkte mit der sozialdemokratischen Zielsetzung. Eine Kooperation kam jedoch nur im
Bereich der Bundesgerichtsbarkeit zustande, so dass die mehrheitsdemokratischen Vorstellungen für die
Personalia der Landesgerichtsbarkeit ohne Einfluss blieben. Die Diskussionen im Parlamentarischen Rat
standen unter dem Eindruck der Situation im Justizwesen nach 1945. Rudolf Katz (SPD) bemerkte hierzu
vor dem Hauptausschuss, man habe die „Erbschaft der Übergangszeit“ von 1945 bis 1946 übernehmen
müssen. Der Aufbau des Gerichtswesens durch die Besatzungsmächte sei damals - wie sich anhand der
erst jetzt den Länderregierungen zugeleiteten Unterlagen herausstelle - ohne die erforderliche
Nachprüfung durchgeführt worden389.
4. Umfang und Bedeutung der Grundrechte
Die Neuformulierung und Sicherung der Grundrechte nahm in der Demokratiediskussion nach 1945
breiten Raum ein und kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Unter dem Eindruck des
nationalsozialistischen Regimes war man einerseits bestrebt, die zeitlose Bedeutung dieser Rechte und
Freiheiten in den Nachkriegsverfassungen erneut zum Ausdruck zu bringen. Auf der anderen Seite schien
die unübersichtliche Nachkriegssituation nur ihre vorläufige Formulierung zu gestatten. Im
Parlamentarischen Rat stand daher zeitweise für den ersten Artikel des Grundgesetzes die Ergänzung zur
Diskussion, die Grundrechte seien „für unser Volk aus unserer Zeit geformt“390. Die zentrale Bedeutung
der Grundrechte hat dazu beigetragen, dass sie nach 1945 teils dem Konsensusbereich, teils aber auch
dem umstrittenen Bereich der Verfassungsdiskussion zuzurechnen sind. Im Herrenchiemsee-Konvent
kamen die Vertreter der unterschiedlichen politischen Richtungen überein, die Grundrechte in die
zukünftige Verfassung als Rechtssätze aufzunehmen, welche für den Gesetzgeber, die Verwaltung und die
Rechtsprechung gleichermaßen verbindlich sind. Im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen war vor
allem der Umfang des Grundrechtskataloges umstritten. Es ging hierbei um die Frage, ob neben den
individuellen Freiheitsrechten und den politischen Mitwirkungsrechten auch Bestimmungen über die
Wirtschaftsstruktur, die Sozialordnung sowie über kulturelle Fragen Aufnahme in das Grundgesetz finden
sollten. Die Frage dieser „Teilhaberechte“ und Staatsziele kann als das eigentlich politische Thema der
Grundrechtsdiskussion bezeichnet werden391. Sie löste im Parlamentarischen Rat eine Kontroverse
zwischen den Fraktionen aus, welche ihrerseits Rückschlüsse auf das dort vertretene
Demokratieverständnis zulässt.
Die Grundrechtsdebatte des Parlamentarischen Rates stand unter dem Eindruck der Erfahrungen aus der
Zeit der Weimarer Republik. Der Entwurf zur Weimarer Reichsverfassung von Hugo Preuß enthielt
zunächst noch keinen Grundrechtsteil, wurde aber auf den Wunsch Friedrich Eberts um die traditionellen
Freiheitsrechte ergänzt. Die Vorstellungen des Sozialliberalen Friedrich Naumann, der vor dem
Verfassungsausschuss der Nationalversammlung über die Grundrechtsproblematik Bericht erstattete,
389
PR-Hauptausschuss, 24. Sitzung vom 9. 12. 1948. Zum Wiederaufbau der Justiz nach 1945 vgl. K. Loewenstein
in: E. Litchfield u.a.: Governing Postwar Germany, Ithaca 1953, S. 236-262 und M. Stolleis: Rechtsordnung und
Justizpolitik 1945 -1949. in: N. Horn (Hrsg.): Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift
für H. Coing, Bd.1, München 1982, S. 383-407
390
PR - Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, S. 5 (v.
Mangoldt)
391
Zur Systematik der Grundrechte K. Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland,
Karlsruhe 1972, S. 119 ff.
135
gingen noch weiter: Naumann beabsichtigte, die Grundsätze des Staatswesens in allgemein
verständlicher Form, aber ohne rechtsverbindlichen Charakter in die Verfassung aufzunehmen und auf
diese Weise einen „volkspädagogischen Zweck“ zu erfüllen.
Die Nationalversammlung beschloss schließlich die Aufnahme eines umfangreichen Abschnitts über die
„Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“. Hierin fanden nicht nur die klassischen Grundrechte,
sondern auch „soziale“ Rechte und Pflichten Berücksichtigung. Dieser Teil der Reichsverfassung von
1919 ließ allerdings die klare Linie vermissen und wurde bereits in der Weimarer Republik wegen seines
heterogenen Charakters kritisiert. Die rechtliche Natur seiner Bestimmungen war nicht eindeutig, denn
neben subjektiven Rechtsansprüchen enthielt der Verfassungstext Aufträge und Anregungen an den
Gesetzgeber sowie Deklamationen allgemeiner Art. Hinzu kam die unsystematische Anordnung des
umfangreichen Grundrechtsteils: Unter der Überschrift „Gemeinschaftsleben“ findet man neben dem
Versammlungs- und Petitionsrecht auch die Bestimmung, die Jugend sei „gegen Ausbeutung sowie gegen
sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung“ zu schützen. Diese Mängel hatten zur Folge, dass die
verfassungsrechtliche und politische Bedeutung des Grundrechtskatalogs der Reichsverfassung bis zum
Ende der Weimarer Republik umstritten blieb392.
Die westdeutschen Länderverfassungen aus den Jahren 1946/47 folgten, was den Umfang des
Grundrechtsteils betrifft, weitgehend dem Weimarer Vorbild. Wirtschaftliche und soziale Fragen, das
Erziehungswesen sowie die Stellung der Religionsgemeinschaften werden im Verfassungstext ausführlich
behandelt. Einige Verfassungen hoben sich vom Weimarer Vorbild allerdings durch eine übersichtlichere
Gliederung ihres erweiterten Grundrechtsteils ab. Die Hessische Verfassung vom Dezember 1946 stellt
z.B. die Individualrechte an den Anfang, gefolgt von einem Abschnitt über die Grenzen und die Sicherung
der Menschenrechte sowie einem dritten mit den sozialen und wirtschaftlichen Rechten.
Ein deutlicher Bruch mit der Weimarer Tradition zeichnete sich erst auf dem Verfassungskonvent von
Herrenchiemsee ab: Im zuständigen Unterausschuss des Konvents plädierte neben dem Berichterstatter
Hans Nawiasky auch der sozialdemokratische Bevollmächtigte des Landes Schleswig-Holstein, Fritz
Baade, dafür, nicht den ganzen Katalog der Weimarer Reichsverfassung zu übernehmen, sondern sich auf
die Grundrechte zu beschränken, welche der einzelnen Person zustehen. Dieses Verfahren werde allein
durch die Tatsache gerechtfertigt, dass die klassischen Grundrechte heutzutage in einem weit höheren
Maße gefährdet seien als zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in das europäische Rechts- und
Verfassungssystem. Hermann Brill (SPD) aus Hessen erklärte zur Grundrechtsproblematik, obwohl
Dokument I der Londoner Empfehlungen von „civil rights“ spreche, sei man keineswegs an die „Tafel
von 1789“ gebunden, sondern könne „darüber zeitgemäß hinausgehen“. Grundrechte aus den
„Ordnungsgebieten des gesellschaftlichen Lebens“ sollten jedoch seiner Ansicht nach nicht in die
zukünftige Verfassung aufgenommen werden. Auf Vorschlag von Wilhelm Drexelius (Hamburg)
beschloss daraufhin der Unterausschuss ohne Widerspruch, bei seinen Beratungen vom Grundrechtsteil
der Verfassung Württemberg-Hohenzollerns auszugehen, weil hier die Grundrechte besonders knapp
formuliert seien393.
Die Verfassung von Württemberg-Hohenzollern vom 20. Mai 1947 unterscheidet sich von den anderen
Landesverfassungen der unmittelbaren Nachkriegszeit tatsächlich dadurch, dass sie die „Pflichten und
Rechte der Staatsangehörigen“ im dritten Abschnitt getrennt von den „Lebensordnungen“ behandelt,
welche erst im Schlussteil berücksichtigt werden394. Der Herrenchiemsee-Konvent beschränkte sich
392
Vgl. W. Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung, München 1946, S. 295 ff.; H. Beyersdorff: Die
Staatstheorien in der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung von 1919, Coburg 1928, S. 44
f.; F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, Tübingen 1962, S. 196 und J.
F. Golay: The Founding..., S. 171 ff.
393
HCh-Unterausschuss I, 4. Sitzung vom 18. August 1948
394
Verfassung für Württemberg-Hohenzollern vom 20.5.1947, Art. 6-19 und 89-123
136
dementsprechend in seinem Entwurf auf die individuellen Grundrechte und erklärte im darstellenden
Teil seines Berichts, es sei nicht notwendig, „neben den grundlegenden Rechten der menschlichen
Freiheiten alle irgendwie als Grundrechte bezeichneten Institutionen in einen umfassenden Katalog von
Bundesgrundrechten aufzunehmen“. Der Konvent fügte hinzu, dass er eine Reihe institutioneller
Garantien, die man in der Regel ebenfalls als Grundrechte bezeichnet, in anderen Abschnitten des
Entwurfs berücksichtigt habe. Dies bezog sich insbesondere auf das Verbot von Sondergerichten und
rückwirkenden Strafgesetzen, auf die richterliche Unabhängigkeit sowie auf die öffentliche
Verhandlungsführung - Materien, die im Abschnitt Rechtspflege des Entwurfes behandelt werden.
Die Möglichkeit der Überführung von Bodenschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum stand
allerdings von Anfang an im Grundrechtsteil des Herrenchiemsee-Entwurfs, ohne dass man über ihre
systematische Einordnung ausführlicher diskutierte. Hermann Brill (SPD) bezeichnete die Sozialisierung
neben der Mitbestimmung als „Teilfragen einer demokratischen Gesamtwirtschaftsverfassung“ die man
nicht übergehen könne. Seiner Vorstellung nach sollte sie jedoch in den Zuständigkeitskatalog für die
Gesetzgebung aufgenommen werden395.
In dieser vorbereitenden Phase der Grundgesetzberatungen stand statt der Ausweitung des
Grundrechtskatalogs allenfalls die Alternative zur Diskussion, auf die Aufnahme der Grundrechte in die
zukünftige Verfassung überhaupt zu verzichten. So enthielt zum Beispiel ein von bayerischen
Sachverständigen erarbeiteter Entwurf des Grundgesetzes, der auf Herrenchiemsee als Arbeitsmaterial
vorlag, keinen Vorschlag zur Formulierung der Grundrechte. In den Führungsgremien der SPD herrschte
damals die gleiche Tendenz vor, denn der etwa gleichzeitig mit dem Herrenchiemsee-Konvent
formulierte und vom Verfassungsausschuss des Parteivorstandes genehmigte erste Entwurf Walter
Menzels verzichtete auf die Aufnahme von Grundrechten396.
Bei der Grundsatzdebatte im Plenum des Parlamentarischen Rates folgten die Redner aber nur zum Teil
der vom Herrenchiemsee-Konvent vorgezeichneten Richtung: Die Sprecher der FDP und der SPD setzten
sich für eine Beschränkung des Grundrechtskatalogs auf die individuellen Freiheitsrechte ein. Theodor
Heuss bezeichnete es als leichtfertig, aus der damaligen Situation heraus Voraussagen über die zukünftige
Sozialstruktur zu machen und entsprechende Bestimmungen in der Verfassung zu kodifizieren. Die
Grundrechte waren nach seinen Worten als „Misstrauensaktionen gegen den Missbrauch der staatlichen
Macht“ zu verstehen. Carlo Schmid sprach sich ebenfalls für einen „recht klaren und wirksamen Katalog
von Individual-Grundrechten“ nach dem Vorbild der angelsächsischen Bill of Rights aus. Er legte besonderen Wert auf die unmittelbare rechtliche Wirkung dieser Rechte, damit sie jeder Bürger vor Gericht
gegebenenfalls einklagen könne.
Die Ausführungen von Adolf Süsterhenn, der als Hauptredner für die CDU sprach, ließen aber die
potentiellen Konfliktpunkte deutlich erkennen: Süsterhenn verstand die Grundrechte als vorstaatliche
Rechte, die sich aus der Natur des Menschen ergaben. Er verwies auf den damals im Rahmen der
Vereinten Nationen formulierten Menschenrechtsentwurf, der jedoch über die juristisch wirksamen
Individualrechte hinausgreift. Schließlich hob er das „natürliche Recht“ der Eltern hervor, über die
Kindererziehung selbst zu bestimmen. Ein ähnlicher Hinweis auf das sogenannte Elternrecht findet sich
auch im Grundsatzreferat des Zentrumsabgeordneten Brockmann. Süsterhenns Argumentation zur
Grundrechtsfrage entsprach durchaus der konstitutionell-demokratischen Zielsetzung seines gesamten
Referates, denn er verband sie mit einer Warnung vor parlamentarischen Diktaturen, die nach seinen
Worten „insbesondere auf religiösem, kirchlichem und schulpolitischem Gebiet die Gewissensfreiheit
nicht weniger vergewaltigt haben als Einmanndiktaturen“397.
395
PR Akten und Protokolle Bd.2, S. 75 und 513
396
Vgl. den Text des ersten Menzel-Entwurfs vom 16.8.1948 bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen... S. 267-278
397
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 37-39, 52-56 und 116
137
In den ersten Sitzungen des Ausschusses, der für die Beratung des Grundrechtsteils zuständig war,
bestand ein allgemeines Einverständnis über den rechtsverbindlichen Charakter der Grundrechte sowie
über die Begrenzung des Katalogs auf die sogenannten klassischen Rechte. Die sozialdemokratischen
Abgeordneten Schmid und Zinn befürworteten hier erneut den Verzicht auf „unechten“ Grundrechte. In
das Grundgesetz sollten nur jene Rechte Aufnahme finden, erklärten sie, denen „reale Bedeutung“
zukomme. Zinn sagte als Berichterstatter vor dem Ausschuss, jeder Versuch, über die klassischen
Grundrechte hinauszugehen, werde ähnlich wie 1918/19 zur Folge haben, dass der Grundrechtsteil
schließlich „einen höchst heterogenen Niederschlag verschiedener Parteiprogramme“ darstelle. Gleicher
Auffassung war neben dem Ausschussvorsitzenden Hermann von Mangoldt (CDU) auch Theodor Heuss,
der sich kritisch mit den weitergehenden Bestimmungen der Landesverfassungen auseinander setzte und
zur hessischen Verfassung erklärte: „Man kann in eine Verfassung ganze Parteiprogramme
hineinschreiben. Die hessische Verfassung ist wunderbar; sie ist eine Rededisposition für Leute, denen
selber nichts einfällt. Auf dem Wege kommen wir nicht weiter“. Der Grundsatzausschuss begann
dementsprechend Ende September 1948 mit den Beratungen der Grundrechte unter der Prämisse, dass nur
rechtswirksame Rechte aufgenommen werden sollten398.
Das Einverständnis der Fraktionen über die Begrenzung des Grundrechtsteils blieb allerdings im weiteren
Verlauf der Diskussion nicht bestehen. Während sich bei den bisher behandelten Verfassungsfragen zu
Beginn der Grundgesetzberatung jeweils unterschiedliche Positionen gegenüberstanden, die später zu
einem Kompromiss verbunden wurden, verlief die Beratung der Grundrechte in umgekehrter Richtung:
Auf Herrenchiemsee und bei den Ausschussberatungen des Parlamentarischen Rates bestand ein
weitgehender Konsensus über den Umfang des Grundrechtsteils, der später ernsthaft in Frage gestellt und
in der Schlussphase schließlich nur mit Mühe aufrechterhalten wurde.
Der Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rats ging allerdings bei seinem ersten Formulierungsvorschlag vom 18. Oktober 1948 bereits in einigen Punkten über den Bereich der klassischen
Individualrechte hinaus: Im Zusammenhang mit der Vereinigungsfreiheit nahm er beispielsweise die
Anerkennung des Streikrechts in den Entwurf auf und formulierte gleichzeitig das negative
Koalitionsrecht - das heißt, er bezeichnete alle Abreden und Maßnahmen als nichtig, die darauf abzielen
den Beitritt zu Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen oder entsprechenden Vereinigungen zu
erzwingen. Neben dem Eigentumsrecht war im Entwurf des Grundsatzausschusses auch die Überführung
von Bodenschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum in der leicht veränderten Fassung von
Herrenchiemsee enthalten. Carlo Schmid (SPD) erklärte hierzu, Sozialisierung sei kein „Sonderfall der
Individualenteignung“, sondern eine „strukturelle Umwandlung der Wirtschaftsverfassung“, die deshalb
nur aufgrund eines Gesetzes vorgenommen werden dürfe. Die beiden Formulierungen lösten jedoch
damals keine Kontroverse zwischen den Fraktionen aus, weil man hierin offenbar keinen Widerspruch zu
der allgemeinen Absprache über die Begrenzung des Katalogs erblickte. Spätere Auseinandersetzungen
kündigten sich an, als die CDU-Abgeordnete Helene Weber die Forderung nach Berücksichtigung des
Elternrechts anmeldete. Theodor Heuss entgegnete, hiermit käme man „in Teufels Küche“399.
Diese Vorahnung erwies sich Ende November 1948 als berechtigt, als die CDU/CSU-Fraktion
ausformulierte Anträge zu den Bereichen Familie und Erziehung sowie zum Schulwesen vorlegte. Im
einzelnen bezogen sich diese Anträge (a) auf den verfassungsmäßigen Schutz von Ehe und Familie sowie
(b) auf das Elternrecht in seiner erweiterten Form, d. h. einschließlich des Rechts auf „Bestimmung des
religiös-weltanschaulichen Charakters der Schule“. Hinzu kam (c) ein gemeinsamer Antrag der
CDU/CSU, des Zentrums und der DP, der das Verhältnis von Staat und Kirche sowie die vor 1945 mit
den Kirchen geschlossenen Verträge zum Gegenstand hatte. Außerdem stellten die Abgeordneten
Seebohm (DP) und Heuss (FDP) noch den Vorschlag zur Diskussion, das Recht zur Errichtung privater
398
PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 3 - 14, 28 - 50 und 62 ff.
399
PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 4 ff. und Bd. 5/I, S. 213 f. und 218 f.
138
Schulen in der Verfassung zu berücksichtigen400. Zur gleichen Zeit beschlossen die beiden Ausschüsse
für Zuständigkeits- und Grundsatzfragen, einen Artikel über den öffentlichen Dienst in den
Grundgesetzentwurf aufzunehmen, während der Hauptausschuss die Anerkennung des Streikrechts aus
dem Entwurf strich.
Bei der Sachdiskussion des Parlamentarischen Rates über diese Anträge, die hier nicht im einzelnen
verfolgt wird, standen das Elternrecht und die Stellung der Kirchen im Mittelpunkt der
Auseinandersetzung. In der Debatte wurde oft mit verkehrten Fronten argumentiert: Die Schulanträge und
die Forderung nach Geltung des Reichskonkordats waren zentralistisch, weil sie den Länderkompetenzen
in kulturellen Dingen widersprachen. Die Sprecher der SPD und FDP, deren Fraktionen in der Regel eine
Erweiterung der Bundeskompetenzen befürworteten, gaben sich föderalistisch und traten für die
Kulturhoheit der Länder ein. Bei Annahme dieser Vorschläge, so befürchtete der sozialdemokratische
Abgeordnete Ludwig Bergsträsser, würden die Länder in „ihrer eigentlichen Domäne völlig ausgehöhlt“.
Hiermit verlasse man die informelle Abrede im Grundsatzausschuss, nur die in Dokument Nr. 1 der
Besatzungsmächte genannten persönlichen Grundrechte aufzunehmen401.
Zu Beginn der zweiten Lesung des Hauptausschusses fand Mitte Dezember 1948 eine Aussprache über
die Weiterführung der Grundgesetzberatungen statt, die zeigte, dass die ursprüngliche Übereinstimmung
zwischen den Fraktionen über den Umfang des Grundrechtsteils kaum noch bestand: Der Sprecher der
SPD-Fraktion, Walter Menzel, äußerte seine Besorgnis über den Verlauf der Beratungen, weil die anderen
Fraktionen neue Forderungen „nachgeschoben“ hätten, die über den Bereich der sogenannten klassischen
Grundrechte hinausgehen. Dies habe zum Wiederaufleben der latenten Gegensätze zwischen den
politischen Richtungen geführt und die gemeinsame Plattform in Frage gestellt. Menzel bezweifelte, ob
der Parlamentarische Rat das Mandat in Anspruch nehmen könne, unter Zeitnot und angesichts einer
politisch schwierigen Situation Grundprobleme zu lösen, welche „seit Jahrzehnten ungelöst auf der
deutschen Innenpolitik lasten“. Für die FDP wandte sich Theodor Heuss ebenfalls gegen die
„ungehemmte Ausweitung“ der Verfassung. Er erinnerte an das seinerzeit getroffene Gentlemans
Agreement über die Begrenzung des Grundrechtsteils und fügte hinzu, der Parlamentarische Rat habe
nicht die Aufgabe, über „Religionsphilosophie“ oder „Sozialphilosophie“ zu diskutieren, sondern ein
funktionierendes Verfassungssystem zu schaffen. Adolf Süsterhenn (CDU) entgegnete, die Meinung
darüber, was „echte Grundrechte“ und was Randprobleme seien, hänge vom weltanschaulichen
Standpunkt des Betrachters ab402.
Eine Interpretation des Beratungsverlaufs wird sich zunächst der CDU/CSU-Fraktion zuwenden, weil die
politische Auseinandersetzung über die Berücksichtigung der „Lebensordnungen“ im Grundgesetz durch
ihre Initiative ausgelöst wurde. Von großer Bedeutung für die Haltung dieser Fraktion zur
Grundrechtsproblematik ist zweifellos der Interesseneinfluss gewesen, den die Kirchen in den
umstrittenen Fragen auf den Parlamentarischen Rat ausübten. Sowohl die katholische Kirche, vertreten
durch die Fuldaer Bischofskonferenz, als auch der seit 1948 im Rat der Evangelischen Kirchen in
Deutschland (EKD) vereinigte Protestantismus waren zunächst bestrebt, ihre Autonomie und ihre
Anerkennung als öffentlich-rechtliche Institution zu sichern. Sie waren außerdem bemüht, die
Formulierung der klassischen Grundrechte in ihrem Sinne zu beeinflussen, und vertraten insbesondere die
Auffassung, eine bloße Garantie der Bekenntnisfreiheit zur Sicherung ihrer Glaubensinhalte reiche nicht
aus. Ihre Eingaben an den Parlamentarischen Rat enthalten neben den bereits erwähnten Forderungen zum
Elternrecht, zur Stellung der Kirche im Staat, zum Schutz von Ehe und Familie sowie zu den zwischen
400
PR-Drucksachen Nr. 302 vom 24. 11. 1948 und Nr. 321 vom 24. 11. 1948; PR-Hauptausschuss, 17., 18., 21. und
43. Sitzung vom 3., 4. und 7. Dezember 1948 sowie 18. Januar 1949; PR Akten und Protokolle Bd. 3, S. 588-597
401
Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 119; PR-Hauptausschuss, 21. und 22. Sitzung vom 7./ 8. Dezember
1948
402
PR-Hauptausschuss, 27. Sitzung vom 15. Dezember 1948
139
Staat und Kirche geschlossenen Verträgen in der Regel auch den Wunsch nach Bestimmungen über
die „Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens“ und über die Anerkennung des Religionsunterrichts
sowie der Sonn- und Feiertage.
Werner Sörgel weist in seiner Studie über den Einfluss der Interessen auf den Parlamentarischen Rat
nach, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht zwischen den CDU-Anträgen vom 24. November
1948 und einer Eingabe, die der Erzbischof von Köln als Vorsitzender der Bischofskonferenz am 20.
November an den Parlamentarischen Rat richtete. Auch die verfassungsmäßige Regelung des
Verhältnisses von Staat und Kirche wurde im Grundsatzausschuss von dem CDU-Abgeordneten
Süsterhenn erst zur Sprache gebracht, nachdem sowohl von katholischer Seite als auch von den
evangelischen Kirchen eine entsprechende Eingabe vorlag. Am 17. Dezember fand auf Initiative
Adenauers ein Gespräch der Fraktionsvorsitzenden mit den Vertretern der beiden Kirchen statt, welches
allerdings die im Parlamentarischen Rat vertretenen Grundpositionen kaum veränderte403.
Der spätere Art. 6 zur Ehe und Familie bereitete den Autoren des Grundgesetzes noch das geringere
Kopfzerbrechen, obwohl sie bei seiner Formulierung die Verbesserungsvorschläge des deutschen
Sprachvereins zur Hilfe nehmen mussten. Er enthält in der Endfassung unverbindliche Programmsätze mit
Ausnahme des dritten Absatzes. Kinder können demnach nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie
getrennt werden. Bei den Beratungen gab es allerdings lebhafte Auseinandersetzungen über die rechtliche
Stellung des unehelichen Kindes. Dem Hauptausschuss lag ein Antrag der SPD vor, der die
Gleichstellung des unehelichen Kindes und seine Verwandtschaft mit seinem leiblichen Vater ins
Grundgesetz aufnehmen wollte. Hierzu entwickelte sich ein kontroverser Disput zwischen den
„Verfassungsmüttern“: Die beiden SPD-Abgeordneten Friederike Nadig und Elisabeth Selbert
unterstützten diesen Antrag; die CDU-Abgeordnete Helene Weber und die Zentrumsabgeordnete Helene
Wessel sprachen sich gegen die gleichen Rechte des unehelichen Kindes aus. Der SPD-Antrag wurde
schließlich im Hauptausschuss mit knapper Mehrheit abgelehnt. Der Parlamentarische Rat entschied sich
statt dessen frühzeitig für die unverbindliche Formulierung, die unehelichen Kinder müssten die gleichen
Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung erhalten wie die ehelichen404.
Die Entstehung des späteren Art. 7 des Grundgesetzes war bis zum Schluss der Grundgesetzberatungen
von heftigen Auseinandersetzungen begleitet. Im Mittelpunkt der Kontroverse stand der Versuch, in
diesem Artikel das sogenannte Elternrecht aufzunehmen, das „natürliche Recht der Eltern“, den „religiösweltanschaulichen Charakter der Schule“ zu bestimmen. Hinter dieser Formulierung, die der CDUAbgeordnete Süsterhenn am 23. November 1948 im Grundsatzausschuss beantragte, stand die Erwartung,
die Eltern in weiten Teilen Westdeutschlands würden sich für Konfessionsschulen aussprechen.
Süsterhenn bezeichnete das so verstandene Elternrecht als eine fundamentale Frage, die im Unterschied
zu anderen Verfassungsproblemen nur geringe Kompromissmöglichkeiten biete. Zur naturrechtlichen
Begründung der Initiative diente auch Art. 26 Abs. 3 der von den Vereinten Nationen im Dezember 1948
proklamierten Menschenrechte, wo das natürliche Recht der Eltern formuliert wird, die „Art der
Erziehung“ ihrer Kinder zu bestimmen. In der ersten Lesung lehnte der Hauptausschuss des
Parlamentarischen Rates das Elternrecht mit 11 zu 10 Stimmen ab, in der zweiten Lesung am 18. Januar
1949 nach ausführlicher Debatte erneut mit 11 zu 9 Stimmen. Die Diskussion war damit aber noch nicht
beendet. Ungeachtet der Mehrheitsverhältnisse versuchte die CDU-Abgeordnete Helene Weber noch
Anfang Mai 1949 mit drei aufeinanderfolgenden Anträgen zum Ziel zu kommen405.
403
W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 167-200 und 314 ff., wo mehrere Eingaben abgedruckt sind, sowie B.
van Schewick: Die Katholische Kirche und die Entstehung der Verfassungen in Westdeutschland 1945-1950, Mainz
1980, S. 96 ff.
404
PR-Hauptausschuss, 21. Sitzung vom 7.12. 1948 und JöR, N.F. Bd. 1...S.92 ff.
405
PR-Hauptausschuß, 21., 43. und 57. Sitzung vom 7.12.1948, 18.1.1949 und 5.5.1949
140
Die ins Grundgesetz schließlich aufgenommenen Absätze des Art. 7 waren weniger umstritten: Die
Garantie des Religionsunterrichts geht auf den Elternrechtsantrag Dr. Süsterhenns vom 23. November
1948 zurück und führte zu einer Sonderregelung für Bremen, wo nach der Landesverfassung biblische
Geschichte auf „allgemeiner christlicher Grundlage“ unterrichtet wird (Art. 141 GG). Das Recht zur
Errichtung privater Schulen kam auf Initiative von Theodor Heuss ins Grundgesetz. Er dachte hierbei
allerdings nicht in erster Linie an Schulen in kirchlicher Trägerschaft, sondern berief sich auf die
positiven Erfahrungen mit den Waldorf- Schulen in Württemberg406.
Bei den zwischen Staat und Kirche geschlossenen Verträgen ging es in erster Linie um das am 20. Juli
1933 zwischen der Regierung Hitler und dem Vatikan abgeschlossene Reichskonkordat. Die Mehrheit des
Parlamentarischen Rates war nicht bereit, eine Aussage zur Fortgeltung dieses Konkordats in das
Grundgesetz aufzunehmen. Der spätere Art. 123 Abs. 2 des Grundgesetzes hält allerdings fest, dass
Staatsverträge aus der Zeit vor 1945, die sich auf die Landesgesetzgebung beziehen, bis zu einer neuen
Regelung „unter Vorbehalt“ in Kraft bleiben. Diese Formulierung kam mit dem Kompromiss des
Fünferausschusses in den Entwurf und wurde von den Befürwortern als eine de facto Anerkennung der
„Weitergeltung des Reichskonkordats“ interpretiert407.
Was die Rechte der Kirchen und ihr Verhältnis zum Staat betrifft, übernahm der Parlamentarische Rat
nach langer Diskussion die Artikel 136 bis 141 der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz. Der
Kompromiss lag hierbei vor allem darin, dass auch Art. 136 entgegen den ursprünglichen Intentionen
aufgenommen wurde. Er garantiert sowohl die Freiheit des Bekenntnisses als auch des Nichtbekennens
der weltanschaulichen Überzeugung und stellt fest, dass die Rechte der Bürgers unabhängig sind von ihrer
Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften.
Die Auseinandersetzung im Parlamentarischen Rat um die von beiden Kirchen angestrebten Garantien
sind inzwischen recht gut erforscht. Die Untersuchungen schildern den Entscheidungsprozeß in und
zwischen den Fraktionen sowie die Wege und Möglichkeiten des kirchlichen Interesseneinflusses auf die
Grundgesetzberatungen. So war die CDU/CSU aus föderalistischen Motiven zunächst zurückhaltend
gegenüber den kirchlichen Forderungen. In überwiegend katholischen Ländern, wie z.B. in Bayern,
fürchtete man, eine Bundesregelung könne nur schlechter ausfallen, als die eigenen
Konkordatsvereinbarungen. Erst nach Zustimmung des Münchener Kardinals Faulhaber konnten CDU
und Zentrum im Parlamentarischen Rat die Initiative ergreifen. In der Frage des Reichskonkordats war
offenbar die Rede des SPD-Abg. Zinn im Hauptausschuss am 20. Januar 1949 entscheidend für den
Ausgang der Beratungen. Zinn verband die Ablehnung des Reichskonkordats mit einer scharfen Kritik
der Kooperation zwischen der katholischen Kirche und dem Nationalsozialismus. Seine Ausführungen
waren so zugespitzt, dass das stenographische Protokoll nachträglich retuschiert wurde. Die Rede Zinns
trug aber zum Stimmungswandel in der Unionsfraktion bei und ebnete den Weg zum Kompromiss408.
Während die Beratungen zum Grundgesetz in der Öffentlichkeit auf wenig Resonanz stießen, gab es in
der Frage des Elternrechts eine veritable Volksinitiative an den Parlamentarischen Rat: Im Dezember
1948 und im Januar 1949 notierte das Sekretariat etwa 500 Eingaben von Elternausschüssen, Pfarreien,
Verbänden und Einzelpersonen zugunsten des „Elternrechts“. Offenbar nutzte die Kirchenführung die
Gelegenheit, um die Laienorganisation der Katholiken im Sinne einer actio catholica zu konsolidieren.
Die nach dem gleichem Muster verfassten Eingaben stießen aber auch auf Gegeninitiativen: Mehr als
50.000 Lehrer sprachen sich dagegen aus, den weltanschaulichen Charakter der Schule im Grundgesetz
406
PR Akten und Protokolle Bd 5/II, S. 817 und PR-Hauptausschuss, 21. und 43. Sitzung vom 7.12.1948 und
18.1.1949
407
408
PR Akten und Protokolle Bd. 11, S. 71 und 76
B. van Schewick: Die Katholische Kirche...S.77 ff. und 104 ff. sowie den ungekürzte Redetext Zinns im NL
Menzel R 2 - AdsD
festzulegen409.
141
Konrad Adenauer trug in der Endphase der Grundgesetzberatungen zum Kompromiss der Fraktionen bei,
indem er die fundamentalistischen Forderungen des katholischen Klerus, die vor allem aus Münster
geltend gemacht wurden, ignorierte. Die katholischen Bischöfe mussten mit ihrer „Erklärung von
Pützchen“ vom 11. Februar 1949 eingestehen, dass sie die Mehrheitsverhältnisse im Parlamentarischen
Rat nicht ausreichend beachtet hatten. Mit den Einwänden der Besatzungsmächte vom 2. März 1949
gegen den Grundgesetzentwurf war allerdings der Kompromiss zwischen den deutschen Parteien wieder
in Frage gestellt. Die SPD legte wenige Wochen später einen gekürzten Grundgesetzentwurf vor, der
weder die Stellung der Kirchen noch die Bereiche Ehe und Schule berücksichtigte. Dieser Entwurf hatte
zwar keine Realisierungschancen, machte aber den beiden Kirchenleitungen den Wert des im Februar
1949 erreichten Kompromisses deutlich410.
Der Interesseneinfluss der Beamten und ihrer Organisationen auf die Formulierung des Grundgesetzes
war in seiner Intensität mit dem Einfluss der Kirchen durchaus vergleichbar. Der HerrenchiemseeKonvent hatte in seinem Entwurf auf eine Aussage zum öffentlichen Dienst verzichtet, weil man - wie es
im Bericht seines Unterausschusses II heißt – „der lebhaften öffentlichen Diskussion über die Vorzüge
und Schwächen des Berufsbeamtentums“ nicht vorgreifen wollte. Die Fraktionen des Parlamentarischen
Rates konnten sich jedoch dem Einfluss der Beamtenorganisationen nicht entziehen, zumal der Rat selbst
zu mehr als 60 Prozent aus Beamten bestand. Die grundsätzliche Übereinstimmung, die Beamten im
Grundgesetz zu berücksichtigen, kam bereits Mitte Oktober 1948 im Zuständigkeitsausschuss zum
Ausdruck, als der Ausschussvorsitzende Walter Strauß (CDU) und der SPD-Abgeordnete Fritz Hoch den
gemeinsamen Formulierungsentwurf eines Artikels zum öffentlichen Dienst vorlegten. Gleichzeitig fand
eine Unterredung des FDP-Abgeordneten Hermann Schäfer, der Vizepräsident des Parlamentarischen
Rats war, mit drei Vertretern des Beamtenbundes statt. Schäfer sicherte zu, die FDP-Fraktion werde sich
für die „Beamtenwünsche“ einsetzen.
Die Einzelheiten des Interesseneinflusses bei der Formulierung des späteren Art. 33 GG wurden bereits
von Werner Sörgel und vor allem von Udo Wengst ausführlich untersucht und dargestellt411. Im
Zusammenhang mit der hier verfolgten Fragestellung ist vor allem der Hinweis wichtig, dass die Absätze
4 und 5 des Art. 33 GG Kompromissformulierungen waren. CDU, FDP und der DP hatten vor, den
Begriff des Berufsbeamten in den Text des Grundgesetzes aufzunehmen und dieser Gruppe die
„Ausübung öffentlicher Gewalt“ zu übertragen. Die „hergebrachten Grundsätze“ sollten für die
Rechtsstellung der Beamten weiterhin maßgebend sein. Die sozialdemokratische Seite (Fritz Hoch)
beantrage in der ersten Lesung des Hauptausschusses vergeblich, den Absatz über die „hergebrachten
Grundsätze“ zu streichen.
Der dreiköpfige Allgemeine Redaktionsausschuss distanzierte sich mit seinem Vorschlag vom 25. Januar
1949 deutlich von der beamtenfreundlichen Fassung des Hauptausschusses. Er verzichtete auf den Begriff
„Berufsbeamten“ und ersetzte ihn durch die Umschreibung „Angehörige des öffentlichen Dienstes“. Das
Recht des öffentlichen Dienstes war demnach nur noch „unter Berücksichtigung“ der überlieferten
Grundsätze zu regeln. Die Motive des mit Zinn (SPD), Dehler (FDP) und v. Brentano (CDU) besetzten
Gremiums sind nur teilweise zu rekonstruieren. Aus der schriftlichen Begründung ergibt sich, dass
Beamte dort tätig werden sollten, wo der Staat als „Obrigkeit“ in Erscheinung tritt. Zum öffentlichen
Dienstrecht gehörte aber nach den Vorstellungen des Redaktionsausschusses auch die Neuregelung der
409
PR-Hauptausschuss, 43. Sitzung vom 18. Januar 1949; PR Akten und Protokolle Bd. 5/II, S. 902
410
B. van Schewick: Die Katholische Kirche...S.122 ff.; W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S.167 ff.
411
U. Wengst: Beamtentum zwischen Reform und Tradition, Düsseldorf 1988, S. 34-48; W. Sörgel: Konsensus und
Interessen ... S. 120-133; Niederschrift über eine Verhandlung mit der FDP-Fraktion des Parlamentarischen Rates ...
am ... 18.10.1948... (ADL Parl. Rat FDP-Fraktion 1948/49, 2976)
142
Position der Angestellten. Anfang Mai 1949 legte der Allgemeine Redaktionsausschuss nach
informellen Besprechungen der Fraktionen schließlich die Kompromissformulierung der Endfassung vor:
Nach Absatz 4 des Artikels 33 wurde die Ausübung hoheitlicher Befugnisse den Angehörigen des
öffentlichen Dienstes übertragen, die in einem „öffentlich-rechtlichen“ Dienstverhältnis stehen. Die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ kehrten in den Absatz 5 des Artikels zurück, sollten bei
einer Neuregelung aber nur noch berücksichtigt werden und keine rechtsverbindliche Richtlinie sein412.
Über die Kontinuität der Beamtenschaft bestand zwar im Parlamentarischen Rat ein breiter Konsensus;
zum Umfang und zum rechtlichen Status dieses Personenkreises gab es aber divergierende Vorstellungen.
Die „Lebensordnung“ des öffentlichen Dienstes wurde vom Parlamentarischen Rat nicht so eindeutig
festgelegt, wie man unter dem Eindruck der späteren Gesetzgebung vermuten könnte. Fritz Eberhard, der
für die SPD Mitglied des Parlamentarischen Rates war, schrieb 1979 im Rückblick: „Nach dem Text des
Grundgesetzes wäre auch ein ganz anderes Bundesbeamtengesetz möglich gewesen“413.
Wenn man die Grundgesetzartikel über Schule, Ehe und Familie sowie die Weimarer Kirchenartikel und
Art. 33 zum öffentlichen Dienst mit dem Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee vergleicht, wo diese
Materien fehlen, ist eine Hinwendung des Parlamentarischen Rates zur Weimarer Reichsverfassung nicht
zu leugnen. Die Festlegung des Gesetzgebers auf bestimmte Prinzipien scheiterte jedoch. Das sogenannte
Elternrecht wurde abgelehnt. Die Konkordatsfrage blieb weitgehend ausgeklammert und wurde nur im
Zusammenhang mit der provisorischen Fortgeltung der Staatsverträge indirekt berücksichtigt. Die
Formulierungen in den genannten Grundgesetzartikeln sind entweder unverbindliche Programmsätze oder
bestätigen Rechtsverhältnisse, die bei den großen Parteien ohnehin kaum umstritten waren, wie z.B. die
Stellung der Kirchen. Die vor allem von Süsterhenn entwickelte konstitutionell-demokratische Motivation
der erweiterten Grundrechte konnte sich damit kaum durchsetzen. Andererseits enthalten die betreffenden
Artikel auch Ermächtigungen des Gesetzgebers im mehrheitsdemokratischen Sinne: Art. 7 des
Grundgesetzes beginnt mit der Feststellung „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des
Staates“ und stellt im weiteren Text sicher, dass private Schulen den Landesgesetzen unterstehen. Die aus
der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Kirchenartikel enthalten in Art. 137 und 138
ausdrückliche Ermächtigungen für die Landesparlamente. Die beiden letzten Absätze des
„Beamtenartikels“ Art. 33 GG stellen in erster Linie einen Auftrag an den Bundesgesetzgeber dar.
Nach dem Diskussionsverlauf zum Umfang der Grundrechte bleibt fraglich, welche Gründe die Vertreter
der CDU/CSU veranlassten, zu Beginn der Beratungen einer Beschränkung des Grundrechtsteils
überhaupt zuzustimmen. Die Erklärung kann aufgrund der Aufzeichnungen nur lauten, dass innerhalb der
Fraktion Meinungsverschiedenheiten bestanden, und z.B. der Vorsitzende des Grundsatzausschusses,
Hermann von Mangoldt, die Position Adolf Süsterhenns in der Grundrechtsfrage nicht teilte. Diese
Differenzen kamen in der CDU/CSU-Fraktion deutlich zum Ausdruck, als sich v. Mangoldt weigerte, im
Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates für das Elternrecht einzutreten, und dies mit den zu
erwartenden Konsequenzen in Schleswig-Holstein begründete. In seinem schriftlichen Bericht über die
Grundrechte, welcher für die zweite Lesung des Plenums fertiggestellt wurde, schrieb er, dass die
Bestimmungen über Ehe, Familie, das Schulwesen und den Religionsunterricht aus dem „allgemeinen
Rahmen“ herausfielen. Als Erklärung für diesen Mangel verwies er auf die Entstehungsgeschichte. Die
fraglichen Artikel seien erst bei der Beratung im Hauptausschuss eingefügt worden, der die „Grundsätze
für den Aufbau des Grundrechtsteils nicht mehr so scharf vor Augen“ gehabt habe414.
Angesichts der von den Unionsparteien, der Deutschen Partei und der Zentrumspartei vorgelegten
412
PR-Hauptausschuß, 22. Sitzung v. 8. Dezember 1948; PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 225 und 505
413
U. Reusch: Deutsches Berufsbeamtentum und britische Besatzung. Planung und Politik 1943 - 1947, Stuttgart
1975, S. 28
414
Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 258 ff. sowie PR-Schriftlicher Bericht. . . S. 6
143
Anträge stellt sich die Frage, ob sich die übrigen Fraktionen des Parlamentarischen Rates verpflichtet
fühlten, weiterhin am Gentleman´s Agreement des Grundsatzausschusses festzuhalten. Diese Frage wird
auch in den verfassungsgeschichtlichen Untersuchungen gestellt und vor allem hinsichtlich der Haltung
der Sozialdemokraten kontrovers diskutiert. Die SPD - so wird in der Literatur kritisiert - hätte allen
Grund gehabt, in dieser Situation die sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele der ihr nahestehenden
Interessenorganisationen als „Gegenforderung“ zu präsentieren. Hans-Hermann Hartwich bezeichnet die
Haltung der sozialdemokratischen Fraktion in der Grundrechtsfrage als „unsicher“ und „unverständlich“.
Werner Sörgel spricht sogar von einer „Nicht-Verfassungskonzeption“ der Sozialdemokratie415.
In seinem ersten Bericht aus Bonn an den Parteivorstand der SPD in Hannover schrieb Walter Menzel, er
habe sich gegen „soziale Grundrechte“ ausgesprochen, weil diese zu langen Debatten und zu Lösungen
führen könne, die den sozialdemokratischen Vorstellungen gar nicht entsprächen. Die Gewerkschaften
z.B. waren an einer Berücksichtigung der Arbeits- und Wirtschaftsordnung im Grundgesetz lebhaft
interessiert und hatten sowohl für die Länderverfassungen in der britischen Zone als auch für das
Grundgesetz entsprechende Entwürfe vorbereitet. Es ging ihnen hierbei um die Anerkennung des
Streikrechts, der Koalitionsfreiheit und der Arbeitsgerichtsbarkeit sowie um ihre eigene Anerkennung als
legitime Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Außerdem sollten das Mitbestimmungsrecht, das
Schlichtungswesen, Grundsätze zur Unfallverhütung sowie zur Arbeits- und Urlaubsregelung in die
Verfassung aufgenommen werden. In einer von Hans Böckler, dem Vorsitzenden des DGB für die
Bizone, unterzeichneten Eingabe vom Oktober 1948 wird ein Grundrechtsartikel zum Wert und zum
Schutz der Arbeit gefordert, die Beschränkung des Versammlungsrechts unter freiem Himmel abgelehnt,
die Anerkennung des Streikrechts sowie die Ablehnung des Rechtsschutzes für Monopole und den
Missbrauch des Eigentums gefordert416.
Bei mehreren Gesprächen mit Gewerkschaftsvertretern, die während der Grundgesetzberatungen geführt
wurden, sprachen sich die SPD-Abgeordneten Schmid, Zinn und Menzel dafür aus, zugunsten eines
begrenzten Grundrechtskatalogs auf entsprechende Anträge zu verzichten. Die sozialdemokratischen
Vertreter im Grundsatzausschuss deuteten mehrfach an, wenn die von kirchlicher Seite erhobenen
Forderungen erfüllt würden, seien auch „andere Rechte“ im Grundgesetz zu berücksichtigen417. Obwohl
die Gegenseite ihre Anträge teilweise durchsetzte, hat die SPD-Fraktion ihre Position beibehalten und im
weiteren Verlauf der Beratungen ihrerseits keine Anträge zur Aufnahme sozialer und wirtschaftlicher
Grundrechtsbestimmungen gestellt. Aus dem Beratungsverlauf ergibt sich daher die Frage, welche Motive
die sozialdemokratische Seite zu ihrer interessenneutralen Haltung veranlassten, nachdem andere
Fraktionen zum Teil erheblich über den ursprünglichen Konsensus hinausgegangen waren.
Zur Beantwortung wird man zunächst noch einmal auf die Grundrechtsproblematik in der Weimarer
Republik zurückgreifen müssen: Als sich damals das ursprünglich in der Verfassung nicht vorgesehene
richterliche Prüfungsrecht in der Rechtspraxis durchsetzte, trat die Ambivalenz eines erweiterten
Grundrechtsteils deutlich hervor: Nach der Verfassungstheorie sollte die ausführliche Behandlung der
Lebensordnungen dem Gesetzgeber als Richtlinie und Anreiz für seine politischen Entscheidungen
dienen. In der Verfassungspraxis waren jedoch andere Konsequenzen wahrscheinlicher - insbesondere
wenn dieser Teil der Verfassung, wie zu erwarten war, aufgrund eines Parteienkompromisses zwischen
verschiedenen weltanschaulichen und gesellschaftspolitischen Positionen zustande kam. Die vielfältigen
Interpretationsmöglichkeiten einer derartigen Mischung von Programmsätzen konnte zur Folge haben,
415
H.- H. Hartwich: Sozialstaatpostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln/ Opladen 1970, S. 37-41; W. Sörgel:
Konsensus und Interessen . . .S. 206
416
Vgl. die Gewerkschaftsvorschläge für sozialrechtliche Bestimmungen im Grundgesetz bei W. Sörgel:
Konsensus und Interessen... S. 231, die Broschüre Zur Verfassungsfrage , hrsg. vom DGB der brit. Zone,
Düsseldorf o.J. sowie PR Akten und Protokolle Bd. 5/II, S. 726 ff. und der Bericht Menzels vom 17.9.48 im NL C.
Schmid, 1162 - AdsD
417
PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 217 sowie Bd. 5/II, S.637 und 806 f.
144
dass zahlreiche Gesetze der richterlichen Nachprüfung nicht standhielten, weil sie mit dieser oder
jener Bestimmung des Katalogs nicht übereinstimmten. Die Ausweitung des Grundrechtsteils hätte in
diesem Falle nur dazu beigetragen, den Spielraum der Legislative beträchtlich einzuschränken418.
Dieser Umkehreffekt lässt sich am Beispiel der Diskussion über die Aufnahme des Streikrechts in das
Grundgesetz nachweisen, die bereits stattfand, bevor die Artikel über Schule, Ehe und Kirchen vorgelegt
wurden. Die ursprüngliche Fassung: „Das Streikrecht wird im Rahmen der Gesetze anerkannt“, wurde im
weiteren Verlauf der Beratungen immer differenzierter: Der Allgemeine Redaktionsausschuss beschränkte
das Streikrecht zunächst auf den von Gewerkschaftsseite erklärten Streik. Bei der erneuten
Beschlussfassung im Grundsatzausschuss war dann vom „Recht der gemeinschaftlichen
Arbeitseinstellung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ die Rede,
dessen Ausübung durch Gesetz geregelt werden sollte. In der ersten Lesung des Hauptausschusses schlug
der Abg. Kaufmann (CDU) weitere Ergänzungen vor: Unter Bezugnahme auf den Kapp-Putsch forderte
er eine Formulierung, welche den Streik gegen die bestehende Rechtsordnung ausschloss, den Streik
gegen eine „bestehende Rechtsunordnung“ jedoch zuließ. Außerdem sollte der Streik von Angestellten
und Beamten des öffentlichen Dienstes ausdrücklich verboten werden, weil er die staatliche Ordnung aus
rein technischen Gründen „auf den Kopf stellen“ könne. In der Diskussion über diese Punkte zeigte sich,
dass es kaum möglich war, eine gesetzestechnisch einwandfreie Lösung zu finden. Otto Greve (SPD)
erklärte hierzu, man dürfe nicht „irgendwelche Beschränkungen in die Verfassung hineinnehmen, die
möglicherweise etwas verbieten, an dem wir selber das allergrößte Interesse haben könnten“. In der
darauffolgenden Sitzung des Hauptausschusses beantragte der sozialdemokratische Abgeordnete Dr.
Eberhard überraschend die Streichung des Streikrechts aus dem Entwurf. Für diesen Schritt der
SPD-Fraktion sind zweifellos die rechtlichen Konsequenzen eines derart spezifizierten Streikrechts
ausschlaggebend gewesen. Es war fraglich, ob die zuletzt diskutierten Fassungen noch den Interessen der
Gewerkschaften entgegenkamen, denn sie konnten ebenso gut dazu beitragen, ihre Wirkungsmöglichkeiten zu beschränken. Eberhard erklärte, die vorausgehende Aussprache habe gezeigt, dass man in eine
„große Kasuistik“ hineinkomme, wenn man in die Bestimmung über das Streikrecht „eine Reihe von
Beschränkungen“ aufnehme. Nachdem für die CDU der als Gewerkschaftsvertreter anzusehende Josef
Schrage dem Antrag ebenfalls zustimmte, wurde die Streichung des Streikrechts vom Hauptausschuss
einstimmig beschlossen419.
Ein weiteres Motiv für den Verzicht der sozialdemokratischen Fraktion auf die Erweiterung des
Grundrechtskatalogs bildeten taktische und zeitliche Überlegungen, welche sich aus der politischen
Konstellation innerhalb und außerhalb des Parlamentarischen Rats ergaben: Die sozialdemokratische
Fraktion war von Anfang an bestrebt, die Grundgesetzberatungen in möglichst kurzer Zeit zum Abschluss
zu bringen. Eine ausführliche Behandlung der „Lebensordnungen“ konnte jedoch die Arbeit des
Parlamentarischen Rats nur verzögern. Bereits in den ersten Sitzungen des Grundsatzausschusses
erwähnte Carlo Schmid den Zeitfaktor als Grund für eine Begrenzung des Katalogs. Vor allem in den
Fragen der Wirtschaftsordnung werde man lange brauchen, um die vorhandenen Gegensätze in einer
„neuen Konzeption“ aufheben zu können. Das gleiche Argument benutzte die SPD-Fraktion gegenüber
den Gewerkschaften, um sie zur Zurückstellung ihrer sozial- und arbeitsrechtlichen Forderungen zu
bewegen. Nach einem Bericht Walter Menzels haben die Mitglieder des Fraktionsvorstandes bei einem
Gespräch mit Gewerkschaftsvertretern am 28. September 1948 auf den Versuch der CDU/CSU
hingewiesen, „die Entscheidung bis zum nächsten Frühjahr herauszuzögern“.
Die unterschiedliche Zeitplanung der Fraktionen trat zu Beginn der zweiten Lesung des Hauptausschusses
noch einmal deutlich hervor: Während die sozialdemokratischen Sprecher Schmid und Menzel eine
möglichst schnelle Verabschiedung des Grundgesetzes wünschten und hierin von Theodor Heuss (FDP)
418
Zu entsprechenden Ansätzen in der Weimarer Republik W. Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung...S. 343,
und K. Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1968, S. 75-78
419
JöR, N. F. Bd. 1, S. 116 ff. sowie PR-Hauptausschuss, 17. und 18. Sitzung vom 3. und 4. Dezember 1948
145
unterstützt wurden, sprachen sich die Abgeordneten Pfeiffer (CSU), Süsterhenn (CDU) und Seebohm
(DP) dafür aus, den weiteren Verlauf der Beratungen nicht zu überstürzen420. Bei dieser Zeitplanung
spielte bereits der Gedanke an die erste Bundestagswahl eine große Rolle.
Die Sozialdemokraten mussten auch auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlamentarischen Rat Rücksicht
nehmen. Die oben geschilderte Diskussion über die rechtliche Gleichstellung des unehelichen Kindes
zeigte, wie schwierig es war, Reformvorhaben verbindlich im Grundgesetz zu verankern. Am Schicksal
des Streikrechts wurde deutlich, wie leicht derartige Vorhaben „abgebogen“ werden konnten. Anträge zur
Aufnahme „sozialer Grundrechte“ wären in der Minderheit geblieben, selbst wenn die Vertreter von KPD
und Zentrumspartei zugestimmt hätten. Die SPD-Fraktion hätte mit derartigen Anträgen jedoch ihr
Verhältnis zu den fünf stimmberechtigten FDP-Vertretern erheblich strapaziert, deren Unterstützung sie in
so wichtigen Fragen wie der Länderkammer, der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, der
Finanzverfassung sowie bei der Abwehr des Elternrechts und in der Konkordatsfrage benötigte. Werner
Sörgel hat in seiner Studie bezweifelt, dass der provisorische Charakter des Grundgesetzes der maßgebende Grund für den Verzicht der SPD auf die Regelung der Sozial- und Wirtschaftsordnung in der
Verfassung zu suchen ist421. Die vor allem von Carlo Schmid vertretene Provisoriumsthese diente jedoch
im weiteren Verlauf der Beratungen dazu, gegenüber den Gewerkschaftlern den Verzicht auf „soziale
Grundrechte“ zu begründen. Die Sprecher der CDU/CSU bezeichneten das Grundgesetz ebenfalls als eine
provisorische Verfassung, deren Geltungsdauer allerdings noch nicht abzusehen sei. Adolf Süsterhenn
erklärte im Oktober 1948 zur gleichen Zeit, als die Erweiterung des Grundrechtskatalogs zur Diskussion
stand, jedes Provisorium habe die Neigung, sich zum „Definitivum“ zu entwickeln, und es sei
bedauerlich, wenn die „ganze zukünftige Entwicklung“ durch die Unzulänglichkeiten eines Provisoriums
beeinträchtigt werde422. Die Fraktion der FDP wollte dem Grundgesetz lediglich im geographischen Sinne
provisorischen Charakter zubilligen; in struktureller Hinsicht, sagte Theodor Heuss vor dem Plenum, solle
man jedoch versuchen, „etwas Stabileres“ fertig zu bringen423.
Zusammenfassend kann der weitgehende Verzicht des Parlamentarischen Rates auf die Aufnahme
sozialer Rechte und Programmsätze als eine Entscheidung im mehrheitsdemokratischen Sinne bezeichnet
werden, weil man auf dieser Seite in der Ausweitung des Grundrechtsteils eine zumindest potentielle
Begrenzung des Gesetzgebers erblickte. Die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie näherte sich
damit in der Grundrechtsfrage den liberalen Vorstellungen, die damals nicht nur in der FDP, sondern
anfänglich auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion vertreten wurden. Diese Annäherung hat dazu
beigetragen, dass sich auf dem Sektor der Grundrechte eine Koalition zwischen FDP und
Sozialdemokratie ergab, welche mit der Zusammenarbeit beider Fraktionen in der Zweikammerfrage
vergleichbar ist. Der Gedanke an die wechselnden Koalitionen im Parlamentarischen Rat bestärkte
wiederum die SPD-Fraktion in ihrer Zurückhaltung gegenüber einer Ausweitung des
Grundrechtskatalogs. Der Fraktionsvorstand erklärte bei Gesprächen mit Gewerkschaftsvertretern, man
werde sich die „bisherige Hilfe der FDP bei allen Fragen des Staatsaufbaus verscherzen“, wenn man sich
in der Frage des „sozialrechtlichen Kataloges auf die Seite der CDU/CSU drängen“ lasse. Mit dem Blick
auf die erste Bundestagswahl fügten die SPD-Politiker hinzu: „Die erste gesetzgebende Versammlung
wird wahrscheinlich ganz andere Möglichkeiten auf dem Gebiet der sozialen und arbeitsrechtlichen
Gesetzgebung ergeben als die jetzige Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates“424.
420
PR Akten und Protokolle Bd. 5/ I, S. 217; Bericht des Genossen Walter Menzel vom 1.10.1948
AdsD); PR-Hauptausschuß, 27. Sitzung vom 15. Dezember 1948
421
( NL Menzel R 1 -
W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 72.
422
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 189-191, entsprechend Dr. Pfeiffer (CSU) im PR-Hauptausschuss, 27. Sitzung vom
15. Dezember 1948
423
424
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.106
Bericht des Genossen Walter Menzel vom 1. 10. 1948" ( NL Menzel R 1- AdsD)
146
5. Gesetzgebungskompetenzen und politische Ziele
Die Darstellung der Diskussion über Grundrechte im Parlamentarischen Rat bleibt unvollständig, wenn
sie nicht im Zusammenhang mit den Zuständigkeiten des Bundesgesetzgebers gesehen wird. Die
Voraussetzung zum Verständnis dieses Zusammenhangs ist eine Vorentscheidung in der Frage der
Bundes- und Landeszuständigkeiten: Im Laufe des Jahres 1948 kamen die beiden großen Parteien
CDU/CSU und SPD zu der übereinstimmenden Auffassung, die Zuständigkeiten des Bundesparlaments
seien in einer zukünftigen westdeutschen Verfassung zu nennen. Alle nicht im Zuständigkeitskatalog
genannten Bereiche sollten dem Landesgesetzgeber zufallen. Die Verfassungsentwürfe der
Unionsparteien sprachen sich von Anfang an für diese Lösung aus. Die Formulierung des „Ellwanger
Kreises“ vom 13. April 1948: „Die Zuständigkeit des Bundes ist nur gegeben, soweit sie durch
Bundesverfassung übertragen ist“, fand auch die Unterstützung der norddeutschen CDU-Verbände. Die
sozialdemokratischen Vorstellungen sahen in diesem Punkt zunächst anders aus, denn unter dem Einfluss
Walter Menzels forderten die „Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik“ vom März 1947 die
„Kompetenz-Kompetenz“ für den Reichstag. Dies bedeutete, das unmittelbar gewählte Parlament sollte
selbst entscheiden, welche politischen Fragen es zum Gegenstand seiner Gesetzgebung macht. Diese
zentralistische Linie ließ sich angesichts der starken Position der Länder und des Auftrags der Besatzungsmächte, eine föderalistische Verfassung zu schaffen, im Jahre 1948 nicht durchhalten. Bereits der
erste Menzel-Entwurf für eine „Westdeutsche Satzung“ vom 16. August 1948 enthält dementsprechend
einen Zuständigkeitskatalog für die Bundesgesetzgebung und fügt hinzu: „Die Gesetzgebung auf den
übrigen Gebieten steht den Ländern zu“. Menzels zweiter Entwurf vom 2. September folgt diesem Muster
und ändert lediglich einige Punkte des Zuständigkeitskatalogs425.
Bei dieser Ausgangslage war aus Sicht der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ ein umfangreicher Katalog
der Zuständigkeiten des zentralen Parlaments erforderlich, damit die angestrebten Reformvorhaben durch
eine entsprechende Bundesgesetzgebung vorangetrieben werden konnten. Breite Gesetzgebungszuständigkeiten sollten außerdem die ohnehin fragwürdigen „Lebensordnungen“ in der Verfassung
überflüssig machten. Ein umfangreiche Zuständigkeitskatalog bildete deshalb für die Vertreter der
mehrheitsdemokratischen Konzeption die notwendige Ergänzung zu einem Grundrechtsteil, der sich auf
einklagbare Individualrechte beschränkte. Bereits auf Herrenchiemsee schlug Hermannn Brill, der
sozialdemokratische Vertreter Hessens, vor, auf die Fragen der Sozialisierung und Mitbestimmung im
Grundrechtsteil zu verzichten, sie aber statt dessen in den Zuständigkeitskatalog für die
Bundesgesetzgebung aufzunehmen. er Verfassungsentwurf des Herrenchiemsee-Konvents folgte dieser
Zielsetzung weitgehend, indem er sich einerseits im Grundrechtsteil auf die „wichtigsten Menschen- und
Freiheitsrechte“ beschränkte, andererseits in den Artikeln 35 und 36 einen Katalog zur ausschließlichen
und zur Vorranggesetzgebung des Bundes aufstellte, der den entsprechenden Artikeln der Weimarer
Reichsverfassung an Ausführlichkeit nicht nachstand. In den Zuständigkeitsbestimmungen des
Herrenchiemsee-Entwurfs werden die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie eng verbundenen
Planungsvorstellungen weitgehend berücksichtigt. Dem Bundesgesetzgeber sollte nach Art. 36 die
Vorranggesetzgebung zum Enteignungsrecht, über Kriegsschäden und Wiedergutmachung, zum
Arbeitsrecht (einschließlich Arbeitsschutz und „Arbeitslenkung“) sowie für die Fragen des Gemeineigentums und der Gemeinwirtschaft zustehen. Zur Wirtschaftslenkung legte der Konvent allerdings
Alternativvorschläge vor: Fassung (a) gab dem Bund die Gesetzgebungskompetenzen hinsichtlich der
„Erzeugung, Verteilung und Preisbildung von wirtschaftlichen Gütern und Leistungen“, während Fassung
(b) ihn lediglich ermächtigte, „Eingriffe in die Wirtschaft zur Sicherung der Erzeugung und zum Schutze
der Verbraucher“ vorzunehmen426.
425
R. Ley: Föderalismusdiskussion. . . S. 62 und 66; G. Hirscher: Sozialdemokratische Verfassungspolitik.. . . S. 82
ff. und S. 142 ff. sowie die Texte bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen. . . S. 263 ff.
426
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 75, 513 und 585-587 sowie Art. 6-11 WRV
147
Die Entwürfe des sozialdemokratischen Verfassungsexperten Walter Menzel zeichnen sich durch die
gleiche „Gewichtsverschiebung“ aus: Dem vollständigen Verzicht auf Grundrechte steht hier ebenfalls ein
umfangreicher Gesetzgebungskatalog gegenüber. Sein Entwurf für eine „Westdeutschen Satzung“ geht
dabei in sozial- und wirtschaftspolitischer Hinsicht weiter als der Vorschlag des HerrenchiemseeKonvents und billigt dem Parlament u. a. die Gesetzgebungskompetenz über Fragen der Industrie, der
Landwirtschaft, über die Bewirtschaftung von Gütern und Leistungen sowie über die Steuerhoheit und das
Betriebsräterecht zu. Der Finanz- und Lastenausgleich, die Überführung von Naturschätzen und
wirtschaftlichen Unternehmungen in Gemeineigentum sowie das Hochschulwesen unterliegen nach
diesem Entwurf ebenfalls der Zuständigkeit des Zentralparlaments. Der zweite Menzel-Entwurf vom 2.
September 1948 übernimmt vom Herrenchiemsee-Entwurf die Unterscheidung zwischen ausschließlicher
und vorrangiger Gesetzgebung, ohne den Umfang der Bundeskompetenzen zu verändern. Die Materien
der Wirtschafts- und Sozialordnung sind hier der Vorranggesetzgebung des Bundes zugeordnet427.
Diese Linie wurde von den maßgebenden Vertretern der Sozialdemokratie auch im Parlamentarischen Rat
weiterverfolgt. Menzel selbst bezeichnete zu Beginn der Beratungen vor dem Plenum die Frage der
Zuständigkeitsverteilung auf dem Gebiet der Gesetzgebung und Verwaltung als den „wichtigsten Teil
unserer gesamten Arbeit“, und sein Fraktionskollege Zinn regte in den ersten Sitzungen des Ausschusses
für Grundsatzfragen an, „gewisse Rechte wirtschafts- und sozialpolitischer Art“ nicht in den Grundrechtsteil, sondern in einen anderen Teil der Verfassung – „etwa in dem Abschnitt über die Gesetzgebung
oder die Zuständigkeiten“  aufzunehmen428.
Die Akzentverschiebung vom Grundrechtsteil auf die Zuständigkeitsregelung entsprach nicht nur den
mehrheitsdemokratischen Verfassungsvorstellungen, sondern auch der deutschen Verfassungstradition,
die sich von jeher durch eine expansive Interpretation der zentralen Gesetzgebungskompetenzen
auszeichnete. Ausschlaggebend für die zentrale Bedeutung der Zuständigkeitsverteilung aus Sicht der
sozialen Mehrheitsdemokratie war jedoch die Einsicht, dass Verfassungsbestimmungen über die
Gestaltung der „Lebensordnungen“ - auch wenn man sie noch so zwingend formuliert - in den seltensten
Fällen unmittelbar politisch wirksam werden. Für die angestrebten Reformen war jedenfalls der
Gesetzgebungsweg unerlässlich. Dies galt insbesondere für geforderten Reformen im Bereich der
Wirtschaftsstruktur: Auch nach der Aufnahme entsprechender Verfassungsartikel waren eine große Zahl
komplizierter Gesetzesvorlagen zu erarbeiten und zu verabschieden, um zum Beispiel die Veränderung
der Eigentumsverhältnisse und die Einrichtung neuer Lenkungsorgane zu verwirklichen. Die Erfahrungen
mit der hessischen Sozialisierung waren eindeutig: Obwohl man mit dem Art. 41 der Hessischen
Verfassung eine unmittelbar wirksame Überführung in Gemeineigentum beschlossen hatte, benötigte man
mehrere Nachfolgegesetze zur Realisierung des Sozialisierungsvorhabens. Als Alternative boten sich hier
allenfalls die Praktiken der Zentralverwaltungswirtschaft an. Man hätte etwa bestimmte Industriezweige
in Staatseigentum überführen und sie durch die Exekutive in Gestalt des Wirtschaftsministeriums
verwalten können. Dieser Weg widersprach jedoch dem Konzept der „Gemeinwirtschaft“ und wurde
daher von den Vertretern der sozialen Mehrheitsdemokratie grundsätzlich abgelehnt.
Die Reformen musste also nicht allein bei den Verfassungsberatungen, sondern auch im Parlament (und in
den vorangehenden Wahlen) ein zweites Mal politisch durchgesetzt werden. Carlo Schmid schildert
diesen Zusammenhang in seinen Erinnerungen mit den Worten: „Ist eine Mehrheit für die Veränderung
gesellschaftlicher Zustände, dann wird sie entsprechende Gesetze beschließen; ist sie es nicht, dann helfen
auch - wie die Geschichte der Weimarer Republik ausweist - noch so progressive soziale Grundrechte im
Text der Verfassung nichts; aber vor dem Volk wird die Verfassung unglaubwürdig werden“. Was lag
daher näher, als von vornherein auf die programmatische Festlegung in der Verfassung zu verzichten und
427
Vgl. den Text der beiden Entwürfe vom 16. August und 2. September 1948 bei W. Sörgel: Konsensus und
Interessen... S. 267 ff.
428
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.82 sowie Bd. 5/I, S. 37
148
sich statt dessen auf die zukünftigen Entscheidungen der gesetzgebenden Versammlung zu
konzentrieren ?
Eine derartige „Taktik“ setzte allerdings voraus, dass die entsprechenden Gesetzgebungszuständigkeiten
vorhanden waren, und die Mehrheit des unmittelbar gewählten Parlaments nicht über das für eine
demokratische Verfassung notwendige Maß hinaus durch „checks and balances“ an ihrer Entfaltung
gehindert wurde. Diese Motive kommen bereits in den Ausführungen Fritz Baades (SPD)auf
Herrenchiemsee deutlich zum Ausdruck: Baade, der als Repräsentant mehrheitsdemokratischer
Verfassungsüberlegungen gelten kann, setzte sich hier im Unterausschuss II ausführlich mit dem
Abschnitt „Das Wirtschaftsleben“ der Weimarer Reichsverfassung auseinander. Die SPD habe damals
eine „ganz klare verfassungsmäßige Verankerung“ der Sozialisierung gewünscht. Die entsprechenden
Artikel der Reichsverfassung waren jedoch seiner Auffassung nach nichts weiter als „entsetzlich lahme
Kompromissbestimmungen, die praktisch gar nichts besagen“. In diesen Fehler von Weimar dürfe man
nicht zurückfallen, erklärte er und fügte hinzu: „Es genügt für dieses Grundgesetz vollständig, diese
Materien in den Zuständigkeitskatalog einzuordnen und die materielle Regelung dann der Gesetzgebung
zu überlassen“429.
Der enge Zusammenhang zwischen dem Grundrechtsteil und den Zuständigkeitsbestimmungen des
Grundgesetzes veranlasste den Parlamentarischen Rat, auch bestimmte Grundrechtsfragen mit dem Blick
auf die Gesetzgebungskompetenzen diskutierte. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie wollten
vor allem bei der Beratung der Eigentumsartikel verhindern, dass die Grundrechte den Spielraum der
Legislative einengten und die Realisierung ihrer wirtschaftspolitischen Ziele verhinderten. Bereits zu
Beginn der Bonner Grundgesetzberatungen vertraten die sozialdemokratischen Abgeordneten auf einer
Fraktionssitzung nach dem Bericht Walter Menzels die Auffassung, man müsse bei der „Definierung des
Eigentums“ darauf achten, dass weder die Sozialisierung noch die Bodenreform erschwert werde430.
Auf der anderen Seite bestanden im Parlamentarischen Rat aber auch Bestrebungen, das Eigentum
einschließlich des Erbrechts möglichst weitgehend vor dem Zugriff der Legislative zu sichern. Trotz des
Verzichts auf „soziale Grundrechte“ entwickelte sich daher aus der engen Verbindung zwischen
Grundrechten und Gesetzgebungszuständigkeiten eine Diskussion, welche nicht nur durch
unterschiedliche Sozialvorstellungen, sondern auch durch unterschiedliche Demokratieauffassungen
geprägt wurde. Diese Diskussion bezog sich vor allem auf die Begriffsbestimmung des Eigentums, auf die
Missbrauchsklausel und auf die Fragen der Entschädigung im Falle des Eigentumsentzugs. Die Unterscheidung zwischen Enteignung und Sozialisierung hatte ebenfalls grundsätzliche Bedeutung.
Zum Eigentumsbegriff lag dem Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates ein Entwurf seines
Redaktionskomitees vor, demzufolge sich der Grundrechtsschutz nur auf das der „persönlichen
Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum“ beziehen sollte. Eine derartige Begrenzung
des Eigentumsbegriffs war in der deutschen Verfassungstradition ohne Vorbild und fehlt in den
westdeutschen Landesverfassungen der Jahre 1946/47. Auch der Herrenchiemsee-Konvent war mit seiner
Formulierung: „Eigentum und Erbrecht werden gewährleistet“ der Weimarer Reichsverfassung gefolgt.
Carlo Schmid begründete die engere Eigentumsdefinition in der 8. Sitzung des Grundsatzausschusses mit
dem Hinweis, die Funktion des Eigentums in der modernen Gesellschaft müsse unter zwei Aspekten
betrachtet werden. Auf der einen Seite gehöre das Eigentum zum persönlichen Lebensbereich des
Menschen und sei in dieser Eigenschaft „Substrat ethischen Verhaltens“. Auf der anderen Seite sei
Eigentum ein „Faktor der ökonomischen Verfassung eines Landes“. Den qualifizierten Schutz des
Grundrechts wollte er nur für das persönliche Eigentum gelten lassen, während die andere Eigentumsform
allein unter dem Schutz des Gesetzgebers stehen sollte. Da es aber keine aus der Natur des Manschen
429
C. Schmid: Erinnerungen, Bern usw. 1979, S. 374; HCh-Unterausschuss II: Zuständigkeitsfragen, 4. Sitzung vom
16. August 1948, Stenoprot. S. 125 f.
430
Bericht des Genossen Walter Menzel vom 1. 10. 1948 ( NL Menzel R 1 - AdsD)
149
abzuleitende inhaltliche Bestimmung des Eigentums gebe, sei die Abgrenzung zwischen diesen beiden
Formen jeweils von der Legislative vorzunehmen. Carlo Schmid kam deshalb zu der für die soziale
Mehrheitsdemokratie typischen Schlussfolgerung: „Was Eigentum ist, was es bedeutet, eigentümliches
Recht an einer Sache zu haben, das zu bestimmen ist Sache des Gesetzgebers“.
Diese Argumentation stieß im Grundsatzausschuss auf den Widerspruch der CDU/CSU und der FDP.
Theodor Heuss - einer der wenigen Nichtjuristen des Ausschusses - machte zunächst rechtliche Bedenken
geltend. Er erinnerte daran, dass die Grundrechte unmittelbar geltendes Recht darstellen sollten. Begriffe
wie „persönliche Lebenshaltung“ und „eigene Arbeit“ seien aber für eine praktische Anwendung in der
Rechtsprechung zu unbestimmt. Er wies außerdem auf die wirtschaftliche Bedeutung des über den
Bereich des persönlichen Bedarfs und der eigenen Arbeit hinausgehenden Eigentums hin. So habe zum
Beispiel erst das private Sparkapital den Aufbau der württembergischen Industrie ermöglicht. Schließlich
sei auch im „spekulativ erworbenen Vermögen“ ein Risikofaktor enthalten. Der CSU-Abgeordnete
Gerhard Kroll befürchtete, bei der Einschränkung des Eigentumsschutzes entsprechend dem vorliegenden
Entwurf werde eine „Kultur im echten Sinne überhaupt nicht mehr möglich sein“. Die vorgeschlagene
Fassung öffne dem Gesetzgeber Tür und Tor für willkürliche Entscheidungen und sogar für eine
„Bolschewisierung des geistigen und kulturellen Lebens“.
Nach dieser Diskussion wurde der Vorschlag des Redaktionskomitees, nur das der persönlichen
Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum zu gewährleisten, vom Grundsatzausschuss
mit Stimmengleichheit (6 : 6) abgelehnt. Der Ausschuss nahm daraufhin die von Kroll und Heuss
beantragte Formulierung an: „Das Eigentum wird zugleich mit dem Erbrecht gewährleistet“. Der Zusatz,
Inhalt und Schranken des Eigentums werden durch Gesetz bestimmt, blieb jedoch bestehen. Diese
Fassung wurde im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen nicht mehr in Frage gestellt und in die
Endfassung des Art. 14 GG übernommen431.
Nachdem auf diese Weise der Versuch, den Eigentumsbegriff einzugrenzen, im ersten Anlauf gescheitert
war, ergriff die sozialdemokratische Fraktion im November 1948 im Grundsatzausschuss erneut die
Initiative und schlug die Aufnahme einer Missbrauchsklausel in den Eigentumsartikel vor. Der Gedanke
ging auf eine Anregung der Gewerkschaften zurück, in das Grundgesetz die Bestimmung aufzunehmen,
der Missbrauch des Eigentums genieße keinen Rechtsschutz. Der Ausschuss ergänzte den Eigentumsartikel des Entwurfs mit dem Zusatz: „Wer sein Eigentum missbraucht, kann sich auf den Schutz
dieser Bestimmungen nicht berufen“. Die Vorstellungen über den Tatbestand des Missbrauchs waren
allerdings nicht eindeutig, so dass Carlo Schmid später im Hauptausschuss einräumen musste, ein
Bundesgesetz „zur Bekämpfung des Missbrauchs von Eigentum“ sei notwendig432. Erst in der
Schlussphase der Beratungen, d. h. nach der Einigung mit den Alliierten über die bis dahin strittigen
Punkte des Grundgesetzes, kamen die drei großen Fraktionen im Allgemeinen Redaktionsausschuss
überein, die Missbrauchsklausel des Eigentumsartikels fallen zu lassen, weil der Tatbestand bereits in Art.
18 des Grundgesetzes berücksichtigt sei. Diese Begründung war zweifellos ein Irrtum und wurde - wie
bereits Golay andeutete - möglicherweise von den Beteiligten bewusst gewählt, um die Kompromisse des
vertraulich tagenden Dreiergremiums in den Fraktionen des Parlamentarischen Rats besser durchsetzen zu
können. Nach dem Wortlaut des Art. 18 kann das Recht auf Eigentum nämlich nur hinfällig werden, wenn
es gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gebraucht wird, und das Verfassungsgericht eine
entsprechende Entscheidung fällt. In dieser Form ist die Tragweite der Klausel wesentlich geringer als bei
der ursprünglichen Zielsetzung. Der Gesetzgeber hat nach der Endfassung nicht mehr die Möglichkeit
einen speziellen Tatbestand des Eigentumsmissbrauchs festzulegen433.
431
PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 197-210
432
PR Akten und Protokolle Bd. 5/II, S. 726-733; PR-Drucksache Nr. 370 vom 13.12.1948 und PR-Hauptausschuss,
44. Sitzung vom 19. Januar 1949
433
PR-Hauptausschuss, 57. Sitzung vom 5. Mai 1949, S. 147 und J. F. Golay: The Founding...S. 192.
150
Aufrechterhalten hat der Parlamentarische Rat jedoch die Ermächtigung des Gesetzgebers, den Inhalt des
Eigentumsbegriffs zu bestimmen. Diese Regelung war bereits in abgeschwächter Form im
Eigentumsartikel der Weimarer Verfassung enthalten. Inhalt und Schranken des Eigentums sollten sich
nach dem Wortlaut des Art. 153 WRV aus den Gesetzen ergeben. Die Bestimmung veranlasste damals
Anschütz bei der Kommentierung zu der Feststellung, das Eigentum bilde keine Schranke der
Gesetzgebung, sondern finde vielmehr selbst seine Beschränkung in den Vorschriften der gesetzgebenden
Gewalt434. Die aktivere Formulierung des Grundgesetzes: „Inhalt und Schranken werden durch Gesetz
bestimmt“, war bereits im ersten Entwurf des Grundsatzausschusses vorgesehen und wurde im weiteren
Verlauf der Beratungen nicht mehr verändert. Bei späteren Interpretationsversuchen hat man darauf
hingewiesen, das Eigentum sei neben dem Recht der freien Berufsausübung das einzige Grundrecht im
Grundgesetz, dessen Inhaltsbestimmung ausdrücklich dem Gesetz vorbehalten bleibe. Hiermit sei der
Parlamentarische Rat von einer liberalen Eigentumsverfassung abgewichen und habe den Weg für
„grundlegende Veränderungen“ offen gelassen435.
Im Mittelpunkt der Diskussion um die Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG) stand die Regelung der
Entschädigungspflicht. Es ging hierbei insbesondere um die Frage, ob der Begriff der „angemessenen
Entschädigung“ in das Grundgesetz Aufnahme finden sollte. Dieser Begriff wurde von der
Rechtsprechung entwickelt und besagt, jeder Eigentumseingriff sei mit dem vollen Minderwert zu
entschädigen. Nach der Weimarer Reichsverfassung galt zwar grundsätzlich die angemessene
Entschädigung, über deren Höhe die ordentlichen Gerichte zu entscheiden hatten. Durch Reichsgesetz
konnte jedoch in Ausnahmefällen eine abweichende Regelung und damit eine andere Form der Entschädigung festgelegt werden. Die Vorschrift der angemessenen Entschädigung wurde nach 1945 von den
frühen Länderverfassungen und vom Herrenchiemsee-Konvent offenbar unreflektiert übernommen. Eine
Ausnahme bildet lediglich Art. 15 der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern mit seinem Wortlaut,
für Art und Höhe der Entschädigung sei ein „gerechtes Abwägen der Bedürfnisse der Allgemeinheit
gegenüber denen des Betroffenen“ maßgebend436.
Grundsätzliche Einwände gegen die verfassungsmäßige Festlegung der „angemessenen Entschädigung“
kamen zunächst von Carlo Schmid. Im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rateserklärte er, das
Enteignungsrecht des 19. Jahrhunderts sei davon ausgegangen, dass der Betroffene unabhängig von seiner
Vermögenslage und den Interessen der Allgemeinheit einen Rechtsanspruch auf den finanziellen
Gegenwert der Sache besitze. Aufgrund dieser Interpretation des Begriffs angemessene Entschädigung
habe man kaum die Möglichkeit, „bestimmte strukturelle Änderungen der Wirtschaftsverfassung
vorzunehmen“. Auch für den Wiederaufbau der zerstörten Städte zum Beispiel sei diese Regelung nicht
ausreichend, weil sie eine Wiederherstellung der „alten Anarchie“ fördere. Er begrüßte daher die Formulierung, bei der Entschädigungsfrage neben den Interessen des Betroffenen auch die Interessen der
Allgemeinheit zu berücksichtigen. Dieser Vorschlag entsprach fast wörtlich der Verfassung von
Württemberg-Hohenzollern, an deren Zustandekommen Schmid im Jahre 1947 selbst maßgend beteiligt
war437.
Bei den Beratungen des Hauptausschusses machte sich zunehmend die Tendenz bemerkbar, den
Spielraum in der Entschädigungsfrage einzugrenzen. In der zweiten Lesung schlug der Abg. Dr. Seebohm
vor, den Grundsatz der „Vollentschädigung“ in das Grundgesetz aufzunehmen und nur in besonders
434
G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Berlin 1933, S. 706
435
H.- H. Hartwich: Sozialstaatspostulat.... 35 und 40, sowie H. P. Ipsen: Enteignung und Sozialisierung, in:
Veröffentl. d. Vereinigung d. Dt. Staatsrechtslehrer, Heft 10, Berlin 1952, S. 85.
436
G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches...S. 718 und Verfassung für Württemberg-Hohenzollern
vom 20. Mai 1947.
437
PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 198 sowie P. Weber: Carlo Schmid...S.281
151
dringenden Fällen Ausnahmeregelungen zuzulassen. In der vierten Lesung wiederholte er diesen
Antrag unter Verwendung des Begriffs der „angemessenen Entschädigung“. Für beide Vorschläge fand
sich keine Mehrheit. Ein vergleichbarer Antrag Dr. Dehlers (FDP) wurde jedoch im Hauptausschuss nur
bei Stimmengleichheit abgelehnt. Auch im Plenum des Parlamentarischen Rates fanden beide Vorschläge
keine Mehrheit. Das knappe Ergebnis der Abstimmung über den FDP-Antrag (26 : 30) zeigt jedoch, dass
die Vorschrift der angemessenen Entschädigung über den Kreis der DP und FDP-Abgeordneten hinaus
Unterstützung fand438.
Während der Parlamentarische Rat bei der Begriffsbestimmung des Eigentums und hinsichtlich der
Missbrauchsklausel im Sinne konstitutionell-demokratischer Auffassungen entschied, setzten sich in der
Frage der angemessenen Entschädigung die mehrheitsdemokratischen Vorstellungen durch. Hinzu kam
allerdings in der Schlussphase der Beratungen die Bestimmung, dass wegen der Höhe der Entschädigung
der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen steht. Das Grundgesetz unterscheidet sich hierin
deutlich von der Weimarer Reichsverfassung, welche dem Gesetzgeber in Art. 153 ausdrücklich die
Möglichkeit einräumte, sowohl die Entschädigung selbst als auch den Rechtsweg in der
Entschädigungsfrage auszuschließen.
Insgesamt wird man die Entschädigungsregelung durch den Parlamentarischen Rat als einen Kompromiss
zwischen den beiden unterschiedlichen Demokratieauffassungen bezeichnen können. Es entspricht aber
nicht dem Verlauf der Beratungen, wenn sie in der staatsrechtlichen Literatur als eine Eingrenzung der
„Dispositionsbefugnisse des Gesetzgebers“ bezeichnet wird, die über die Judikatur zu Art. 153 der
Weimarer Reichsverfassung hinausgeht und die „Position des Eigentums gegenüber dem Gesetzgeber
verhärtet“439. Dieser Interpretation sind die Ausführungen des CDU-Abgeordneten Hermann von
Mangoldt im Schriftlichen Bericht für das Plenum entgegenzuhalten: Die Vorschrift des Grundgesetzes,
Entschädigung sei „unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten“ zu
leisten, lässt demnach „freien Spielraum von einer bloß nominellen bis zur vollen Entschädigung“. Dieser
Spielraum werde lediglich durch die Gewährleistung des Rechtsweges vor ordentlichen Gerichten
begrenzt440. Auf einem anderen Blatt steht allerdings die nachträgliche Auslegung der
Entschädigungsklausel aus Art. 14 des Grundgesetzes, welche gleichzeitig auch für die Überführung in
Gemeineigentum (Art. 15) Geltung hat. Ohne Berücksichtigung und im Widerspruch zum
Diskussionsverlauf des Parlamentarischen Rates wird hier die Entschädigung nach dem Grundgesetz in
der Regel mit der „angemessenen Entschädigung“ gleichgesetzt441.
Bei den Beratungen zu Art. 15 des Grundgesetzes, der die Überführung in Gemeineigentum behandelt,
kommt der Zusammenhang zwischen Grundrechts- und Zuständigkeitsbestimmungen noch deutlicher
zum Ausdruck. Bereits auf Herrenchiemsee diskutierte man die Sozialisierungsproblematik vorwiegend
im Unterausschuss II, der sich mit Zuständigkeitsfragen befasste. Von mehrheitsdemokratischer Seite
wurde hierzu die Auffassung vertreten, wenn man auf „Programmsätze“ verzichte, müssten in den
Grundrechtsteil Bestimmungen aufgenommen werden, die ausschließen, „dass durch Berufung auf
individuelle Freiheiten notwendige strukturelle Veränderungen nicht Platz greifen können“442. Die ersten
Entwürfe zum späteren Art. 15 enthielten dementsprechend kaum mehr als eine Ermächtigung an den
Gesetzgeber, welche sowohl vom Herrenchiemsee-Konvent als auch vom Parlamentarischen Rat im
Katalog zur konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes erneut aufgegriffen wird. Die spätere Interpretation, der sogenannte Sozialisierungsartikel des Grundgesetzes erscheine als Fremdkörper in einem
438
PR-Hauptausschuss, 44. Sitzung vom 19. Januar 1949 und 57. Sitzung vom 5. Mai 1949; PR Akten und
Protokolle Bd. 9, S.454-456
439
So bereits 1951 H. P. Ipsen: Enteignung und Sozialisierung...S. 79 f.
440
PR - Schriftlicher Bericht... S. 12.
441
Kommentar zum Bonner Grundgesetz ( „Bonner Kommentar“) zu Art. 14, S. 55 (Zweitbearbeitung)
442
Otto Suhr und Carlo Schmid in HCh-Unterauschuss II, 4. Sitzung vom 16.8.1948, Stenoprot. S. 126.
152
vorwiegend gewährleistenden Grundrechtskatalog, lässt sich aus seiner Entstehungsgeschichte
erklären. Von seiner politischen Absicht her ist Art. 15 des Grundgesetzes nicht als Programmsatz,
sondern als eine besondere Form der Begrenzung des Eigentumsrechts anzusehen. Er war in seiner
ursprünglichen Fassung als Reflex der Gesetzgebungszuständigkeiten im Grundrechtsteil konzipiert.
Bei seiner Formulierung spielte auch die Überlegung mit, wie die Überführung in Gemeineigentum oder
in Gemeinwirtschaft vom normalen Enteignungsverfahren abzugrenzen sei. Im Herrenchiemsee-Konvent
machte der Bevollmächtigte Hamburgs, Dr. Drexelius, hierzu den Einwand geltend, Sozialisierung sei
kein juristischer, sondern nur ein soziologischer oder nationalökonomischer Begriff. Unter rechtlichen
Gesichtspunkten gehe es hierbei im wesentlichen um Fragen der Enteignung, der Gewerbefreiheit, des
Gesellschaftsrechts und des Arbeitsrechts. Da diese Materien aber bereits im Grundrechts- oder im
Zuständigkeitsteil der zukünftigen Verfassung berücksichtigt würden, schien es ihm überflüssig zu sein,
eine „besondere Kategorie der Sozialisierung“ aufzunehmen.
Die beiden Sozialdemokraten Carlo Schmid und Fritz Baade hielten dem entgegen, Enteignungsrecht und
Sozialisierung müssten voneinander getrennt werden. Zwischen beiden bestehe ein prinzipieller
Unterschied, weil es sich im ersten Fall um die „Inanspruchnahme“ individuellen Eigentums in einem
konkreten Einzelfall handele, im zweiten Fall jedoch um „strukturelle Wandlungen der Wirtschaft“, denen
unter Umständen verbriefte Eigentumsrechte im Wege stehen könnten. Dementsprechend sollte
Enteignung durch einen Enteignungsbeschluss der Behörden, Sozialisierung dagegen nur durch Gesetz
möglich sein. Adolf Süsterhenn (CDU) befürwortete bei dieser Gelegenheit mit dem Hinweis auf die
sowjetische Besatzungszone statt Sozialisierung eine „neutralere Formulierung“ und schlug die Begriffe
„Gemeineigentum“ sowie „Gemeinwirtschaft“ vor443. Aus der Diskussion wird ersichtlich, dass die
sozialdemokratischen Mitglieder des Konvents an einer Vertiefung der terminologischen Fragen wenig
interessiert waren und eine Ermächtigung des Gesetzgebers für ausreichend hielten. Von einer
Ausweitung und juristischen Differenzierung der Bestimmungen im Grundrechts- sowie im
Zuständigkeitskatalog befürchteten sie offenbar eine Eingrenzung der legislativen Befugnisse in der
Sozialisierungsfrage.
Im Grundsatz- sowie im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates wiederholte Carlo Schmid (SPD)
seine Argumentation von Herrenchiemsee und betonte, mit Sozialisierung sei kein „Sonderfall der
Individualenteignung“, sondern eine strukturelle Änderung der Wirtschaftsverfassung gemeint. Man habe
daher für dieses Verfahren einen eigenen Artikel vorgesehen und festgelegt, dass
Sozialisierungsmaßnahmen nur durch ein besonderes Gesetz vorgenommen werden können444. Seine
endgültige Fassung erhielt Art. 15 GG schließlich in der zweiten Lesung des Plenums. Hier wurden
zunächst zwei Anträge der DP (Christoph Seebohm) und der FDP (Hermann Höpker-Aschoff) abgelehnt,
die eine Streichung des Artikels bzw. die Einführung der „angemessenen Entschädigung“ bezweckten.
Aufgrund eines Antrags des CDU-Abgeordneten Heinrich von Brentano legte dann der Parlamentarische
Rat auch für Streitfälle in Entschädigungsfragen den Rechtsweg vor ordentlichen Gerichten fest445. Trotz
dieser Beschränkung blieb jedoch die Eigenständigkeit des Sozialisierungsartikels gegenüber dem
Enteignungsverfahren in der Endfassung des Grundgesetzes erhalten. Der ausschlaggebende Unterschied
zwischen Enteignung und Überführung in Gemeineigentum war nach Ansicht des Parlamentarischen
Rates nicht die Form des Eigentumsentzugs, sondern seine weitere Verwendung, die in Art. 15 des
Grundgesetzes mit den Worten „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ umschrieben ist.
443
HCh-Unterausschuss II, 3. Sitzung vom 14.8.1948, Stenoprot. S. 93, und 4. Sitzung vom 16.8.1948, Stenoprot. S.
116-120
444
PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 213 f.; PR-Hauptausschuss, 18. Sitzung vom 14. Dezember 1948.
445
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 456 f. sowie JöR, N. F. Bd. 1, S. 154-159.
153
Wenn im vorangehenden Abschnitt über den Umfang und die Bedeutung der Grundrechte taktische
und zeitliche Überlegungen für den Verzicht der sozialdemokratischen Fraktion auf eine Erweiterung des
Grundrechtskatalogs angeführt wurden, so tritt hier ein systematischer Gesichtspunkt hinzu, der bisher in
der Literatur zu wenig Beachtung fand. Hans-Hermann Hartwich weist zwar in seiner Studie mit Recht
darauf hin, die sozialdemokratische Fraktion habe sich bei den Grundgesetzberatungen in erster Linie um
ausreichende Kompetenzen für den Bundesgesetzgeber bemüht. Ihr Ziel bestand nach seinen Worten nicht
darin, „ein sozialdemokratisches Grundgesetz“ zu schaffen, sondern vielmehr eine Verfassung, die den
Sozialdemokraten die Möglichkeit gab, ihr wirtschafts- und sozialpolitisches Programm zu verwirklichen.
Da er bei seinen Überlegungen jedoch die politische Wirksamkeit sozialer Grundrechte voraussetzt,
gelangt er zu einer kritischen Einschätzung der sozialdemokratischen Position, die ihm „unverständlich“
erscheint und die Verwirklichung des sozialdemokratischen Sozialstaatsmodells nicht gefördert habe. Sein
Rückgriff auf die vor dem Parlamentarischen Rat verabschiedeten Länderverfassungen mit ihren zum Teil
recht ausführlichen Aussagen über die Sozial- und Wirtschaftsordnung lässt aber die Frage nach der
Bedeutung dieser Artikel für die praktische Politik unbeantwortet. Gerade die von ihm als Beispiele für
die Wirtschaftslenkung angeführten Bestimmungen der hessischen und bremischen Verfassung sind vom
Wortlaut her kaum als Festlegung einer bestimmten Wirtschaftsordnung zu interpretieren und sehen
ausdrücklich eine weiterführende gesetzliche Regelung vor446.
Werner Sörgel charakterisiert die sozialdemokratische Position in der Grundrechts- und Zuständigkeitsfrage zutreffend, wenn er schreibt, im Vertrauen darauf, „führende politische Kraft“ zu werden,
hätten Kurt Schumacher und die Führungsspitze der SPD darauf verzichtet, ihre gesellschaftspolitischen
Reformpläne direkt durch die Verfassung abzusichern. Ähnlich wie bei Hartwich bleibt aber auch bei
Sörgel die Problematik programmatischer Festlegungen im Verfassungstext unberücksichtigt. Sörgels
Kritik richtet sich nicht nur gegen die „Nicht-Verfassungskonzeption“ der Sozialdemokratie, sondern
auch gegen die mangelnde Bereitschaft der Gewerkschaften, ihre Forderungen zur Sozialordnung mit
Nachdruck zu vertreten. Im Vergleich zu anderen Interessenten hätten sie sich im Umgang mit der
verfassunggebenden Gewalt als „blinde Macht“ erwiesen447.
Volker Otto setzt in seiner Studie ebenfalls die politische Wirksamkeit „sozialer Grundrechte“ voraus. Als
weiterer Grund für den Verzicht auf „soziale Statusrechte“ wird hier der programmatische Wandel in der
SPD genannt, welcher schließlich zur Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahre 1959 geführt
habe. Nach Volker Schockenhoff blieb die „verfassungspolitische Strategie“ der Sozialdemokratie bei den
Grundgesetzberatungen. inhaltsleer und ist auf die Provisoriumskonzeption der Partei zurückzuführen448.
Diese Interpretationen überschätzen nicht nur die Wirkung von Programmsätzen in Verfassungen,
sondern sie unterschätzen auch die gesellschaftspolitische Bedeutung, welche dem Zuständigkeitskatalog
für die Bundesgesetzgebung bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen zukommt. Ein aus der Sicht der
sozialen Mehrheitsdemokratie durchaus erfolgreicher Beratungsverlauf wird hiermit zur Niederlage
umgedeutet. Diese Bewertung steht auch im Widerspruch zu den Ausführungen des Abg. Dr. Menzel unmittelbar vor der Schlussabstimmung über das Grundgesetz: Menzel bezeichnete damals die
verfassungsmäßige Verankerung der Begriffe „Gemeineigentum“ und „Gemeinwirtschaft“ - die nicht nur
446
H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat...S. 40 ff., sowie Art. 39 der Landesverfassung Bremen vom 21.10.1947:
Der Staat hat die Pflicht, die Wirtschaft zu fördern, eine sinnvolle Lenkung der Erzeugung, der Verarbeitung und
des Warenverkehrs durch Gesetze zu schaffen, jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ertrag
aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen. Im Rahmen der hierdurch gezogenen Grenzen ist die
wirtschaftliche Betätigung frei. Die hessische Verfassung vom 1.12.1946 enthält in Art. 38 eine entsprechende
Formulierung.
447
448
W. Sörgel: Konsensus und Interessen... S. 59, 206 und 280 f.
W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 59, 206 und 280 f.; V. Otto: Das Staatsverständnis des
Parlamentarischen Rates, Düsseldorf 1971, S. 88 ff., 205 und 208 sowie V. Schockenhoff: Wirtschaftsverfassung
und Grundgesetz...S. 161 f.
154
im sogenannten Sozialisierungsartikel (Art. 15), sondern auch im Katalog zur konkurrierenden
Gesetzgebung (Art. 74) stehen - als einen politischen Fortschritt, der die sozialdemokratische Fraktion
veranlasst habe, ihre Bedenken gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes zurückzustellen. Die
Sozialdemokratie, fügte er hinzu, werde es daher als ihre vornehmste Pflicht betrachten, „alsbald nach
dem Zusammentritt des ersten Bundestages durch entsprechende Gesetzentwürfe an dieses große Werk
der Sozialisierung heranzugehen“449.
Der gesellschaftspolitische Gehalt der Verfassung verlagerte sich hiermit vom Grundrechts- in den
Gesetzgebungsteil, wo er allerdings nur potentiell vorhanden sein kann und der Aktivierung durch die
Mehrheitsentscheidungen des Parlaments bedarf. Angesichts der Kontroversen über andere Teile des
Grundgesetzes erwartet man auch zu den Fragen der Gesetzgebungskompetenzen entsprechende
Gegenpositionen. Sie hätten aus konstitutionell - demokratischer Sicht eine strikte Begrenzung der
Befugnisse des Bundestages verlangen müssen. In den Protokollen des Parlamentarischen Rates und
seiner Ausschüsse lässt sich jedoch diese Gegenposition nicht erkennen. Über den Umfang der
Gesetzgebungskompetenzen des Bundes bestand offenbar zwischen den Fraktionen Übereinstimmung bis
auf einige Einzelprobleme. Die Frage nach den Ursachen für diesen Konsensus wird im kommenden
Abschnitt untersucht. Die Befürworter von möglichst vielen „checks and balances“ im Grundgesetz
sparten offenbar den Bereich der Bundeszuständigkeiten aus und konzentrierten sich statt dessen auf die
Länderkammer sowie auf die Kontrollmöglichkeiten der Judikative.
6. Der Parlamentarische Rat und der Umfang der Bundesgesetzgebung
Die angedeutete Übereinstimmung zwischen den Parteien, die Zuständigkeit des späteren
Bundesgesetzgebers durch einen umfangreichen Katalog in der zukünftigen deutschen oder
westdeutschen Verfassung festzulegen, zeichnete sich schon vor Beginn der Grundgesetzberatungen ab.
Der bereits erwähnte Ellwanger Entwurf der CDU/CSU-Arbeitsgemeinschaft vom April 1948 wird als ein
föderalistischer Vorschlag der süddeutschen Landesverbände bewertet; er enthält aber einen 22 Punkte
umfassenden Katalog für die ausschließliche und die konkurrierende Bundesgesetzgebung. In der Begründung heißt es hierzu: „Was den Katalog der durch die Bundesgesetzgebung zu regelnden Materien
anbelangt, so sind die Verfasser davon ausgegangen, dass man das Rad der Geschichte nicht hinter das
Jahr 1933 zurückdrehen kann“. Für die Überlegungen der FDP bildete die Weimarer Reichsverfassung
ebenfalls den Orientierungspunkt. Der von Johannes Siemann für den Zonenbeirat der britischen Zone
erarbeitete Vorschlag bezeichnete im August 1947 die Weimarer Reichverfassung als eine brauchbare
Grundlage für die „Abgrenzung der Gesetzgebungsmacht des Reiches“. Die sozialdemokratischen
Entwürfe hatten eine zentralistischere Tendenz: So ordnete z. B. der erste Menzel-Entwurf vom August
1948 den Finanz- und Lastenausgleich sowie das Arbeitsrecht und die Steuerhoheit der Gesetzgebung des
Bundes zu. Die Hochschulen, Theater und Büchereien sollten ebenfalls der Bundesgesetzgebung
unterstehen450.
Auf Herrenchiemsee wurde die Frage der Gesetzgebungskompetenzen im Unterausschuss II beraten. Hier
kam man überein, die aufwendige Unterscheidung der Weimarer Reichsverfassung zwischen
ausschließlicher Gesetzgebung, Grundsatzgesetzgebung, konkurrierender Gesetzgebung und
Bedarfsgesetzgebung zu vereinfachen. Der Bund sollte in Zukunft über eine ausschließliche und über eine
konkurrierende Gesetzgebung verfügen. Da der Bund im Bereich der konkurrierenden
Gesetzgebungskompetenzen die Länder „verdrängen“ konnte, nannte der Unterausschuss diesen Bereich
zu Recht „Vorranggesetzgebung“ und führte hierzu 38 Sachgebiete auf451.
449
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 528 f.
450
W. Sörgel: Konsensus und Interessen ... S. 267 f. und 303 f.; Zonenbeirat. Deutsches Sekretariat J. Nr. 1317/47
(ADL 132 FDP-brit. Zone, Staat und Verfassung, Außenpolitik)
451
HCh-Unterausschuss II, 4. Sitzung vom 16.8.1948, Stenoprot. S. 114 sowie PR Akten und Protokolle Bd. 2, S.
155
Bei den Beratungen über das Recht zur Steuergesetzgebung waren allerdings die unterschiedlichen
Auffassungen der Konventsmitglieder nicht zu übersehen. Dr. Baade erklärte vor dem Plenum, mit den
Finanzfragen nehme man „vielleicht das heißeste Eisen... in die Hand“. Umstritten war, ob die Länder im
wichtigen Bereich der Einkommens- und Vermögenssteuer die Höhe der Abgaben selbständig bestimmen
sollten. Der Verfassungskonvent fand hierzu eine Kompromissformulierung, die dem Bund die Gesetzgebung zubilligte, den Ländern jedoch die Bestimmung der Steuersätze und der Freigrenzen innerhalb eines
durch Bundesgesetz festgelegten Rahmens überließ. Eine unterschiedliche Besteuerung in den einzelnen
Ländern war demnach durchaus möglich452. Zur Konstruktion der Vorranggesetzgebung gehörte auch die
Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen das Bundesparlament von seinem Vorrang
Gebrauch machen und an Stelle der Landesparlamente Gesetze verabschieden könne. Der Konvent
machte sich die Sache leicht und formulierte ohne Diskussion im Art. 34 seines Entwurfs: „Der Bund soll
nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muss“.
Im Parlamentarischen Rat verstärkten die Vorschläge einflussreicher Interessengruppen die ohnehin
vorhandenen Zentralisierungstendenzen in der Gesetzgebung. Die radikalste Stellungnahme wurde am 4.
Oktober 1948 von der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern der Bizone verabschiedet
und offenbar nur der CDU/CSU-Fraktion des Parlamentarischen Rates zugeleitet. Das „gesamte
Wirtschafts- und Arbeitsrecht“ sollte demnach in die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes fallen.
Das gleiche wurde für die gesamte Steuergesetzgebung gefordert. Eigene Hebesätze, Steuersätze oder
Freigrenzen der Länder auf Einkommen und Vermögen sollten ausdrücklich verboten werden. In Fragen
der Verwaltung billigte die Eingabe der Industrie- und Handelskammern den Ländern größere Rechte zu.
Ihr Kernsatz lautete jedoch: „So dringend notwenig es ist, jede Entwicklung zu einem zentralen
Machtstaat zu verhindern, so sehr muss zur Vermeidung einer Zersplitterung und Unübersichtlichkeit der
Wirtschaft die Einheitlichkeit des Rechtes gefordert werden“.
Die von Hans Böckler unterzeichnete Eingabe des DGB vom 12. Oktober war zumindest im Wortlaut
gemäßigter. Sie forderte die Zuständigkeit des Bundes für die Finanz- und Steuergesetzgebung sowie die
Arbeitsgerichtsbarkeit. Ein separates Besteuerungs- oder Bemessungsrecht der Länder bei der
Einkommenssteuer wurde von den Gewerkschaften abgelehnt: „Unterschiedliche Steuerabzüge bei
Löhnen und Gehältern, und damit verschiedene Nettolöhne in denselben Industriezweigen sind nicht
tragbar für die Arbeitnehmer“ hieß es in der Eingabe.
Wenige Tage später fand ein Gespräch zwischen dem FDP-Abgeordneten im Parlamentarischen Rat, Dr.
Schäfer, weiteren FDP-Politikern und Vertretern des Deutschen Beamten Bundes statt. An erster Stelle
wurde von den Beamtenvertretern die Forderung erhoben, das Beamtenrecht in die Vorranggesetzgebung
des Bundes aufzunehmen. Die Arbeitsgemeinschaft der Jagdverbände hatte bereits am 27. Oktober 1948
eine einheitliche Bundesgesetzgebung für das Jagdrecht gefordert, da die Auflösung der Rechtseinheit
nicht tragbar sei. Dem Verband der Automobilindustrie genügte die Vorranggesetzgebung des Bundes für
den Straßenverkehr nicht; das gesamte Verkehrswesen müsse vielmehr der ausschließlichen
Bundesgesetzgebung zugeordnet werden. Mit einiger Verspätung, aber erfolgreich, machte auch die
Wissenschaft ihre Interessen geltend: Die Professoren Heisenberg, Regener, Rein und Zennek forderten in
einer Eingabe vom 15. Dezember 1948, „alle Gesetzgebung, die sich auf wissenschaftliche Forschung bezieht“ müsse Sache des Bundes sein453.
246 ff., 527 und 585 f.
452
453
PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 535 f. und 608
Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat ... S. 60 ff.; PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 475; Niederschrift über
eine Verhandlung mit der FDP-Fraktion des Parlamentarischen Rates ... am ...18.10.1948 ( ADL Parl. Rat FDPFraktion 1948/49, 2976) sowie PR-Hauptausschuss, 30. Sitzung vom 6. 1. 1949
156
Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes wurden im Parlamentarischen Rat vom Ausschuss für
Zuständigkeitsabgrenzungen (Zuständigkeitsausschuss) beraten. Eine Ausnahme bildete die wichtige
Bundesgesetzgebung zu den Steuern. Sie war Sache des Finanzausschusses und findet sich deshalb in der
Endfassung des Grundgesetzes als Art. 105 GG unter „Finanzwesen“. Die Ausgangslage der Beratungen
im Zuständigkeitsausschuss war die gleiche wie auf Herrenchiemsee: der Katalog der Bundesgesetzgebung musste möglichst vollständig sein, da eine Ergänzung später nur durch Verfassungsänderungen
möglich war. Als Ergebnis seiner Beratungen erweiterte der Zuständigkeitsausschuss die ausschließliche
Gesetzgebung des Bundes gegenüber dem Herrenchiemsee-Entwurf von sieben auf elf Punkte, während
die Liste zur Vorranggesetzgebung von 38 Gebieten auf zunächst 21 reduziert wurde. Diese Begrenzung
des Umfangs bedeutete allerdings keine Einschränkung der Bundeskompetenzen, sondern ist in erster
Linie auf die Zusammenfassung der Chiemseer Formulierungen zurückzuführen.
Unterschiedliche Wirtschaftsauffassungen wurden im Verlauf der Diskussion über die einzelnen Punkte
der Zuständigkeitsregelung nur gelegentlich sichtbar. Bei der Beratung zu Ziffer 16 des Katalogs der
konkurrierenden Gesetzgebung (Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung) kam es zu
Meinungsverschiedenheiten, ob die wirtschaftlichen Machtpositionen selbst oder nur ihr Missbrauch
Gegenstand einer einschränkenden Gesetzgebung sein sollten. Auf der einen Seite forderte Walter Strauß
(CDU), bereits das Entstehen derartiger Machtpositionen zu verhindern. Dieser Vorschlag entsprach dem
„machtverteilenden Prinzip“, für dessen Verwirklichung sich damals sowohl neoliberale Autoren als auch
Vertreter der katholischen Soziallehre einsetzten. Auf der anderen Seite erklärte der sozialdemokratische
Abgeordnete Friedrich Wagner, man dürfe „den aus technischen Gründen notwendigen
Großproduktionsapparat“ nicht unmöglich machen. Verhindert werden müsse lediglich, dass die
wirtschaftlichen Machtpositionen zu politischen Zwecken missbraucht werden. Diese Argumentation
beruhte auf den Geschichtsinterpretationen und Wirtschaftsauffassungen, die mit der sozialen
Mehrheitsdemokratie in enger Verbindung standen.
Die Aufnahme des Enteignungsrechts in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes löste gleich zu
Beginn der Beratungen des Zuständigkeitsausschusses eine lebhafte Diskussion aus: Die
sozialdemokratischen Ausschussmitglieder Wagner, Hoch und Reuter hatten vor, dem Bund die Regelung
des gesamten Enteignungsrechts zu ermöglichen. Sie begründeten dies mit dem Wiederaufbau der
zerstörten Städte und den hierbei notwendigen Eingriffen in den Grundbesitz. Der CDU-Abgeordnete
Walter Strauß wollte zunächst auf ein Enteignungsrecht des Bundes überhaupt verzichten. Nach
ausführlicher Beratung einigte man sich schließlich auf den Kompromiss, dem Bund die konkurrierende
Gesetzgebung zur Enteignung dort einzuräumen, wo er auch die Gesetzgebungskompetenz in der Sache
besitzt, d. h. also nicht im Bereich der Landesgesetzgebung454.
Dass der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die auswärtigen Angelegenheiten haben sollte, war
seit dem Herrenchiemsee-Konvent unumstritten. Der Vorschlag des CDU-Abgeordneten Walter Strauß,
diese Gesetzgebungskompetenz auch auf den „Schutz des Bundes nach außen“ auszudehnen, führte
innerhalb und außerhalb des Parlamentarischen Rates zu einer kontroversen Diskussion, weil er im Sinne
eines deutschen Verteidigungsbeitrages verstanden werden konnte. Die Frage wurde bei der ersten Lesung
des Grundgesetzes im Hauptausschuss entschieden: Auf Antrag des SPD-Abgeordneten Katz lehnte der
Hauptausschuss Mitte November 1948 den Zusatz „Sicherung des Bundes“ mit 13 gegen 5 Stimmen
ab455.
Bei den übrigen Ziffern der Gesetzgebungskataloge gab es keine Differenzen zwischen den Fraktionen
des Parlamentarischen Rates. Dies gilt vor allem für die Bundeszuständigkeit, das „Recht der Wirtschaft“
zu regeln. In der achten Sitzung des Zuständigkeitsausschusses vom 6. Oktober 1948 bestand zwischen
454
455
PR Akten und Protokolle Bd.3, S. 54-68, 410 f., 511-513; JöR, N.F. Bd.1, S.479 ff.
Bericht des Genossen Walter Menzel vom 8. Oktober 1948 ( NL C. Schmid 1162 - AdsD); PR Akten und
Protokolle Bd. 11, S. 23 sowie Bd. 3, S. 597 ff.; PR-Hauptausschuss, 6. Sitzung v. 19.11.48, S.78
157
Walter Strauß (CDU) und dem Sozialdemokraten Fritz Hoch bereits Übereinstimmung, den Begriff
Wirtschaftsrecht einzufügen und ihn im umfassenden Sinne zu verstehen, damit zukünftige Entwicklungen nicht „verbaut“ würden. Nach übereinstimmender Auffassung des Ausschusses sollte der Bund mit
Ausnahme der Landwirtschaft für alle Fragen zuständig sein, die „auf dem Gebiet der Wirtschaft
überhaupt rechtlich zu regeln sind“. Die Gestaltung der Wirtschaftsverfassung war dabei ausdrücklich
eingeschlossen. Obwohl beim „großen Kompromiss“ des Fünferausschusses vom Februar 1949 fünf
Punkte aus dem Katalog der Vorranggesetzgebung ausgegliedert und als Rahmenvorschriften
zusammengefasst wurden, blieb der Katalog des späteren Art. 74 GG mit seinen 23 Punkten der
umfangreichste Grundgesetzartikel überhaupt.
Die Gestaltungsaufgabe des Bundesparlaments setzte sich bei den Grundgesetzberatungen vor allem auf
dem Gebiet der Steuergesetzgebung durch. Hier hatte der Herrenchiemsee-Konvent den Ländern mit den
Steuersätzen und Freigrenzen noch einen erheblichen Spielraum gelassen. Der Finanzausschuss des
Parlamentarischen Rates hörte in seinen ersten Sitzungen zahlreiche Sachverständige, die in der Frage des
Länderzuschlags zur Einkommens- und Vermögenssteuer keine einheitliche Meinung vertraten. Die
Zölle, die Verkehrs- und Verbrauchssteuern sollten nach Auffassung der Sachverständigen
bundeseinheitlich festgesetzt werden. Die bayerische Initiative, die Gesetzgebung zur Biersteuer den
Ländern zu überlassen, wurde von ihnen zurückgewiesen, weil sie u. a. eine Grenzkontrolle innerhalb des
Bundesgebiets erforderlich mache. Der Finanzausschuss kam in seinem ersten Vorschlag bereits zu einer
Lösung für die Steuergesetzgebung, die weitaus zentralistischer war als die von den Sachverständigen
vertretenen Auffassungen. Der Bund sollte demnach die ausschließliche Gesetzgebung über Zölle und
Monopole besitzen sowie die konkurrierende Gesetzgebung über a) die Verbrauchs- und Verkehrssteuern
mit Ausnahme der Grunderwerbssteuer und anderer lokaler Steuern, b) die Einkommens- und
Körperschaftssteuer, Vermögens- und Erbschaftssteuer sowie c) die Realsteuern mit Ausnahme der
Hebesätze. Dieser Vorschlag wurde mit acht Stimmen bei zwei Enthaltungen am 6. Oktober 1948
angenommen und mit kleineren Änderungen als Art. 105 in die Endfassung des Grundgesetzes
aufgenommen.
Auf der Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates am 21. Oktober 1948 kamen die unterschiedlichen
Auffassungen zu Finanz- und Steuerfragendeutlich zum Ausdruck: Dass die SPD die gesamte
Steuergesetzgebung dem zentralen Parlament zuschreiben wollte, war nicht überraschend. Ihr
Verfassungsexperte Walter Menzel hatte sich bereits zu Beginn des Parlamentarischen Rates von den
Ergebnissen des Herrenchiemsee-Konvents distanziert und „erhebliche Bedenken“ gegen ein
Zuschlagsrecht der Länder zur Einkommenssteuer geäußert. Sein Fraktionskollege Otto Greve
argumentierte, man befinde sich in der gleichen Situation wie 1919/20 und solle deshalb wieder auf die
Erzberger´sche Finanzreform zurückkommen. Der wichtigste Beitrag zur Finanzdebatte kam von dem
FDP-Finanzexperten Höpker-Aschoff. Er sprach sich bei der Steuergesetzgebung und bei anderen Fragen
des Finanzwesens eindeutig für eine dominierende Position des Bundes aus. Einen Einfluss der einzelnen
Länder auf die Höhe der Einkommens- und Vermögenssteuer lehnte er ab, weil „Standortverschiebungen“
in der Wirtschaft zu befürchten seien. Selbst bei der Biersteuer sei eine einheitliche Gesetzgebung
genauso notwendig wie bei allen anderen Verbrauchssteuern.
In seinem später vorgelegten schriftlichen Bericht über das Finanzwesen schrieb Höpker-Aschoff,
Finanzpolitik sei heutzutage gleichzeitig als Sozial-, Wirtschafts- und Währungspolitik anzusehen. Der
Staat habe die Möglichkeit, durch Kredite den Ablauf der Konjunkturen zu bestimmen und mit den
entsprechenden Mitteln die Kaufkraft des Geldes zu beeinflussen. Alle diese Aufgaben könnten jedoch für
ein einheitliches Wirtschaftsgebiet nur vom „zentralen Gesetzgeber“ wahrgenommen werden. Er bezog
sich in seinen Ausführungen ausdrücklich auf die Arbeiten des britischen Wirtschaftswissenschaftlers
John M. Keynes. Bemerkenswert sind auch Höpker-Aschoffs Argumente an die Adresse der
Besatzungsmächte: Diese hätten durch ihre gleichlautende Steuergesetzgebung für die drei Westzonen
selbst zugegeben, dass eine einheitliche Gesetzgebung notwendig sei. Die doppelte Einkommenssteuer
des Bundes und der Länder nach amerikanischem Muster könne man für Deutschland angesichts der
„Verarmung“ nicht akzeptieren. Offenbar ahnte er aus dieser Richtung Unangenehmes.
158
Wider alle Erwartungen schloss sich auch der Vertreter der CDU/CSU im Finanzausschuß, Paul
Binder, der Argumentation von Höpker-Aschoff und Otto Greve an und erklärte, da alle Fragen der
Wirtschaft unter den damaligen Verhältnissen nur einheitlich geregelt werden könnten, müsse die
Finanzgesetzgebung „beim Reich bleiben“. Voraussetzung für die Zustimmung der CDU/CSU sei
allerdings, in der Frage der zweiten Kammer werde eine Lösung gefunden werde, welche die Rechte der
Länder sichere. Aus den Aufzeichnungen der Fraktionssitzungen geht hervor, dass Binder keinen
Alleingang unternahm, sondern in Übereinstimmung mit seinen Kollegen argumentierte. Der Vorsitzende
der Unionsfraktion, Anton Pfeiffer, hatte bereits am 29. September 1948 festgestellt: „Es besteht wohl
Einmütigkeit darüber, dass die Gesetzgebung beim Bund liegen soll, wobei ein großer Teil der Fraktion
den Wunsch hat, dass die Länderorgane mitzuwirken haben“456.
Die Motive für die umfangreichen Bundeskompetenzen in der Steuergesetzgebung waren demnach die
gleichen, welche den Parlamentarischen Rat zur Formulierung der ausführlichen Kataloge für die
allgemeinen Bundesgesetzgebung veranlassten. Die entsprechenden Überlegungen in der CDU/CSUFraktion lassen sich anhand der Ausführungen von Walter Strauß nachzeichnen: Er sagte bereits Ende
September 1948 im Zuständigkeitsausschuss, seine Fraktion sei der Auffassung, „dass dem Bund
entsprechend der Struktur des modernen Lebens in der Gesetzgebung sehr weitgehende Zuständigkeiten
zu geben sind“. In der Grundsatzdebatte des Hauptausschusses über die Gesetzgebung erklärte er, bei den
„Notverhältnissen unseres Landes“ dürfe man dem Bund keine unzureichende Kompetenzen zuweisen.
Seine Fraktion habe dies „insbesondere bei den Finanzen“ berücksichtigt, und er fügte hinzu: „Auch
solche Mitglieder, die ursprünglich mit anderen Ansichten an die Arbeit herangegangen sind, haben sich
von dem Schwergewicht der vorgetragenen Tatsachen und von den Ausführungen der Sachverständigen
überzeugen lassen“.
Diese Zustimmung zu umfangreichen Gesetzgebungskompetenzen bedeutete allerdings eine Änderung
der konstitutionell-demokratischen Position, wie sie 1946/47 entwickelt wurde. Man rückte von der
Forderung nach einer generellen Begrenzung der Staatstätigkeit sowie vom Prinzip der Gewaltenteilung
zwischen Bund und Ländern (vertikale Gewaltenteilung) ab. Der bevorstehende wirtschaftliche
Wiederaufbau und die sozialen Probleme der Nachkriegssituation haben offenbar die CDU/CSU
veranlasst, sich in diesem Punkt der mehrheitsdemokratischen Position anzunähern. Dieses Zugeständnis
wurde jedoch an die Bedingung geknüpft, dass die Länder über den Bundesrat an der Willensbildung des
Bundes entsprechend stärker beteiligt werden. Der politische Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichsozialen Krisensituation der Nachkriegszeit, den Aufgaben einer zukünftigen westdeutschen Regierung
und den Rechten der „zweiten Kammer“ tritt hier deutlich zutage457.
Die Zustimmung der FDP-Fraktion zu den weitgehenden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes kommt
weniger überraschend, weil in ihrer verfassungspolitischen Zielsetzung die vertikale Machtaufteilung
zwischen Bund und Ländern keine vergleichbare Rolle spielte. Auch in der FDP wurden die
Gestaltungsfunktionen des modernen Staates zunehmend anerkannt. Im Parlamentarischen Rat bestand
deshalb in diesen Fragen eine weitgehende Übereinstimmung mit der sozialdemokratischen Zielsetzung.
Sie kam bereits in den Ausführungen von Theodor Heuss vor dem Plenum zum Ausdruck: Heuss sprach
sich hier zwar gegen eine verfassungsmäßige Festlegung der „sozialwirtschaftlichen Ordnung“ aus, fügte
aber hinzu: „Wir begnügen uns, in diesen Dingen die Bundeskompetenz auszusprechen“. In den Fragen
der Finanzverfassung vertrat der FDP-Abgeordnete Hermann Höpker-Aschoff, dessen Sachkompetenz
von allen Fraktionen anerkannt wurde, im Grunde mehrheitsdemokratische Verfassungsvorstellungen.
Die Erklärungen Walter Menzels zu Beginn der Grundgesetzberatungen zeigen, dass die
456
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 249-267; PR-Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes. . . . S.55;
Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S.44
457
PR Akten und Protokolle Bd. 3, S.43; PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30.11.48
159
sozialdemokratische Fraktion diesen Einfluss der Zeitumstände auf die Haltung der anderen
Fraktionen in ihr taktisches Kalkül einbezog. Menzel sagte, die Verfassungsdiskussion im Zonenbeirat der
britischen Zone habe erwiesen, dass man sich über die Zuständigkeitsverteilung auf dem Gebiet der
Gesetzgebung und Verwaltung sehr schnell einigen könne, wenn man erst einmal an die konkrete
Beratung der einzelnen Punkte herangehe und dabei „von allem Theoretisch-Politischen, von allen Ismen“
absehe. Im Zonenbeirat sei man damals nach Abschluss der Debatte erstaunt gewesen, mit welcher
Einmütigkeit eine „Fülle von Sachgebieten“ dem Reich zugestanden und den Ländern entzogen wurden.
Die Ergebnisse von Herrenchiemsee bestätigten seiner Ansicht nach die Richtigkeit dieser Erfahrung,
denn auch dort habe man für nicht weniger als 45 „zum Teil recht umfangreiche Gebiete“ die
Zuständigkeit des Bundes ausgesprochen458.
Die Bestimmungen des Grundgesetzes zur Gesetzgebung einschließlich der Steuergesetzgebung wären
demnach reibungslos verabschiedet worden, wenn sich nicht die drei Besatzungsmächte das
Zustimmungsrecht vorbehalten hätten. Während die Militärgouverneure z. B. bei der Finanzverwaltung
und beim Wahlrecht aufgrund der Differenzen im deutschen Lager mit ihren Interventionsversuchen auf
Erfolg hoffen konnten, stand ihnen jedoch in der Frage der Gesetzgebungskompetenzen aufgrund des
Konsensus zwischen den Parteien eine geschlossene Bastion gegenüber. Dies zeigte sich, als die deutschalliierten Verhandlungen im Frühjahr 1949 in ihr entscheidendes Stadium traten: Das am 2. März 1949
überreichte Memorandum der drei Besatzungsmächte zum Grundgesetzentwurf befasste sich überwiegend
mit der konkurrierenden Gesetzgebung, die im deutschen Text noch als Vorranggesetzgebung bezeichnet
wurde. Die Besatzungsmächte machten Änderungsvorschläge zu dem vom Hauptausschuss beschlossenen
Katalog geltend. Sie strichen z. B. die Bundeskompetenz für das Presserecht sowie das Lichtspielwesen
und verschoben die „Staatszugehörigkeit in Bund und Ländern“ von der ausschließlichen in die
konkurrierende Gesetzgebung. Außerdem lösten sie den Artikel über Rahmenvorschriften des Bundes auf
und ordneten diese Gebiete der konkurrierenden Gesetzgebung zu. Der britische Militärgouverneur
Robertson „vergaß“ bei der Erläuterung der Änderungsvorschläge allerdings zu erwähnen, dass hiermit
auch die Rahmenvorschriften des Bundes über die Rechtsverhältnisse des öffentlichen Dienstes in den
Ländern gestrichen wurden. Dies stieß auf energischen Widerspruch der deutschen Delegation. Dr.
Menzel (SPD) entgegnete, die Berücksichtigung der „hergebrachten Grundsätze“ des Berufsbeamtentums
im späteren Art. 33 des Grundgesetzes sei nur akzeptabel, wenn der Gesetzgeber diese Grundsätze näher
bestimmen dürfe. Man könne allenfalls beide Artikel streichen459.
Der weitaus wichtigere Einwand der drei Besatzungsmächte bezog sich auf die Definition der
Vorranggesetzgebung. In der ihnen vom Parlamentarischen Rat vorgelegten Fassung hieß es nur, die
Länder behalten auf den genannten Gebieten ihr Gesetzgebungsrecht, solange der Bundesgesetzgeber
nicht tätig wird. Außerdem solle der Bund durch Vorranggesetzgebung nur regeln, was einheitlich
geregelt werden müsse. Diese Formulierungen waren den Militärgouverneuren viel zu unbestimmt. Sie
schlugen statt dessen einen Text vor, der die Vorranggesetzgebung des Bundes in eine
Vorranggesetzgebung der Länder verwandelte. Der Bundesgesetzgeber sollte auf den genannten Gebieten
nur tätig werden, wenn (a) ein einzelnes Land nicht in der Lage sei, wirksame Gesetze zu erlassen, oder
(b) eine entsprechende Landesgesetzgebung die Rechte oder Interessen anderer Länder beeinträchtige. In
beiden Fällen sollte außerdem die Bedingung hinzutreten, dass in der betreffenden Frage die Interessen
mehrerer Länder „offenbar, unmittelbar und im ganzen“ berührt werden. Der französische Text verlangte
sogar, alle Länder (l´ensemble des Etats) müssten betroffen sein460.
Der Parlamentarische Rat entschloss sich nach mehrfachen Verhandlungen mit den alliierten
Verbindungsoffizieren in der Frage der Vorranggesetzgebung zu einer Reihe von Änderungen, ohne
458
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 83
459
PR Akten und Protokolle, Bd. 8, S. 120 ff. und 156
460
Texte und Übergabe-Erklärung in PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 120 ff.
160
allerdings - wie sich herausstellen sollte - die Kompetenzen des Bundesgesetzgebers gegenüber der
ursprünglichen Fassung wesentlich zu beeinträchtigen. Nach Beratungen im Allgemeinen
Redaktionsausschuss und in interfraktionellen Besprechungen wurde zunächst das Wort
„Vorranggesetzgebung“ durch die neutralere Bezeichnung „konkurrierende Gesetzgebung“ ersetzt. Der
Gesetzgebungskatalog blieb bis auf einige Umformulierungen sowie die Streichung von Presse und Film
unverändert. Zur Regelung des öffentlichen Dienstes in den Ländern konnte der Bund nach wie vor
Rahmenvorschriften erlassen. Zu der von den Militärgouverneuren energisch vorgetragenen Forderung,
die Voraussetzungen der Vorranggesetzgebung seien exakt zu bestimmen, musste man sich allerdings
etwas neues einfallen lassen. Bei den interfraktionellen Gesprächen des Siebenerausschusses einigten sich
die Vertreter der Fraktionen auf drei Bedingungen für die inzwischen als konkurrierende Gesetzgebung
bezeichneten Zuständigkeiten, die man den Besatzungsmächten in Form eines separaten Artikels anbot:
Der Bund sollte demnach zur Gesetzgebung nur berechtigt sein, wenn ein „Bedürfnis“ nach einer
bundeseinheitlichen Regelung bestand. Dieser Fall war nach dem Wortlaut des Vorschlages gegeben,
wenn 1. die Materie durch Landesgesetzgebung nicht wirksam geregelt werden kann, 2. ein Landesgesetz
in der betreffenden Angelegenheit die Interessen anderer Länder oder der „Gesamtheit“ berührt oder 3.
die Rechts- und Wirtschaftseinheit eine Regelung durch den Bundesgesetzgeber erforderlich macht461.
Die beiden erstgenannten Bedingungen entsprachen weitgehend den Vorschlägen der Militärgouverneure.
Die dritte Bedingung für ein Tätigwerden des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung kam
jedoch auf Initiative des Parlamentarischen Rates hinzu. Der Grundsatz der Rechts- und
Wirtschaftseinheit hat einen so breiten Interpretationsspielraum, dass man mit seiner Hilfe die alliierten
Auflagen weitgehend umgehen und die Vorranggesetzgebung des Bundes in ihrer ursprünglichen Form
wiederherstellen konnte. Die Fraktionen des Parlamentarischen Rates gingen hierbei von der
unausgesprochenen Voraussetzung aus, der Bundesgesetzgeber selbst (und nicht etwa das
Verfassungsgericht) habe zu entscheiden, ob die Bedingungen für eine einheitliche Regelung vorliegen.
Die Militärgouverneure und ihre Mitarbeiter waren jedoch keineswegs ahnungslos. General Clay erklärte
bei der entscheidenden Besprechung in Frankfurt am 25. April 1949, man sei unzufrieden mit der unter 3.
vorgeschlagenen Formulierung. In ihr fehle der Nachweis, dass eine Landesgesetzgebung wirklich nicht
ausreiche. Zumindest müsse den einzelnen Ländern die Klagemöglichkeit vor den
Bundesverfassungsgericht garantiert werden. Noch so geschickte Erläuterungen von Carlo Schmid
konnten den Argwohn der Militärgouverneure nicht beseitigen. Clay bestand mit Unterstützung seines
britischen Kollegen Robertson auf „clarification“ der konkurrierenden Gesetzgebung. Die Delegation des
Parlamentarischen Rates bat daraufhin um eine Verhandlungspause für interne Beratungen. Anschließend
schlugen die deutschen Politiker vor, in den Punkt 3. des späteren Artikels 72 GG zusätzlich die
„Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ aufzunehmen. Die Militärgouverneure willigten
schließlich ein, obwohl hiermit die Gesetzgebungsmöglichkeiten des Bundes noch erweitert wurden.
Der Abgeordnete Walter Strauß (CDU) erklärte später zur Entstehungsgeschichte von Art. 72, man habe
diese Bestimmung während der letzten Besprechung mit den Militärgouverneuren „im kleinen Kreise“
formuliert und sei sich einig gewesen, „dass das Verfassungsgericht lediglich den Missbrauch des
Ermessens des Bundesgesetzgebers prüfen könne, nicht aber die Bedürfnisfrage als eine Ermessensfrage,
zu deren Entscheidung ausschließlich der Bundestag und der Bundesrat berufen sind.“. Alle diese
Überlegungen hätten unter dem Eindruck gestanden: „Hier wird uns von den Besatzungsmächten etwas
aufgezwungen, das wir höherer Gesichtspunkte wegen irgendwie ertragen, dem wir aber jede für uns
unangenehme Wendung soweit wie möglich nehmen müssen“.
In ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 machten die Militärgouverneure
erneut ihren Vorbehalt gegenüber der konkurrierenden Gesetzgebung geltend. Sie erklärten, in Zukunft
den Passus des Art. 72 über die Rechts- und Wirtschaftseinheit im Sinne einer englischen Formulierung
461
PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 457 sowie Menzel (SPD) vor der Königsteiner Ministerpräsidentenkonferenz
am 24.3.1949 (AVBD 5/ 1, S. 300 f.)
161
auslegen zu wollen, die den Wortlaut hatte: „because the maintenance of legal or economic unity
demands it in order to promote the economic interests of the Federation or to ensure reasonable equality
of economic opportunity to all persons“. Dieser Vorbehalt hätte nach Konstituierung der Bundesrepublik
durch ein Veto der Alliierten Hohen Kommission wirksam werden können. Ein derartiger Einspruch
wurde jedoch in den folgenden Monaten nicht geltend gemacht, und im Jahre 1951 bestätigte das
Bundesverfassungsgericht, dass die Frage des Bedarfs für eine einheitliche Regelung im Bereich der
konkurrierenden Gesetzgebung nicht justitiabel und allein vom Bundestag zu entscheiden sei462. Der
Verlauf dieser Diskussion ist als Beispiel dafür anzusehen, wie gering die Einflussmöglichkeiten der drei
Westalliierten auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates waren, wenn in der betreffenden Sache auf
deutscher Seite Übereinstimmung bestand.
7. Verwaltung und Finanzen
Umstrittener als die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes war die Aufteilung der
Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. Die auf den ersten Blick trockene Materie ist bei
der Darstellung der Diskussionen im Parlamentarischen Rat unter zwei Gesichtspunkten von Bedeutung:
Da sich umfangreiche Gesetzgebungskompetenzen des Bundes angesichts der Nachkriegssituation als
unvermeidlich erwiesen, versuchten die Vertreter der konstitutionellen Demokratiekonzeption, durch
erweiterte Verwaltungskompetenzen der Länder ein Gegengewicht aufzubauen. Der zweite Aspekt ist die
Haltung der Besatzungsmächte: Sie erhoben Einspruch gegen die Verwaltungsregelungen des
Grundgesetzentwurfs. In der Frage der Finanzverwaltung kam es daraufhin zu einem heftigen Konflikt
zwischen den deutschen Politikern und den Militärgouverneuren. Diese waren bei der Gesetzgebung und
bei der Steuerverteilung zu Kompromissen bereit, wollten aber auf eine zwischen Bund und Ländern
geteilte Finanzverwaltung nicht verzichten.
In ihren Grundsatzreferaten zu Beginn der Grundgesetzberatungen sprachen sich die Abgeordneten Adolf
Süsterhenn (CDU) und Josef Schwalber (CSU) bereits dafür aus, den beim Bund konzentrierten
Gesetzgebungskompetenzen weitreichende Verwaltungskompetenzen der Länder gegenüberzustellen. Die
Länder sollten nach den Worten Süsterhenns im Bundesstaat die Funktion von „Machtfaktoren“ haben und zwar nicht so sehr aufgrund der ihnen verbliebenen Gesetzgebungskompetenzen, sondern als
„vorwiegende Träger der Verwaltung“. Schwalber, der dem Plenum über die Probleme der
Zuständigkeitsabgrenzung Bericht erstattete, befasste sich eingehender mit den Details: Seine Kritik galt
vor allem dem Art. 14 der Weimarer Reichsverfassung. Reichsgesetze waren demnach zwar grundsätzlich
von den Landesbehörden auszuführen; Ausnahmen von dieser Regel konnten jedoch nach dem Wortlaut
dieses Artikels bereits durch ein einfaches Reichsgesetz erfolgen463.
Mit Hilfe dieser Bestimmung hatte man zur Zeit der Weimarer Republik in zunehmendem Maße
reichseigene Verwaltungen errichtet und damit eine Entwicklung eingeleitet, die nach der Darstellung
Willibalt Apelts im Verhältnis zwischen Reich und Ländern zu weitaus stärkeren Spannungen führte als
die Ausweitung der Reichsgesetzgebung. Dies galt insbesondere für die Reichsfinanzverwaltung, die der
damalige Finanzminister Erzberger 1919 unter Berufung auf den Art. 14 WRV geschaffen hatte.
Schwalber forderte deshalb im Parlamentarischen Rat, Ausnahmen von der allgemeinen Zuständigkeit der
Länder für die Ausführung der Bundesgesetze dürften künftig nur noch aufgrund der Verfassung, nicht
jedoch durch einfaches Gesetz möglich sein. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass das „föderale
Gleichgewicht“ verloren gehe. Die Aushöhlung der Landeszuständigkeiten und das „Abgleiten vom
462
Vgl. die Diskussionsbeiträge von W. Strauß in: Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, Frankfurt a. M. 1950,
S.119 und 176; PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 513 und Bd. 8, S. 132 f., 252-256, 275 f. sowie K. Hesse: Der
unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962, S. 15
463
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 46 ff. und 89 ff.; G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches. . . .S.
109 ff..
162
bundesstaatlichen Prinzip“ sei in diesem Punkt nur durch eine Revision der Weimarer Regelung zu
vermeiden.
Der Herrenchiemsee-Konvent hatte dieser Forderung bereits Rechnung getragen, als er im Art. 42 seines
Entwurfs festlegte, die Ausführung von Bundesgesetzen sei „eigene Angelegenheit“ der Länder, soweit
das Grundgesetz nicht anders bestimme. Dieser Satz wurde im bewussten Gegensatz zur Weimarer
Verfassung formuliert und als Art. 83 im wesentlichen unverändert in das Grundgesetz übernommen. Er
ist gewissermaßen als ein Rückgriff auf die alte Reichsverfassung anzusehen. Die Bismarck´sche
Verfassung von 1871 war ebenfalls von der umfassenden Verwaltungszuständigkeit der Länder ausgegangen und hatte mit Art. 4 für den Bereich der Vorranggesetzgebung dem Reich lediglich das Recht der
„Beaufsichtigung“ übertragen.
Im Parlamentarischen Rat stimmte man grundsätzlich überein, die verwaltungsmäßige Ausführung der
Bundesgesetze den Ländern zu übertragen. Umstritten war allerdings zwischen den Fraktionen, in
welchem Ausmaß der Bund die Durchführung seiner Gesetze überwachen und das Verwaltungsverfahren
mitbestimmen sollte. Von den drei im Grundgesetz vorgesehenen Verwaltungsverfahren für
Bundesgesetze stand die Ausführung durch die Länder „als deren eigene Angelegenheit“ im Mittelpunkt
der Diskussion. Diese Variante wurde vom Parlamentarischen Rat als Normalfall betrachtet und später in
Art. 84 des Grundgesetzes ausführlich geregelt. Vor allem die süddeutschen Föderalisten waren hierbei
bemüht, die Verwaltungsautonomie der Länder vor ständigen Eingriffen der Zentrale zu schützen. Die
Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie dagegen wollten verhindern, dass die Gesetzgebung des
Bundes durch Verwaltungsmängel oder gar durch Obstruktion in ihrer Wirkung beeinträchtigt wurde.
Aufgrund dieser Überlegungen beantragte zum Beispiel Walter Menzel (SPD) in der zweiten Lesung des
Hauptausschusses, aus der Fassung des Entwurfs: „Die Bundesregierung übt die Aufsicht über die
gesetzmäßige Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder aus“, das Wort „gesetzmäßig“ zu
streichen, um auf diese Weise das Aufsichtsrecht des Bundes zu erweitern. Vertreter der CDU/CSU
widersprachen mit dem Hinweis, falls die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten durchführen,
komme nur eine Prüfung der Rechtmäßigkeit in Frage. Schließlich einigte man sich, statt „gesetzmäßig“
die Formulierung „dem geltenden Recht gemäß“ aufzunehmen, welche sich nach Auffassung des
Ausschusses nicht nur auf Gesetze, sondern auch auf die vom Bund erlassenen allgemeinen
Verwaltungsvorschriften bezog. Zu diesem Zeitpunkt hatte man jedoch bereits die Bestimmung in den
Entwurf des späteren Art. 84 GG aufgenommen, zum Erlass all- gemeiner Verwaltungsvorschriften sei
die Zustimmung des Bundesrates erforderlich464.
Umstritten war weiterhin, unter welchen Voraussetzungen die Bundesregierung berechtigt sein sollte,
über den Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften und über ihr Inspektionsrecht hinaus den
Landesbehörden Einzelanweisungen zu erteilen. Ein Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses
vom Dezember 1948 billigte der Bundesregierung aufgrund des Grundgesetzes (und nicht erst aufgrund
eines Gesetzes) ein generelles Weisungsrecht für wichtige Bereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik
zu465. Die sozialdemokratische Fraktion begründete diesen Vorschlag zunächst mit dem Hinweis auf die
Nachkriegssituation und die positiven Erfahrungen mit den Zentralämtern der britischen Zone. Aus den
Ausführungen Menzels vor dem Hauptausschuss geht allerdings hervor, dass diesem Weisungsrecht auch
im Rahmen einer zukünftigen „Gesamtlenkung, die nichts mit Zwangswirtschaft zu tun hat“, große
464
W. Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung...S. 148 ff.; PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 85 f. und 95 ff.
sowie Bd. 2, S. 562 und 587 f.; PR-Hauptausschuss, 35. Sitzung vom 12. Januar 1949.
465
PR-Drucksache Nr. 374 vom 16.12.1948 und PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 274. Diese Regelung bezog sich
u.a. auf Fragen des Währungssystems, auf die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen, das Wirtschaftsund Arbeitsrecht einschließlich der Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht sowie auf die Sicherung der
Ernährung.
163
Bedeutung zukommen sollte. Auf dem Ernährungs- und Energiesektor war seiner Auffassung nach
ohne dieses Mittel kein planvoller Ausgleich zwischen den Ländern zu erreichen.
Von Seiten der CDU/CSU wurde dem Vorschlag des Redaktionsausschusses entgegengehalten, er öffne
den Weg zur „Durchführung des Einheitsstaates“ und löse die Eigenverwaltung der Länder auf (Wilhelm
Laforet). Nach ausführlichen Besprechungen fand man schließlich eine Lösung, welche unter bestimmten
Bedingungen zwar Einzelanweisungen zulässt, ihnen aber deutlich den Charakter einer
Ausnahmeregelung verleiht. Sie können nach Art. 84 Abs. 5 des Grundgesetzes nur aufgrund eines
Gesetzes erlassen werden, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Trotz dieser Einschränkungen
erklärten die Militärgouverneure in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949,
dieser Passus räume dem Bund „sehr weitgehende Befugnisse auf dem Gebiet der Verwaltung“ ein. Die
Hohen Kommissare würden daher seine Anwendung sorgfältig beachten, damit auf diesem Wege keine
übermäßige Machtkonzentration entstehe466.
Die Diskussionen über die unterschiedlichen Wege zur Ausführung der Bundesgesetze bildeten den
Hintergrund für die politische Auseinandersetzung in den Fragen der Finanzverwaltung. Die Verwaltung
der Finanzen unterscheidet sich in organisatorischer und verfassungstechnischer Hinsicht kaum von der
allgemeinen Verwaltungsproblematik. Sie hatte aber bei den Grundgesetzberatungen eine weitaus größere
politische Bedeutung. In der Finanzfrage war nämlich das Bestreben, ein Gleichgewicht im Bundesstaat
durch weitgehende Verwaltungskompetenzen der Länder zu sichern, besonders ausgeprägt. Eine Analyse
der Grundgesetzberatungen in diesem Bereich muss daher neben den vielfältigen Sachargumenten die
Frage der Machtverteilung zwischen Bund und Ländern beachten, obwohl dieser Zusammenhang in der
politischen Auseinandersetzung nicht immer offen zum Ausdruck kam.
Die für den deutschen Föderalismus typische Trennung zwischen Gesetzgebungs- und
Verwaltungskompetenzen ist auch für die Finanzverfassung bezeichnend: Nachdem sich der
Parlamentarische Rat verhältnismäßig schnell auf weitreichende Befugnisse des Bundes für die Zoll- und
Steuergesetzgebung geeinigt hatte, wurde die Verwaltung der Bundessteuern durch die Länder von einem
einflussreichen Teil seiner Mitglieder als Gegengewicht zu dieser Machtkonzentration betrachtet. Für die
Einrichtung einer Bundesfinanzverwaltung traten im Parlamentarischen Rat vor allem die Fraktionen der
SPD und FDP mit Unterstützung des Zentrums ein. Ihr Hauptargument lautete, im Bereich der Finanzen
sei eine für das gesamte Bundesgebiet gleichmäßige Verwaltungspraxis unbedingt notwendig. Diese
Gleichmäßigkeit könne durch die Landesverwaltungen aber auch dann nicht erreicht werden, wenn eine
weitgehende Koordinationsbereitschaft zwischen den Länderregierungen bestehe.
Hermann Höpker-Aschoff, der Finanzexperte der FDP-Fraktion, erklärte vor dem Plenum, die Gesetze
und Durchführungsverordnungen des Bundes reichten nicht aus, um eine einheitliche Steuerpraxis zu
gewährleisten. Sie müssten vielmehr ergänzt werden durch eine große Anzahl von
Ausführungsbestimmungen und Einzelanweisungen des Bundesfinanzministers. Außerdem sei für die
gleichmäßige Anwendung der Steuergesetze eine Beamtenschaft notwendig, die sich durch „gleichmäßige
Schulung, gleichmäßige Laufbahn- Richtlinien, gleichmäßige Fortbildung“ auszeichne. Otto Greve
unterstützte als Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion diese Argumentation. Er verwies auf die
Bedeutung einer einheitlichen Steuerpraxis für das Lohn- und Preisniveau sowie für die Standortwahl der
Betriebe. Nach seinen Worten ergab sich die Forderung nach einem einheitlichen Finanzwesen
einschließlich der damit verbundenen Verwaltungspraxis aus der Notwendigkeit gleicher
Lebensbedingungen für alle Bewohner des Bundesgebiets. Die Finanzen seine als Objekt der
„landsmannschaftlichen Brauchtumspflege“ ungeeignet.
Die Befürworter der Bundesfinanzverwaltung konnten sich außerdem bei ihrer Argumentation auf die
Verhältnisse in der britischen Besatzungszone berufen. Im Gegensatz zur amerikanischen und
466
Vgl. die Diskussion im PR-Organisationsausschuss, 13. Sitzung vom 13. Oktober 1948; PR Akten und Protokolle
Bd. 8, S. 274 sowie die Entstehungsgeschichte von Art. 84 GG in: JöR, N.F. Bd. 1, S. 626 ff.
164
französischen Zone wurde hier nach 1945 die alte Reichsfinanzverwaltung zunächst weitergeführt. Als
mit dem 1. April 1948 auch in der britischen Zone die Finanzverwaltung den Ländern übertragen wurde,
sah man sich nach der Darstellung Höpker-Aschoffs genötigt, die Finanzleitstelle in Hamburg als
Koordinierungsbüro weiterzuführen, um überhaupt eine einheitliche Verwaltungspraxis aufrecht erhalten
zu können. Das Vorbild Matthias Erzbergers trug sicher dazu bei, dass sich auch die Zentrumsfraktion im
Parlamentarischen Rat uneingeschränkt für eine Finanzverwaltung des Bundes aussprach. Helene Wessel
begründete diese Entscheidung vor dem Plenum mit dem Hinweis, man stehe vor der gleichen
Notsituation wie 1919. Der bevorstehende Lastenausgleich zum Beispiel verlange eine „gleichmäßige
Veranlagung der großen Vermögen“, die nicht den elf Landesverwaltungen vorbehalten bleiben könne467.
In den Diskussionen des Hauptausschusses, an denen auch Sachverständige der Landesregierungen
teilnahmen, wurden die Einwände gegen eine umfassende Verwaltung der Finanzen durch die Länder
weiter präzisiert: Der FDP-Abgeordnete Max Becker äußerte die Befürchtung, finanzkräftige Länder
könnten auf dem Verwaltungswege Vorteile gewähren und den Zuzug weiterer Betriebe erreichen. Da die
leistungsschwachen Länder zu derartigen Vergünstigungen nicht in der Lage seien, werde sich der
Abstand zwischen beiden zwangsläufig vergrößern. Im Parlamentarischen Rat war man allgemein der
Auffassung, es dürfe allein aus Kostengründen nur eine Finanzverwaltung geben. Dieser Grundsatz
veranlasste die Befürworter der Bundesfinanzverwaltung, für die Landessteuern eine umgekehrte
Auftragsverwaltung vorzuschlagen: Die Länder sollten den Bund mit der Verwaltung derjenigen Steuern
beauftragen, für die sie das Gesetzgebungsrecht besitzen.
Im Verlauf der Beratungen im Plenum und in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rates deuteten
beide Seiten Konzessionen an, um schließlich doch noch eine breite Mehrheit für die eigenen
Vorstellungen zu erreichen. Auf der einen Seite schlug die Fraktion der FDP vor, die Einführung der
Bundesfinanzverwaltung mit der Verfassungsbestimmung zu verbinden, dass die leitenden Beamten der
regionalen Dienststellen im Einvernehmen mit der Regierung des betreffenden Landes zu ernennen sind.
Außerdem sollten die Richter des Bundesfinanzhofes mit Zustimmung des Bundesrates berufen werden.
Andererseits räumten die Befürworter der Landesfinanzverwaltung der Zentrale weitgehende Kontrollund Weisungsrechte ein. Der Bund sollte Richtlinien für die Veranlagung, die Stundung sowie für den
Erlass von Steuern aufstellen. Er sollte nach diesen Vorschlägen eine einheitliche Ausbildung der
Finanzbeamten vorschreiben und bei der Ernennung der leitenden Beamten in den
Landesfinanzverwaltungen ein Mitspracherecht haben.
Eine Durchsicht der Protokolle bis zur ersten Lesung des Hauptausschusses hinterlässt den Eindruck, das
die in der Debatte vorgetragenen Argumente sich gegenseitig aufheben. Angesichts des von ihnen bereits
zugestandenen Bundeseinflusses auf die Durchführung bleibt weitgehend offen, weshalb die Vertreter der
Länderinteressen nach wie vor unter keinen Umständen auf die Landesverwaltung der Bundessteuern
verzichten wollten. Die gleiche Überlegung gilt in umgekehrter Richtung: Der Vorteil der
Bundesfinanzverwaltung schien nicht mehr evident, wenn der Bund in dieser Sache auch gegenüber den
Landesverwaltungen über weitgehende Richtlinienkompetenzen verfügen sollte. Verschiedentlich finden
sich aber Hinweise, dass für die Haltung der Fraktionen auch unausgesprochene Gründe maßgebend
waren. So erwähnte z. B. der CDU-Abgeordnete Paul Binder, es sprächen zwar viele Gesichtspunkte für
eine einheitliche Finanzverwaltung, auf der anderen Seite werde damit jedoch „in einem sehr erheblichen
Umfang auch eine politische Frage“ angesprochen468.
Diese „politische Frage“ konnte - nach dem Verlauf der Beratungen zu urteilen - nur die Frage des
Bundeszwanges sein. Falls ein Land die aus der Verfassung und den Reichsgesetzen sich ergebenden
467
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 254 f. , 260 f. und 277 sowie Höpker-Aschoff in: PR- Schriftlicher Bericht. . . .
S. 51 ff.
468
PR-Hauptausschuß, 13. und 14. Sitzung vom 1. und 2. Dezember 1948; PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 264
und Bd. 2, S. 608
165
Verpflichtungen nicht erfüllte, stand es nach der Weimarer Verfassung im Ermessen des
Reichspräsidenten, „mit Hilfe der bewaffneten Macht“ gegen dieses Land vorzugehen. Bereits damals hat
man in der Staatsrechtslehre die Auffassung vertreten, die militärische Intervention sei zwar als das
stärkste, nicht jedoch als das einzige Mittel der sogenannten Reichsexekution anzusehen. Auch die
Einstellung von Zahlungen, die das Reich dem Lande schuldet, wurde als Zwangsmittel anerkannt. Diese
Möglichkeit gewann bei den Verfassungsüberlegungen der Jahre 1947/48 an Bedeutung, weil ein der
Reichswehr vergleichbares Instrument nicht zur Verfügung stand. Der Herrenchiemsee-Konvent erklärt
dementsprechend in seinem Bericht zum Thema „Bundeszwang“, der Bund sei einstweilen waffenlos und
müsse gegebenenfalls auf die Polizeikräfte der Länder zurückgreifen.
Der Gedanke des finanziellen Bundeszwanges wurde in der Nachkriegsdiskussion vor allem von dem
SPD-Politiker Walter Menzel vertreten. Menzel erklärte bereits bei der Diskussion des Zonenbeirats der
britischen Zone über die zukünftige deutsche Verfassung, die Gesetzgebungsbefugnis des Bundesstaates
allein genüge nicht, wenn keine wirksamen Machtmittel dahinter ständen. Mit der Finanzhoheit erhalte
die Zentrale ein „ausgezeichnetes und wirksames Mittel“ für die Durchsetzung der Bundesexekutive.
Hierzu müsse jedoch die Verwaltung der Finanzen in den Händen des Bundes bleiben, weil man nur mit
ihrer Hilfe eine „Finanzsperre“ gegen einzelne Länder durchführen könne. Im SPD-Entwurf für ein
Grundgesetz vom 2. September 1948, dem sogenannten zweiten Menzel-Entwurf, wird dementsprechend
die Einbehaltung der Finanzzuweisungen ausdrücklich als Form des Bundeszwangs erwähnt469.
Vor dem Plenum des Parlamentarischen Rates wiederholte Menzel seine Überlegungen: Die Frage der
Finanzverwaltung schien ihm von grundsätzlicher Bedeutung für die Architektur des Bundesstaates zu
sein. Der Bund könne nicht zusammengehalten werden, indem man die Länder allein durch die Urteile
des Verfassungsgerichts zur Bundestreue anhalte. In jeder Föderation der Welt gebe es vielmehr die
Klammer des Bundeszwangs und es habe wenig Sinn, ein „Ländergebilde“ aufzubauen, bei dem nicht von
vornherein klar sei, wie dieser Bundeszwang notfalls durchgeführt wird. Der völlige oder teilweise
Überweisungsstopp sei hierzu das „solideste Mittel“. In einer Fraktionssitzung der sozialdemokratischen
Mitglieder des Parlamentarischen Rates vom 30. September wurde diese Auffassung noch einmal
bekräftigt: Man war sich einig, dass der Bundeszwang zur Zeit nur auf dem Wege der „Finanzsanktion“
möglich sei470.
Obwohl der Zusammenhang zwischen Finanzverwaltung und Bundeszwang in den Ausschüssen des
Parlamentarischen Rates hinter die Sachargumente zurücktrat, liegt hier der politisch entscheidende
Unterschied zwischen der Bundes- und der Landesverwaltung begründet. Dieser grundsätzliche
Unterschied blieb auch bei allen Modifikationen und Kompromissen bestehen, die im Verlauf der
Beratungen für beide Lösungsmöglichkeiten diskutiert wurden. In der Aussprache des Plenums über
Finanzfragen bezog der Hans-Christoph Seebohm (DP) die Gegenposition zu den Argumenten Menzels:
Mit der Einführung einer bundeseigenen Finanzverwaltung habe der Bund die Möglichkeit, „die Länder
an die Kette zu legen“. Wer bei seinen Verfassungsüberlegungen vom Gedanken des Bundeszwanges
ausgehe, dokumentiere deshalb nur, dass er den bundesstaatlichen Aufbau im Grunde ablehne471.
Sowohl der Finanz- als auch der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates beschlossen gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der Deutschen partei, für alle Bundessteuern eine Finanzverwaltung des
Bundes einzurichten. Unter „Bundessteuern“ verstand man hierbei alle der Bundesgesetzgebung
unterliegenden Steuern, auch wenn diese ganz oder teilweise in die Kasse der Länder fließen sollten. Den
469
G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches...S. 275; Zonenbeirat der britischen Zone, 17. Plenarsitzung
vom 24. November 1947 sowie der Text bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen... S. 289.
470
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 87 f.;
Schmid 1162 - AdsD)
471
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 272
Bericht des Genossen Walter Menzel vom 1. Oktober 1948" ( NL C.
166
Ländern stand es nach dieser Regelung frei, die Verwaltung der Landessteuern an die
Bundesfinanzverwaltung zu übertragen. Der süddeutsche Flügel der CDU/CSU war unschlüssig, ob er im
Plenum des Parlamentarischen Rates gegen diese Bundesfinanzverwaltung stimmen sollte. Man war sich
bewusst, dass SPD und FDP in diesem Fall vom „großen Kompromiss“ des Fünferausschusses abrücken
könnten. Vielleicht hatte man auch Hintergedanken: Adolf Süsterhenn (CDU) wies vor dem
Hauptausschuss und in der CDU/CSU-Fraktion mehrfach auf das alliierte Memorandum vom 22.
November 1948 hin. Dieses Memorandum enthielt unter d) die ziemlich eindeutige Richtlinie, dass der
Bund zwar Rahmengesetze zu Steuern erlassen könne, die er selbst nicht benötige. Das Einziehen
(collection) und die Nutzung der Steuern müsse in diesem Fall aber den einzelnen Ländern überlassen
bleiben.
Für die norddeutschen CDU-Abgeordneten war die Organisation der Finanzverwaltung offenbar keine
Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Konrad Adenauer bezeichnete vor dem Zonenausschuss der CDU
Ende Februar 1949 den Streit um die Finanzverwaltung als eine Frage, die außerhalb des
Parlamentarischen Rats nur Kopfschütteln hervorrufe. Ihm selbst sei die Sache „ich will nicht sagen
schnuppe, aber im großen und ganzen egal“. Als die Diskussion in der gleichen Sitzung erneut auf die
Finanzverwaltung kam, erklärte er unwirsch, man wolle offenbar das Grundgesetz wegen der „blöden
Finanzverwaltung“ scheitern lassen, und fügte hinzu: „Ich höre seit Monaten von allen Seiten immer nur
Finanzverwaltung, Finanzverwaltung, dass einem die ganze Finanzverwaltung bald am Halse
heraushängt“472.
Mit ihrem Memorandum vom 2. März 1949 legten die Militärgouverneure gegen die vom Hauptausschuss
in dritter Lesung beschlossene Bundesfinanzverwaltung ihr Veto ein. Sie schlugen statt dessen eine
Neufassung des späteren Art. 108 GG vor, die sich an dem Grundsatz orientierte, dass der Bund nur
Steuern einnehmen darf, die er auch selbst benötigt. Landessteuern und gemeinsame Steuern sollten von
den Landesbehörden verwaltet werden. Mit ihrem Vorschlag, der Bund solle den für Bundeszwecke
bestimmten Teil der Einkommenssteuer selbst verwalten und die Länder den anderen Teil, trieben sie das
Prinzip der Aufteilung auf die Spitze. Die Intervention der Besatzungsmächte lief auf eine Aufteilung der
Finanzverwaltung hinaus und damit auf eine Lösung, die ursprünglich alle Fraktionen abgelehnt hatten.
Aus mehreren Gesprächen von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates mit den alliierten
Verbindungsoffizieren geht hervor, dass zumindest in der Schlussphase der Grundgesetzberatungen die
Möglichkeit des Bundeszwanges auch bei den Besatzungsmächten das entscheidende Motiv für die Ablehnung einer umfassenden Bundesfinanzverwaltung war 473.
Im Parlamentarischen Rat kam es daraufhin zu einer Reihe von interfraktionellen Gesprächen. Der
Fünferausschuss wurde zum Siebenerausschuss erweitert. Er tagte in wechselnder Besetzung und bestand
aus je zwei Vertretern der CDU/CSU (in der Regel die Theophil Kaufmann und Heinrich v. Brentano,
aber auch Robert Lehr und Paul Binder) und SPD ( Walter Menzel, Carlo Schmid, bzw. Rudolf Katz und
Georg August Zinn) sowie je einem Vertreter der FDP (Hermann Schäfer oder Hermann HöpkerAschoff), der DP (Hans-Christoph Seebohm) und des Zentrums (Johannes Brockmann oder Helene
Wessel). Möglicherweise hat dieser Ausschuss den Gegenvorschlag der Besatzungsmächte zur
Finanzverwaltung ungenau interpretiert, denn er ging bei seiner Bestandsaufnahme davon aus, die
gemeinsamen Steuern (concurrent taxes) sollten nicht nur der Gesetzgebung, sondern auch der
Verwaltung des Bundes unterliegen. Man blieb jedenfalls nach der Beratung mit den Finanzexperten der
Militärregierung bei der ursprünglichen Position und schlug erneut eine Bundesfinanzverwaltung für alle
Steuern vor, die der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes unterstehen. Die
Militärgouverneure lehnten erwartungsgemäß ab, und der Parlamentarische Rat musste sich auf eine
472
PR-Hauptausschuss, 41. Sitzung vom 15. 1. 1949; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 377 ff.; Konrad
Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone. . . S. 809 und 824; W. Renzsch: Finanzverfassung und
Finanzausgleich, Bonn 1991, S. 60 ff. sowie JöR N. F., Bd. 1, S. 790-806
473
PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 173 und 237 f.
167
geteilte Finanzverwaltung einstellen, wenn er nicht das Grundgesetz insgesamt scheitern lassen wollte.
Nachdem die SPD bei den Beratungen des Finanzausschusses am 7. April ihren Antrag auf
Bundesfinanzverwaltung zurückgezogen hatte, legte der Allgemeine Redaktionsausschuss am 2. Mai
einen Entwurf zur geteilten Finanzverwaltung vor, der bis auf redaktionelle Änderungen als Art. 108 in
die Endfassung des Grundgesetzes aufgenommen wurde474.
Insgesamt kann man die Verwaltungszuständigkeiten nach dem Grundgesetz als Gegengewicht zu den
ausführlichen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes bezeichnen. Der Parlamentarische Rat kam hier zu
Lösungen, die dem konstitutionell-demokratischen Verfassungskonzept entsprechen. Der Bundesrat
erhielt ein weitgehendes Mitspracherecht bei der Ausführung der Bundesgesetze, während in der
verfassungspolitisch wichtigen Frage der Finanzverwaltung die Besatzungsmächte durch ihre Intervention
die Zuständigkeit der Länder für die ihnen allein oder teilweise zukommenden Steuern durchsetzten. Der
konstitutionell - demokratische Charakter dieser Verfassungsbestimmungen wird durch die politische
Praxis in der Bundesrepublik bestätigt, denn der Bundesrat konnte durch sein Mitspracherecht in
Verwaltungsangelegenheiten auch das Gesetzgebungsverfahren selbst beeinflussen. Die Länderkammer
hat nach dem Grundgesetz nicht nur eine bürokratische, sondern auch eine politische Funktion. Ihre
Aufgabe besteht darin, die Verordnungen oder Gesetze des Bundes auf ihre Durchführbarkeit zu prüfen
und hierbei die Verwaltungserfahrung der Länder zur Geltung zu bringen. Diese Form der Kontrolle
kommt nach dem deutschen Modell des Bundesstaates den Länderinteressen entgegen. Sie institutionalisiert ihr Mitwirkungsrecht in einem Bereich, der ihnen aufgrund der Verfassung als
eigentliches Aufgabengebiet zugewiesen wird.
VII. Der Verfassungskompromiss des Grundgesetzes
1. Parteitaktik und Demokratievorstellungen
Bei den Verfassungsberatungen in den Ländern standen die beteiligten Politiker vor einer vergleichsweise
offenen Situation. Sie konnten noch nicht erkennen, wie das Dach über diesen territorialen Einheiten
beschaffen sein würde, deren Existenz zum Teil auf die willkürliche Zonenaufteilung der
Besatzungsmächte zurückging. Die verfassungsberatenden Versammlungen sahen sich daher veranlasst,
ihre Entwürfe mit dem Blick auf die bald erhoffte Bundes- oder Reichsverfassung zu formulieren. Hierbei
spielte auch die Überlegung mit, den späteren Reichsverfassungsgeber in dem einen oder anderen Punkt
an die Grundsätze der Landesverfassungen zu binden und seine Entscheidung zu präjudizieren. Die frühen
Landesverfassungen der Jahre 1946 und 1947 sollten paradigmatische Bedeutung für zukünftige
Bundesverfassung haben. Sie sollten außerdem stellvertretend für die gesamtdeutsche Verfassung den
demokratischen Wiederaufbau dokumentieren, der in Westdeutschland trotz Besatzungspolitik und
politischer Dezentralisierung stattfand. Für die drängenden Probleme der Wirtschafts- und
Ernährungspolitik hatten die Verfassungsberatungen keine Bedeutung, denn die Entscheidungen in
diesem Bereich lagen bei den Besatzungsmächten mit ihren weisungsgebundenen deutschen
Verwaltungen und später beim Zweizonen-Wirtschaftsrat.
Mit der Überreichung der Frankfurter Dokumente stellte sich die Verfassungsfrage für die westdeutschen
Politiker sehr viel konkreter: Eine westdeutsche Regierung sollte eingerichtet werden und innerhalb der
von den Besatzungsmächten gezogenen Grenzen eigene Verantwortung übernehmen. Eine
gesamtdeutsche Lösung schien zu dieser Zeit angesichts der sich zuspitzenden Lage Westberlins ferner
denn je. Die deutschen Parteien waren inzwischen auf Verfassungsberatungen besser vorbereitet. Sie
474
PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 524, Bd. 8, S. 210-213 und Bd. 11, S. 111; PR-Hauptausschuss, 55. Sitzung
vom 6. 4. 1949
168
hatten Verfassungsausschüsse eingerichtet und Entwürfe formuliert, die auch für eine rein
westdeutsche Lösung zu verwenden waren. Hier liegen die Gründe dafür, dass die beiden Konzeptionen
der „konstitutionellen Demokratie“ und der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ bei den Beratungen zum
Grundgesetz noch deutlicher zum Ausdruck kamen als in den Verfassungsdiskussionen der Jahre 1946/47.
Andererseits war man im Parlamentarischen Rat bemüht, eine möglichst breite Zustimmung der
Fraktionen zum Grundgesetz zu erreichen. Der Parteivorstand der SPD sprach z.B. Ende Oktober 1948
die Erwartung aus, dass die beiden großen Fraktionen in Bonn zu einem „gemeinsamen Beschluss“
kommen. Er verband dies mit der Hoffnung, bis Ende November könnten die Grundgesetzberatungen
abgeschlossen werden. Konrad Adenauer begründete die Notwendigkeit des Kompromisses auf andere
Weise: Auf einer Tagung der CDU/CSU-Führungsgremien und der Fraktion des Parlamentarischen Rates
in Königswinter im Januar 1949 argumentierte er, bei einer Ablehnung des Grundgesetzes könnten
möglicherweise „die CDU/CSU und die KPD dagegen sein und alle anderen Parteien dafür“. Dies würde
wiederum die „Perspektiven für die erste Wahl zum Bundestag“ sehr ungünstig beeinflussen. Da man die
Ablehnung des Grundgesetzes durch die beiden KPD-Abgeordneten voraussetzte, galt diese Überlegung
auch für die SPD und die anderen im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteien475. In diesem
Zusammenhang war das von den Besatzungsmächten festgelegte Verfahren bei der Ratifizierung des
Grundgesetzes zu beachten. Die Vorschrift, dass zwei Drittel der Länder zustimmen müssen, räumte den
beiden großen Parteien SPD und CDU/CSU die Möglichkeit ein, im Konfliktfall das Grundgesetz
scheitern zu lassen.
Der Wunsch nach einem breiten Fundament für die westdeutsche Verfassung kam auch in dem Bemühen
zum Ausdruck, die Zustimmung der CSU und Bayerns zum Grundgesetz zu erreichen. In einem
Positionspapier der liberalen Landesverbände vom Juni 1948 hieß es bereits, man müsse eine „staatliche
Form“ finden, in die sich auch Bayern „freiwillig und ohne Zwang einfügt“. Die entsprechenden
Versuche der norddeutschen CDU-Politiker werden in der Studie von Karl-Ulrich Gelberg ausführlich
beschrieben. Mit Adenauers „Canossa – Gang“ nach München am 8. November 1948 und der Teilnahme
des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard an der bereits erwähnten Königswinterer Tagung der
CDU/CSU schien ein positives Votum aus Bayern in Sicht zu sein. Weniger bekannt sind die
Bemühungen der sozialdemokratischen Fraktion, die Zustimmung der Bayern zum „großen Kompromiss“
des Fünferausschusses zu erreichen. Bei den Sozialdemokraten engagierte sich vor allem Walter Menzel
als „ehrlicher Makler“. Er war bereit, in einzelnen Punkten Konzessionen zu machen unter der
Vorraussetzung, dass die Bundesfinanzverwaltung verwirklicht wird476.
Bei allen Fraktionen spielte die Außenpolitik des Parlamentarischen Rates eine große Rolle: Seine
Mitglieder mussten nicht nur die Situation West - Berlins berücksichtigen, dessen Landverbindungen nach
Westen in der gesamten Zeit der Grundgesetzberatungen blockiert waren. Hinzu kamen das
Besatzungsstatut, dessen Inhalt man noch nicht kannte, und vor allem der Gedanke an die Genehmigung
des Grundgesetzes durch die drei westlichen Besatzungsmächte. Der zuletzt genannte Gesichtspunkt war
vor allem für die SPD relevant, denn die Sozialdemokraten vertraten von Anfang an die Linie, die
Begleitkommentare der Militärregierungen zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates zu ignorieren.
Nach ihrer Vorstellung sollten sich die Deutschen zunächst untereinander einigen und den
Besatzungsmächten einen festgezurrten Grundgesetzentwurf übergeben, den diese dann wohl oder übel
akzeptieren müssten.
475
Kommuniqué zur Vorstandssitzung vom 10./11.12.1948 (PV Protokolle 1948 - AdsD); Die
Unionsparteien 1946-1950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU Deutschlands und der
Konferenzen der Landesvorsitzenden, bearb. von B. Kaff, Düsseldorf 1991, .S. 257
476
Rundschreiben von Theodor Heuss und Ernst Mayer vom 20.6.1948 ( ADL NL Dehler N 53-189); K.U. Gelberg: Hans Ehard. Die föderalistische Politik des bayerischen Ministerpräsidenten 1946-1954,
Düsseldorf 1992, S.219 ff. und 237 ff.; Menzel an Ollenhauer und Heine vom 5.2.1949 (NL Carlo
Schmid 1162 - AdsD).
169
Taktische Überlegungen und politische Manöver im Parlamentarischen Rat bezogen sich in erster Linie
auf das Zusammenspiel zwischen den drei Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP. Hierfür war nicht
zuletzt die zahlenmäßige Zusammensetzung des Rates maßgebend: Da sowohl SPD als auch CDU/CSU
mit 27 stimmberechtigten Abgeordneten vertreten waren, erhielten die fünf Abgeordneten der FDP eine
Schlüsselposition. Mit ihrer Unterstützung und einer weiteren Stimme aus den Reihen der kleinen
Fraktionen (DP, Zentrum oder KPD) konnte jede der beiden großen Parteien im Plenum sowie im
Hauptausschuss die absolute Mehrheit erreichen. Diese rechnerischen Überlegungen haben allerdings für
den Verlauf der Verfassungsberatungen nicht die gleiche Bedeutung gehabt, wie in einem normalen
Gesetzgebungsparlament. Dr. Schäfer (FDP), der Vizepräsident des Parlamentarischen Rates, erklärte
bereits Anfang September 1948 einem britischen Verbindungsoffizier auf dessen besorgte Frage, die
FDP-Fraktion werde ihre Position nicht dazu nutzen, knappe Entscheidungen herbeizuführen477. Aus
Rücksicht auf eine möglichst breite Mehrheit bei der Schlussabstimmung bildete das Zusammengehen
einer der beiden großen Fraktionen mit der FDP in der Regel den Auftakt für einen erneuten
Kompromissversuch mit dem gleich starken Konkurrenten. Als Anknüpfungspunkt für taktische Manöver
im Parlamentarischen Rat erwiesen sich außerdem die Differenzen zwischen den norddeutschen und den
süddeutschen CDU/CSU - Verbänden. Die Auffassungsunterschiede innerhalb der Unionsfraktion
betrafen vor allem Verfassungsfragen, die mit der Föderalismusproblematik zusammenhingen. Zu festen
und dauerhaften Koalitionsbindungen ist es glücklicherweise im Parlamentarischen Rat nicht gekommen.
Sie hätten nur eine Belastung für das Grundgesetz bedeutet, weil hiermit ein größerer Teil der Meinungen
und Interessen von der Formulierung ausgeschlossen worden wäre.
In einer Reihe wichtiger Verfassungsfragen war die Zusammenarbeit der sozialdemokratischen Fraktion
mit den fünf Abgeordneten der FDP ausschlaggebend für die Endfassung des Grundgesetzes. Die
Kooperation zwischen diesen beiden politischen Richtungen ist vor allem deswegen überraschend, weil
die FDP im Frankfurter Wirtschaftsrat de facto eine Koalition mit der CDU/CSU eingegangen war,
während die SPD dort in einer teilweise selbstgewählten Oppositionsrolle verharrte. Die Zusammenarbeit
zwischen FDP und SPD schien außerdem den Ausgangspositionen der beiden Parteien zu Beginn der
Grundgesetzberatungen zu widersprechen: Die sozialdemokratischen Verfassungsentwürfe wurden seit
den „Richtlinien für den Aufbau der deutschen Republik“ aus dem Jahre 1947 von der
mehrheitsdemokratischen Zielsetzung bestimmt, dem unmittelbar gewählten Parlament möglichst
weitgehende Rechte einzuräumen. Beim Gesetzgebungsverfahren kam dies vor allem in der
Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern sowie in der starken Stellung des Reichstages (oder
der „Versammlung“) gegenüber den anderen Verfassungsorganen zum Ausdruck. Die FDP-Fraktion
dagegen vertrat zu Beginn der Grundgesetzberatungen gerade in den Fragen des Parlamentarismus eine
Position, die dem mehrheitsdemokratischen Konzept widersprach. Die Ausführungen Dr. Dehlers in der
einleitenden Grundsatzdebatte über die Zusammensetzung und die Kompetenzen der Länderkammer
waren vom Gedanken der Machtaufteilung bestimmt und folgten damit dem
konstitutionell-demokratischen Demokratieverständnis478.
Zur Annäherung zwischen den beiden Fraktionen trug vor allem der Diskussionsverlauf in der
Zweikammerfrage bei: Als sich herausstellte, dass ein „Halbsenat“ den Länderinteressen in der
CDU/CSU-Fraktion nicht weit genug entgegenkam, und schließlich im Hauptausschuss mit Unterstützung
der SPD das reine Bundesratsprinzip beschlossen wurde, sahen sich die Freien Demokraten zu einem
Positionswechsel veranlasst. Sie votierten zusammen mit den Sozialdemokraten gegen die
Gleichberechtigung beider Kammern im Gesetzgebungsverfahren und verzichteten damit in einem
wichtigen Punkt auf die Durchsetzung der konstitutionell-demokratischen Verfassungskonzeption. Nach
der Aufnahme des Bundesrates in den Entwurf bedeutete jede Kompetenzerweiterung der zweiten
Kammer gleichzeitig auch eine Verstärkung des Einflusses der Länderregierungen auf die Bundespolitik.
477
A. M. Birke: Großbritannien und der Parlamentarische Rat (VjZG 42, 1994, S. 313-359) S. 318
478
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 107 f. und S. 224-229
170
Dies veranlasste wiederum die FDP, in den beiden Fragen der Zustimmungsgesetze und des Vetorechts
des Bundesrats die sozialdemokratische Position einzunehmen.
Die Kooperation zwischen FDP und SPD fand ihre Fortsetzung bei den Beratungen über die
Gesetzgebungskompetenzen des Bundes. Hier schlossen sich die Liberalen den Vorstellungen der SPD
an, denen allerdings auch die Unionsfraktion zustimmte. Als ein weiterer Punkt der Übereinstimmung
zwischen den beiden Fraktionen ist die Frage der Finanzverfassung zu nennen, denn der FDPFinanzexperte Dr. Höpker-Aschoff war der einflussreichste Vertreter der Bundesfinanzverwaltung im
Parlamentarischen Rat. Er entwickelte bereits im Oktober 1948 vor dem Plenum für diesen umstrittenen
Bereich des Grundgesetzes eine Gesamtkonzeption, welche die zukünftigen Aufgaben des Bundes in
wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht berücksichtigte und vom Sprecher der SPD-Fraktion
uneingeschränkt unterstützt wurde479. Obwohl die Mehrheit der Unionsfraktion schließlich einer
Finanzverwaltung des Bundes zustimmte, kam der Gegensatz zwischen SPD, FDP und Zentrum auf der
einen Seite sowie CDU/CSU und DP auf der anderen Seite bei dieser Gelegenheit besonders deutlich zum
Ausdruck. Ähnliche Positionen ergaben sich im Verlauf der Beratungen über den Umfang des
Grundrechtsteils: Die Fraktionen der SPD und der FDP hielten an der informellen Absprache über die
Begrenzung des Katalogs fest, während CDU/ CSU, DP sowie das Zentrum eine Erweiterung in Richtung
auf die „Lebensordnungen“ anstrebten. Besonders eng war der Schulterschluss zwischen
Sozialdemokraten und Liberalen bei der „Entschärfung“ der Anträge zum sogenannten Elternrecht und
zur Fortgeltung des Reichskonkordats.
Am Beispiel der Grundrechtsdiskussion zeigte sich allerdings auch die Grenze der Kooperation zwischen
den beiden Fraktionen, denn zur Formulierung der Eigentumsbestimmungen (Art. 14 und 15 GG) haben
SPD und FDP bis zum Abschluss der Beratungen unterschiedliche Vorstellungen vertreten. Die
FDP-Abgeordneten im Grundsatzausschuss sprachen sich zum Beispiel gegen eine Begrenzung des
Eigentumsschutzes auf das der „persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum“
aus, wie sie von sozialdemokratischer Seite angestrebt wurde. Die FDP war außerdem bis in die
Schlussphase der Beratungen bestrebt, den Begriff der „angemessenen Entschädigung“ gegen das Votum
der sozialdemokratischen Fraktion im Grundgesetz zu verankern. Als dies nicht gelang, stimmte die
liberale Fraktion bei der zweiten Lesung des Plenums gegen die Art. 14 und 15 des Grundgesetzes. Nach
Abschluss der Beratungen bekräftigte die FDP auf ihrem Bremer Parteitag diese Haltung und erklärte, sie
werde sich „mit allen Mitteln“ dafür einsetzen, dass der Sozialisierungsartikel des
Grundgesetzes in der politischen Praxis nicht zur Anwendung komme480. Als kontrovers zwischen den
beiden Fraktionen der FDP und der SPD ist schließlich der gesamte Bereich der Judikative zu bezeichnen:
Die Sozialdemokraten waren bestrebt, die personalpolitische Einflussnahme des Parlaments auf die „dritte
Gewalt“ verfassungsmäßig festzulegen und hierdurch eine Gewaltenverschränkung von Legislative und
Judikative herzustellen. Dieser mehrheitsdemokratischen Zielsetzung trat die FDP-Fraktion mit der
Forderung entgegen, das Grundgesetz müsse die Eigenständigkeit der Rechtsprechung sichern und dürfe
keine „Politisierung“ der Justiz zulassen. Vor allem in den Fragen der Richterwahl und der Richteranklage
bestanden daher unterschiedliche Auffassungen zwischen den beiden Fraktionen.
479
Dr. Höpker-Aschoff (FDP) und Dr. Greve (SPD) im Plenum, PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.249263
480
Beschluss Nr. 10 des Bremer Parteitages vom 11./12. Juni 1949. Text bei O. K. Flechtheim (Hrsg.):
Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945, Bd. 11, S. 283 f.
171
Insgesamt zeichnet sich die Politik der FDP im Parlamentarischen Rat durch eine Revision des
konstitutionell-demokratischen Standpunktes aus: Zunächst vertraten ihre Sprecher die Vorstellung einer
auf Gegengewichten und ausgleichenden Einrichtungen beruhenden Demokratieform. Das Gesetz der
„Polarität“ wurde von ihnen auch für die moderne Demokratie als lebenswichtig bezeichnet und auf die
Ideen Montesquieus zurückgeführt. Ihr Gewaltenteilungsverständnis bezog sich allerdings vorwiegend auf
die horizontale Machtaufteilung und schloss die föderalistische Gliederung nicht ein. Da das angestrebte
System von „checks and balances“ auf Bundesebene eingerichtet werden sollte, ist die liberale Position im
Parlamentarischen Rat insofern als zentralistisch zu bezeichnen. Im Referat Dr. Dehlers auf der siebten
Plenarsitzung kommt außerdem der Wunsch zum Ausdruck, hinter die „jakobinische“ Verfassung der
Weimarer Demokratie zeitlich zurückzugehen auf die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Diese
verfassungsgeschichtlichen Überlegungen waren mit der deutlichen Absicht verbunden, den Umfang der
Gesetzgebungstätigkeit sowie der Staatstätigkeit insgesamt zu begrenzen.
Die liberale Fraktion stand dem modernen Leistungs- und Verteilungsstaat ursprünglich skeptisch
gegenüber und revidierte erst im weiteren Verlauf der Beratungen ihre Zielvorstellungen. Der
Auffassungswandel der FDP in grundlegenden Fragen des Staats- und Demokratieverständnisses ist nicht
zu übersehen, wenn man etwa die Ausführungen Dehlers zum Zweikammersystem vom Oktober 1948 mit
seiner Begründung des FDP-Antrags zur Einführung des Präsidialsystems vom Februar 1949 vergleicht.
An die Stelle des Rückgriffs auf die Großväter der liberalen Verfassungsbewegung aus den Jahren
1848/49 und vorher tritt der Hinweis, der Parlamentarische Rat habe eine Verfassung zu schaffen, „die
den Aufgaben unserer Zeit gemäß ist“. Dehler warnte schließlich sogar vor einer Verfassungsschöpfung
aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. Das damalige Verfassungsverständnis war nach seinen Worten der
„Zeit des Biedermeiers“ angemessen, als auch die „Verhältnisse behaglich“ waren. Die neu zu errichtende
Demokratie müsse jedoch den „gewaltigen Aufgaben des 20. Jahrhunderts gewachsen sein“, welche sich
aus den wirtschaftlichen Folgen zweier Weltkriege, aus der Flüchtlingsfrage und aus der Zerstörung des
gesellschaftlichen „Unterbaus“ ergeben hätten. Theodor Heuss erkannte diesen „Sachzwang“ bereits zu
Beginn der Grundgesetzberatungen. Die Verteilung der Kompetenzen im Bundesstaat, erklärte er Anfang
September 1948 im Plenum, sei „eigentlich nur eine philologische Spielerei“. Der zuständige Ausschuss
werde schnell zu der Einsicht kommen, dass die deutsche Not „der große Zentralisator des deutschen
Schicksals“ ist481.
Die unterschiedlichen Erklärungen der liberalen Politiker im Parlamentarischen Rat finden allerdings im
ambivalenten Staatsverständnis des Neoliberalismus eine Parallele: Der neuliberale Ideenkreis ist nach
1945 grundsätzlich dem Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie zuzurechnen, weil damals
für die maßgebenden Theoretiker dieser Richtung die Begrenzung oder Auflösung gesellschaftlicher und
staatlicher Machtkonzentration im Vordergrund stand. Ihre programmatischen Erklärungen zeichnen sich
dementsprechend durch eine deutliche Zurückhaltung gegenüber den staatlichen Gestaltungs- und
Planungsaufgaben aus. Neben dieser „antistaatlichen“ Tendenz vertraten neuliberale Autoren aber auch
die Auffassung, die Verwirklichung des Ordo-Gedankens erfordere einen starken Staat, der in der Lage
sei, die Bedingungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs zu garantieren und gegebenenfalls
wiederherzustellen. Die Ambivalenz der neuliberalen Staatsauffassung kommt etwa in den Arbeiten
Wilhelm Röpkes zum Ausdruck, der auf der einen Seite eine möglichst weitgehende Dezentralisation der
staatlichen Aufgaben und Funktionen fordert, auf der anderen Seite aber vor der „Zersplitterung“ der
staatlichen Souveränität und vor der „Anarchie des Pluralismus“ warnen zu müssen glaubte482.
Die Fraktion der CDU/CSU näherte sich im Verlauf der Grundgesetzberatungen ebenfalls in einigen
481
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 109 und 224; PR-Hauptausschuss, 49. Sitzung vom 9. Februar 1949
482
W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach/ Zürich 1942, S. 148 f., und E. E.
Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg 1962, S. 241 ff.
172
Punkten der mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption. Für die Endfassung des Grundgesetzes ist
vor allem ihre Zustimmung zu den erweiterten Gesetzgebungskompetenzen des Bundes von Bedeutung
gewesen. Im Bereich der Gesetzgebung verzichtete die CDU/CSU damit auf ein Gleichgewicht zwischen
Bund und Ländern, obwohl ihre Sprecher Dr. Süsterhenn und Dr. Schwalber in der Grundsatzdebatte des
Plenums auch die Aufteilung der legislativen Befugnisse als Bestandteil der vertikalen Gewaltenteilung
bezeichneten. Der umfangreiche Katalog des Grundgesetzes zur konkurrierenden Gesetzgebung, die in
Wirklichkeit als Vorranggesetzgebung des Bundes anzusehen ist, widersprach der föderalistischen
Variante der konstitutionellen Demokratie mit ihrer Forderung nach einem „doppelten Balancesystem“
(Schwalber) im Bundesstaat483.
Für eine Kompetenzaufteilung zugunsten der Länder hat sich der Parlamentarische Rat lediglich in
Verwaltungsangelegenheiten ausgesprochen. Auch auf diesem Sektor konnte sich jedoch die
CDU/CSU-Fraktion den staatlichen Aufgaben nicht ganz verschließen, denn nach interfraktionellen
Beratungen im Fünferausschuss erklärte sich der größte Teil der Fraktion bereit, einer einheitlichen
Bundesfinanzverwaltung zuzustimmen484. Der bevorstehende wirtschaftliche Wiederaufbau und die
sozialen Probleme der Nachkriegszeit veranlassten die CDU/CSU-Fraktion demnach, ähnlich wie die
Liberalen von ihrer ursprünglichen Linie abzuweichen. Unter dem Eindruck der vielfältigen Aufgaben in
Gesetzgebung und Verwaltung gewann die Lenkungs- und Gestaltungsfunktion des Staates auch für die
Vertreter ursprünglich entgegengesetzter Auffassungen an Bedeutung.
Die Sozialdemokraten profitierten im Parlamentarischen Rat davon, dass sich die wirtschaftlichen und
sozialen Probleme der Nachkriegszeit zugunsten ihrer Verfassungskonzeption auswirkten. Bei vielen
Interessengruppen (und offenbar auch in der Gesamtbevölkerung) bestand der Wusch nach einheitlichen
Regelungen für nahezu alle Lebensbereiche. Das Ziel der sozialdemokratischen Fraktion, umfassende
Gesetzgebungskompetenzen für den späteren Bundestag festzulegen, wurde dementsprechend im
Parlamentarischen Rat auch von anderen Fraktionen übernommen und gemeinsam gegenüber den
Besatzungsmächten durchgesetzt. Ihr zweites Hauptziel, ein „schlanker“ Grundrechtsteil, der die
zukünftige Gesetzgebung nicht durch ein „interfraktionelles Parteiprogramm“ (Theodor Heuss) und
dessen juristische Auslegung behindert, hat die SPD mit einigen Abstrichen erreicht. Die Anträge zum
Elternrecht und zum Konkordat wurden mit den Stimmen der FDP und der Stimme der KPD im
Hauptausschuss abgelehnt. Zu den Fragen des Eigentums einschließlich des „Gemeineigentums“ und des
öffentlichen Dienstes formulierte der Parlamentarische Rat zwar Gesetzgebungskompetenzen. Die
entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes unterliegen jedoch der richterlichen Auslegung.
Gleichzeitig wurden die Fragen der Organisation und des Personals der Judikative der zukünftigen
Parlamentsmehrheit überwiesen. Eine verbindliche Vorschrift von Richterwahl und Richteranklage für die
Landesjustiz war im Parlamentarischen Rat nicht durchzusetzen.
Im Bereich der „zweiten Kammer“ und des Föderalismus konnte die SPD ihr Konzept weitgehend
verwirklichen. Der Wechsel vom Senats- zum Bundesratsprinzip erwies sich als taktisches Meisterstück,
nachdem weitere glückliche Umstände hinzugekommen waren. Letzteres bezieht sich nicht nur auf den
Wegfall der Zweidrittel-Vorschrift für die Zurückweisung des Bundesratsvetos. Von größerem Gewicht
war die Einschränkung der Zustimmungsgesetzgebung als Ausgleich für die von den Besatzungsmächten
oktroyierte geteilte Finanzverwaltung. Die Bundesfinanzverwaltung und die hiermit verbundene
Möglichkeit des Bundeszwangs haben rückblickend offenbar doch nicht die entscheidende Bedeutung
gehabt, welche ihnen Walter Menzel unter dem Eindruck der Weimarer Republik und der
Ernährungsprobleme von 1946/47 zumaß. Da die Kompensation wertvoller war als der Verlust, wirkte
offenbar die List der sozialdemokratischen Vernunft durch das Medium der Militärgouverneure. Menzel
selbst äußerte in der Abschlussdiskussion des Parlamentarischen Rates allerdings die Befürchtung, die in
483
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 57 f. und S. 94 (Süsterhenn und Schwalber).
484
Vgl. die Abstimmung mit 18 Ja-Stimmen im PR-Hauptausschuss, 50. Sitzung vom 10. Februar 1949.
173
der Endfassung des Grundgesetzes noch enthaltenen Zustimmungsrechte des Bundesrats könnten die
„reibungslose Weiterentwicklung“ hemmen485.
Wenn man das Grundgesetz mit den zu Beginn des Parlamentarischen Rates erklärten Zielen vergleicht,
wird man trotzdem den sozialdemokratischen Verfassungsvorstellungen den größten Anteil zubilligen.
Das Grundgesetz entspricht deshalb in seiner vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Fassung
weitgehend der sozialen Mehrheitsdemokratie, die in erster Linie von der SPD vertreten wurde. Die
umfangreichen Gesetzgebungskompetenzen und der weitgehende Verzicht auf „Lebensordnungen“ im
Verfassungstext erweiterten den Spielraum des unmittelbar gewählten Parlaments. Die politischen
Entscheidungen seiner Mehrheit konnten den gesamten Bereich des wirtschaftlichen und sozialen Lebens
betreffen, wenn man vom Länderreservat der Kulturpolitik einmal absieht. Die Freiheit des einzelnen
sollte nach mehrheitsdemokratischer Auffassung nicht nur als Rechtsschutz, sondern auch durch die
bewusste Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse gesichert werden. Der sozialen
Mehrheitsdemokratie lag damit ein positiver Freiheitsbegriff zugrunde, welcher mit der „positive
freedom“ in der englischen politischen Theorie seit John Stuart Mill vergleichbar ist486.
Die wirtschafts- und sozialpolitische Programmatik aus dem Motivationsbereich der sozialen
Mehrheitsdemokratie fand allerdings keinen Eingang in das Grundgesetz. Die gemeinwirtschaftliche
Konzeption hatte, wie im ersten Kapitel ausführlicher erläutert wurde, einen ausgesprochen
experimentell-pragmatischen Charakter und unterschied sich aufgrund ihrer Flexibilität bewusst vom
Modell der „Staatswirtschaft“. Bereits auf Herrenchiemsee erschien es daher den Vertretern der sozialen
Mehrheitsdemokratie fraglich, ob das Wirtschaftssystem überhaupt in sinnvoller Weise verfassungsmäßig
festgelegt werden könne. Entsprechende Bestrebungen wären angesichts der Mehrheitsverhältnisse im
Parlamentarischen Rat auch kaum erfolgreich gewesen. Die unterschiedlichen Auffassungen bei der
Formulierung der Eigentumsartikel lassen erkennen, dass dieser Versuch zumindest zwischen den beiden
Fraktionen der FDP und der SPD zu starken Spannungen geführt und Rückwirkungen auf ihre
Zusammenarbeit in den Fragen des Staatsaufbaus gehabt hätte.
Die Problematik der sozialen Mehrheitsdemokratie lag nicht sosehr bei ihren inhaltlichen Zielen. Hier
bestand ein breites Band von Lösungsvorschlägen, die von Planungsmodellen bis zur Keynes´schen
Wirtschaftspolitik reichten. Kaum diskutiert wurde dagegen die Frage, ob das unmittelbar gewählte
Parlament auch die ihm zugedachte zentrale Position im modernen Leistungsstaat wahrnehmen könne.
Die soziale Mehrheitsdemokratie versuchte, die Erweiterung der Staatstätigkeit mit der Verstärkung des
politischen Gewichts der Volksvertretung zu verbinden, während sich in anderen Staaten bereits
abzeichnete, dass der politische Einfluss und die Funktionsfähigkeit des Parlaments gerade durch die
Vielfalt der sozialen Aufgaben in Frage gestellt werden. Nach der Darstellung von Andrew Shonfield war
zwar in der französischen planification eine weitgehende Mitsprache des Parlaments vorgesehen. Bei den
drei ersten Vierjahresplänen seit 1946 wurden die Parlamentarier jedoch übergangen487.
Der Machtverlust der Volksvertretung liegt zunächst in ihrer personellen Zusammensetzung begründet:
Durch die große Zahl und die Komplexität der wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen
Einzelprobleme sind die Parlamente sowohl hinsichtlich ihrer Gesetzgebungs- als auch ihrer
Kontrollaufgaben überfordert. Hiermit ist häufig ein Mangel an Informationen verbunden, und zwar an
Informationen, die nicht bereits unter einem bestimmten Interessengesichtspunkt selektiert sind. Da für
wichtige Bereiche der Politik ein sachlich fundierter Gesamtüberblick offenbar nur noch von Experten
485
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 523
486
G. H. Sabine: A History of Political Theory, London 1963, S. 715 und 735 ff.
487
A. Shonfield: Geplanter Kapitalismus. Wirtschaftspolitik in Westeuropa und USA, Köln 1968, S. 165
ff.
174
erstellt werden kann, ist die Delegation parlamentarischer Aufgaben an den jeweils zuständigen Kreis von
Fachleuten innerhalb und außerhalb des Parlaments naheliegend. Die hiermit verbundene
Bürokratisierungsproblematik wurde aber in der deutschen Diskussion nicht ausreichend berücksichtigt.
Hinzu kommt das Spannungsverhältnis zwischen dem Parlamentarismus und den längerfristigen
Planungen des Verteilungsstaates. Die Zusammensetzung der Parlamente sowie ihre notwendige
Offenheit gegenüber dem Interesseneinfluss neigen dazu, den Erfordernissen „rationaler“ Planung zu
widersprechen. Da das Modell der Mehrparteiendemokratie außerdem die Möglichkeit des
Regierungswechsels einschließt, muss gegebenenfalls mit einer Änderung oder Neuformulierung der
Planungsziele gerechnet werden.
Der Parlamentarismus ist dementsprechend seit etwa 1945 in allen westlichen Industriegesellschaften von
Tendenzen bedroht, die Maurice Duverger zusammenfassend als „Technodemokratie“ bezeichnet.
Kennzeichnend für diese Demokratieform ist nach Duverger, dass das Anwachsen der öffentlichen
Aufgaben im ökonomischen und sozialen Bereich nicht dem Parlamentseinfluss, sondern dem Einfluss
der Regierung sowie der „neuen Oligarchie“ zugute kommt, die sich aus Verwaltungsfachleuten,
Technikern und Wissenschaftlern rekrutiert488. Der Machtverlust des Parlaments ist nur bedingt auf das
zunehmende Gewicht der Exekutive gegenüber der Legislative im Sinne des klassischen
Gewaltenteilungsschemas zurückzuführen. Das Informations- und Spezialisierungsdefizit der
Parlamentarier trifft im parlamentarischen Regierungssystem teilweise auch für die Regierung zu, da die
Minister und Staatssekretäre hier in der Regel mit der Führungsgarnitur der Mehrheitsfraktionen identisch
sind. Für die Problematik des modernen Parlamentarismus ist daher in erster Linie der Gegensatz
zwischen bürokratischem Sachverstand und politischer Verantwortlichkeit ausschlaggebend. Dieser
Sachverstand bleibt nicht auf die Staatsbürokratie begrenzt; er steht den Parlamentariern auch auf Seiten
der Interessengruppen gegenüber und kann Eingang in das Parlament selbst finden. Karl Mannheim hat
diese Entwicklung bereits in den Kriegsjahren mit aller Deutlichkeit gesehen. Aus der Anschauung des
britischen Regierungssystems glaubte er damals jedoch die optimistische Folgerung ableiten zu können,
die politische Funktion des Parlaments bleibe auch in Zukunft bestehen, weil dem „educated layman“
weiterhin die Aufgaben des Katalysators und des Schiedsrichters zwischen den divergierenden
Auffassungen der Fachleute zukomme. Er schlug allerdings die Institutionalisierung eines
Expertengremiums vor, das - einem obersten Gerichtshof vergleichbar - über die Vereinbarkeit von
Gesetzen und Verordnungen mit der gesetzlich festgelegten Rahmenplanung entscheiden sollte489.
Diese Strukturprobleme des modernen Parlamentarismus fanden in der politischen Grundsatzdiskussion
nach 1945 kaum Beachtung. Bei den Verfassungsberatungen in Westdeutschland dachte man noch nicht
an die Konsequenzen, welche sich aus der Erweiterung der öffentlichen Aufgaben für die Stellung des
Parlaments im Verfassungssystem ergeben sollten. Die Vertreter der mehrheitsdemokratischen
Konzeption betrachteten die Parlamentsmehrheit und die Regierung als eine Einheit, deren
Funktionsfähigkeit allenfalls durch äußere Einflüsse bedroht schien. Das Verhältnis von Parlament und
Exekutive wurde in der Nachkriegsdiskussion vorwiegend unter verfassungstechnischen Gesichtspunkten
betrachtet. Als Vorlage für die Neuordnung dieses Verhältnisses dienten den Nachkriegspolitikern die
Erfahrungen der Weimarer Republik und nicht die Verfassungspraxis der westlichen Demokratien. Der
hier deutlich werdende Mangel an Problembewusstsein ist an erster Stelle auf die fehlende
parlamentarische Praxis zur Zeit des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zurückzuführen. Während
sich andere Parlamente bereits seit der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahren mit der
Planung und Lenkung nahezu aller Lebensbereiche befassten, verblieb dem nationalsozialistisch besetzten
Reichstag des „Großdeutschen Reiches“ lediglich die Pflicht der gelegentlichen Akklamation zu Hitlers
Kriegsplanung.
488
M. Duverger: Demokratie im technischen Zeitalter. Das Janusgesicht des Westens, München 1973,
insbes. S. 185 ff.
489
K. Mannheim: Freedom, Power and Democratic Planning, London 1950, S. 112 f.
175
Auch nach 1945 ergab sich in diesem Punkte zunächst keine grundlegende Änderung: Die frühe
Einrichtung von Länderparlamenten und der Aufbau von überregionalen Repräsentativorganen können
nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor Konstituierung der Bundesrepublik kein arbeitsfähiges
parlamentarisches Regierungssystem in Westdeutschland bestand. Aufgrund der weitreichenden
Befugnisse der Militärregierungen sowie der nachgeordneten Behörden waren die deutschen Politiker von
der unmittelbaren Verantwortung für den Bereich der Wirtschafts-, Ernährungs- und Sozialpolitik
weitgehend ausgeschlossen. Den Nachkriegsparlamentariern fehlte daher die praktische Erfahrung mit
den Problemen, die sich aus der Erweiterung der Staatsaufgaben für die Parlamentstätigkeit ergaben.
Trotz dieser Einschränkungen hat die mehrheitsdemokratische Konzeption einen maßgebenden Beitrag
zur Modernität des Grundgesetzes geleistet. Die Verfassung der Bundesrepublik konnte später durch verhältnismäßig geringe Änderungen im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten und der Finanzverfassung den sich wandelnden Lebensbedingungen angepasst werden.
Eine zusammenfassende Beurteilung des Einflusses der konstitutionellen Demokratie auf das Grundgesetz
wird zunächst auf ihre Zielsetzung zurückgreifen, eine allgemeine Begrenzung der öffentlichen Aufgaben
und der Staatstätigkeit zu erreichen. Dieser Programmpunkt wurde in den Nachkriegsjahren vor allem von
der neuliberalen und christlich-sozialen Publizistik vertreten. Der konstitutionellen Demokratie, wie man
sie in den Jahren 1946/47 formulierte, entsprach ein auf wenige Aufgaben beschränkter und
gesellschaftspolitisch neutraler Staat. Er sollte als Rahmen dienen für eine weitgehend sich selbst regelnde
Gesellschaft, die entweder nach dem Prinzip der liberalistischen Marktordnung oder auf der Grundlage
der Lebens- und Leistungsgemeinschaften im Sinne des Subsidiaritätsgedankens strukturiert war. Bei den
Verfassungsberatungen in den Ländern spielten diese Vorstellungen noch eine Rolle; spätestens auf
Herrenchiemsee zeigte sich jedoch, dass sie die zukünftige Bundesverfassung kaum beeinflussen würden.
Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates haben schließlich auch die Vertreter der
konstitutionellen Demokratiekonzeption die Idee der begrenzten Staatstätigkeit zugunsten
sozialstaatlicher Vorstellungen aufgegeben.
Gegen den Freiheitsbegriff des Konstitutionalismus wird häufig der Einwand erhoben, er laufe auf die
Abwesenheit von Regierungseinfluss hinaus und vernachlässige die wirtschaftlichen und sozialen
Bedingungen für die freie Entfaltung des Bürgers. Die konstitutionelle Demokratie kann in diesem Punkt
als eine konservative Demokratieform bezeichnet werden, welche in ihrer ursprünglich vertretenen
Fassung den Anforderungen des modernen Leistungsstaats nicht entsprach. Diese Kritik wird jedoch
durch den Verlauf der Grundgesetzberatungen kaum bestätigt. Die Begrenzung der Staats- und
Regierungstätigkeit war im Parlamentarischen Rat nicht mehr das maßgebende Motiv der
konstitutionell-demokratischen Konzeption. An erster Stelle stand vielmehr der Gedanke der
Machtaufteilung mit Hilfe von „checks and balances“ im Verfassungssystem. Die Vertreter der
„konstitutionellen Demokratie“ waren bei den Grundgesetzberatungen bestrebt, trotz ihrer Zustimmung zu
umfassenden Staatsaufgaben das machtverteilende Prinzip in der Verfassung zu verankern. Diese
Zielsetzung bildet die Grundlage für das Verständnis der Auseinandersetzungen über die Länderkammer
und ihre Rechte, über Verwaltungskompetenzen des Bundes sowie über die Besetzung und die Stellung
der Gerichte. Montesquieu wurde von den Vertretern der konstitutionellen Demokratieauffassung
mehrfach zitiert, aber sehr frei interpretiert. Der Autor des „Esprit des lois“ wollte z. B. die
Rechtsprechung an Volksrichter oder Standesrichter übertragen, die nur für einen kurzen Zeitraum
ernannt werden. Die konstitutionell-demokratische Argumentation forderte dagegen den beamteten
Richter ohne Richterwahl und Richteranklage. Die Judikative war im Rahmen dieser
Demokratiekonzeption keineswegs „en quelque façon nul“490.
Montesquieu versuchte, die sozialen Kräfte seiner Zeit in sein nach englischem Vorbild errichtetes
Verfassungsmodell einzubauen. Er sprach sich deshalb für die Monarchie und für die Einrichtung einer
490
Montesquieu: Esprit des lois, XI, 6.
176
Adelskammer neben der Volkskammer aus. Hieran könnte man die Frage anschließen, ob auch die
Vertreter der konstitutionellen Demokratie den Einfluss gesellschaftlicher Faktoren im Grundgesetz
absichern wollten. Im Bereich der Judikative beabsichtigten sie offenbar die Restauration einer insgesamt
stark kompromittierten Richterschaft. Der FDP - Abgeordnete Dr. Dehler wandte sich nicht nur im
Parlamentarischen Rat gegen die Einflussnahme der Parlamente auf Personalentscheidungen in der Justiz,
sondern befand sich als Generalstaatsanwalt, Anklagevertreter im Entnazifizierungsverfahren und als
Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg seit 1946 in der gleichen Frage im Dauerkonflikt mit der
amerikanischen Besatzungsmacht491.
Die Diskussion über die Zusammensetzung der Länderkammer hatte ebenfalls einen sozialen
Hintergrund. Die Anhänger eines Senats, zu denen anfangs auch Carlo Schmid gehörte, hofften, dass
besonders qualifizierte Politiker in diese Kammer gewählt würden. Die Motive der Bundesrats-Anhänger
dagegen wurden bei dem bereits erwähnten Besuch Adenauers in München am 8. November 1948
deutlich ausgesprochen: Der bayerische Ministerpräsident Ehard erklärte nach dem Bericht Adenauers,
den „Geheimnissen“ der zukünftigen Bundesregierung komme weder der einzelne Senator noch das
einzelne Mitglied des Bundesrats auf die Spur. Hierzu sei nur die Länderbürokratie in der Lage492. Die
politische Absicht der Befürworter der Bundesratslösung war demnach die Kontrolle des zentralen
Regierungsapparats durch die Länderbürokratien. Offenbar hielten sie die „checks and balances“
zwischen Verwaltungen für besonders wirksam.
Die Auseinandersetzung im Parlamentarischen Rat über das Vetorecht des Bundesrates und den Umfang
der Zustimmungsgesetzgebung deuten in die gleiche Richtung: Die Landesregierungen strebten in erster
Linie die Mitwirkung bei Bundesratsentscheidungen an. Durch die Konstruktion des Bundesrates bilden
die Länder ein wichtiges Element der horizontalen Gewaltenteilung, d. h. der Gewaltenteilung auf
Bundesebene. Eigenständige Landeskompetenzen spielten im Parlamentarischen Rat nur eine
untergeordnete Rolle. Nach dem Grundgesetz besteht die vertikale Gewaltenteilung zwischen Bund und
Ländern vorwiegend auf dem Verwaltungssektor, denn das Gesetzgebungsrecht der Länder blieb auf drei
politisch relevante Bereiche begrenzt: auf kulturelle Angelegenheiten sowie Fragen des Polizei- und
Kommunalrechts.
Die horizontale Gewaltenteilung auf Bundesebene wurde nach der Verabschiedung des Grundgesetzes
weiter ausgebaut: Die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts als Gegengewicht zur
Parlamentsmehrheit und zu anderen Staatsorganen kam z.B. im Parlamentarischen Rat kaum zur Sprache:
Da alle Fraktionen bis auf die KPD nach den Weimarer Erfahrungen von der Notwendigkeit der
Verfassungsgerichtsbarkeit überzeugt waren, richtete sich ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die
Zusammensetzung des Gerichtshofs und seine Abgrenzung von der obersten Bundesgerichtsbarkeit.
Nachdem man sich hierbei auf den Kompromiss geeinigt hatte, die Ausgestaltung der
Verfassungsgerichtsbarkeit dem zukünftigen Gesetzgeber zu überlassen, bestand im Parlamentarischen
Rat kein unmittelbares Interesse mehr daran, die Stellung des Gerichts im Gewaltenteilungssystem in die
Grundsatzdiskussion einzubeziehen.
Das Bundesverfassungsgericht wurde deshalb erst 1951 durch den ersten Bundestag eingerichtet. Zur
personellen Besetzung des Gerichts standen sich bei der Vorbereitung des entsprechenden Gesetzes die
gleichen Positionen wie im Parlamentarischen Rat gegenüber: Die Regierungsparteien forderten für alle
Mitglieder die Befähigung zum Richteramt, während die sozialdemokratische Opposition der Ansicht
war, hierdurch werde der politische Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frage gestellt. Der
Sprecher der CDU/CSU im Rechtsausschuss, Dr. Kiesinger, befürwortete die überwiegende Rekrutierung
491
U. Wengst: Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 84-98.
492
Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, eingel. und bearb.
von R. Salzmann, Stuttgart 1981, S. 145; K.-U. Gelberg: Hans Ehard...S. 222.
177
der Verfassungsrichter aus der Beamtenschaft, weil damit ein gewisser Schutz vor dem Einfluss von
Interessengruppen verbunden sei. Die sozialdemokratische Fraktion erblickte hierin eine „Verbeamtung“
des Bundesverfassungsgerichts mit negativen Folgen. Als die SPD für die „anderen Mitglieder“ des
Gerichts eine Wahlperiode vorschlug, welche sich mit derjenigen des Bundestages deckte, kamen die
Differenzen noch deutlicher zum Ausdruck: Nach Ansicht der CDU/CSU-Fraktion war bei dieser
Regelung die Unabhängigkeit des Gerichts gefährdet, weil sich die nichtrichterlichen Mitglieder als
Exponenten des Parlaments betrachten würden. Das Verfassungsgericht könne auf diese Weise zu einem
Parlamentsausschuss werden, der die dort herrschenden Mehrheitsverhältnisse reproduziere493.
Obwohl die Vertreter der konstitutionell-demokratischen Vorstellungen aus der ersten Bundestagswahl als
Sieger hervorgingen, blieb demnach ihr Vorbehalt gegen den „Parlamentsabsolutismus“ bestehen. Der
Gegensatz zwischen den Konzeptionen der sozialen Mehrheitsdemokratie und der konstitutionellen
Demokratie war auch nach der Verabschiedung des Grundgesetzes noch politisch wirksam. Seit den
fünfziger Jahren entwickelte sich das Verfassungsgericht als ein machtvolles Gegengewicht zur
Parlamentsmehrheit im konstitutionell - demokratischen Sinne. Heinz Laufer führt in seiner Untersuchung
die einflussreiche Position dieser in Deutschland neuartigen Einrichtung auf die allgemeine Entwicklung
moderner Verfassungsstaaten sowie auf die historische Vorbelastung der deutschen Demokratie zurück.
Die „Massendemokratie“ könne auf diesen „Beständigkeitsfaktor“ nicht verzichten, und mit zunehmender
Staatstätigkeit erhalte die richterliche Garantie der Freiheitsrechte erhöhte Bedeutung. In Deutschland
würden diese Faktoren außerdem durch den Mangel an demokratischer Tradition und durch die Reaktion
auf das nationalsozialistische Herrschaftssystem ergänzt494.
2. Verbundföderalismus
Das politische Gewicht des Bundesrates nahm nach der Konstituierung der Bundesrepublik ebenfalls zu.
Durch eine Reihe von Grundgesetzänderungen erhielt der Bund zusätzliche Gesetzgebungskompetenzen,
die der Parlamentarische Rat noch nicht vorgesehen hatte und zum Teil auch nicht vorhersehen konnte.
Die Länder stimmten dieser Zentralisierung der politischen Entscheidungen unter der Bedingung zu, dass
entsprechende Gesetze nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen werden. Auf diese Weise erhöhte
sich der Anteil der Zustimmungsgesetze auf nahezu 60 %, während in der ersten Legislaturperiode des
Bundestages nur ca. 43 % der Gesetze zustimmungspflichtig waren. In der Verfassungspraxis der
Bundesrepublik haben die Verwaltungskompetenzen des Bundesrates dazu beigetragen, den Bereich der
Zustimmungsgesetze beträchtlich zu erweitern. Als „Einfallstor“ für den zunehmenden Einfluss der
zweiten Kammer auf die Gesetzgebung erwies sich vor allem Art. 84 Abs. 1 des Grundgesetzes: Falls
demnach ein Bundesgesetz gleichzeitig auch Bestimmungen über seine Ausführung durch die Länder
enthält, ist hierzu die Zustimmung des Bundesrates erforderlich.
Die Landesregierungen haben sich im Sinne der „Mitverantwortungstheorie“ auf den Standpunkt gestellt,
das Zustimmungsrecht der zweiten Kammer beziehe sich immer auf das gesamte Gesetz und nicht etwa
nur auf die Bestimmungen über die verwaltungsmäßige Durchführung. Der Bundesrat vertrat
dementsprechend auch die Auffassung, dass die Änderung eines zustimmungspflichtigen Gesetzes
ebenfalls seiner Zustimmung bedarf. Diese Auffassung wurde 1974 zwar vom Bundesverfassungsgericht
493
Vgl. die Darstellung bei H. Laufer: Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß. Studien zum
Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1968..S. 115 f.; D. P. Kommers:
Judicial Politics in West Germany, Beverly Hills 1976, S.78-82; D. Gosewinkel: Adolf Arndt. Die
Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie 1945-1961, Bonn 1991, S.
181 ff. sowie die Dokumentation: Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Gesetz über das
Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, bearb. von R. Schiffers, Düsseldorf 1984
494
H. Laufer: Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß...., S. 19 ff.
178
korrigiert. Aufgrund der engen Verbindung von Gesetzgebung und administrativer Durchführung nimmt
jedoch der politische Einfluss der Länderkammer zu. Der Bundesrat hat auf diesem Wege praktisch die
Gleichberechtigung im Gesetzgebungsverfahren zurückgewonnen und sich zu einer „echten zweiten
Kammer“ entwickelt. Er nimmt inzwischen im Verfassungssystem eine Position ein, welche über den
Schutz der Länderinteressen weit hinausreicht.
Die Verbindung zwischen den zunehmenden Zentralisierungstendenzen und dem Machtzuwachs der
Länderkammer erscheint auf den ersten Blick paradox, ist aber aufgrund der oben gegebenen Darstellung
bis in den Parlamentarischen Rat hinein zurückzuverfolgen Die Vertreter der konstitutionellen
Demokratie haben sich bei den Grundgesetzberatungen immer für die „politische Funktion“ der zweiten
Kammer ausgesprochen. Unter Berücksichtigung der im Parlamentarischen Rat vertretenen
Demokratiekonzeptionen bedeutet die Erweiterung der Zustimmungsgesetzgebung, ähnlich wie der
Aufbau der Verfassungsgerichtsbarkeit, eine Verschiebung des Grundgesetzkompromisses in Richtung
konstitutionelle Demokratie. Verstärkt wurden allerdings nur die „checks and balances“ auf Bundesebene,
d.h. die sogenannte horizontale Gewaltenteilung. Die Forderung nach der „Einheitlichkeit der
Lebensverhältnisse“ hatte zur Folge, dass die politischen Gestaltungsmöglichkeiten auf der Länderebene
weiter abnahmen495.
Der Kompromiss zwischen den beiden Demokratiekonzeptionen im Parlamentarischen Rat führte damit
zu einer Neuauflage des traditionellen deutschen „Verbundföderalismus“. Bei den Grundgesetzberatungen
war unbestritten, dass die Länder den größten Teil der Bundesgesetze ausführen, während der Bund für
den weitaus größten Teil der Gesetzgebung zuständig ist. Der deutsche Bundesstaat beruhte seit der
Reichsgründung Bismarcks auf dieser Arbeitsteilung und auf der hiermit verbundenen Kooperation
zwischen Bund (Reich) und Ländern. Die amerikanische Besatzungsmacht und insbesondere
Militärgouverneur Clay hatten aber offenbar den eigenen, sogenannten dualen Föderalismus vor Augen.
Dieser beruht auf der Trennung von Bundes- und Länderebene, so dass mit der
Gesetzgebungszuständigkeit auch die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit der gleichen Ebene zugeordnet
ist. Der US-amerikanische Bundesstaat beeinflusste auch die politikwissenschaftliche Modellbildung: Das
„föderative Prinzip“ bedeutet nach der Föderalismus-Interpretation von K. C. Wheare eine Methode der
Machtverteilung, der zufolge die Zentralinstanz und die Länder in einem jeweils abgegrenzten Bereich
gleichgeordnet und voneinander unabhängig bleiben496. Dieses Trennsystem zwischen Bund und Ländern
ist jedoch nicht die allein mögliche Form des Föderalismus, denn auch in der Schweiz werden die
Bundesgesetze größtenteils von den Kantonen ausgeführt. Die verwaltungsmäßige Durchführung von
Bundesgesetzen durch die Länder hat bisher in der Bundesrepublik kaum zu Problemen geführt. Selbst die
im Parlamentarischen Rat so heftig umstrittene geteilte Finanzverwaltung mit den Oberfinanzdirektionen
als Mittelinstanz funktioniert497.
Die Aufteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern nach dem Grundgesetz war schon
problematischer, weil der Parlamentarische Rat die wirtschaftliche Entwicklung und das zukünftige
Steueraufkommen noch nicht abschätzen konnte. Er legte deshalb nur eine vorläufige Steuerverteilung
zwischen Bund und Ländern fest. Die „endgültige Verteilung“ sollte bis Ende 1952 durch ein Gesetz mit
Zustimmung des Bundesrats geregelt werden. Beginnend mit dem „ersten Inanspruchnahmegesetz“ von
1951, durch das der Bund einen Teil der Einkommens- und Körperschaftssteuer erhielt, wurden jedoch
zahlreiche Verteilungsgesetze verabschiedet, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs endgültig
495
Zum gegenwärtigen Stand H. Laufer / U. Münch: Das föderative System der Bundesrepublik
Deutschland, Bonn 1997, S. 129 ff.
496
J. F. Golay: The Founding of the Federal Republic of Germany, Chicago 1958. S. 27 ff. und S. 44; K.
C. Wheare: Föderative Regierung, München 1959, S. 10 f., 16, 36 und 40
497
W. Renzsch: Finanzverfassung und Finanzausgleich, Bonn 1991, S.74
179
sind. Hinzu kamen mehrere Änderungen der Steuerverteilung im Grundgesetz (Art. 106 GG). Die
Einigung zwischen Bund und Ländern gelang in der Regel erst nach harten Verhandlungen. Walter
Menzels „Bundeszwang“ wurde hierbei mehrfach in abgeschwächter Form angewandt: Der erste
Bundesfinanzminister Schäffer (CSU) drohte z.B. 1951 mit der Stornierung von Bundeszuschüssen und
zog damit die „ärmeren“ Länder auf seine Seite498.
Ein weiterer Problembereich des Verbundföderalismus deutscher Prägung ist der Finanzausgleich
zwischen den Bundesländern. Der Parlamentarische Rat konnte nicht umhin, einen derartigen Ausgleich
vorzusehen, weil dieser angesichts der unterschiedlichen Belastung der Länder mit den Kriegsfolgen des
Zweiten Weltkriegs notwendig war. Schleswig-Holstein z.B., das eine besonders große Zahl von
Flüchtlingen aufgenommen hatte, wurde seit Oktober 1948 von den anderen Ländern der Bizone mit
monatlichen Krediten in Höhe von 6 bis 13 Millionen DM vor dem finanziellen Zusammenbruch bewahrt.
Dem Parlamentarischen Rat gelang es sogar, gegen den Willen der Militärgouverneure eine
vergleichsweise zentralistische Variante des Finanzausgleichs zwischen den Ländern durchzusetzen: Der
Bund konnte nach der verabschiedeten Fassung von Art. 106, Abs. 4 des Grundgesetzes per
Zustimmungsgesetz die den Ländern zufließenden Steuern abweichend vom örtlichen Aufkommen
verteilen. Die Besatzungsmächte hatten im Prinzip keine Einwände gegen den Finanzausgleich. Sie
befürworteten jedoch eine entsprechende Vereinbarung zwischen den Ländern ohne Mitwirkung des
Bundes. Vor allem der amerikanische Militärgouverneur Clay wandte sich dagegen, dass das „federal
government may transfer tax revenues from a prosperous state to a poor state“499.
Der aus der Not der Nachkriegsjahre geborene Finanzausgleich wurde in den folgenden Jahrzehnten mehr
und mehr perfektioniert. Gegenwärtig handelt es sich um drei Ausgleichssysteme (Länderfinanzausgleich,
Ergänzungszuweisungen des Bundes, Umsatzsteuerausgleich), die wegen ihrer Kompliziertheit in
Parlamenten und Medien kaum noch zu vermitteln sind. Der Ausgleich hebt die Finanzkraft der
finanzschwachen Länder auf 95 % des durchschnittlichen Niveaus. Er leistet damit einen maßgebenden
Beitrag zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ - wie es im aktuellen Text des Grundgesetzes
heißt. Andererseits werden jedoch die Eigenverantwortlichkeit der Länder und den Wettbewerb innerhalb
des föderalistischen Systems auf ein Mindestmaß reduziert500.
Als wichtigste Ursache für die spezifisch deutsche Form des Verbundföderalismus erweist sich damit die
Forderung nach einheitlichen Lebensverhältnissen. Im Parlamentarischen Rat kam dieser Zusammenhang
am Beispiel der Steuergesetzgebung besonders deutlich zum Ausdruck. Das vom HerrenchiemseeKonvent vorgesehene Zuschlagsrecht der Länder zur Einkommensteuer wurde, wie geschildert, im
Parlamentarischen Rat abgelehnt. Die Besatzungsmächte hatten hierzu andere Vorstellungen. Diese
grundsätzlichen Auffassungsunterschiede kamen z.B. in einem Gespräch Carlo Schmids mit dem bei der
Militärregierung tätigen amerikanischen Rechtsanwalt David S. Miller deutlich zum Ausdruck, das am 28.
Februar 1949 stattfand. Schmid erläuterte seinem amerikanischen Gast den Entwurf des
Parlamentarischen Rats zur Finanzverfassung. Miller entgegnete, als Rechtsanwalt in Colorado müsse er
Einkommensteuer sowohl an das Land als auch an den Bund zahlen. Weshalb dies in Deutschland nicht
möglich sei. Schmid schloss diese Variante, die auch im föderalistischen System der Schweiz praktiziert
wird, aus. Eine doppelte Besteuerung sei in Deutschland nicht tragbar501.
498
W. Renzsch a. a. O., S. 79 f.
499
PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 122 f. und 164 f.; J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General Lucius
D. Clay. Germany 1945-1949, Vol. II., Bloomington-London 1974, S. 1067.
500
H. Laufer/ U. Münch: Das föderative System...S. 167 ff.
501
Aufzeichnung C. Schmid vom 28. 2. 1949 (NL C. Schmid 1162 - AdsD)
180
Die Forderung nach einheitlicher Besteuerung war aus der Sicht der sozialen Mehrheitsdemokratie ein
folgerichtiger Standpunkt. Im Parlamentarischen Rat gab es aber Anzeichen dafür, dass die
Finanzexperten der FDP und der CDU/CSU diese Auffassung nur für die Nachkriegssituation gelten
lassen wollten. Dr. Höpker-Aschoff (FDP) erklärte bereits in der Aussprache des Plenums über
Finanzfragen im Oktober 1948, wenn die Steuerlast aufgrund einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung
in Zukunft gesenkt werde, hätten die Länder „eine größere Bewegungsfreiheit“. Sie könnten dann
Steuerzuschläge für sich oder ihre Gemeinden erheben. Der Finanzexperte der FDP wiederholte diese
Auffassung bei Gesprächen mit alliierten Finanzexperten nach der Intervention der Militärgouverneure im
März 1949. „Im Augenblick“ sei aber die Einführung eines neuen Steuersystems unmöglich, denn man
müsse „aus einem verarmten Volk ... eine Steuerlast von 14 Milliarden“ herausholen.
Ähnliche Überlegungen äußerte der Finanzexperte der CDU/CSU, Dr. Paul Binder, vor der
Unionsfraktion des Parlamentarischen Rates. Er sprach im September 1948 von den „heutigen
überspannten Steuergesetzen“ und meinte, bei „normalen Steuergesetzen“ könne man den Ländern ein
Zuschlagsrecht geben. Die CDU/CSU stellte in der zweiten Lesung des Hauptausschusses auch den
Antrag, einen Zuschlag der Länder zur Einkommenssteuer im Grundgesetz vorzusehen. Der Vorschlag
wurde jedoch mit 11 zu 9 Stimmen abgelehnt. Offenbar fanden die Unionsvertreter nur Unterstützung bei
Dr. Seebohm von der Deutschen Partei, während SPD, FDP und das Zentrum gegen das Zuschlagsrecht
stimmten502.
Obwohl die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik sich bereits in den fünfziger Jahren in einer
Weise verbesserte, die man zur Zeit der Grundgesetzberatungen nicht erwarten konnte, wurden die
Weichenstellungen des Parlamentarischen Rates beibehalten. Man verzichtete auf eine Begrenzung des
Finanzausgleichs und auf ein eigenständiges Besteuerungsrecht der Länder im Bereich der Einkommenund Körperschaftssteuer, obwohl die Länder diese Forderung bereits bei der Steuerreform von 1955
anmeldeten. Entsprechendes gilt für die Gesetzgebung: Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und
die Zustimmungspflicht des Bundesrates nahmen seit Gründung der Bundesrepublik zu. Die Zeiten
wirtschaftlicher Prosperität wurden nicht genutzt, um die Tendenz zur Vereinheitlichung rückgängig zu
machen und die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Länder zu erweitern.
Der „Verbundföderalismus“ der Bundesrepublik entwickelte sich auf diese Weise zum „unitarischen
Bundesstaat“, den Konrad Hesse im Jahre 1962 wie folgt charakterisierte: Wirtschaft, Technik und
Verkehr verlangen in modernen Gesellschaften großräumige Regelungen. Die Entwicklung zum
Sozialstaat drängt in die gleiche Richtung und erforderte angesichts der Folgen des Zweiten Weltkrieges
die Rechts- und Versorgungsgleichheit im gesamten Bundesgebiet. Hinzu kamen der zunehmende
Einfluss des Bundes auf die Verwaltungstätigkeit der Länder und die zunehmende Selbstkoordination der
Länder auf Gebieten, wo sie noch Entscheidungsbefugnisse besitzen. Das Hauptargument Hesses lautet,
hierbei handele es sich nicht um eine Zentralisierung, sondern um Unitarisierung. Zentralisierung läge
vor, wenn die Länder Einfluss und Zuständigkeiten an die Zentralregierung abgeben würden. Dies sei
aber nicht der Fall, weil die Landesregierungen über den Bundesrat ein Mitwirkungsrecht besitzen, das
seit der Entstehung der Bundesrepublik erheblich erweitert wurde. Der unitarische Bundesstaat zeichnet
sich deshalb durch die Teilhabe der Länder, bzw. ihrer Regierungen an der horizontalen Gewaltenteilung
aus. Zur Parlamentsmehrheit einschließlich ihrer Regierung, zur Opposition und zur rechtssprechenden
Gewalt trete der Bundesrat als eine weitere reale politische Kraft hinzu.
Aus diesem Modell lässt sich zunächst ableiten, dass die alte Vorstellung vom Föderalismus als
Integrationsprinzip unterschiedlicher territorialer Einheiten zumindest auf nationaler Ebene ihre
„geschichtswirksame Kraft“ verloren hat. Außerdem kommt Hesse zu dem Schluss, dass der unitarische
Bundesstaat durchaus auch Sozialstaat sein könne. An dieser Stelle wird bereits deutlich, wie weitgehend
502
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 249-277 sowie Bd. 8, S. 169; Die CDU/CSU im Parlamentarischen
Rat... S. 612; PR-Hauptausschuss, 41. Sitzung vom 15. 1. 1949.
181
die Überlegungen des Parlamentarischen Rates das Modell des unitarischen Bundesstaats vorwegnahmen.
Dies gilt auch für Hesses Feststellung, die „realen Kräfte“ im Bundesrat seien die „Landesministerialbürokratien“. Zumindest beim bayerischen Ministerpräsidenten Ehard und in der CSU lässt sich dies als
Grund für die Durchsetzung des Bundesrates nachweisen. Der unitarische Bundesstaat geht demnach auf
die im Grundgesetz enthaltenen konstitutionell-demokratischen Elemente zurück. Die horizontale
Gewaltenteilung wurde allerdings später durch erweiterte Mitspracherechte des Bundesrates und des
Bundesverfassungsgerichts verstärkt. Die These Hesses, dass sich unitarischer Bundesstaat und Demokratie „einander ergänzen, bedingen und stützen“ ist allerdings mit einem kleinen Fragezeichen zu
versehen. Die Unitarisierung geht zumindest auf Kosten der Länderparlamente. Nach den Worten eines
Kritikers des Verbundföderalismus besteht sogar die Gefahr, dass „sich der Demos in Staat, Land oder
Gemeinde in einem Netz von Verträgen verfängt, das er selbst fleißig mitgesponnen hat“503.
Der Parlamentarische Rat hat zu dieser Entwicklung seinen Teil beigetragen. Er hat aber auch Wege zu
einer verstärkten Eigenverantwortlichkeit der Länder aufgezeigt, die man nach Überwindung der
Nachkriegskrise hätte gehen können. Unter den Bedingungen des Wirtschaftswunders wurde jedoch
die einmal eingeschlagene Richtung nicht geändert. Die gleichwertigen Lebensverhältnisse blieben
weiterhin das oberste Ziel der Bundes- sowie der Landespolitik. Zwar werden in jüngster Zeit Stimmen
laut, die eine Umkehrung dieses Trends zugunsten größerer Gestaltungsmöglichkeiten der Länder fordern.
Ob entsprechende Schritte von der Wählerschaft akzeptiert würden, ist jedoch fraglich. Die
Folgeprobleme der deutschen Einigung sowie das vorläufige Ende der Einkommenssteigerungen und der
Vollbeschäftigung deuten eher in die entgegengesetzte Richtung.
Hesse berücksichtigt auch die Rolle der Parteien im unitarischen Bundesstaat. Da in den Ländern selbst
keine wesentlichen politischen Entscheidungen mehr getroffen werden , sind diese für die Parteien
vorwiegend unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die Bundespolitik von Interesse . Sie geben der
Opposition auf Bundesebene die Chance, in den Ländern Regierungspartei zu sein. Das Problem einer
Oppositionsmehrheit im Bundesrat hielt er jedoch nicht für gegeben, da zu dieser Zeit (1962) offenbar
„wirksame politische Opposition im Hafen einer Allparteienregierung ihr Ende gefunden“ hatte. Im
Parlamentarischen Rat wurde diese Frage aber durchaus diskutiert. Konrad Adenauer lehnte die
Einrichtung eines Bundesrats mehrfach mit dem Argument ab, dort drohe eine Mehrheit der SPD. Am 28.
Oktober 1948 rechnete er der Unionsfraktion vor, das „gentleman´s agreement“ zwischen dem SPDAbgeordneten Menzel und dem bayerischen Ministerpräsidenten Ehard werde zur Folge haben, dass die
SPD in einem Bundesrat über neun von 16 Stimmen verfügt. Einen Monat später erklärte er, auch bei
einer abgestuften Stimmenzahl der Länder müsse man mit einer Mehrheit der „sozialdemokratischen
Kabinette“ rechnen und fügte hinzu: „Das ist meiner Meinung nach der schwächste Punkt am Ganzen“504.
3. Das Votum für eine pluralistische, soziale und repräsentative Demokratie
Als Ausgangspunkt für eine systematische Interpretation des Grundgesetzes und der vom
Parlamentarischen Rat festgelegten Demokratieform bieten sich die Beratungen zur Grundrechtsproblematik an. Ihr Verlauf wurde von der ursprünglichen Vereinbarung der drei großen Fraktionen
bestimmt, den Umfang des Grundrechtsteils auf rechtswirksame Individualrechte zu begrenzen. Der
Parlamentarische Rat hatte allerdings bei seinen Beratungen, wie bereits erwähnt, in einigen Punkten
seine ursprüngliche Linie verlassen. Ungeachtet dieser Abweichungen von der ursprünglichen Absicht ist
jedoch der Verzicht des Verfassungsgebers auf programmatische Bestimmungen zur Sozial- und
503
K. Hesse: Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962, S. 12-34; G. Kisker: Kooperation im
Bundesstaat. Eine Untersuchung zum kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland,
Tübingen 1971, S. 117
504
K. Hesse, a.a.O., S. 13 und 29 f.; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S.93 f. und 189
182
Wirtschaftsordnung nicht zu übersehen. Das Grundgesetz enthält keine Abschnitte, die mit dem fünften
Abschnitt im zweiten Teil der Weimarer Reichsverfassung oder mit den entsprechenden Passagen der
Länderverfassungen nach 1945 vergleichbar sind. Auch der sogenannte Sozialisierungsartikel des
Grundgesetzes (Art. 15), welcher die Überführung in Gemeineigentum und andere Formen der
Gemeinwirtschaft zum Gegenstand hat, bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die
Entstehungsgeschichte zeigt vielmehr, dass er von seinen Befürwortern nicht als Programmsatz, sondern
vielmehr als eine in den Grundrechtsteil vorgezogene Zuständigkeitsermächtigung für den Gesetzgeber
verstanden wurde. Er ist damit von der Intention her mit den Gesetzgebungsvorbehalten zu vergleichen,
die das Grundgesetz z. B. in Art. 12 für die Freiheit der Berufsausübung und in Art. 14 für die
Inhaltsbestimmung des Eigentums ausspricht.
Für die Begrenzung des Grundrechtsteils und für den Verzicht des Parlamentarischen Rates auf eine
verfassungsmäßige Regelung der Wirtschafts- und Sozialordnung waren - wie die Darstellung im vierten
Abschnitt des sechsten Kapitels zeigt - mehrere Gesichtspunkte ausschlaggebend. Auf der einen Seite
spielten Koalitionsrücksichten der Fraktionen eine Rolle: Zumindest die Zusammenarbeit zwischen FDP
und SPD wäre empfindlich gestört worden, wenn man die wirtschaftspolitischen Grundsatzfragen im
Parlamentarischen Rat ausführlich diskutiert hätte. Hinzu kamen taktische und zeitliche Überlegungen,
die sich vor allem auf die Verhandlungsführung der sozialdemokratischen Fraktion auswirkten. Die SPD
drängte auf einen schnellen Abschluss der Grundgesetzberatungen, weil sie im Falle einer späten Bundestagswahl ihre Wahlchancen geringer einschätzte. Mit diesem Kalkül gewannen die Politik des
Zweizonenwirtschaftsrats, wo eine Koalition zwischen CDU/CSU und FDP bestand, sowie die positivere
Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung in weiten Kreisen der Bevölkerung ab Jahresbeginn 1949
Einfluss auf die Überlegungen des Parlamentarischen Rates.
Nicht zu unterschätzen für den Verlauf der Beratungen zum sozialpolitischen Gehalt des Grundgesetzes
sind drittens die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit und aus Hessen, weil sie zeigten, dass die
Programmsätze nur durch eine entsprechende Gesetzgebung zu verwirklichen sind. Außerdem können die
Bestimmungen eines um die „Lebensordnungen“ erweiterten Grundrechtsteils von der Rechtsprechung
sehr unterschiedlich und zum Teil im Widerspruch zu den Intentionen des Verfassungsgebers interpretiert
werden. Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn die sogenannten sozialen Grundrechte als
Kompromissformulierung zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen in die Verfassung
aufgenommen werden. Die nicht abzusehenden rechtlichen Konsequenzen veranlassten zum Beispiel die
sozialdemokratische Fraktion, die Streichung des Streikrechts aus dem Grundrechtsteil zu beantragen.
Hiermit wird die auf den ersten Blick paradoxe These Hartwichs bestätigt, die beiden großen Fraktionen
des Parlamentarischen Rates hätten auf eine verfassungsmäßige Festlegung der Sozial- und
Wirtschaftsordnung verzichtet, weil sie diesen Fragen eine besonders große Bedeutung zumaßen505. Als
vierte Begründung für die Begrenzung des Grundrechtsteils trat die Argumentation hinzu, man wolle eine
provisorische Verfassung schaffen und könne daher keine Festlegung der Sozialordnung vornehmen. Als
sich im weiteren Verlauf der Beratungen die Tendenz zur Vollverfassung immer deutlicher abzeichnete,
wurde diese Begründung mehr und mehr zum Diskussionsargument, dessen sich vor allem die Sprecher
der sozialdemokratischen Fraktion zur Unterstützung der anderen Motive bedienten.
Der Verzicht des Grundgesetzes auf ausführlichere Bestimmungen zur Sozial- und Wirtschaftsordnung
bedeutet eine Verstärkung des Parlamentseinflusses im Verfassungssystem. Bei den Beratungen von
1948/49 richteten sich alle Erwartungen, die man nach dem Weimarer Modell in die „sozialen
Grundrechte“ gesetzt hatte, auf die Entscheidungen der Legislative. Während die Länderverfassungen
noch ausführliche Programmsätze zur Wirtschafts-, Kultur- und Sozialpolitik enthalten, wurde nunmehr
der Gesetzgeber zum Alleinbeauftragten für die Gestaltung der Lebensordnungen und war hierbei kaum
noch an Festlegungen des Verfassungsgebers gebunden. Diese Entscheidung entspricht dem
verfassungspolitischen Konzept der sozialen Mehrheitsdemokratie, das im Parlamentarischen Rat in erster
505
H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln/ Opladen 1970, S. 50.
183
Linie von der sozialdemokratischen Fraktion vertreten wurde.
Die übrigen Fraktionen des Parlamentarischen Rates schlossen sich im Verlauf der Beratung dieser
Überlegung weitgehend an, obwohl sie andere Vorstellungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik vertraten.
Für die Gesamtinterpretation des Grundgesetzes ergibt sich aus der Beschränkung des Grundrechtsteils
die Schlussfolgerung, dass der Verfassungsgeber eine in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht
„offene“ Verfassung geschaffen hat. Lediglich die Zentrumsfraktion und die Deutsche Partei brachten ihre
abweichende Auffassung zum Ausdruck: Frau Wessel vertrat in der dritten Lesung des Plenums im
Namen ihrer Fraktion die Ansicht, auch die „sozialen Grundrechte“ hätten in das Grundgesetz
aufgenommen werden müssen. Sie begründete dies mit dem Hinweis auf das Naturrecht und fügte hinzu,
der Verzicht auf diese Rechte unterstreiche den vorläufigen Charakter des Grundgesetzes und die
Notwendigkeit seiner Ergänzung. Ein Grundgesetz ohne soziale Rechte könne „in keiner Weise den
Anspruch auf eine Verfassung“ erheben. Dr. Seebohm vermisste ebenfalls die „notwendigen
Bestimmungen über die soziale Ordnung“506.
Der Parlamentarische Rat überließ mit seinem Verzicht auf eine ausführlichere Berücksichtigung der
Sozial- und Wirtschaftsordnung die Gestaltung dieses Bereichs bewusst dem Prozess der
politisch-parlamentarischen Willensbildung. Der offene Charakter der Verfassung kommt im Grundgesetz
wesentlich deutlicher zum Ausdruck als etwa in der Weimarer Reichsverfassung mit ihren
Inhaltsbestimmungen zur Gesellschaftsordnung, die allerdings in der politischen Praxis wirkungslos
blieben. Hartwich spricht daher in seiner Untersuchung mit Recht vom „Offenheitspostulat“ des
Grundgesetzes507. Unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft kann „Offenheit“ jedoch
nur bedeuten, dass der nach den Regeln der Verfassung ermittelte Wille der Mehrheit über die
Ausprägung der Sozialordnung entscheidet. Mit der Akzentverschiebung vom Grundrechts- zum
Zuständigkeitsteil hat sich der Parlamentarische Rat bewusst für die pluralistische Demokratie
ausgesprochen. An die Stelle des vorgegebenen Gemeinwohls tritt der Konsensus, welcher aus den
unterschiedlichen Auffassungen und Interessen bei Wahlen mit Parteienkonkurrenz ermittelt wird. Auch
zur pluralistischen Demokratie gehört allerdings ein nicht-kontroverser Bereich von basic agreements, der
in erster Linie die individuellen Grundrechte sowie die verfassungsrechtlichen Verfahrensvorschriften
umfasst. Die Regeln des nichtumstrittenen Sektors können jedoch nicht so konkret sein, als dass von
ihnen die Lösung aktueller politischer Probleme unmittelbar abzuleiten wäre.
Die pluralistische Demokratie ist gleichzeitig als empirisch begründete Alternative zur sogenannten
„klassischen“ Demokratietheorie zu verstehen, die im kontinentaleuropäischen Denken dominiert und auf
die Lehre Rousseaus zurückgeführt wird. Diese Theorie beruht auf der Vorstellung einer homogenen
Gesellschaft, deren Übereinstimmung im Zugehörigkeitsgefühl der Mitglieder begründet ist. Die Thesen
vom vorgegebenen und alle Bürger einschließenden Gemeinwohl sowie von der Identität zwischen
Regierenden und Regierten sind daher als Grundsätze der klassischen Demokratietheorie zu bezeichnen.
Aus der Gegenüberstellung dieser beiden Demokratiekonzeptionen ergibt sich, dass ein um die
Sozialordnung erweiterter Grundrechtsteil dem Modell der klassischen Demokratie entspricht:
Ausführliche Verfassungsbestimmungen über die Lebensordnungen haben die Tendenz, den demokratischen Willensbildungsprozess in diesen Fragen vorwegzunehmen. Die „offene“ Verfassung würde durch
derartige Festlegungen zumindest teilweise zugunsten eines vorgegebenen Gemeinwohlverständnisses
begrenzt508.
506
PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 557 und 567
507
H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat... S. 50 ff.
508
Vgl. hierzu E. Fraenkel: Deutschland und die westliche Demokratien, Stuttgart 1968, S. 48 - 68; K.
Niclauß: Der Parlamentarische Rat und das Sozialstaatspostulat (PVS 15, 1974, S. 33-52)
184
Mit dem Pluralismus wird allerdings ein Begriff zur Kennzeichnung des Demokratiegründungsprozesses
nach 1945 eingeführt, der in der wissenschaftlichen Diskussion nicht unumstritten ist. Die
Pluralismuskritik „von rechts“ ist im traditionellen deutschen Staatsverständnis begründet. Der Staat
verkörpert demnach eine souveräne Instanz, welche den Gruppenkonflikten und dem gesellschaftlichen
Wandel entzogen ist. Diese Staatsidee hat den Zusammenbruch der Monarchie überlebt und blieb auch
nach 1918 politisch wirksam, obwohl die maßgebende Rolle von Parteien und Interessengruppen im
politischen Prozess nicht mehr zu übersehen war. Sie diente Carl Schmitt als Grundlage für seine Kritik
am Parteienstaat der Weimarer Republik und führte ihn schließlich zu der Forderung, die pluralistische
Willensbildung sei durch die „offene, von Staats wegen ergehende Entscheidung“ abzulösen509.
Während die rechte Kritik den Pluralismusgedanken mit Rücksicht auf übergeordnete Einheiten (Staat,
Volk, Nation) ablehnt, warf die „linke Kritik“ ihm in den sechziger Jahren eine falsche Darstellung der
gesellschaftlichen Situation vor. Aus marxistischer Sicht dient die Pluralismustheorie lediglich dazu, den
Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen den Produktionsmittelbesitzern und der großen Masse
der Bevölkerung zu verschleiern. Eine dritte Variante der Pluralismuskritik erscheint ideologisch weniger
festgelegt und kann deshalb mit einer breiteren Zustimmung rechnen. Sie versteht unter Pluralismus nicht
die gleichberechtigte und grundrechtlich geschützte Wirkungsmöglichkeit von Gruppen, sondern ein
gesellschaftliches Gleichgewichtssystem. Die wichtigsten Interessengruppen der modernen westlichen
Industriegesellschaften sind demnach voneinander unabhängig, weil keine Gruppe der anderen ihren
Willen aufzwingen kann. Dieses Pluralismusverständnis geht auf Gruppentheorien zurück, wie sie im
Anschluss an Arthur Bentley vor allem in den Vereinigten Staaten entwickelt wurden510.
Für die Gesamtbeurteilung des Grundgesetzes ist neben dem Grundrechtsteil, dessen Begrenzung die
„Offenheit“ der Verfassung zum Ausdruck bringt, der Zuständigkeitsteil von gleich großer Bedeutung.
Wie die Beratungen über die verhältnismäßig weit gefassten Kompetenzen des Bundesgesetzgebers
zeigen, haben alle Fraktionen des Parlamentarischen Rates die Erweiterung der öffentlichen Aufgaben
bewusst anerkannt. Die Autoren des Grundgesetzes sind damit über das Modell des liberalen
Rechtsstaates hinausgegangen, der auf der Hypothese einer sich selbst regelnden Gesellschaft beruht und
allenfalls bereit ist, zur Korrektur sozialer Notsituationen in den gesellschaftlichen Prozess einzugreifen.
Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Nachkriegszeit beeinflussten in diesem Punkt die
politischen Vorstellungen aller im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteien. Die inhaltliche
Bestimmung des Sozialen sollte allerdings nach den Intentionen des Parlamentarischen Rates dem
politischen Willensbildungsprozess vorbehalten bleiben, der den unterschiedlichen Interessen und Ideen
die Möglichkeit einräumt, auf die Gestaltung der Sozialordnung Einfluss zu nehmen.
Zu den beiden Elementen des Pluralismus und des Sozialen kommt als drittes Element der Verzicht des
Parlamentarischen Rates auf plebiszitäre Verfahrensweisen hinzu. Im zweiten Abschnitt des fünften
Kapitels (oben S....) wurde ausführlich geschildert, weshalb der Parlamentarische Rat auf Volksbegehren
und Volksentscheid verzichtete, wenn man von der Änderung der Ländergrenzen einmal absieht. Die
Erschwerung der Auflösung des Bundestages geht in die gleiche Richtung und ist im Vergleich zum
unbeschränkten Auflösungsrecht des britischen Premiers anti-plebiszitär. Insgesamt kann man deshalb das
Grundgesetz als eine Verfassung für eine pluralistische, soziale und repräsentative Demokratie
bezeichnen.
509
J. Fijalkowski: Die Wendung zum Führerstaat. Ideologische Komponenten in der politischen
Philosophie Carl Schmitts. Köln/ Opladen 1958, S. 87 ff. sowie F. Nuscheler/ W. Steffani (Hrsg.):
Pluralismus - Konzeptionen und Kontroversen, München 1972, S. 24 ff.
510
E. Fraenkel - K. Sontheimer - B. Crick: Beiträge zur Theorie und Kritik der pluralistischen Demokratie,
Bonn 1970, S. 25 ff.; R. Eisfeld: Der ideologische und soziale Stellenwert der Pluralismustheorie (
PVS 12, 1971, S. 332 - 366) sowie H. Pross: Zum Begriff der pluralistischen Gesellschaft, in: M.
Horkheimer (Hrsg.): Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt, 1963, S. 445
185
VIII. Grundgesetzberatungen und Bundestagswahl 1949
1. Parteien und Besatzungsmächte im Vorfeld der Bundestagswahl
Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für eine in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht
offene Verfassung erfolgte mit dem Blick auf die erste Bundestagswahl. Von dieser Wahlentscheidung
erwartete man eine Lösung der politischen Fragen, die sich nicht für eine Aufnahme in den
Verfassungstext eigneten oder die man mangels Einigung zurückgestellt hatte. Die bevorstehende Wahl
beeinflusste deshalb auch die Zeitplanung der Fraktionen des Parlamentarischen Rates. Vor allem die
beiden großen Fraktionen versuchten, den Ablauf der Grundgesetzberatungen so zu gestalten, dass der
erste Bundestag unter günstigen Bedingungen für die eigene Partei gewählt wurde. Die Sozialdemokraten
forderten von Anfang an einen schnellen Abschluss der Verfassungsberatungen und einen frühen
Wahltermin. Der Parteivorstand kritisierte in einer Presseerklärung vom 27. September 1948 den
langsamen Fortgang der Bonner Beratungen und äußerte den Verdacht, dass „manche Partei... den daraus
resultierenden Wahlen mit einiger Besorgnis entgegensieht“. Gemeint war hiermit die CDU/CSU. Walter
Menzel hatte bereits eine gute Woche vorher nach Hannover berichtet, die Union sei an einer
Verzögerung der Grundgesetzberatungen interessiert, damit Wahlen erst im Frühjahr 1949 stattfinden,
„wenn der Marshallplan seine Auswirkung zeigt“. Auf seiner Sitzung in Speyer Ende Oktober 1948
glaubte der Parteivorstand der SPD noch an einen Abschluss der Beratungen Ende November und an
Wahlen in der zweiten Märzhälfte des Jahres 1949511. Bei den sozialdemokratischen Kommentaren zur
Taktik der CDU/CSU handelte es sich keineswegs um Unterstellungen: Konrad Adenauer kam z. B. Ende
Oktober 1948 vor dem Zonenausschuss seiner Partei zu dem Schluss, es sei „parteipolitisch ...
angenehm“, wenn die Wahlen zum westdeutschen Parlament erst im späten Frühjahr stattfänden. Bis
dahin könne man hoffen, dass „in der Preisangelegenheit ein Ausgleich gefunden worden ist“ und „die
Zeiten wirtschaftlich ruhiger und besser geworden sind“. Die Sozialdemokraten dagegen seien bestrebt,
„dass die Wahlen noch bei einer labilen Wirtschaft stattfinden“512.
Ein wesentlicher Grund für die unterschiedliche Zeitplanung der beiden großen Fraktionen war demnach
die im Kapitel IV beschriebene Krise der Frankfurter Wirtschaftspolitik. Die SPD wollte hiervon bei der
ersten Bundestagswahl profitieren; die Union hoffte auf bessere Zeiten. Dementsprechend wurden auch
die bereits geschilderten kommunalen Wahlergebnisse bewertet, denn sie waren nach Adenauer „nichts
anderes als Vorspiel zu der großen Wahl für den Bundestag“. Adenauer begrüßte zwar den
Achtungserfolg der CDU in Schleswig-Holstein, musste aber einräumen, dass die Resultate in Nordrhein511
PV-Protokolle 1948 (AdsD) sowie Menzel an Ollenhauer vom 17.9.1948 (NL C. Schmid 1162 - AdsD)
512
Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 1946-1949, Bonn 1975, S.716 f.
186
Westfalen „nicht so gut ausgefallen“ seien. Im SPD-Parteivorstand dagegen war man mit dem Ergebnis an
Rhein und Ruhr zufrieden, weil die Sozialdemokraten in den Städten die Führung übernommen hätten. In
West-Berlin rechnete man nach einer Gallup-Umfrage bereits Ende Oktober mit einer SPD-Mehrheit von
60 Prozent513.
Ende Januar 1949 deutete sich bei den Beratungen der Unionsfraktion eine Änderung des Zeitplans an,
die außenpolitisch begründet wurde: Adenauer erklärte, von amerikanischer Seite habe er erfahren, dass
das Interesse am Zustandekommen des Grundgesetzes bei den Westmächten nachlasse. Jakob Kaiser
argumentierte als Berliner Vertreter im gleichen Sinne und wies auf die amerikanisch-sowjetische
Annäherung hin. Beide kamen zu dem Schluss, man müsse mit dem Grundgesetz „sehr rasch fertig“
werden. Ob bei diesem Sinneswandel auch die günstigere Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, d.
h. das Nachlassen der Preissteigerungen eine Rolle spielte, bleibt weitgehend offen.
Einen Monat später wurden Adenauers Appelle drängender: Er polemisierte über die langwierigen
Beratungen zur „blöden Finanzverwaltung“ und stellte Überlegungen an, ob die CDU/CSU das
Grundgesetz gegebenenfalls zusammen mit FDP und DP ohne die Zustimmung der Sozialdemokraten
verabschieden sollte. Die Wahl zum Bundestag bezeichnete er vor dem Zonenausschuss seiner Partei als
„das entscheidendste Ereignis für uns Deutsche“. Mitte März warnte er vor der Arbeitsgemeinschaft der
Unionsparteien erneut vor einer amerikanisch-sowjetischen Verständigung. Aus deutscher Sicht sei diese
Verständigung zwar zu begrüßen. Sie werde aber „auf unserem Buckel“ erfolgen, wenn die Deutschen die
Chance der westdeutschen Bundesregierung verspielen. Selbst der Blick auf die Landwirtschaft diente
ihm zur Begründung eines Wahltermins vor dem 15. Juli 1949, denn wegen der Ernte sei es für die
CDU/CSU bis in den September hinein „unmöglich, Wahlen abzuhalten“514.
Die Sozialdemokraten rückten zwar nicht offiziell von ihrem Zeitplan ab, waren aber ab Jahresbeginn
1949 in erster Linie an Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes im Sinne der sozialen
Mehrheitsdemokratie interessiert. Der im März einsetzende Konflikt mit den Besatzungsmächten ließ das
Ziel einer frühen Wahlentscheidung in den Hintergrund treten. Auch nach der Verabschiedung des
513
ebenda, sowie Sitzung des SPD-Parteivorstands am 29. und 30. Oktober 1948 in Speyer (PVProtokolle 1948 - AdsD).
514
Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone...S.802 f., 808 und 824; Die
Unionsparteien 1946-1950, Düsseldorf 1991, S. 412 ff. und 470
187
Grundgesetzes drängten die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten (Stock, Kopf, Kaisen) auf der
Konferenz von Schlangenbad offenbar nicht auf die Festlegung eines frühen Wahltermins. Kurt
Schumacher erklärte am 1./2. Juni 1949 bei der Diskussion über das Wahlgesetz sogar vor dem
Parteivorstand: „Die CDU ist am frühen Wahltermin mehr interessiert als wir...“515 .
Im Zusammenhang mit der Zeitplanung für die erste Bundestagswahl stellt sich auch die Frage, ob die
großen Parteien bereits während der Grundgesetzberatungen Koalitionspläne für die zukünftige Regierung
entwickelten. Zwischen der Unionsfraktion und den beiden Vertretern der DP im Parlamentarischen Rat
bestanden enge Verbindungen. Dr. Seebohm war mehrfach bei den Sitzungen der Unionsfraktion
anwesend und arbeitete auch bei Anträgen mit der CDU/CSU zusammen. Die organisatorische und
finanzielle Krise der Zentrumspartei führte im Januar 1949 zu Gesprächen des Parteivorsitzenden
Spiecker mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Arnold (CDU) und Adenauer über einen
Zusammenschluss beider Parteien. Das Zentrum sollte sich der CDU-Organisation anschließen, aber
seinen Namen behalten und Kandidaten für den Bundestag aufstellen können. Außerdem sollte ein
Volksentscheid über „religiös-weltanschauliche Fragen“ in das Grundgesetz aufgenommen werden. Die
Basis des Zentrums folgte jedoch diesen Fusionsplänen nicht und wählte Spiecker ab.
515
AVBD Bd. 5/1, S. 531f.; Sitzung des SPD-Parteivorstandes am 1./ 2.6.1949 in Hannover (PVProtokolle 1949-AdsD).
188
Die Hauptsorge Adenauers galt den Liberalen. Mit Blick auf die erste Bundestagswahl erklärte er schon
im November 1948 vor der Unionsfraktion „Wir kommen nur zum Ziel, wenn wir die FDP vorher
gesichert haben für uns“. Die Sozialdemokraten würden wahrscheinlich die Sozialisierung im Wahlkampf
als Hauptprogrammpunkt herausstellen. Adenauer strebte damit eine Fortsetzung der
wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit im Frankfurter Wirtschaftsrat an - und zwar Monate bevor das
„Bündnis“ zwischen Ludwig Erhard und der CDU/CSU im Februar 1949 zustande kam. Im März
bekräftigte Adenauer diese Koalitionsabsicht bei den internen Beratungen der CDU/CSU über das
Wahlrecht. Die Differenzen mit der FDP in „kulturellen Fragen“ könne man ausklammern, da diese nicht
in die Kompetenz des Bundes fallen. „Ich sehe, dass einige von Ihnen den Kopf schütteln...“, fügte er
hinzu. Im Wahlkampf werde jedoch die Frankfurter Wirtschaftspolitik eine der wichtigsten Fragen sein,
und hieraus folge, „dass wir mit der FDP...zusammengehen müssen“. Jakob Kaiser vertrat auf der
gleichen Sitzung eine andere Auffassung: Der beste Wahlausgang sei, wenn CDU/CSU und SPD „gleich
stark“ und damit „verpflichtet sind, gemeinsam die Verantwortung für die Neuordnung des deutschen
Lebens zu tragen“516.
Bei den Sozialdemokraten spielten die Koalitionsüberlegungen offenbar eine untergeordnete Rolle. Die
Kooperation mit den Liberalen im Parlamentarischen Rat war zwar erfolgreich. Man war sich aber in der
SPD-Führung darüber im Klaren, dass hieraus nach der Bundestagwahl wegen der wirtschaftspolitischen
Differenzen kaum eine Regierungskoalition entstehen konnte. Für die SPD galt deshalb bis ins Jahr 1949
die Feststellung Kurt Schumachers in seinem Parteitagsreferat von 1948: „Noch immer sucht die
Sozialdemokratie nach den bündnisfähigen Partnern“. In der Wahlrechtsfrage entwickelte sich ebenfalls
eine enge Zusammenarbeit zwischen SPD und FDP. Die Sozialdemokraten kamen den kleinen Parteien
insofern entgegen als sie auf die von ihrem Vorstand beschlossene 5-Prozent-Klausel verzichteten. Ein
möglicher Partner für die SPD schien die Zentrumspartei zu sein. Sie hatte im Parlamentarischen Rat in
wichtigen Punkten die SPD unterstützt (z. B. in der Finanzverfassung) und bei den Kommunalwahlen in
Nordrhein-Westfalen vom 17. Oktober 1948 gut abgeschnitten. Schumacher selbst erklärte Anfang Juni
1949 bei der Besprechung des Wahlrechts im Parteivorstand, ein „Zerbrechen des Zentrums an der 5 %Klausel“ sei für die SPD nicht akzeptabel.
Von weitaus größerer Bedeutung war jedoch das zukünftige Verhältnis der Sozialdemokraten zur
CDU/CSU: Schumacher bezweifelte die Stabilität dieser neuen Gruppierung im deutschen
Parteiensystem. Sein Bild von der Union, die in der Praxis „starre Rechtspartei“ und in der Sprache
„soziale Mittelpartei“ sei, schloss eine zukünftige Kooperation mit Teilen dieser Partei nicht aus. Ähnlich
argumentierte auf dem Parteitag von 1948 auch der Dortmunder Fritz Henßler aufgrund seiner
Erfahrungen aus der Sozialisierungsdiskussion in Nordrhein-Westfalen. Walter Menzel begründete diese
Vorstellungen bereits im April 1948 ausführlicher mit dem Argument, man könne nicht erwarten, dass
Hunderttausende direkt „aus dem bürgerlichen in das sozialistische Fahrwasser“ wechseln. Es werde
vielmehr zur Bildung „linker bürgerlicher Parteien“ kommen, und die Aufgabe der SPD bestehe darin,
diese Parteien nicht zur „Splitterpartei“ werden zu lassen517.
Carlo Schmid sprach im Dezember 1948 die Hoffnung aus, das „Bundesparlament“ werde sich
voraussichtlich durch einen stärkeren CDU-Gewerkschaftsflügel auszeichnen, mit dem man „besser
manövrieren könne, als heute mit den überwiegend reaktionären Elementen der CDU“. Schmid
favorisierte eine Große Koalition oder eine darüber hinausgehende Mehrparteienregierung, weil diese
516
Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, Stuttgart 1981,.S.139
f. und 344 f.; P. Hüttenberger: Nordrhein-Westfalen und die Entstehung seiner Parlamentarischen
Demokratie, Siegburg 1973, S. 94-96; Die Unionsparteien 1946-1950...S. 383 f. und 396
517
Vorlage Menzels zur Sitzung des Verfassungspolitischen Ausschusses am 8.4.1948 ( NL Menzel R 5 AdsD); Protokoll SPD-Parteitag 1948, S. 32, 38 und 54 f.; Sitzung des PV am 1./ 2.6.1949 in
Hannover (PV-Protokolle 1949 - AdsD)
189
Regierung die deutschen Interessen gegenüber den Besatzungsmächten am wirksamsten vertreten könne.
Falls die SPD aus den Wahlen als stärkste Partei hervorging, schien für ihn persönlich das Amt des
Bundeskanzlers durchaus in Reichweite zu sein518.
Die Polarisierung während des Wahlkampfes machte diese Hoffnungen zunichte. Schumacher attackierte
nicht nur die Frankfurter Wirtschaftspolitik sondern vor allem die Katholische Kirche. Die
Sozialdemokratie verprellte damit die katholische Arbeitnehmerschaft innerhalb und außerhalb der CDU,
deren Unterstützung man für eine Erweiterung der Wählerschaft und für eine Große Koalition gebraucht
hätte. Die von Schumacher genannten Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung der SPD waren so
weitgehend, dass sie die Bildung des sogenannten Bürgerblocks mehr förderten als verhinderten519.
Die Auseinandersetzung mit den Besatzungsmächten über das Grundgesetz ist ein Thema für sich und
steht nicht im Mittelpunkt dieser Untersuchung. In der letzten Phase der Grundgesetzberatungen ging es
hierbei aber nicht nur um die Interessen und Verfassungsvorstellungen der drei Westmächte. Den mit
Deutschland befassten Regierungsstellen in Washington, London und Paris sowie den Mitarbeitern der
Militärregierungen vor Ort wurde zunehmend bewusst, dass sich sowohl ihre Interventionen als auch ihr
Verzicht auf Einmischung zugunsten bestimmter deutscher Parteien und zum Nachteil anderer auswirken
würde. Dies wurde bereits bei der Vorbereitung des alliierten Aide-Memoires vom 22. November 1948
deutlich, welches Adenauer in einem Gespräch mit dem britischen Militärgouverneur Robertson angeregt
hatte. Die „Frankfurter Affäre“ vom Dezember 1948 zeigte allen Beteiligten, welche Bedeutung die
Vorstellungen der Besatzungsmächte zu Einzelfragen des Grundgesetzes für die Politik der Parteien und
Fraktionen im Parlamentarischen Rat hatten: Adenauer bereitete als Präsident des Parlamentarischen
Rates eine Unterredung zwischen den drei Militärgouverneuren und einer Delegation des Rates vor.
Hierbei sollten die deutschen Vertreter Näheres über das zu erwartende Besatzungsstatut erfahren. Was
darüber hinaus besprochen werden sollte, blieb auch in der späteren Kontroverse umstritten. Die Vertreter
von SPD und FDP (Menzel, Schmid und Höpker-Aschoff) wollten allenfalls Fragen der Gouverneure an
die Mitglieder des Parlamentarischen Rates beantworten, die der Erläuterung des damals vorliegenden
Grundgesetzentwurfes dienten. Adenauer dagegen war der Auffassung,
man würde die
Grundgesetzberatungen erleichtern und beschleunigen, wenn man frühzeitig die Meinung der
Besatzungsmächte über kontroverse Fragen in Erfahrung bringe.
Unter den vier Fragen, die Adenauer den Militärgouverneuren vorlegte, war die nach der
Finanzverfassung die politisch entscheidende. Der Hauptausschuss hatte nämlich am 2. Dezember in
erster Lesung die Bundesfinanzverwaltung gegen die Stimmen der CDU/CSU und der DP beschlossen.
Der französische Militärgouverneur antwortete hierzu auch im Namen seiner Kollegen, diese Lösung
widerspreche dem Aide-Memoire vom 22. November 1948. Koenig bezeichnete nach dem Wortlaut des
amerikanischen Protokolls außerdem die Finanzverfassung als „one of the most critical aspects of sound
Federal organization“520.
Die Rechtfertigung Adenauers in einer Pressekonferenz, er habe von den Gouverneuren keineswegs „eine
Entscheidung unserer Differenzen verlangt“, weil er ja die Meinung der Unterlegenen in der Finanzfrage
überhaupt nicht erwähnt habe, wirkte ebenso wenig überzeugend wie die Berufung auf angebliche
Notizen des DP-Abg. Dr. Seebohm, der zu diesem Zeitpunkt nicht in Bonn war. Kompromittierend für
Adenauer sind die kürzlich veröffentlichten Aufzeichnungen über seine Unterredungen mit alliierten
Verbindungsoffizieren bei der Vorbereitung der Frankfurter Besprechung. Dem britischen
518
Sitzung des PV am 10. und 11.12.1948 (PV-Protokolle 1948 - AdsD); P. Weber: Carlo Schmid 18961979. Eine Biographie, München 1996, S. 390 ff.
519
K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei, Berlin-Bonn 1982, S. 174-181
520
FRUS 1948, Vol. II, S.649
190
Verbindungsoffizier Chaput de Saintonge nannte er am 7. Dezember Schule, Familie und Bundesrat als
Themen, zu denen es für die Militärgouverneure an der Zeit sei „to give a strong direction“. Chaput hatte
den Eindruck, die Gouverneure sollten die CDU/CSU-Fraktion aus ihrer unbefriedigenden Position
herausmanövrieren, in die sie aufgrund ihrer inneren Differenzen geraten war. Gegenüber dem französischen Verbindungsoffizier Laloy brachte Adenauer am 14. Dezember die „intransigente Haltung“ der
SPD in der Finanzfrage zur Sprache. Er habe die Hoffnung auf einen Kompromiß noch nicht aufgegeben,
aber die Franzosen müssten in dieser Sache helfen („...mais vous devez nous aider en ce domaine“)521.
Das Verhalten Adenauers in dieser Krise des Parlamentarischen Rats wird von seinen Biographen sehr
wohlwollend bewertet. Sowohl Schwarz als auch Köhler loben seine angeblich geschickte Verteidigung.
Er habe die Vorwürfe „faktenreich und präzise“ sowie „relativ leicht widerlegen“ können. Beide Autoren
erwähnen die Finanzverfassung mit keinem Wort. Köhler fällt es schwer, die „Empörung auf Seiten der
SPD und FDP nachzuvollziehen“. Die Bewertung des Bearbeiters der einschlägigen Akten ist
demgegenüber sehr viel differenzierter522. Da die Affäre zu Jahresbeginn 1949 unter den Fraktionen des
Parlamentarischen Rates schnell beigelegt wurde, liegt ihre Bedeutung vor allem in der Aufdeckung des
komplizierter werdenden Verhältnisses zwischen dem Parlamentarischen Rat und den drei
Besatzungsmächten. Weil wichtige Verfassungsfragen zwischen den Besatzungsmächten genauso
kontrovers waren wie zwischen den deutschen Parteien, lag es nahe, nach Verbündeten auf der Gegenseite
Ausschau zu halten. Zum Ende der Grundgesetzberatungen spielte hierbei auch der Gedanke an die erste
Bundestagswahl eine Rolle. Die Parteien waren um Profilierung in der Öffentlichkeit bemüht, die
Besatzungsmächte mussten verhindern, dass „ihre“ Deutschen beim mehrdimensionalen Tauziehen um
die Endfassung des Grundgesetzes ins Hintertreffen gerieten.
Dies war der politische Hintergrund der Verhandlungen und Manöver, die durch das Memorandum der
Militärgouverneure vom 2. März 1949 ausgelöst wurden. Anzeichen sprechen dafür, dass bereits beim
Zustandekommen des Memorandums deutsche föderalistische Interessen beteiligt waren. Gelberg und
Koch weisen in ihren Arbeiten auf die „Doppelstrategie“ des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard hin.
Dieser habe den „großen Kompromiss“ der Fraktionen des Parlamentarischen Rates vom 5. Februar 1949
zwar akzeptiert, sich gleichzeitig aber bemüht, die darin enthaltene Bundesfinanzverwaltung durch
Intervention der amerikanischen Militärregierung wieder zu Fall zu bringen523. Auf der anderen Seite
mussten auch die eher zentralistisch orientierten britischen Experten einräumen, dass der deutsche
Kompromiss dem Aide-Mémoire vom 22. November 1948 und der Erklärung der Militärgouverneure
beim umstrittenen Treffen mit der Delegation des Parlamentarischen Rates am 16. Dezember widersprach. Falls die Franzosen sich auf diese Richtlinien beriefen, stellte der britische Finanzsachverständige
Sir Eric Coates fest, habe man keine Handhabe zur Unterstützung der vom Parlamentarischen Rat
beschlossenen Fassung524.
Als die drei Militärgouverneure am 16. Februar 1949 zusammentrafen, um über den vom Hauptausschuss
in dritter Lesung beschlossenen Grundgesetzentwurf zu beraten, nahmen sie die zu erwartenden
Positionen ein: Die Generäle Clay und Koenig bezeichneten die deutschen Vorschläge als unvereinbar mit
den Prinzipien, die man dem Parlamentarischen Rat übermittelt habe. Ihr britischer Kollege Robertson
521
PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 57-60 und 76-88.
522
H.-P. Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 596 f.; H. Köhler: Adenauer.
Eine politische Biographie. Berlin 1994, S. 481 f.; M.F. Feldkamp in: PR Akten und Protokolle Bd. 8,
S. XXXV-XXXIX; P. Weber: Carlo Schmid...S. 365 ff.
523
K.-U. Gelberg: Hans Ehard. Die föderalistische Politik des bayerischen Ministerpräsidenten 19461954, Düsseldorf 1992, S.244-248; P. J. Kock: Bayerns Weg in die Bundesrepublik, Stuttgart 1983, S.
310.
524
A. M. Birke: Großbritannien und der Parlamentarische Rat (VjZG 42, 1994, S. 313-359), S.329
191
hielt die Abweichungen nicht für so gravierend, um seiner Regierung eine Ablehnung des
Grundgesetzentwurfs zu empfehlen. Clay und Koenig versuchten in den folgenden Wochen die
Sozialdemokraten zum Nachgeben zu bewegen, während Robertson auf die hiermit verbundene Gefahr
des Scheiterns der Grundgesetzberatungen hinwies.
Auf deutscher Seite hatte die CDU/CSU-Fraktion dem Grundgesetzentwurf mit der Bundesfinanzverwaltung offenbar unter der Voraussetzung zugestimmt, diese Variante würde ohnehin am Veto
der Besatzungsmächte scheitern. Ihr Abgeordneter Kaufmann, der im Siebenerausschuss eine
maßgebende Rolle spielte, schilderte die taktischen Überlegungen seiner Fraktion einige Wochen später
vor der CDU/CSU-Arbeitsgemeinschaft. Es sei „ein gefährliches Spiel“ gewesen, die
Bundesfinanzverwaltung mitzuvertreten. Man habe aber aufgrund von offiziellen und inoffiziellen
Gesprächen davon ausgehen können, dass diese Lösung „mindestens von amerikanischer und
französischer Seite“ abgelehnt werde. „Bei dieser Taktik“ - fügte Kaufmann hinzu - kam „das Nein in der
Finanzfrage von den Alliierten und nicht von uns...“525.
Da die Fraktionen des Parlamentarischen Rates die Korrekturvorschläge des Memorandums vom 2. März
in den entscheidenden Punkten nicht akzeptierten, befasste sich die Washingtoner
Außenministerkonferenz Anfang April 1949 mit den Grundgesetzberatungen. Die Außenminister
beschlossen am 8. April eine „Message“ an die Militärgouverneure, mit der sie die bis dahin geltenden
Instruktionen zum Bund-Länder-Verhältnis und zur Finanzverfassung aufgaben. In dieser Situation traten
die parteipolitischen und wahltaktischen Motive des amerikanischen Militärgouverneurs Clay deutlich
zutage: Er setzte durch, dass diese Botschaft der deutschen Seite vorerst nicht mitgeteilt wurde, weil
dieser Schritt die sozialdemokratische Haltung bestätige und der SPD Vorteile bei der anstehenden
Bundestagswahl verschaffe. Kurt Schumacher werde auf diese Weise zum „top hero in Germany“. Aus
seinen Depeschen nach Washington geht außerdem hervor, dass er die von der SPD angestrebte
Finanzverfassung als Voraussetzung zur Sozialisierung betrachtete. Die SPD operiere nahezu wie eine
totalitäre Partei; ihr fehle es an der Demokratie, welche sich auf den Lokalstolz gründe. Nachdem sich
neben dem amerikanischen Außenminister Acheson auch Frankreichs Außenminister Schuman für die
sofortige Weitergabe des Washingtoner Beschlusses aussprachen, entsprach Clay am 22. April 1949 einer
entsprechenden Anordnung und ließ die Botschaft durch die Verbindungsoffiziere übergeben526.
Clays Weigerung hatte insofern einen gegenteiligen Effekt, als sie erst Kurt Schumacher die Gelegenheit
gab, das „Nein“ der SPD zu den alliierten Vorschlägen auf einem kleinen Parteitag wirkungsvoll zu
inszenieren. Wenn Clay nach dem Beschluss der Außenminister gehandelt und das Dokument
weitergegeben hätte, „before opinion in the Parliamentary Council has crystallized“, wäre die
parteipolitische Wirkung des Nachgebens der Besatzungsmächte wesentlich geringer gewesen. Der
britische Militärgouverneur Robertson hielt den Obstruktionskurs Clays für unverantwortlich und führte
am 14. April ein vertrauliches Gespräch mit Carlo Schmid und Walter Menzel. Er erklärte den beiden
Sozialdemokraten, seine Regierung werde sich für ein Nachgeben der Besatzungsmächte einsetzen. Die
bereits vorliegende „Botschaft“ wurde nach der Darstellung Menzels bei dieser Gelegenheit nicht
erwähnt. Menzel und Schmid haben Schumacher in Gegenwart von Heine und Ollenhauer ausführlich
über das Gespräch mit Robertson berichtet. Ihr Ziel war, angesichts des möglichen Nachgebens der
Besatzungsmächte dem „Nein“ der SPD ein „bedingtes Ja“ hinzuzufügen. Schumacher hat diesen
Gedankengang aber offenbar gar nicht aufgegriffen527.
525
Die Unionsparteien 1946-1950...S.489 f. Anders als bei den Sozialdemokraten blieben diese Kontakte
vertraulich. Kaufmann (S. 490): „Ich bitte in diesem Zusammenhang auch darum, dass das nicht in
öffentlichen Versammlungen oder in der Presse ausgesprochen wird...“.
526
J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General Lucius D. Clay. Germany 1945-1949, Vol. II, BloomingtonLondon 1974, S.1067, 1077 und 1121-1124.
527
Menzel an Schmid und Menzel an Heine vom 29.7.1949 (Nachlaß Menzel R 46 - AdsD).
192
Die Absicht Robertsons bestand demnach nicht darin, den Widerstand Schumachers zu stärken, sondern
die Kompromissbereitschaft Menzels und Schmids. Während Clay schließlich in seinem antisozialdemokratischen Eifer sogar die Verabschiedung des Grundgesetzes ohne SPD für möglich hielt, behielt
sein britischer Kollege in dieser hektischen Schlussphase der Beratungen klaren Kopf. Robertson hatte die
Ratifizierungsklausel der Londoner Sechsmächtekonferenz immer vor Augen, welche die Zustimmung
von zwei Dritteln der Länder zum Grundgesetz verlangte. Er wies Koenig und Clay sowie seine eigene
Regierung darauf hin, dass die SPD das Grundgesetz ohne weiteres verhindern könne, indem sie mit ihren
Mehrheiten die Ratifizierung in vier Ländern ablehnte. Schumacher hätte kaum gezögert, von Hannover
aus ent-sprechende „Empfehlungen“ zu geben528.
2. Wahlverfahren und Wahlentscheidung 1949
Die Diskussion über das Wahlrecht zum ersten Bundestag lässt sich kaum in die Demokratiediskussion
der Nachkriegszeit einordnen. Zwar wurden zu dieser Frage anspruchsvolle Beiträge in Zeitschriften und
Monographien publiziert. Auch die Diskussion in den Parteien erreichte hohes Niveau - insbesondere
wenn man versuchte, die Schlussfolgerungen aus der Weimarer Republik für das zukünftige Wahlrecht zu
ziehen. Als jedoch die konkrete Formulierung des Wahlverfahrens für den ersten Bundestag anstand,
orientierten sich alle Parteien am optimalen Wahlresultat. Walter Menzel, der im Parlamentarischen Rat
bei den Wahlrechtsüberlegungen der SPD eine maßgebende Rolle spielte, schrieb Ende September 1948
an die Parteizentrale in Hannover, das Wahlrecht sei weniger eine Frage der „politischen Erziehung“,
sondern eine Frage, „wie ich die politische Macht für die Partei erreichen kann“. In den anderen Parteien
dachte man kaum anders: Als im Wahlausschuss der Unionsparteien die Diskussion über das Wahlrecht
all zu sehr in die Breite ging, erklärte Konrad Adenauer, man müsse diese Frage „mit dem Rechenstift in
der Hand und mit der Landkarte“ bearbeiten, „und sich in theoretischen Erörterungen gar nicht
aufhalten“529. Diese realistische Einstellung war auch bei den kleineren Parteien im Parlamentarischen Rat
vorherrschend. Dass sich die „Zweckmäßigkeitserwägungen“ bei der Beratung des Wahlrechts im
Parlamentarischen Rat in Grenzen hielten, kann man aus den Protokollen kaum ableiten530.
Die Wahlrechtsdiskussion blieb trotz dieser eindeutigen Zielsetzung höchst unübersichtlich und lässt sich
kaum verkürzt darstellen. Dies ist vor allem auf die ungeklärte Zuständigkeitsfrage zurückzuführen: Die
Besatzungsmächte hatten nicht klar zu erkennen gegeben, ob der Parlamentarische Rat oder die
Ministerpräsidenten das Wahlgesetz verabschieden sollten. Sie selbst waren, wie bei anderen wichtigen
Verfassungsfragen, in dieser Sache uneins. Eine Zeit lang schien sich die Vorstellung des amerikanischen
Militärgouverneurs Clay und der Franzosen durchzusetzen, dass man kein einheitliches Wahlrecht zum
Bundestag brauche. Die Länder sollten vielmehr nach dem Vorbild der amerikanischen Einzelstaaten
selbst entscheiden, wie sie ihre Bundestagsabgeordneten wählen. Zum komplizierten Verlauf der
Wahlrechtsdiskussion im und neben dem Parlamentarischen Rat muss deshalb auf Spezialstudien
verwiesen werden531. Hier interessieren in erster Linie die Vorstellungen der Parteien und Fraktionen zum
Wahlmodus, d. h. zur Alternative zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht sowie zu den zahlreichen
Varianten und Kombinationen dieser Wahlverfahren. Bei den Beratungen über diesen Kernbestand der
528
A. M. Birke: Großbritannien und der Parlamentarische Rat ...S.331 und 343.
529
Menzel an Ollenhauer vom 21. 9. 1948 (Bestand Ollenhauer 187 - AdsD); Die Unionsparteien 19461950...S. 382
530
E. Jesse: Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, Düsseldorf 1985, S .96
531
Grundlegend für das Folgende E. H. M. Lange: Wahlrecht und Innenpolitik, Meisenheim a. Gl. 1975
sowie die Einleitung von H. Rosenbach in: PR Akten und Protokolle Bd. 6, S. VII-LIII.
193
Wahlrechtsfrage kommt der Gedanke an die bevorstehende Bundestagwahl und an ein vorteilhaftes
Wahlergebnis besonders deutlich zum Ausdruck.
Bei den Sozialdemokraten setzte sich frühzeitig das Verhältniswahlrecht durch, obwohl bis in die
Beratungen des Parlamentarischen Rates hinein aus dem allein von der SPD regierten Schleswig-Holstein
das Mehrheitswahlrecht propagiert wurde. Gegen das Mehrheitswahlrecht wandte sich vor allem der
nordrhein-westfälische Innenminister, Dr. Menzel, u. a. weil die SPD in diesem Land bei
Kommunalwahlen im Jahre 1946 mit einem Mehrheitswahlrecht plus Reserveliste wenig Erfolg hatte.
Menzel begründete seine Auffassung mit der These, ein Mehrheitswahlrecht verzögere „den im Gange
befindlichen Zersetzungsprozess“ der CDU. Die SPD müsse jedoch die kleinen bürgerlichen
Linksparteien fördern.
Nach Vorarbeiten des Verfassungspolitischen Ausschusses legte der SPD-Parteivorstand bereits Ende Mai
1948 auf seiner Tagung in Springe die bis zum Parlamentarischen Rat gültige Linie fest: Die
Sozialdemokraten befürworteten die Wahl von Abgeordneten in „Einmann-Wahlkreisen“. Die direkt
gewählten Abgeordneten sollten durch weitere aus der Reserveliste ergänzt werden, bis die proportionale
Sitzverteilung erreicht sei. Die SPD formulierte damit bereits den Grundgedanken des späteren
Bundeswahlgesetzes. Überhangmandate und eine 5 %-Klausel waren ebenfalls im Vorschlag enthalten.
Die Vorschrift, dass aus der Reserveliste einer Partei nicht mehr Abgeordnete als die Zahl der
erfolgreichen Direktkandidaten hinzukommen dürfen, stellte allerdings eine zusätzliche Begrenzung der
Wahlaussichten kleinerer Parteien dar. Die Reserveliste sollte eine Bundesliste sein, und die 5 %-Klausel
sollte sich auf die Bundesebene beziehen532.
Bei den Liberalen hatte sich der mitgliederstarke FDP-Verband der britischen Besatzungszone schon in
der zweiten Hälfte des Jahres 1947 für ein personalisiertes Verhältniswahlrecht ausgesprochen, das den
sozialdemokratischen Vorstellungen nahe kam. Unter den süddeutschen Liberalen gab es allerdings
Befürworter des absoluten Mehrheitswahlrechts mit einem zweiten Wahlgang. Diese auch von Theodor
Heuss favorisierte Variante war für die FDP durchaus erfolgversprechend, weil sie der Partei bei der
Vorbereitung der Stichwahl die Möglichkeit von Wahlbündnissen eröffnete. Ob Thomas Dehler die
weitergehende Möglichkeit des relativen Mehrheitswahlrechts nach britischem Muster befürwortete und
damit bereit war, „die FDP preiszugeben“, scheint mit den bisher zitierten Quellen noch nicht bewiesen zu
sein533. Zu Beginn des Parlamentarischen Rates schlug der FDP-Abgeordnete Dr. Becker vor, die Wahlkreiskandidaten nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht mit einem zweiten Wahlgang zu wählen. Da
dieser Gedanke von der CDU/CSU nicht aufgegriffen wurde, favorisierte Becker ab Mitte Oktober 1948
532
Sitzung des PV am 28. und 29. 5. 1948 in Springe sowie Beschluß (SPD-PV Protokolle 1948 - AdsD);
E.H.M. Lange: Wahlrecht und Innenpolitik...S.250 ff.
533
So U. Wengst: Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München 1996, S. 122 f. Nach
dem Protokoll der Landesvorstandssitzung der FDP in Bayern vom 19.11.1948 berief sich Dehler
tatsächlich auf das britische Beispiel, während Dr. Linnert an das deutsche Wahlrecht vor 1918
anknüpfte. In einem Brief an Stelzner vom 20.9.1948 sprach Dehler nur von offensichtlichen
Nachteilen für die „liberale Mitte“ beim Mehrheitswahlrecht (ADL NL Dehler N1-21 und N1-922).
194
mit der FDP-Fraktion das Verhältniswahlrecht in seiner personalisierten Form. Das absolute
Mehrheitswahlrecht mit Stichwahl wurde von der Deutschen Partei vertreten. Aufgrund ihrer regionalen
Hochburg in Niedersachsen hatte die Partei mit diesem Wahlrecht durchaus Aussichten auf
Mandatsgewinne. Die Zentrumspartei entschied sich frühzeitig für ein Verhältniswahlsystem, das auch
von der KPD ohne Einschränkung befürwortet wurde.
Die Meinungsbildung in der CDU/CSU zum Wahlrecht verlief komplizierter als bei den anderen Parteien
und blieb auch nach Beendigung der Grundgesetzberatungen zweideutig. In der britischen Zone
diskutierte die CDU ausführlich über die Wahlrechtsfrage. Hierbei setzten sich die Vertreter des
Mehrheitswahlrechts durch. Allerdings wurde nicht genau festgelegt, welche Form des
Mehrheitswahlrechts anzustreben sei. Die süddeutschen Landesverbände zeigten an der Wahlrechtsfrage
wenig Interesse und hielten am Verhältniswahlrecht fest. Splitterparteien sollten jedoch keine Vertretung
in den Parlamenten erhalten, und das Persönlichkeitselement im Wahlrecht sollte verstärkt werden. Dies
gilt auch für Bayern: Nach der Niederlage der CSU bei den Kommunalwahlen vom Frühjahr 1948 und
den Stimmenverlusten zugunsten der Bayernpartei war ein Mehrheitswahlrecht für die Parteiführung
kaum akzeptabel.
Andererseits gab es in den Reihen der CDU/CSU einflussreiche Dogmatiker des Mehrheitswahlrechts.
Sie hatten in der Regel die Unterstützung der von Dolf Sternberger initiierten „Deutschen
Wählergesellschaft“ und nahmen keine Rücksicht auf parteitaktische Überlegungen. Im
Parlamentarischen Rat gehörte hierzu der CSU-Abgeordnete Dr. Gerhard Kroll. Er vertrat im
Wahlrechtsausschuss mit Nachdruck das relative Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster, bis er
schließlich von der Unionsfraktion Anfang Dezember 1948 abgelöst wurde. In der CDU/CSU-Fraktion
wirkte bei aller Pragmatik der konstitutionell-demokratische Gedanke von der Aufwertung der
Persönlichkeit fort. Mit dem Verhältniswahlrecht dagegen glaubte man den „kollektivistischen“
Tendenzen Vorschub zu leisten. Der Abgeordnete Kaufmann (CDU) zeigte sich als Nachfolger Krolls im
Wahlrechtsausschuss zunächst kompromissbereit, so dass eine Einigung der beiden großen Fraktionen
erreichbar schien.
Dem Plenum des Parlamentarischen Rates lag im Februar 1949 ein Wahlgesetzentwurf vor, der als
personalisiertes Verhältniswahlrecht einzuordnen ist. Die Hälfte der 410 Abgeordneten sollte in den
Wahlkreisen mit relativer Mehrheit gewählt, die andere Hälfte von den Landes- und einer Bundesliste
ergänzt werden - und zwar unter Anrechnung der gewonnenen Direktmandate. Der Entwurf enthielt damit
bereits im Kern den Wahlmodus späterer Bundestagswahlen. Eine Sperrklausel für kleinere Parteien
fehlte allerdings noch. Diese erste Fassung des Wahlgesetzes wurde am 24. Februar 1949 im
Parlamentarischen Rat gegen das Votum der CDU/CSU und der DP angenommen. Die Unionsfraktion
hatte wenige Tage vorher im Hauptsausschuss die Einführung des britischen Mehrheitswahlrechts
beantragt und war erwartungsgemäß mit 8 zu 13 Stimmen unterlegen.
Lange führt die Haltung der CDU/CSU auf wahltaktische Überlegungen zurück und bezweifelt die
Ernsthaftigkeit des Antrags auf Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts. Die Unionsfraktion wollte
demnach das populäre Prinzip der Persönlichkeitswahl weiterhin vertreten und hoffte außerdem, bei der
bevorstehenden Wahl von der verbreiteten Anti-Parteien-Stimmung zu profitieren. Diese Interpretation
wird durch die Ausführungen Adenauers vor dem Wahlausschuss der CDU/CSU-Arbeitsgemeinschaft
bestätigt. Die Union sollte demnach in einzelnen Ländern das Verhältniswahlrecht zum Bundestag
unterstützen, aber „wegen der Wahlparole“, die man „nicht einfach verleugnen“ könne, weiterhin das
Mehrheitswahlrecht propagieren. Die Unionsfraktion des Parlamentarischen Rates beschloss, am
Mehrheitswahlrecht festzuhalten und sich überstimmen zu lassen. Im Protokoll heißt es hierzu: „Das lässt
sich später für die Wahl propagandistisch auswerten“534.
534
E. H. M. Lange: Wahlrecht und Innenpolitik....S. 358; Die Unionsparteien 1946-1950....S. 382; Die
CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 403
195
Die Auseinandersetzung um das Wahlrecht war damit aber keineswegs beendet, denn die drei
Militärgouverneure erhoben gleichzeitig mit ihren Einwänden zum Grundgesetzentwurf vom 2. März
1949 auch Einwände gegen das vom Parlamentarischen Rat beschlossene Wahlrecht. Sie stellten fest, der
Parlamentarische Rat sei in dieser Sache nach den Londoner Vereinbarungen nicht zuständig, und
schlugen vor, die Ministerpräsidenten sollten die erforderlichen Wahlgesetze „in jedem Landtag“
vorbereiten. Der Parlamentarische Rat wurde von den Militärgouverneuren ermächtigt, die Zahl und die
Verteilung der Abgeordneten auf die Länder festzulegen. Das von ihm verabschiedete Wahlgesetz könne
auch als Modell (model law) für die Landesgesetzgebung dienen535.
Der Anlass für den Einspruch der Besatzungsmächte waren offenbar die föderalistischen Motive der
Franzosen und die Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten, während die Briten sich neutral
verhielten. Der Hinweis auf die Beschlüsse der Londoner Sechsmächtekonferenz hatte jedenfalls große
Bedeutung, weil man wusste, dass die französische Regierung sich von den damaligen Vereinbarungen
wieder zurückziehen wollte. Auf deutscher Seite führte die bereits erwähnte Perspektive, jedes Land
könne sein eigenes Bundeswahlgesetz festlegen, zu erneuten wahltaktischen Manövern. Die CDU/CSU
setzte einen „Arithmetiker-Ausschuss“ ein, der die Erfolgsaussichten bei unterschiedlichen
Wahlrechtssystemen ausrechnen sollte, aber selbst in die Kritik geriet, weil er gute Wahlergebnisse der
Bayernpartei und des Zentrums voraussetzte. In der Union ging man von der Überlegung aus, dass die
SPD die Durchsetzung des Mehrheitswahlrechts in süddeutschen Ländern mit einem entsprechenden
Schritt in einigen norddeutschen Ländern beantworten würde, wo sozialdemokratische Mehrheiten zu
erwarten waren.
Die Ministerpräsidenten befassten sich auf ihrer Konferenz in Königstein am 24. März 1949 ausführlich
mit der Wahlrechtsproblematik und spielten den ihnen von den Militärgouverneuren zugeworfenen Ball
zurück: Sie sprachen sich für ein einheitliches Wahlgesetz im zukünftigen Bundesgebiet aus und baten
den Parlamentarischen Rat, ein solches Wahlgesetz nach erneuten Beratungen mit Zweidrittelmehrheit zu
beschließen. Die Besatzungsmächte räumten dem Parlamentarischen Rat schließlich am 14. April die
Kompetenz zur Festlegung des Wahlsystems ein. Der Wahlrechtsausschuss des Parlamentarischen Rates
machte sich daraufhin erneut an die Arbeit und legte Anfang Mai 1949 einen wenig geänderten Entwurf
vor, der auf die von den Besatzungsmächten beanstandete Bundesliste verzichtete. Dieser zweite Wahlgesetzentwurf wurde zwar am 9. Mai 1949 im Hauptausschuss und am folgenden Tag im Plenum
angenommen. Eine Zweidrittelmehrheit kam jedoch in beiden Gremien nicht zustande, weil die
CDU/CSU am Mehrheitswahlrecht festhielt und offenbar auch die beiden Abgeordneten der DP der
Vorlage nicht zustimmten.
Die Militärgouverneure nahmen am 28. Mai zu dem vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten
Wahlgesetz in einem Schreiben an die Ministerpräsidenten Stellung, dessen Text keineswegs eindeutig
war. Sie machten konkrete Einwände von untergeordneter Bedeutung geltend. Darüber hinaus sollten die
Ministerpräsidenten das Wahlgesetz gegebenenfalls so ändern, dass in ihrem Kreis die Zustimmung einer
„erheblichen Mehrheit“ erreicht werde. Ausschlaggebend für die erneuten Einwände war zunächst die
Verabschiedung des Wahlgesetzes gegen die Stimmen der CDU/CSU. Neben der fehlenden
Zweidrittelmehrheit spielte aber offenbar auch die ab dem 23. Mai 1949 in Paris tagende
Außenministerkonferenz der vier Besatzungsmächte eine Rolle. Der amerikanische Außenminister
Acheson und die französische Regierung hofften offenbar, dass mit der Beendigung der Blockade WestBerlins doch noch eine Lösung des Deutschlandsproblems unter Beteiligung der Sowjetunion gefunden
werden könne. Das Hinausschieben des Wahlrechts bot sich als ein letztes Mittel zur Verzögerung der
535
PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 145 f.
196
Weststaatsgründung an.
Die Ministerpräsidenten änderten das Wahlgesetz des Parlamentarischen Rats in zwei wesentlichen
Punkten: Sie erhöhten die Zahl der Direktkandidaten von 50 % auf 60 % und führten eine 5 %-Klausel
ein. Die Militärgouverneure reduzierten diese 5 %-Hürde, indem sie festlegten, die Sperrklausel dürfe
nicht für die Bundesebene gelten, sondern nur für das Abstimmungsergebnis in den einzelnen Ländern.
Vertreter der SPD, der FDP und des Zentrums protestierten heftig gegen die Einmischung der
Militärgouverneure und Ministerpräsidenten. Die Besatzungsmächte machten dem Streit ein Ende, indem
sie am 13. Juni 1949 die Ministerpräsidenten anwiesen („Kraft unserer obersten Gewalt“), das Wahlgesetz
in der von ihnen abgeänderten Fassung zu verkünden.
Trotz der Intervention der Besatzungsmächte und der Einmischung der Ministerpräsidenten entsprach das
Wahlrecht zum ersten Bundestag den Mehrheitsentscheidungen des Parlamentarischen Rates. Der
Wahlmodus des personalisierten Verhältniswahlrechts war eine rein deutsche Konstruktion, die bei den
Briten und Amerikanern kaum Begeisterung erwecken konnte. Formal war das Wahlgesetz jedoch
Besatzungsrecht und ist deshalb der Schattenseite des Demokratiegründungsprozesses zuzuordnen. Der
Widerspruch zwischen der Art und Weise seiner Verordnung und dem inzwischen von den
Besatzungsmächten gebilligten Grundgesetz war nicht zu übersehen, denn im Art. 137 Abs. 3 GG hieß es,
der Parlamentarische Rat habe das Wahlgesetz zum ersten Bundestag zu beschließen.
Die Positionen der Parteien in der Wahlrechtsfrage waren kaum deckungsgleich mit ihren
Demokratievorstellungen ihren Demokratievorstellungen: Die Sozialdemokraten als Vertreter der sozialen
Mehrheitsdemokratie befürworteten keineswegs das Mehrheitswahlrecht, obwohl dessen allgemein
angenommener mehrheitsbildender Effekt die Aktionsfähigkeit des unmittelbar gewählten Parlaments
erhöht hätte. Auch die Vertreter der konstitutionellen Demokratie propagierten das aus ihrer Sicht
„falsche“ Wahlverfahren: Wenn das verfassungspolitische Ziel darin bestand, die direkt gewählte
Volksvertretung durch eine Zweite Kammer, durch die Judikative oder auch durch die Festlegung von
„Lebensordnungen“ in der Verfassung zu bremsen, machte ein mehrheitsbildendes Wahlrecht wenig Sinn.
Logischer wäre das Eintreten für ein Verhältniswahlrecht nach Weimarer Muster gewesen um die
„Diktatur einer parlamentarischen Mehrheit“ (Süsterhenn) zu verhindern.
Der im Juni 1949 einsetzende Wahlkampf eskalierte in einer Konfrontation, bei der es nicht nur um die
akuten Probleme der Wirtschaftspolitik, sondern auch um weltanschauliche Fragen ging. Da alle Parteien
bestrebt waren, sich von den Besatzungsmächten abzugrenzen, spielte der Vorwurf der Kooperation mit
den Militärregierungen ebenfalls eine Rolle. Kurt Schumacher als SPD-Vorsitzender und Konrad
Adenauer als Vorsitzender der CDU in der britischen Besatzungszone bildeten die beiden Pole des
Schlagabtausches, der sich häufig in der Nähe der Gürtellinie bewegte. Die Unterstützung der CDU/CSU
durch Vertreter des katholischen Klerus veranlasste Schumacher zu bitteren Vorwürfen gegen die
sogenannten christlichen Parteien, zu denen er auch die DP und das Zentrum rechnete. Seine Warnung,
die katholische Kirche könne die Rolle einer fünften Besatzungsmacht einnehmen, verstärkte die
kulturkämpferischen Elemente des Unionswahlkampfes. Schumacher verprellte hiermit nicht nur
mögliche Koalitionspartner, sondern auch Wähler aus der katholischen Arbeiterschaft. Adenauer
behauptete im Wahlkampf, die SPD sei am Ende der Grundgesetzberatungen von britischer Seite vorab
über die nachgebende Note der Außenminister informiert worden und habe auf diese Weise mit der
britischen Besatzungsmacht kollaboriert. Schumacher konterte mit Vorwürfen gegen die Zusammenarbeit
von Unionspolitikern mit der französischen Militärregierung. Während in diesen Vorwürfen jeweils noch
ein Körnchen Wahrheit steckte, war die Attacke Adenauers gegen die mangelnde Standhaftigkeit der
Sozialdemokraten in der sowjetischen Zone bei der Zwangsvereinigung zur SED ausgesprochen unfair536.
536
H. Köhler: Adenauer...S. 509-518; K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei...S. 174-178; T. Eschenburg
u.a.: Jahre der Besatzung 1945-1949, Stuttgart-Wiesbaden 1983, S. 529-536
197
Das gegenseitige „negative campaigning“ schadete offenbar den beiden großen Parteien. Die
Sozialdemokraten gerieten beim Austausch der Angriffe und Unterstellungen häufig auf politische
Nebengleise. Die zentralen Themen ihres Wahlaufrufs (Lebensstandard, Lastenausgleich,
Wirtschaftsordnung, Vollbeschäftigung, Sozialisierung und Bodenreform) traten bei ihrer Agitation
vorübergehend in den Hintergrund. Die CDU/CSU verfügte auf diesem Sektor mit Ludwig Erhard über
eine unermüdliche Wahlkampflokomotive. Der Frankfurter Wirtschaftsdirektor, den man in der
Öffentlichkeit sowohl der Union als auch den Liberalen zuordnete, absolvierte an die 90 Wahlreden. Er
war der einzige prominente Redner der CDU, der auch in Bayern auftrat. Er überzeugte allerdings mehr
durch seine Persönlichkeit und sein „polemisches Talent“ als durch die Überzeugungskraft seiner
Argumente. Gelegentlich gab es in seinen Veranstaltungen auch Proteste und Rücktrittsforderungen537.
Wichtiger als die Details des Wahlkampfes ist in diesem Zusammenhang die Frage, welche
koalitionspolitischen Vorstellungen die maßgebenden Persönlichkeiten hatten, denn mit einer absoluten
Mehrheit war angesichts der vorangehenden Landtagswahlen und des Verhältniswahlrechts kaum zu
rechnen. Schumacher stellte bereits zu Beginn des Wahlkampfes zwei weitreichende Bedingungen für
eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung auf: Die SPD müsse aus der Wahl „als der kräftigste
politische Faktor“ hervorgehen und für die Regierungsbildung unentbehrlich sein. Die Koalitionspartner
hätten außerdem das von der SPD vorgelegte Regierungsprogramm zu akzeptieren. Diese auf ein „Alles
oder Nichts“ hinauslaufende Position war eigentlich nur sinnvoll, wenn man der Regierungs- und der
Oppositionsrolle gleichen Rang zubilligte, was Schumacher in seiner Rede vor dem SPD-Parteitag 1948
auch offen ausgesprochen hatte. Adenauer äußerte sich ebenfalls anerkennend über die Rolle der
„konstruktiven Opposition“, ging aber hierbei nach dem Bericht seines Biographen Henning Köhler
davon aus, dass die „richtige“ Partei die Regierung übernehme538. Seine Äußerungen vor der
Unionsfraktion des Parlamentarischen Rates und vor den Parteigremien lassen klar erkennen, dass er eine
Koalition mit der FDP und der DP anstrebte.
Für die beiden Hauptkontrahenten im Wahlkampf schied eine Große Koalition oder eine Allparteienregierung aus. Auf beiden Seiten gab es aber auch einflussreiche Befürworter eines Bündnisses
der beiden großen Parteien. Bei der CDU/CSU waren dies vor allem die Ministerpräsidenten Arnold
(Nordrhein-Westfalen), Altmeier (Rheinland-Pfalz) und Müller (Württemberg-Hohenzollern) sowie die
Landesminister Hilpert (Hessen) und Gereke (Niedersachsen). In der SPD befürwortete vor allem Carlo
Schmid die Große Koalition, gab diesen Gedanken aber angesichts der zunehmenden Konfrontation
bereits vor dem Wahltermin wieder auf. Im Parteivorstand setzten sich nach der Wahl die Berliner
Vertreter Schroeder und Suhr, der Bremer Regierende Bürgermeister Kaisen sowie die nordrheinwestfälischen Politiker Görlinger und Henßler für Gespräche mit der CDU ein.
537
V. Hentschel: Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München-Landsberg 1996, S.86 f.
538
K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei...S.177 f.; H. Köhler: Adenauer...S. 516
198
Das Wahlergebnis der ersten Bundestagswahl vom 14. August 1949 konnte weder von CDU/CSU noch
von der SPD als Wahlsieg betrachtet werden. Im Vergleich zu den vorausgehenden Landtagswahlen
verloren die großen Parteien z.T. erhebliche Wähleranteile. Der Unionsanteil ging um 12,7 % zurück. Die
CDU-Verluste waren in Hessen, Hamburg und Bremen besonders hoch. In Bayern sank der CSU-Anteil
von 52,9 auf 29,2 %. Lediglich in Rheinland-Pfalz konnte die CDU ihr Ergebnis gegenüber der
Landtagswahl von 1947 verbessern. Insgesamt kamen CDU und CSU bei der ersten Bundestagswahl auf
31 % der gültigen Stimmen. Bei der SPD sah die vergleichende Bilanz noch schlechter aus. In SchleswigHolstein, Hessen und Niedersachsen verlor die Partei gegenüber den Landtagswahlen zwischen 14,2 und
10 %. In keinem Bundesland gab es eine positive Bilanz für die Sozialdemokraten. Im Bundesergebnis
lagen sie mit 29,2 % knapp hinter den Unionsparteien. Beim Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden
Großen spielte das Land Nordrhein-Westfalen eine entscheidende Rolle, denn hier wohnten 27,8 % der
Wahlberechtigten. Beide Parteien verloren hier nur 0,6 %. Dies bedeutete aber, dass die CDU ihren
Vorsprung vor den Sozialdemokraten im größten Bundesland mit 36,9 % zu 31,4 % verteidigte. Im
industriell-katholischen Milieu gewann die SPD nach Falter nur 24,8 %, die CDU/CSU dagegen 40,7 %
der Stimmen.
Gewinner der Bundestagswahl waren die kleineren Parteien, allen voran die zur FDP zusammengeschlossenen liberalen Landesverbände. Sie verloren zwar in Bremen, Niedersachsen und Hamburg,
lagen dafür in Hessen aber mit 28,1 % deutlich vor der CDU und konnten sich in Nordrhein-Westfalen
von 5,9 % bei der Landtagswahl auf 8,6 % verbessern. Insgesamt kamen sie im Bundesgebiet auf 11,9 %
der gültigen Stimmen. Wahlsieger war auch die Bayernpartei. Sie hatte an Landtagswahlen noch nicht
teilgenommen und gewann auf Anhieb 20,9 % der bayerischen Stimmen. Auch die Deutsche Partei
konnte sich zu den Gewinnern zählen. Sie hielt ihren Anteil im Stammland Niedersachsen (17,8 %) und
war in Bremen, Hamburg sowie Schleswig-Holstein ähnlich erfolgreich, was zu einem Bundesergebnis
von 4 % führte. Zu den Verlierern gehörte die Zentrumspartei. Sie blieb auf Nordrhein-Westfalen
beschränkt und verlor hier nahezu 1 %. Der eindeutigste Verlierer war die KPD, denn sie musste in allen
Bundesländern erhebliche Verluste hinnehmen. Obwohl ihr Stimmenanteil gegenüber den
vorausgehenden Landtagswahlen um ca. 40 % sank, blieb sie mit 5,7 % viert stärkste Partei im
Bundestag539. Insgesamt kamen zwölf Parteien und zwei unabhängige Abgeordnete in den ersten
Bundestag. Das Ergebnis erinnert deshalb an die Reichstage der Weimarer Republik, denn von einer
Konzentration der Stimmen auf wenige Parteien konnte man kaum sprechen.
3. Die Klärung offener Fragen
Das Resultat der ersten Bundestagswahl bildete die Voraussetzung für die Lösung wichtiger Fragen, die
während des Parlamentarischen Rates noch nicht entschieden waren. Dies galt an erster Stelle für die
Koalitionsbildung und die Zuordnung der Parteien im Parteiensystem. Das Wahlergebnis vom 14. August
1949 wirkt wegen der zahlreichen kleinen Parteien im Bundestag auf den ersten Blick verwirrend, weil es
an die Weimarer Reichstage erinnert, und die beiden großen Parteien mit ihren Stimmanteilen von ca. 30
% kaum zufrieden sein konnten.
Ein Blick auf die Mandatsverteilung lässt erkennen, dass es trotz des mäßigen Abschneidens von
CDU/CSU und SPD und der vielen kleinen Parteien im Bundestag doch einen Wahlsieger gab: Die
inoffizielle Koalition im Frankfurter Zweizonen-Wirtschaftsrat, bestehend aus CDU/CSU, FDP und DP,
verfügte im neugewählten Bundestag über insgesamt 208 von 402 Sitzen und damit über eine knappe
Mehrheit. Informell war die Frankfurter Koalition insofern, als FDP und DP in der „Bizonen-Regierung“,
dem Direktorium, gar nicht vertreten waren - es sei denn, man rechnete den parteilosen Ludwig Erhard
539
W. Hirsch-Weber/ K. Schütz: Wähler und Gewählte. Eine Untersuchung der Bundestagswahlen 1953,
Berlin-Frankfurt 1957, S. 163-188; J. W. Falter: Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949
zwischen Weimar und Bonn (PVS 22, 1981, S. 236-263)
199
teilweise den Liberalen zu. Adenauer verfolgte das Ziel, auf der Basis dieser vier Parteien eine
Bundesregierung unter seiner Kanzlerschaft zu bilden. Gegenstand seiner zahlreichen
Koalitionsgespräche waren hierbei nicht nur die Ministerposten, sondern auch die Ämter des
Bundespräsidenten und des Bundesratspräsidenten.
Die Sozialdemokraten hatten mit ihren 131 Abgeordneten keine Möglichkeit, eine Koalition unter ihrer
Führung zusammenzustellen. Die FDP kam aus wirtschaftspolitischen Gründen als Partner nicht in Frage
und wäre auch zur Mehrheitsbildung nicht ausreichend gewesen. Nach dem erfolgreichen Abschneiden
der „rechten“ FDP-Verbände in Nordrhein-Westfalen und Hessen war die 52-köpfige FDP-Fraktion des
Bundestages von den Sozialdemokraten wesentlich weiter entfernt als die fünf Liberalen im
Parlamentarischen Rat. Die KPD (15 Sitze) schied als Koalitionspartner aus, das Zentrum war mit 10
Sitzen zu schwach, und eine Verbindung der Sozialdemokraten mit der DP oder der Bayernpartei zog
niemand ernsthaft in Erwägung. Die Große Koalition, gegebenenfalls ergänzt durch weitere Parteien,
bildete deshalb die einzige Alternative zur „bürgerlichen“ Koalition Adenauers.
Das taktische Vorgehen des ersten Bundeskanzlers und seine Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung
wurden mehrfach ausführlich beschrieben540. Unter den Gegnern seiner Koalitionspläne hatten vor allem
die Ministerpräsidenten politisches Gewicht. Die Mehrheit von ihnen befürwortete eine Große Koalition.
Auf ihrer Konferenz in Koblenz am 25. August sprachen sie sich für die Bildung einer „starken und vom
Volk getragenen Bundesregierung“ aus. Mit ihrer Wahl des nordrhein-westfälischen CDURegierungschefs Arnold zum Präsidenten des Bundesrates durchkreuzten sie Adenauers Personalpolitik.
Dieser hatte das Präsidium des Bundesrates dem bayerischen Ministerpräsidenten Ehard zugesagt und
musste sich nun mit den Kompensationsforderungen der CSU auseinandersetzen.
Das größte Hindernis für Adenauers Regierungsbildung waren die Vorbehalte in der CDU/CSU-Fraktion
gegen die Wahl von Theodor Heuss zum Bundespräsidenten. In fünf langen Fraktionssitzungen und
weiteren Besprechungen führender Unionspolitiker musste der designierte Bundeskanzler sich mit
Einwänden gegen Heuss auseinandersetzen, die mit wechselnden Begründungen vorgebracht wurden.
Bedenken machten vor allem der hessische Finanzminister Hilpert, der stellvertretende CDU-Vorsitzende
in der britischen Zone, Holzapfel, sowie die späteren Minister v. Brentano und Schröder geltend. Der
spätere Bundeskanzler Kiesinger erklärte, Heuss sei für ihn „ein liebenswerter Überrest des 19.
Jahrhunderts“541. Die Einwände bezogen sich vor allem auf die angebliche mangelnde Kirchentreue des
ersten Bundespräsidenten und auf die mit seiner Wahl verbundene Aufwertung der FDP. Die in der
Unionsfraktion genannten personellen Alternativen waren jedoch wenig überzeugend. Neben der Wahl
eines evangelischen Kirchenvertreters oder gar eines Sozialdemokraten wurde zum Schluss der
Diskussion mehrfach der Ernährungsdirektor der Bizone, Schlange-Schöningen, genannt. Er fand aber
keine ausreichend Unterstützung in der Fraktion, obwohl er seine Bereitschaft zur Kandidatur erklärte.
Auf Seiten der SPD gab es nur bei den Ministerpräsidenten ernsthafte Versuche, Adenauers
Koalitionspläne zu verhindern. Die Parteiführung nannte am Tag nach der Wahl die Besetzung des
Wirtschaftsministeriums als Bedingung für eine Regierungsbeteiligung und unterstützte damit indirekt die
Befürworter der kleinen Koalition in den Unionsparteien. Die von Schumacher verfasste Stellungnahme
des Parteivorstands sagte bereits am Tag nach der Wahl die Bildung eines Bürgerblocks voraus und
erklärte „große Massen des Volkes“ hätten „gegen ihre ureigensten wirtschaftlichen und sozialen
Interessen gewählt“. Die erste Sitzung des SPD-Parteivorstandes nach der Bundestagswahl fand erst am
540
H. Köhler: Adenauer....S.518-552; H.-P. Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg...S. 619-638; K. Niclauß:
Kanzlerdemokratie. Bonner Regierungspraxis von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, Stuttgart 1988,
S. 22-25
541
Auftakt zur Ära Adenauer. Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung 1949, bearb. von U.
Wengst, Düsseldorf 1985, S. 255 und passim
200
29./30. August 1949 in Bad Dürkheim statt. Henßler aus Dortmund, die Berliner Vertreterin Louise
Schröder und der Bremer Regierungschef Kaisen befürworteten Koalitionsgespräche mit der CDU/CSU,
konnten sich aber gegen Schumacher, Ollenhauer, Schmid und Schoettle nicht durchsetzen. Der SPDParteivorstand formulierte auf dieser Sitzung sein Oppositionsprogramm, die „Dürkheimer 16 Punkte“,
bevor die CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 1. September erstmals zusammentrat.
Schumacher war auch nicht davon abzubringen, sich als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten
aufstellen zu lassen. Mit dieser „Kampfkandidatur“ sicherte er die in der Union bis zuletzt umstrittene
Wahl von Heuss und damit den wichtigsten Eckstein in Adenauers Koalitionsgebäude. Die Aufstellung
eines sozialdemokratischen Kompromisskandidaten oder gar das Votum für einen CDU-Politiker hätte
Adenauer in große Schwierigkeiten gebracht542. Obwohl die Sozialdemokraten bereits frühzeitig die
Oppositionsrolle übernahmen, blieb die Bildung der ersten Regierung Adenauer bis zuletzt unsicher. Dies
zeigte sich auch am Tag der Kanzlerwahl: Adenauer erhielt am 15. September 1949 202 Stimmen und
blieb damit um 6 Stimmen hinter seiner Koalitionsmehrheit zurück. Da zwei FDP-Abgeordnete abwesend
waren, und ein zustimmendes Votum möglicherweise aus der Bayernpartei kam, haben offenbar fünf
Abgeordnete der zukünftigen Regierungsparteien gegen Adenauer gestimmt.
Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie hatten sich bei den Grundgesetzberatungen weitgehend
durchgesetzt, die Wahlen nicht gewonnen und bei der Regierungsbildung verloren. Dies galt zumindest
für die Sozialdemokraten und für die Zentrumspartei, soweit diese dem mehrheitsdemokratischen
Konzept folgte. Die Liberalen zogen das glücklichste Los: Sie hatten im Parlamentarischen Rat an der
Seite der SPD für ausreichende Bundeskompetenzen und für eine in weltanschaulicher Hinsicht offene
Verfassung gegen die Unionsparteien gefochten und waren jetzt der unentbehrliche Koalitionspartner
Adenauers. Den Sozialdemokraten mussten Grundgesetz und Regierungssystem wie ein nach eigenen
Wünschen konstruiertes Gebäude erscheinen, das von einem fremden Käufer erstanden und nach dessen
Vorstellungen genutzt wird.
Der Grund dafür, dass die Ziele der sozialen Mehrheitsdemokratie nur in der Verfassung, aber nicht in der
anschließenden inhaltlichen politischen Gestaltung verwirklicht wurde, lag in Fehleinschätzungen, die
nicht zuletzt dem Parteivorsitzenden Schumacher anzulasten sind. Die polemisch vorgetragene These, die
CDU/CSU sei ein heterogenes Gebilde, war durchaus zutreffend. Die hieraus seit dem Frankfurter
Wirtschaftsrat abgeleitete Taktik der Oppositionsrolle und der klaren Fronten führte jedoch zur
Konsolidierung des politischen Gegners auf Kosten der Unionskreise, die der SPD in der
wirtschaftspolitischen Programmatik nahe standen. Der Erfolg der sozialdemokratischen Fraktion im
Parlamentarischen Rat ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie sich diesem Konzept der klaren
Fronten entzog und die Differenzen innerhalb der CDU/CSU durch Kooperation in unterschiedliche
Richtungen ausnutzte. Die CDU/CSU hatte bei den Grundgesetzberatungen mehrere Niederlagen
hinnehmen müssen, bei den Wahlen kaum mehr als einen Achtungserfolg erreicht und bei der
Regierungsbildung die Führungsrolle übernommen. Zusammen mit der FDP konnte sie die Modernität
des Grundgesetzes für einen wirtschaftspolitischen Erfolgkurs nutzen, der aber weder so marktwirtschaftlich noch so sozial war, wie Ludwig Erhard ihn propagierte.
Während die Regierung Adenauer das mehrheitsdemokratische Instrumentarium des Grundgesetzes
anwandte, und z.B. die konkurrierende Gesetzgebung nahezu vollständig als Bundesgesetzgebung in
Anspruch nahm, verstärkten sich allerdings auch die konstitutionell-demokratischen Gegengewichte.
Hinsichtlich des Bundesrats war Adenauer nach der aus seiner Sicht missglückten Wahl des
Bundesratspräsidenten vorgewarnt. Er versuchte mit Erfolg, die Koalitionsbildung in den Ländern im
Sinne des Bonner Vorbilds zu beeinflussen. Bis 1953 blieb die Zusammensetzung des Bundesrates jedoch
ein Unsicherheitsfaktor. Im Jahre 1952 ließ z. B. der FDP-Ministerpräsident von Baden-Württemberg,
542
K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei...S.188 ff.; W. Albrecht (Hrsg.): Kurt Schumacher. Reden Schriften - Korrespondenzen 1945-1952, Berlin-Bonn 1985, S. 681 ff.
201
Reinhold Maier, die Verträge zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft entgegen dem
Mehrheitsvotum seiner sozialliberalen Landesregierung passieren. Gleichzeitig nahm die Zahl der
Zustimmungsgesetze, bei denen die Länderkammer ein absolutes Vetorecht hat, ständig zu.
Die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie verbundenen Reformziele hatten nach der Wahl- und
Koalitionsentscheidung vom August/September 1949 keine Aussicht auf Verwirklichung. Zum Bereich
des öffentlichen Dienstes legte die Bundesregierung bereits im Oktober 1949 ein vorläufiges
Bundespersonalgesetz vor, das eine kaum veränderte Version des Deutschen Beamtengesetzes von 1937
darstellte. Anfang März 1950 wurde dieses Gesetz mit den Stimmen der Regierungskoalition, der
Bayernpartei und der Deutschen Rechtspartei angenommen, während SPD und KPD gegen die Vorlage
stimmten. Die Alliierte Hohe Kommission erhob zwar Einspruch gegen das Gesetz. Die
Besatzungsmächte nahmen diesen Einspruch jedoch nach geringfügigen Veränderungen zurück und
suspendierten ihr eigenes Beamtengesetz Nr. 15, das sie seinerzeit für die Bizone erlassen hatten. Der
öffentliche Dienst wurde damit nicht nur „unter Berücksichtigung“ der hergebrachten Grundsätze
geregelt, wie die Kompromissformulierung des Parlamentarischen Rates lautete, sondern im Sinne einer
vollständigen Restauration.
Ähnlich verliefen die Beratungen über den Personenkreis, der zum Zeitpunkt der Kapitulation des
deutschen Reiches im öffentlichen Dienst stand, aber bisher keine entsprechende Stelle erhalten hatte
(Art. 131 GG). Bei der Vorbereitung des entsprechenden Gesetzes wurden die aufgrund der
Entnazifizierung entlassenen Beamten auf geschickte Weise mit den echten Sozialfällen
(Heimatvertriebene, Beamte aufgelöster Dienststellen, Berufssoldaten) vermischt. Die „entnazifizierten
131er“ (C. Garner) entgingen damit der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die großzügige
Wiedereingliederungsregelung kam schließlich allen „verdrängten“ Beamten zugute und wurde mit den
Stimmen der Opposition angenommen543.
Die Frage der Überführung von Industrien in Gemeineigentum war nach Bildung der ersten
Bundesregierung nur noch theoretisch offen. Entsprechende Forderungen wurden zwar beim
Gründungskongress des DGB vom 12. bis 14. Oktober 1949 verabschiedet. Die Bonner Koalition dachte
jedoch nicht daran, auf diesem Gebiet die Initiative zu ergreifen. Die Alliierte Hohe Kommission erließ
zunächst ein neues Gesetz (Gesetz Nr. 27 vom 16. Mai 1950), das die Aufgliederung der Eisen- und
Stahlindustrie vorantrieb. In einer hieran anschließenden Verordnung wurden die Direktoren der alten
Konzerne zu Liquidatoren bestellt. Die Eigentumsfrage blieb jedoch weiterhin offen und wurde auch in
Art. 83 des Vertrages über die EGKS vom 18. April 1951 ausdrücklich ausgeklammert. Im April 1951
beschloss jedoch die Hohe Kommission, die Aufgliederung der Montanbetriebe mit einem
Aktienumtausch zu verbinden, der die Altbesitzer auch zu Besitzern der neuen Betriebe machte. Der
britische Vertreter legte hiergegen ein Veto ein, wurde jedoch von seinen amerikanischen und
französischen Kollegen überstimmt. Die Besatzungsmächte waren offenbar der Auffassung, da eine
deutsche Sozialisierungsinitiative nicht zu erwarten sei, hätten sie ihre Zusage, die Deutschen selbst
könnten über die Eigentumsregelung entscheiden, inzwischen erfüllt. Hartwich kommt in seiner Studie zu
dem Resultat: „Die alten Verhältnisse wurden wiederhergestellt, nachdem durch die besatzungsrechtlichen Eingriffe vorübergehend eine zumindest offene Situation geschaffen worden war“544.
543
U. Wengst: Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der
Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948-1953, Düsseldorf 1988, S. 108 ff. und S. 152
ff.; C. Garner: Der öffentliche Dienst in den fünfziger Jahren...in: A. Schildt/ A. Sywottek (Hrsg.):
Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 759790
544
H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln-Opladen 1970, S. 189 f; E.
Schmidt: Die verhinderte Neuordnung 1945-1952, Frankfurt 1970, S. 176-187; B. Ruhm von Oppen
(Hrsg.): Documents on Germany under Occupation 1945-1954, London 1955, S. 490 f. und 513 ff.
sowie K. Pritzkoleit: Die neuen Herren. Die Mächtigen in Staat und Wirtschaft, Wien u.a. 1955, S. 353
f.
202
In der Frage der betrieblichen Mitbestimmung drohte ein ähnliches Scheitern der Reformbestrebungen
wie bei der Eigentumsstruktur. Die Gewerkschaften gingen zunächst davon aus, die Mitbestimmung der
Eisen- und Stahlindustrie auf alle Großbetriebe ausdehnen zu können. Die Intentionen der Unternehmer,
die sich inzwischen im BDI und in der BDA reorganisiert hatten, liefen in die entgegengesetzte Richtung.
Hier bezweifelte man, ob die mit Unterstützung der britischen Besatzungsmacht zu Beginn des Jahres
1947 durchgesetzte Form der Mitbestimmung mit der deutschen Rechtsordnung und mit dem Ziel des
wirtschaftlichen Wiederaufbaus zu vereinbaren sei. Ludwig Erhard, der Wirtschaftsminister der ersten
Bundesregierung, vertrat die gleiche Position wie die Unternehmerseite und erklärte bereits im Dezember
1949, die Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie widerspreche der sozialen Marktwirtschaft.
Sein Ministerium bereitete einen Gesetzentwurf für ein Betriebsverfassungsgesetz vor, das von der
paritätischen Mitbestimmung weit entfernt war. Die IG Metall hielt daraufhin Ende November 1950 in
den Betrieben eine Urabstimmung zur Streikbereitschaft ab, bei der sich 96 % der Metallarbeiter für eine
Arbeitsniederlegung zur Verteidigung ihrer Mitbestimmungsrechte bereiterklärten. Im Januar beschloss
außerdem die IG Bergbau eine Urabstimmung über einen eventuellen Streik zur Neueinführung der
paritätischen Mitbestimmung in der Kohleindustrie. Nahezu 93 % der Beschäftigten unterstützten dieses
Ziel.
In dieser Situation schaltete sich Adenauer ein und leitete Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und
Gewerkschaften über das Mitbestimmungsproblem in der Montanindustrie ein. Der Bundeskanzler
brauchte die Unterstützung der Gewerkschaften für den Abschluss des Schuman-Plans (EGKS).
Außerdem bestand Anfang 1951 ein Engpass in der Kohleversorgung, und Adenauer wollte einen Streik
angesichts der Konsequenzen für die Stahl- und Stromerzeugung auf jeden Fall vermeiden. Der „neutrale“
elfte Mann im Aufsichtsrat war bei den Gesprächen besonders umstritten. Schließlich fand man für den
gesamten Montanbereich eine Lösung, die der seit 1947 bestehenden Regel in der Eisen- und
Stahlindustrie entsprach: Der elfköpfige Aufsichtsrat wurde paritätisch besetzt, über das elfte Mitglied
mussten sich beide Seiten einigen, und die Gewerkschaften behielten ihren Arbeitsdirektor im Vorstand.
Die Verhandlungen über das Betriebsverfassungsgesetz für die Betriebe außerhalb des Montan-Bereichs
zogen sich bis in das Jahr 1952 hin und verliefen für die Gewerkschaften weniger günstig. Offenbar hatten
sie den richtigen Zeitpunkt verpasst, um mit glaubhaften Streikdrohungen ihre Ziele durchsetzen zu
können. Im Mittelpunkt ihrer Agitation stand die Kritik am Entwurf der Bundesregierung; ein
Alternativentwurf der Gewerkschaften lag jedoch nicht vor. In dieser Frage setzte sich die
parlamentarische Mehrheit durch. Der Regierungsentwurf des Betriebsverfassungsgesetzes wurde am 19.
Juli 1952 von der Koalition gegen die Stimmen von SPD und KPD verabschiedet. Einige CDUAbgeordnete des Gewerkschaftsflügels enthielten sich der Stimme. Die Arbeitnehmervertreter erhielten
nur ein Drittel der Sitze im Vorstand und keinen Vertreter im Aufsichtsrat. Das Mitwirkungsrecht der
Betriebsräte blieb auf Personalentscheidungen, Betriebsschließungen und Änderungen des Betriebszieles
beschränkt. Diese sicher nicht zu unterschätzenden Möglichkeiten wurden von Gewerkschaftsseite damals
als Niederlage empfunden545
Die im Zusammenhang mit der Politik des Frankfurter Wirtschaftsrats bereits erwähnte Frage des
Lastenausgleichs blieb auch nach Gründung der Bundesrepublik aktuell. Ein Soforthilfegesetz trat im
August 1949 im Bereich der Bizone und ein Jahr später auch in der französischen Zone in Kraft.
Flüchtlinge, Kriegsgeschädigte, Währungsgeschädigte und politisch Verfolgte erhielten auf diesem Wege
erste Hilfen zum Lebensunterhalt, für Arbeitsplatzbeschaffung und Wohnungsbau. Voraussetzung für den
eigentlichen Lastenausgleich war die Feststellung der erlittenen Schäden nach dem sogenannten
Feststellungsgesetz, das jedoch erst im April 1952 verabschiedet wurde. Etwa 11 Millionen Menschen
545
E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung...S.204-220; M. Schneider: Demokratisierungskonsens
zwischen Unternehmen und Gewerkschaften? Zur Debatte um Wirtschaftsdemokratie und
Mitbestimmung, in: A. Schildt/ A. Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau...S. 207-222
203
hatten durch Krieg, Vertreibung oder Verfolgung Vermögensschäden erlitten, insgesamt in Höhe von 89
Milliarden Reichsmark. Hinz kamen Verluste von 100 Milliarden Reichsmark durch die Währungsreform,
von denen aber nur 25,8 Milliarden zur Entschädigung anerkannt wurden. Auf der anderen Seite
bestanden hohe Vermögenswerte, die den Krieg und die Nachkriegssituation ohne Schaden überstanden
hatten. Das Bruttoanlagevermögen lag zum Zeitpunkt des Soforthilfegesetzes trotz Zerstörungen und
Demontagen höher als vor dem Zweiten Weltkrieg.
Angesichts dieser Situation boten sich zwei Lastenausgleichsstrategien an: Auf der einen Seite
befürworteten die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie einen Lastenausgleich, der gleichzeitig ein
Vermögensausgleich sein und mehr soziale Gerechtigkeit herstellen sollte. Die von der
Regierungskoalition entwickelte Gegenposition wollte Eingriffe in die bestehende Vermögenssubstanz
vermeiden und argumentierte, wie Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung, man dürfe den
Wiederaufbau der Wirtschaft nicht gefährden. Lastenausgleich war aus dieser Sicht vorwiegend als
Beihilfe zur Neueingliederung gedacht. Die im Mai 1952 getroffene gesetzliche Regelung war ein
Kompromiss zwischen beiden Konzeptionen, lief aber in der praktischen Durchführung, die bis zum
Jahresende 1978 andauerte, auf die Beihilfe-Konzeption hinaus. Die Gesamtsumme der Leistungen des
Lastenausgleichs erreichte bis 1979 113,9 Milliarden DM und war damit die bisher „größte
Vermögensabgabe der Geschichte“.
Der Eingriff schien radikal, weil 50 % des am Stichtag der Währungsreform vorhandenen Vermögens in
Anspruch genommen wurden. In Wirklichkeit erfolgte die Berechnung nach dem Einheitswert, der in der
Regel unter dem Verkehrswert der Vermögen lag, und es gab zahlreiche Ausnahmeregelungen. Die
Abgaben für den Lastenausgleich wurden bis zum Jahr 1978 gestreckt und waren steuerlich abzugsfähig.
Durch die steigenden Gewinne und Vermögenserträge sowie eine gewisse Geldentwertung wurden die
Belastungen im Laufe der Jahre erheblich reduziert. Auch die Leistungen des Lastenausgleichs verteilten
sich dementsprechend auf einen längeren Zeitraum. In den ersten Jahren wurden fast ausschließlich
Unterstützungszahlungen geleistet. Die Hauptentschädigung mit dem Ausgleich des Vermögensverlusts
folgte erst ab 1959 und ging deshalb, wie Abelshauser feststellt, häufig schon an die Erben der
Betroffenen. Für die Empfänger handelte es sich insgesamt um eine sozialpolitische Maßnahme, für die
Zahler der Ausgleichsleistungen um eine zunächst geringe, später nur noch marginale Sondersteuer. Ein
Vermögensausgleich wurde nicht erreicht und war nach den Intentionen der Bundestagsmehrheit auch
nicht beabsichtigt546.
Während die inhaltlichen Entscheidungen den Motiven der konstitutionellen Demokratie entsprachen,
ebnete die von der sozialen Mehrheitsdemokratie geprägte Struktur des Grundgesetzes den Weg zum
wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik. Das „Wirtschaftswunder“ und der mit ihm verbundene
Ausbau des Sozialstaates beruhten auf einer Reihe von direkten oder indirekten staatlichen
Lenkungsmaßnahmen, die ohne die entsprechenden Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen nicht
möglich gewesen wären. Das Investitionshilfegesetz vom Januar 1952 liefert ein anschauliches Beispiel
für die Bedeutung von Planungsentscheidungen beim wirtschaftlichen Wiederaufbau: In der
westdeutschen Grundstoffindustrie und bei der Infrastruktur zeichnete sich im Laufe des Jahres 1950 eine
Investitionslücke ab, die das Wirtschaftswachstum zu blockieren drohten. Sie wurde vor allem von den
reglementierten Preisen für Grundstoffe, Energie und Transporte verursacht, die private Investoren in
diesem Sektor zur Zurückhaltung veranlassten. Eine Freigabe der Preise war jedoch nicht opportun, weil
Preise und Löhne ohnehin anstiegen. Die Unternehmerverbände boten in dieser Situation eine
Selbsthilfeaktion von 1 Milliarde DM zugunsten der Eisen- und Stahlindustrie, des Kohlebergbaus, der
546
W. Abelshauser: Die langen fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik
Deutschland 1949-1966, Düsseldorf 1987, S. 33 f., 35 f. und S. 81; W. A. Boelcke: Die Kosten von
Hitlers Krieg, Paderborn 1985, S. 205-207; H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher
status quo...S. 190-192; C. Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955,
Bonn 1982, S. 240 ff. und 493 ff.
204
Elektrizitätserzeugung, der öffentlichen Versorgungsbetriebe und der Bundesbahn an. Diese Investitionen
sollten durch eine Abgabe der anderen Industrien finanziert werden. Um dieser Lösung Nachdruck zu
verleihen, war dann doch ein entsprechendes Bundesgesetz notwendig, das am 10. Januar 1952 in Kraft
trat. Das Einziehen der Gelder wurde vom Finanzamt besorgt, die Zuteilung von einem Ausschuss der
Industrie, und die Verwaltung der Mittel erfolgte durch die Industriekreditbank547.
Abelshauser bezeichnet das Investitionshilfegesetz als die „Stunde der Verbände“, weil diese sich
anboten, die notwendigen Lenkungs- und Planungsmaßnahmen auf privatwirtschaftlicher Ebene
durchzuführen. Die „freie“ Marktwirtschaft habe sich damit zur „kooperativen“ Marktwirtschaft
weiterentwickelt. Nach der vergleichenden Untersuchung von Andrew Shonfield haben die Banken im
deutschen Wirtschaftssystem die Aufgabe von „Präfekten“ übernommen. Sie koordinieren die privaten
Investitionen und verteilen die staatlichen Beihilfen zur Wirtschaftsförderung. Die mehr oder weniger
freiwillige Anleihe zur Investitionslenkung war nach Shonfield auch kein „vereinzeltes
Stoßtruppunternehmen“ gegen die marktwirtschaftlichen Prinzipien. Als ein weiteres wichtiges
Lenkungsinstrument bot sich die Verteilung der Gegenwertmittel aus den Marshallplangeldern an. Die für
diesen Zweck eigens gegründete Kreditanstalt für Wiederaufbau vergab verbilligte Kredite an
förderungswürdige Unternehmen und orientierte sich hierbei ganz bewusst nicht nur an der Rentabilität,
sondern an langfristigen volkswirtschaftlichen Überlegungen. Im Jahre 1950 belief sich diese
„Manövriermasse“ der Investitionsplanung auf 9 % der westdeutschen Bruttoinvestitionen. Da die
entsprechenden Kredite durch Privatbanken vermittelt wurden, arbeiteten auch in diesem Falle staatliche
und private Investoren Hand in Hand. Shonfield vergleicht die Rolle der Kreditanstalt mit der Funktion
der halbstaatlichen Bank Crédit National im Rahmen der französischen Wirtschaftsplanung nach 1945548.
Eine dritte und bis in die Gegenwart übliche Form der Investitionslenkung waren steuerliche Vorteile.
Durch eine Vielzahl von Steuervergünstigungen wurde die Selbstfinanzierung von Unternehmen
gefördert. Es gab erweiterte Abschreibungsmöglichkeiten und Steuerfreiheit für investierte Gewinne. Eine
besondere Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang die Förderung des Wohnungsbaus, für den auch
direkte öffentliche Investitionen bereitgestellt wurden549. Auf diese Weise leistete das
mehrheitsdemokratische Element im Grundgesetz einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der
Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Die Voraussetzungen des Wirtschaftswunders lagen nicht nur in
der privaten Initiative, sondern auch in den umfassenden Zuständigkeiten des Bundes bei der Wirtschafts-,
Sozial- und Steuergesetzgebung. Die Bundesrepublik war nach dem Urteil von Abelshauser in den 50er
Jahren besser als andere Länder für moderne Wirtschaftslenkung und langfristige Planung gerüstet. Dieser
Vergleich bezieht sich insbesondere auf Frankreich, wo Planung seit dem Monnet-Plan von 1946 zum
offiziellen Regierungsprogramm gehörte. Die mehrheitsdemokratische Praxis stand allerdings in einem
deutlichen Widerspruch zur konstitutionell-demokratischen Begründung der Wirtschaftspolitik: Die
Bundesregierung, und vor allem der Wirtschaftsminister, schrieben die Erfolge der privaten Initiative und
der neuliberalen Ordnungspolitik zu. Die Realitäten der staatlichen Wirtschaftstätigkeit und der
Selbstkoordination in den einflussreichen Verbänden blieben dagegen „confidential“. Andrew Shonfield
kommt mit dem Blick auf die Bonner Wirtschaftspolitik der 50er Jahre zu dem Schluss, selten habe sich
ein Ministerium so lautstark zu den Vorzügen des wirtschaftlichen Liberalismus sowie der
Marktwirtschaft bekannt und gleichzeitig so energisch dafür eingesetzt, „die Richtung der
wirtschaftlichen Entwicklung zu bestimmen und die Ziele auszuwählen“550.
547
V. Hentschel: Ludwi Erhard...S. 148 und 154 ff.; H. C. Wallich: Triebkräfte des deutschen
Wiederaufstiegs, Frankfurt a.M. 1955, S. 167 f.
548
A. Shonfield: Geplanter Kapitalismus. Wirtschaftspolitik in Westeuropa und USA, Köln 1968, S. 326333; W. Abelshauser: Die langen fünfziger Jahre...S. 21ff.
549
H. C. Wallich: Triebkräfte...S. 151 ff. und 163 ff.
550
A. Shonfield: Geplanter Kapitalismus...S. 325
205
Quellen und Literatur
I. Unveröffentlichtes Material
1. Bibliothek des Deutschen Bundestages:
Zonenbeirat der britischen Zone: Stenografische Protokolle der Plenarsitzungen 1946-1948
Verfassungskonvent von Herrenchiemsee: Stenographische Protokolle der Plenarsitzungen;
Stenographische Protokolle über die Sitzungen der Unterausschüsse I - III (Grundsatzfragen,
Zuständigkeitsfragen und Organisationsfragen); zitiert: HChParlamentarischer Rat: Drucksachen Bd. 1-9; Stenographische Protokolle der Ausschüsse für
Organisationsfragen (Organisationsausschuss) sowie für Verfassungsgerichtshof und
Rechtspflege (Rechtspflegeausschuss); zitiert: PR2. Bundesarchiv, Koblenz: Nachlass Heuss
3. Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) - Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn:
Bestand Schumacher; Bestand Ollenhauer; Nachlass Menzel; Nachlass C. Schmid; Nachlass
Hoch; Parteivorstand SPD, Protokolle 1948 und 1949
4. Archiv des Deutschen Liberalismus (ADL) - Friedrich-Naumann-Stiftung, Gummersbach:
Nachlass Dehler; 132 FDP-britische Zone, Staat und Verfassung, Außenpolitik; Mitteilungen der
FDP im Parlamentarischen Rat D2-2282
5. Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus (BAH), Bad Honnef-Rhöndorf:
Nachlass Adenauer 09.01 - 09.03 und 09.09
6. Amerikahaus München:
Surveys Section, Intelligence Branch Β Information Control Division, OMGUS - USFET
Reports No.1 ff.
II. Veröffentlichte Quellen
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Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Bundesarchiv und Institut
für Zeitgeschichte: Band 4 (Januar-Dezember 1948), bearb. von C. Weisz, H.-D. Kreikamp u. B.
Steger, Band 5 (Januar - September 1949), bearb. Von H.-D. Kreikamp, München 1989 ( zitiert:
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Albrecht, Willy (Hrsg.): Kurt Schumacher. Reden - Schriften - Korrespondenzen 1945-1952,
Berlin - Bonn 1985.
206
Auftakt zur Ära Adenauer. Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung 1949, bearb. von
Udo Wengst, Düsselsorf 1985
Bayerische Verfassunggebende Landesversammlung. Stenogr. Berichte, München o.J.(1946)
Beratende Landesversammlung von Rheinland-Pfalz. Stenogr. Berichte, o. O. o. J
Bericht des Verfassungsausschusses von Wüttemberg-Baden, o. O. 1946.
Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, München o. J.
Christlich Demokratische Union der britischen Zone. Erster Zonenparteitag in Recklinghausen
am 14. und 15. August 1947, Köln-Marienburg o. J.
Die CDU/CSU im Frankfurter Wirtschaftsrat. Protokolle der Unionsfraktion 1947-1949, bearb.
von Rainer Salzmann, Düsseldorf 1988.
Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, eingel. und
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Dokumente der Kommunistischen Partei Deutschlands 1945-1956. Berlin 1965.
Drucksachen der Verfassungsberatenden Landesversammlung Groß-Hessen. Abt. 1 bis 3a.
Wiesbaden 1946 (enthält die Protokolle des Plenums, des Verfassungsausschusses sowie des
Siebenerausschusses).
Ernannter Landtag von Nordrhein-Westfalen. Stenogr. Bericht, o. O. 1946/47.
FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen unter dem Vorsitz von Theodor Heuss und Franz Blücher.
Sitzungsprotokolle 1949-1954, bearb. von Udo Wengst, Düsseldorf 1990.
Flechtheim, Ossip K.(Hrsg.): Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit
1945. Bd. I - IX, Berlin 1962 - 1971.
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1947 Volume II: The Occupation and Control of Germany, Washington 1972
1947 Volume III: The British Commonwealth, Europe, Washington 1972
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Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht
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Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 1946-1949. Dokumente zur
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Landtag von Nordrhein-Westfalen - 1. Wahlperiode. Stenographischer Bericht. Düsseldorf
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und vom Bundesarchiv, Bd. 1-11, Boppard, später München 1974-1997 (zitiert: PR Akten und
Protokolle...)
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Parlamentarischer Rat. Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Erstattet von den Berichterstattern des Hauptausschusses für das Plenum.
Bonn 1948/49 ( zitiert: PR-Schriftlicher Bericht)
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1948 in Düsseldorf, Hamburg 1947 ff.( zitiert: Protokoll SPD Parteitag).
Ruhm von Oppen. Beate (Hrsg.): Documents on Germany under Occupation 1945-1954,
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208
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Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes
1947-1949. Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte und dem Deutschen Bundestag, bearb. von
Christoph Weisz u. Hans Woller, 6 Bde, München 1977.
III. Zeitungen und Zeitschriften
Deutsche Rundschau, Berlin.
Frankfurter Hefte, Frankfurt.
Die Gegenwart, Frankfurt.
Die Neue Zeitung, Frankfurt/München/Berlin.
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Rheinischer Merkur, Koblenz.
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Tägliche Rundschau, Berlin.
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215
Abkürzungen
(soweit nicht im Text an gleicher Stelle aufgelöst)
Abg.
Abs.
ADL
AdsD
Anm.
APSR
APuZ
Art.
Aufl.
AVBD
BCSV
Bd.
BDI
BDA
BDV
Benelux
BP
CDU
CDP
CSU
DDR
DGB
d. h.
DKP
DNVP
DP
DVP
DRP
EGKS
EKD
etc.
FDGB
FDP
FRUS
GG
HCh
Hrsg.
IG
JöR, N.F.Bd.1
jur. Diss.
KPD
LDP
M.A.
Abgeordneter
Absatz
Archiv des Deutschen Liberalismus
Archiv der sozialen Demokratie
Anmerkung
American Political Science Review
Aus Politik und Zeitgeschichte
Artikel
Auflage
Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
Badische Christlich-Soziale Volkspartei
Band
Bundesverband der Deutschen Industrie
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
Bremer Demokratische Volkspartei
Belgien, Niederlande, Luxemburg
Bayernpartei
Christlich-Demokratische Union
Christlich-Demokratische Partei
Christlich-Soziale Union
Deutsche Demokratische Republik
Deutscher Gewerkschaftsbund
das heißt
Deutsche Konservative Partei
Deutschnationale Volkspartei
Deutsche Partei
Demokratische Volkspartei, Deutsche Volkspartei (Weimarer Republik)
Deutsche Rechtspartei
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
Evangelische Kirche in Deutschland
et cetera
Freier Deutscher Gewerkschaftsbund
Freie Demokratische Partei
Foreign Relations of the United States
Grundgesetz
Herrenchiemsee-Konvent
Herausgeber
Industrie-Gewerkschaft
Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes (Jahrbuch des
öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F. Bd. 1), Tübingen 1951
juristische Dissertation
Kommunistische Partei Deutschlands
Liberal-Demokratische Partei (Hessen)
Magister Artium
216
NG
NL
NLP
Nr.
NS
NSDAP
o. J.
OMGUS
o. O.
ÖTV
PR
PVS
RM
SJZ
sog.
SP
SPD
SPD PV
SSW
stenogr.
TVA
u.a.
UK
US
USFET
VjZG
Vol.
WAV
WRV
Z
z. B.
ZParl
Notgemeinschaft
Nachlass
Niedersächsische Landespartei
Nummer
nationalsozialistisch
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
ohne Jahresangabe
Office of Military Government of the United States
ohne Ortsangabe
Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr
Parlamentarischer Rat
Politische Vierteljahresschrift
Reichsmark
Süddeutsche Juristenzeitung
sogenannt
Sozialdemokratische Partei (Baden)
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Parteivorstand der SPD
Südschleswigscher Wählerverband
stenografisch
Tennessee-Valley-Authority
unter anderem
United Kingdom
United States
US - Forces European Theater
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Volume
Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung
Weimarer Reichsverfassung
Deutsche Zentrumspartei
zum Beispiel
Zeitschrift für Parlamentsfragen