Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz
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Karlheinz Niclauß: Der Weg zum Grundgesetz
1 Karlheinz Niclauß Der Weg zum Grundgesetz Demokratiegründung in Westdeutschland 1945-1949 Die Seitenzahlen und die Nummerierung der Anmerkungen sind nicht identisch mit der Buchausgabe (Paderborn 1998). Zitate sollten anhand dieser überprüft werden. („Es gilt das gedruckte Wort“) 2 Inhalt Vorwort 4 Einleitung: Die innerdeutsche Diskussion seit 1945 als Ausgangspunkt 6 I. Die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie 14 1. Wirtschaftsprogrammatik und Geschichtsinterpretation 14 2. Die verfassungspolitischen Grundlagen 27 II. Die Konzeption der konstitutionellen Demokratie 40 1. Gesellschafts- und Kulturkritik als Grundlage politischer Ordnungsvorstellungen 40 2. Verfassungsvorstellungen und Demokratieverständnis 49 III. Von den Frankfurter Dokumenten zum Parlamentarischen Rat 60 IV. Vorentscheidungen oder offene Fragen? 73 1. Parteipolitik und Personalentscheidungen im Frankfurter Wirtschaftsrat 74 2. Sozialisierung 83 3. Mitbestimmung 89 4. Öffentlicher Dienst 93 V. Der Konsensusbereich in der Verfassungsdiskussion nach 1945 95 1. Die Entscheidung für eine parlamentarische und parteienstaatliche Demokratie 95 2. Volksentscheid und Parlamentsauflösung 104 3. Demokratie- und Verfassungsschutz in der Nachkriegsdiskussion 109 3 VI. Die Demokratiediskussion im Parlamentarischen Rat 115 1. Funktion und Zusammensetzung der Länderkammer a. Die Positionen b. Der Verlauf der Beratungen 116 116 120 2. Zustimmungsgesetze 126 3. Die Judikative als Gegenstand der Demokratiediskussion 128 4. Umfang und Bedeutung der Grundrechte 134 5. Gesetzgebungskompetenzen und politische Ziele 146 6. Der Parlamentarische Rat und der Umfang der Bundesgesetzgebung 154 7. Verwaltung und Finanzen 161 VII. Der Verfassungskompromiss des Grundgesetzes 168 1. Parteitaktik und Demokratievorstellungen 168 2. Verbundföderalismus 178 3. Das Votum für eine pluralistische, soziale und repräsentative Demokratie 182 VIII. Grundgesetzberatungen und Bundestagswahl 1949 186 1. Parteien und Besatzungsmächte im Vorfeld der Bundestagswahl 186 2. Wahlverfahren und Wahlentscheidung 1949 192 3. Die Klärung offener Fragen 198 Quellen und Literatur 205 Abkürzungen 215 4 Vorwort Der fünfzigste Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war ein willkommener Anlass, die Neubearbeitung meiner 1974 erschienenen Studie über die Demokratiegründung in Westdeutschland in Angriff zu nehmen. Die eigentliche Rechtfertigung für diesen Schritt liegt jedoch in der Aktualität der zwischen 1945 und 1949 in Westdeutschland geführten Diskussion über Demokratie und Verfassungsfragen. Viele Probleme, die damals die Politiker und die Öffentlichkeit beschäftigten, stehen heute in leicht veränderter Form auf der politischen Tagesordnung. Das gilt z.B. für die Frage, wie eine Reorganisation des Föderalismus mit einheitlichen Lebensverhältnissen im Bundesgebiet zu vereinbaren sei. Beim Abwägen zwischen Grundrechtsschutz und dem Schutz von Demokratie und Verfassung lassen sich ähnliche Parallelen aufzeigen. Auch das in der Nachkriegszeit viel diskutierte Subsidiaritätsprinzip kam inzwischen zu europäischen Ehren. Die kleineren Einheiten wie Gemeinden, Regionen, Vereine, Arbeitsplatz und Familie gewinnen in der Tat wieder an Bedeutung, weil sie anschaulichere Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnen als die gesellschaftliche Großorganisationen, die Staaten oder die Europäische Union. Mit dem Ende des Wirtschaftswunders und den zunehmenden Finanzproblemen der Sozialsysteme werden die in der Nachkriegszeit erörterten Fragen des Lastenausgleichs und der sozialen Verpflichtung des Eigentums wieder aktuell. Das Spannungsverhältnis zwischen einem an sozialen Änderungen orientierten Demokratieverständnis und dem Wunsch nach Machtaufteilung, um erworbene Rechte und Positionen zu sichern, bleibt ohnehin bestehen. Schließlich ist die Legitimation des Grundgesetzes immer noch in der Diskussion, weil sie nicht durch eine Volksabstimmung, sondern durch ein zustimmendes Votum der Landtage erfolgte. Neue Untersuchungen und veröffentlichte Quellen zur Nachkriegsgeschichte trugen dazu bei, dass diese Bearbeitung zu einem neuen Buch führte. Zahlreiche Publikationen der letzten Jahre haben mir den Einblick in Zusammenhänge erleichtert, die man zu Beginn der siebziger Jahre nur erahnen konnte. Mein Ziel war, bei der Beschreibung des Demokratiegründungsprozesses den gegenwärtigen Stand der Forschung zu berücksichtigen und an einigen Stellen Neues hinzuzufügen. Hierbei wurde ich von den im Quellenteil genannten Archiven großzügig unterstützt. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Cordia Großmann, Eva Leistenschneider, Michael Schäfer M.A., Monique Schulte und Ulrike Wolf halfen mir bei den vielen Schritten, die zur Umwandlung eines alten in ein neues Buch notwendig sind. Allen danke ich an dieser Stelle für ihre Unterstützung. Bonn, Juli 1998 K. N. 5 Für Heidrun 6 Wer eine Verfassung macht, will nicht ein Ding an sich in die Welt setzen, sondern will damit die Erreichung bestimmter Ziele fördern und bestimmte Gefahren abwehren. Er will damit Machtverhältnisse und Chancen festlegen... Carlo Schmid: Was ist Wissenschaft von der Politik? Politik und Geist , 1961 Einleitung: Die innerdeutsche Diskussion seit 1945 als Ausgangspunkt Als die deutsche Kapitulation am 7./8. Mai 1945 den Zweiten Weltkrieg für den europäischen Bereich beendete, war das Gebiet des Deutschen Reiches nahezu vollständig besetzt. Die Kapitulation erfolgte bedingungslos, und die deutsche Niederlage war im Gegensatz zur Situation von 1918 so vollkommen, dass für eine erneute Dolchstoßlegende kaum noch ein Anknüpfungspunkt blieb. Am 5. Juni 1945 übernahmen die Alliierten in Berlin durch eine entsprechende Erklärung auch formell die oberste Regierungsgewalt in Deutschland, nachdem Großadmiral Dönitz mit seinem Kabinett, das sich als geschäftsführende Reichsregierung verstand, Ende Mai von der britischen Militärregierung verhaftet worden war. Auf der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945 entwarfen die Vertreter Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion den Grundriss für eine Viermächteverwaltung, an der sich auch Frankreich mit einer eigenen Besatzungszone beteiligte. Deutschland wurde in diesem Entwurf grundsätzlich als politische Einheit betrachtet. Aufgrund der zunehmenden Differenzen zwischen den Siegermächten entwickelte sich die Besatzungspolitik jedoch anders als geplant: Der Alliierte Kontrollrat, das gesamtdeutsche Organ der gemeinsamen Militärverwaltung, fällte ab März 1946 keine politischen Entscheidungen mehr, und die tatsächliche Regierungsgewalt ging in zunehmendem Maße auf die Militärgouverneure in den einzelnen Zonen über. Die Spaltung Deutschlands stellt sich aus heutiger Sicht als ein vielschichtiger Prozess dar, der 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der drei Westzonen und der Deutschen Demokratischen Republik in der sowjetischen Besatzungszone seinen vorläufigen Abschluss fand. Auf internationaler Ebene sind die Jahre nach 1945 durch den Zerfall der Anti-Hitler-Koalition, durch wachsende Spannungen zwischen den Alliierten und durch das Entstehen des Kalten Krieges gekennzeichnet. Die Einrichtung von gesamtdeutschen Zentralverwaltungen wurde zunächst durch den Einspruch Frankreichs verhindert, das auf der Potsdamer Konferenz nicht vertreten war und die Kontrolle von Saargebiet und Rheinland sowie die Internationalisierung des Ruhrgebietes als Voraussetzung für weitere Zugeständnisse betrachtete. Folgenschwerer für die weitere Entwicklung sollten die Differenzen zwischen der Sowjetunion und den drei westlichen Besatzungsmächten in der Wirtschafts- und Reparationspolitik sein: Der in Potsdam ebenfalls aufgestellte Grundsatz, Deutschland sei als wirtschaftliche Einheit zu behandeln, ließ sich nicht verwirklichen, denn er hätte eine Einigung über die Währungsreform, über eine gemeinsame Ernährungspolitik und ein Export-Import-Programm für Gesamtdeutschland vorausgesetzt. Die ergebnislosen Besprechungen der vier Außenminister in den Jahren 1945 bis 1947 gaben den Anstoß zu jeweils getrenntem Vorgehen der Besatzungsmächte westlich und östlich des „Eisernen Vorhangs“, so dass die Besatzungspolitik in den einzelnen Zonen zunehmend an Bedeutung gewann. Hier bahnte sich eine unterschiedliche Entwicklung an, die das weitere Schicksal Gesamtdeutschlands bestimmen sollte. 7 Der Verlauf des deutschen Einigungsprozesses hat der Geschichte und Vorgeschichte der Bundesrepublik neue Aktualität vermittelt: Die Wiedervereinigung bedeutete im wesentlichen, dass das politische System und die Verfassung Westdeutschlands auf das Gebiet der aufgelösten Deutschen Demokratischen Republik ausgedehnt wurde. Auch die Wirtschafts-, Rechts- und Sozialsysteme der „alten“ Bundesrepublik gelten seitdem für die „neuen“ Bundesländer. Aufgrund dieser Entwicklung erhält die Entstehungsgeschichte der westdeutschen Teilrepublik gesamtdeutsche Bedeutung - und zwar unabhängig davon, wie man den Einigungsprozess im einzelnen bewertet. Die Beratungen des Grundgesetzes, die westdeutschen Weichenstellungen zur Wirtschafts- und Sozialstruktur sowie die außenpolitische Option der Bundesrepublik werden damit nachträglich in die Zeitgeschichte der neuen Bundesländer eingefügt. Dieser Befund klingt wenig rücksichtsvoll, und die Aufgabe der Zeithistoriker würde erleichtert, wenn es möglich wäre, die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR im Zusammenhang und gleichberechtigt darstellen zu können. Die bisherigen Versuche in dieser Richtung sind verdienstvoll und, was die Darstellung der Ereignisse betrifft, durchaus erfolgreich1. Sobald man jedoch systematische Aspekte untersucht, stößt man bei diesem Unternehmen auf Schwierigkeiten, weil sich die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Strukturen in Ost und West als Hindernisse erweisen. Dem gemeinsamen Band der Nation fehlte von 1945 bis 1990 die „Staatsnation“und damit die politische Komponente. Es erweist sich deshalb als zu schmal, um als Grundlage für eine gesamtdeutsche Darstellung der politischen und sozialen Strukturen in Ost und West dienen zu können. Sobald die Fragestellungen anspruchsvoller werden und die Demokratie-Diktatur-Problematik einschließen, tritt die Teilung der Geschichte deutlich in den Vordergrund. Die beiden deutschen Staaten waren so stark dem jeweiligen Lager verbunden, dass eine separate Geschichtsschreibung kaum zu vermeiden ist. Die Strukturen der DDR bildeten von je her ein wichtiges Thema zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten in der Bundesrepublik. Die DDR-Forschung umfasste ein breites Spektrum von der Zeitgeschichte über die Politikwissenschaft bis zur Ökonomie und Jurisprudenz, litt jedoch unter dem Handicap, sich auf Berichte und Sekundärmaterialien stützen zu müssen. Sie konnte deshalb nicht immer ein zutreffendes Bild des SED-Regimes zeichnen, so dass z.B. auch die Prognose seines schnellen Zusammenbruchs ausblieb. Ihre volle wissenschaftliche Bedeutung erreichte die DDR-Forschung paradoxerweise mit dem Ende der DDR: Erst zu diesem Zeitpunkt wurden Dokumente und Berichte der Zeitzeugen zugänglich, die eine qualifizierte wissenschaftliche Analyse ermöglichen. Die Geschichte der DDR und die Beschreibung ihrer gesellschaftlich-politischen Strukturen wird deshalb in den folgenden Jahren ein zentrales Thema der Zeitgeschichtsforschung und der benachbarten Disziplinen sein. Die zeitgeschichtliche und politikwissenschaftliche Forschung zur unmittelbaren Nachkriegszeit in Westdeutschland konzentrierte sich zunächst auf die Politik der Besatzungsmächte. Entsprechende Untersuchungen wurden durch Aktenpublikationen sowie die Öffnung der amerikanischen, britischen und schließlich auch der französischen Archive gefördert. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag zur deutschen Zeitgeschichte zwischen 1945 und 1949. Im Westen kann man kaum von einer einheitlichen Besatzungspolitik sprechen. Die USA, Großbritannien und Frankreich verfolgten unterschiedliche Ziele, deren Koordination nur unter Schwierigkeiten gelang. Auch ihre verfassungspolitischen Vorstellungen waren keineswegs deckungsgleich und erschwerten die Beratungen des Grundgesetzes. Die Stellungnahmen der Militärgouverneure ließen oft lange auf sich warten und zeichneten sich durch mehrdeutige Kompromissformulierungen aus. Die Studien zur Besatzungspolitik sind allerdings durch ihre Fragestellung begrenzt: Sie bleiben trotz ihres hohen Informationswertes zur deutschen Entwicklung Studien über einen Teilbereich der Außenpolitik der betreffenden Besatzungsmacht. Aufgrund ihres Ansatzes haben Untersuchungen zur Besatzungspolitik außerdem die Neigung, den deutschen Beitrag zum politischen Wiederaufbau zu unterschätzen. Der Wirtschaftshistoriker Alan S. Milword bezeichnete dementsprechend „die fortdauernde, fast obsessive Fixierung“ auf die Besatzungspolitik als den „betrüblichsten Aspekt der deutschen Geschichtsschreibung“. 1 C. Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Bonn 1991 (5. Aufl.); A. M. Birke: Nation ohne Haus. Deutschland 1945-1961, Berlin 1989 8 Die Publikationen kämen in der Regel zu dem Resultat, der Einfluss der Besatzungsmächte auf die deutsche Gesellschaft und Politik sei gering gewesen2. Bezeichnend für die Entwicklung bis zur Gründung der Bundesrepublik ist in der Tat die Diskrepanz zwischen der obersten Gewalt der Besatzungsmächte und ihren realen Möglichkeiten, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Da die Vorgeschichte der Bundesrepublik als Besatzungspolitik nur unzureichend erfasst wird, hielt man nach anderen Konzepten Ausschau. Eine Beschreibung des Gründungsvorgangs als „Staatsgründung“ bot sich angesichts des deutschen Verfassungsdenkens an, obwohl die Besatzungsmächte in den Frankfurter Dokumenten vom 1. Juli 1948 nur von einer „Regierungsstruktur“ (governmental structure, structure gouvernementale) sprachen. Der französische Text des Dokuments Nr. 1 vermied den Begriff „Eta“ für den westdeutschen Zusammenschluss und verwandte ihn lediglich als Bezeichnung für die bereits bestehenden Länder. Der Gesichtspunkt der „Staatsgründung“ gewinnt aber seine Bedeutung aus der damaligen Diskussion der deutschen Politiker: Die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder hatten den Militärgouverneuren der Besatzungsmächte am 10. Juli 1948 in ihrer Antwort auf die Frankfurter Dokumente zunächst erklärt, es müsse alles vermieden werden, „was dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates verleihen würde“. Der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter vertrat auf der Niederwald-Konferenz am 21. Juli 1948 die Auffassung, dass „der Schritt von der Nichtsouveränität zur Vollsouveränität nicht auf einmal getan werden kann“, sondern die „Eroberung der Souveränität ein historischer Prozeß“ sei. Carlo Schmid stellte auf Schloß Niederwald für Westdeutschland die beiden Möglichkeiten „Staat“ oder „Gebilde“ zur Diskussion. Aus seiner Sicht kam nur ein „Gebilde“ in Frage, weil die Staatsgewalt damals nicht vom Volk, sondern von den Besatzungsmächten ausgeübt wurde und die sowjetische Besatzungszone nicht beteiligt war3. Bei den Versuchen, die Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik als Staatsgründung zu beschreiben, wird die Begriffsproblematik nur unzureichend berücksichtigt. Die Souveränitätsfrage ist in diesem Zusammenhang besonders kompliziert, denn die Gründung der Bundesrepublik bedeutete keineswegs das „Ende der Besatzung“ wie die Autoren der „Geschichte der Bundesrepublik“ glauben machen wollen4. „Souverän“ wurde die Bundesrepublik frühestens mit der Aufhebung des Besatzungsstatuts im Mai 1955. Eine Lösung des Problems erfolgte jedoch erst im Zuge der deutschen Einigung mit dem Vertrag über die „abschließende Regelung“ zwischen den vier ehemaligen Besatzungsmächten, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 12. September 1990. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Bundesrepublik bereits Entscheidungsrechte in großer Zahl auf die europäischen Institutionen übertragen. Der Aspekt der Souveränität führt damit zur statischen Betrachtungsweise einer politischen Entwicklung, in deren Verlauf sich die Beziehungen zwischen den Besatzungsmächten und den Besetzten mehrfach grundlegend veränderten. Die Tatsache des Souveränitätsmangels kann also nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach 1945 auf dem Gebiet der westlichen Besatzungszonen eine Emanzipation von der Besatzungsherrschaft stattfand. Dieser Vorgang ist nur mit einer differenzierten Begriffsbildung zu erfassen. Edward Litchfield, der auf amerikanischer Seite an der Besatzungspolitik beteiligt war, hat angesichts der terminologischen Schwierigkeiten einen Vorschlag zur Aufteilung des Souveränitätsbegriffs gemacht: Er spricht den deutschen Landesregierungen der amerikanischen Zone nach Annahme der Verfassungen eine begrenzte Souveränität zu und bezeichnet auch das Bonner Regierungssystem in seiner Anfangsphase als „German 2 A. S. Milword: Literatur, in: VjZG 40, 1992, S. 456; als Beispiele L. Herbst (Hrsg.): Westdeutschland 1945-1955. Unterwerfung, Kontrolle, Integration, München 1986, und zuletzt H. Oberreuter/ J. Weber (Hrsg.): Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, MünchenLandsberg 1996 3 PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 143 f., 191 und 199 f. 4 T. Eschenburg u. a.: Jahre der Besatzung 1945-1949, Stuttgart usw. 1983, S. 515 ff.; W. Benz: Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik. Stationen einer Staatsgründung 1946-1949, Frankfurt a. M. 1984 9 government of limited sovereignty“5. Der Versuch Litchfields, das Verhältnis zwischen deutscher und alliierter Politik begrifflich zu klären, ist zwar nicht ganz zufriedenstellend, weil er auf der Weiterverwendung des Souveränitätsbegriffs beruht. Er verdeutlicht jedoch recht gut die spezifische Form der Besatzungspolitik in den drei westlichen Zonen, die trotz des scheinbaren Widerspruchs zwischen Demokratie und Besatzungsherrschaft die Herstellung demokratischer Verhältnisse im Sinne der westlichen Demokratietradition zum Ziele hatte. Carl J. Friedrich bezeichnet die alliierten Militärregierungen in Italien, Österreich, Deutschland und Japan als konstitutionelle Diktaturen und versteht darunter Besatzungsregime, die mit diktatorischen Mitteln die Wiederherstellung einer als Konstitutionalismus verstandenen Demokratie anstreben6. Besatzung und Demokratie schließen sich nach diesen Überlegungen nicht gegenseitig aus. Die Verbindung zwischen beiden besteht allerdings nicht darin, dass die Besatzungsherrschaft selbst in irgendeiner Form als „demokratisch“ anzusehen ist, sondern in der Tatsache, dass die Okkupation von Seiten der westlichen Demokratien nur in Verbindung mit einem Demokratiegründungsprozess zu rechtfertigen war und nur bei einem Erfolg dieses Prozesses sinnvoll abgeschlossen werden konnte. Damit ist bereits angedeutet, dass die demokratische Komponente der Besatzung keineswegs als altruistisches Motiv oder als pflichtgemäße Ausführung der in Potsdam niedergelegten Grundsätze betrachtet wird, welche sich nur allzu schnell als unverbindliche Formelkompromisse erwiesen. Die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und der USA wurden vielmehr durch ihr eigenes Interesse und durch die konkreten Aufgaben, die sich ihnen in Deutschland stellten, auf den Weg des demokratischen Wiederaufbaus festgelegt. Am Beispiel der amerikanischen Besatzungspolitik, deren zeitgeschichtliche Erforschung am weitesten fortgeschritten ist, wird deutlich, dass in diesem Zusammenhang nicht nur die Perspektiven der internationalen Politik und die wirtschaftlichen Probleme ausschlaggebend waren. Die erste Phase des Demokratisierungsprogramms in der amerikanischen Zone ist vielmehr, wie John Gimbel in seiner Studie nachgewiesen hat, auf die Personalsorgen der Militärregierung zurückzuführen: General Clay, der damalige stellvertretende Militärgouverneur, befürchtete schon 1945, das für eine effektive Verwaltung notwendige Personal könne nur kurze Zeit in Europa gehalten werden. Er forcierte aus diesem Grunde zunächst die administrative und dann auch die politische Beteiligung der Besetzten durch Wahlen auf lokaler Ebene, obwohl er hierbei auf die Bedenken deutscher Politiker und seines Beraters James K. Pollock stieß. Er schrieb damals zu dieser Frage an McCloy nach Washington: “We can hardly withdraw the local detachments until the officials appointed by us have been replaced by others selected by the Germans”7. Diese Demokratisierungspolitik wurde zwar oberhalb der Länderebene vorübergehend unterbrochen, als die britische und amerikanische Militärregierung der Bizone mit Rücksicht auf die Ost-West-Beziehungen und auf die möglichst schnelle Durchführung der einheitlichen Wirtschaftspolitik zunächst einen rein administrativen Charakter gaben. Mit dem Ausbau der Bizonenverwaltung nach der Moskauer Außenministerkonferenz im Frühjahr 1947 nahm man aber die vorgezeichnete Linie wieder auf8. Die Darstellung der Vorgeschichte der Bundesrepublik als Besatzungspolitik lässt demnach wichtige Entwicklungen unberücksichtigt, während eine Beschreibung als Staatsgründungsvorgang Probleme bei der zeitlichen und terminologischen Abgrenzung aufweist. 5 E. H. Litchfield: Political Objectives and Legal Bases of Occupation Government, in: E. H. Litchfield u. a: .Governing Postwar Germany, Ithaca 1953, S. 15 f. und 34 ff. 6 C. J. Friedrich: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin usw. 1953, S. 694 ff.; vgl. hierzu die Beiträge von G. Di Palma (Italien), F. C. Engelmann (Österreich), K. Niclauss (Westdeutschland) und A. E. Tiedemann (Japan) in: J. H. Herz (Hrsg.): From Dictatorship to Democracy. Coping with the Legacies of Authoritarianism and Totalitarianism, Westport - London 1982 7 J. Gimbel: The American Occupation of Germany. Politics and the Military 1945-1949, Stanford 1962, S. 47 ff., wo auch das Schreiben Clays zitiert wird. 8 ausführlicher hierzu Kap. IV, unten S.... f. 10 Ein weitergehendes Verständnis des Gründungsvorganges im Gebiet der drei Westzonen ist jedoch erreichbar, wenn dieser Prozess als Demokratiegründung beschrieben wird. Die Teilung Deutschlands bildet hierbei den Rahmen für die Frage nach den politischen Ideen und Interessen beim Aufbau des Verfassungs- und Regierungssystems in Westdeutschland. Während man sich bei einer Beschreibung als Staatsgründung auf die Ereignisse von 1948/49 und die vorangehenden Entscheidungen der internationalen Politik konzentrieren wird, steht bei der Darstellung der Demokratiegründung die innerdeutsche Diskussion seit 1945 im Mittelpunkt der Untersuchung. Die damals entwickelten Vorstellungen zur Gesellschaft und zur Verfassung der zweiten deutschen Republik sollen als Kriterien dienen, um die Grundgesetzberatungen zu erklären und zu beurteilen. Dass die Lösungsvorschläge zumindest bis 1947 für eine gesamtdeutsche Republik galten, spielt in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle. Die Weichenstellung in Richtung einer auf die drei Westzonen beschränkten Gründung hat ihren Inhalt nicht verändert. So sind zum Beispiel die sozialdemokratischen „Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik“ aus dem Jahre 1947 als Vorstudie für die Arbeit im Parlamentarischen Rat anzusehen, obwohl sie sich ursprünglich auf eine gesamtdeutsche Verfassung bezogen. Der Anteil der Besatzungsmächte am politischen Geschehen in Westdeutschland wird durch diese Überlegungen nicht vernachlässigt, sondern nur unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet und in erster Linie als „Einwirkung“ verstanden. In der geschichtlichen Entwicklung der Demokratie gab es durchaus Situationen, wo das Volk nicht die alleinige Legitimationsgrundlage der Herrschaft bildete, sondern diese Funktion mit einer anderen Instanz teilen musste. Ein politisches Gemeinwesen dieser Art zeichnet sich durch eine fundamentale Aufteilung der Herrschaftsgrundlage aus, die nicht zu verwechseln ist mit der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung. Diese Konstellation ist überall dort anzutreffen, wo sich der demokratische Gedanke innerhalb der Erbmonarchie durchsetze, was bei den europäischen Demokratien in der Regel der Fall war. Für die Demokratiegründung in Westdeutschland nach 1945 trifft diese Aufteilung der Herrschaftsgrundlage ebenfalls zu: Die Besatzungsmacht hatte ihre Legitimitätsgrundlage außerhalb Deutschlands. Sie ließ jedoch eine zweite, ihr zunächst untergeordnete und auf der Willensäußerung der Besetzten beruhende Herrschaftsgrundlage zu und förderte ihre Weiterentwicklung9. Dieses Schema kommt bei der Annahme des Grundgesetzes und dem gleichzeitigen Erlass des Besatzungsstatuts noch einmal deutlich zum Ausdruck. Das Grundgesetz entstand nicht nur auf Initiative und unter dem Einfluss der Besatzungsmächte, sondern blieb auch unter dem Vorbehalt der Alliierten, die volle Regierungsgewalt gegebenenfalls wieder zu übernehmen. Zum Zeitpunkt seiner Annahme stellte es lediglich das Organisationsstatut für eine der beiden Herrschaftsgrundlagen in Westdeutschland dar und war gleichzeitig dem Besatzungsstatut untergeordnet. Diese Gewichtsverteilung wird allerdings durch die tatsächliche politische Entwicklung mehr als ausgeglichen: Das Besatzungsstatut stand von vornherein unter dem Vorzeichen der Abschwächung und Selbstaufhebung, während das Grundgesetz und die mit ihm festgelegte demokratische Legitimation sich nach und nach zur alleinigen Machtgrundlage des westdeutschen Staates entwickelten. Das Nebeneinander von Besatzungsherrschaft und Demokratiegründungsprozess hat damit geschichtliche Parallelen, die der Situation Westdeutschlands nach 1945 einen Teil ihrer Außergewöhnlichkeit nehmen. Zielsetzung und Verfahrensweise dieser Studie wurden bereits genannt: Aus der erweiterten Vorgeschichte der Bundesrepublik sollen Kriterien entwickelt werden, die eine Einordnung der zweiten deutschen Demokratie und ihres Grundgesetzes ermöglichen. Von den Vorstellungen zum politischen Wiederaufbau, die nach 1945 die innerdeutsche Auseinandersetzung bestimmten, stehen daher die Demokratiekonzeptionen im Mittelpunkt der nachfolgenden Untersuchung. In der Grundsatzdiskussion der Nachkriegsjahre lassen sich deutlich zwei Varianten unterscheiden. Sie werden in den beiden folgenden Kapiteln ausführlicher dargestellt und als „soziale Mehrheitsdemokratie“ und „konstitutionelle Demokratie“ bezeichnet. Die beiden Demokratiekonzeptionen sind auf der einen Seite als politische 9 Dieser für das Verständnis der Nachkriegssituation grundlegende Gedankengang bei H. Jahrreiß: Demokratie - Selbstbewußtsein, Selbstgefährdung, Selbstschutz - zur deutschen Verfassungsproblematik seit 1945, in: Festschrift für Richard Thoma, Tübingen 1950, S. 71-91, S.81 11 Zielsetzungen zu verstehen. Sie wurden in dieser Eigenschaft durch die interessenpolitisch und ideologisch bedingten Wertvorstellungen der Nachkriegszeit geformt und haben damit zeitgebundenen Charakter. Gleichzeitig sind sie jedoch als Ausprägungen der modernen Demokratie anzusehen und stellen damit eine Ergänzung des Gesamtbildes der Demokratietheorie dar. Sie erhalten hierdurch eine generelle, über die spezifische Situation der Nachkriegszeit hinausgehende Bedeutung. Die Unterscheidung dieser beiden Aspekte ist grundlegend für die Weiterführung der Untersuchung: Ihr Ziel besteht nicht in der Kritik der zeitgebundenen Motivationen, die vorwiegend aus wirtschaftspolitischen Überlegungen und Geschichtsinterpretationen bestehen. Es würde zum Verständnis der Nachkriegsperiode wenig beitragen, wenn das damalige Bild der Politiker und der politischen Publizistik von der jüngsten deutschen Geschichte nach den Maßstäben der zeitgeschichtlichen Forschung beurteilt wird. Ihre Interpretationen und Wertungen sind vielmehr ein Teil der politischen Kultur der Nachkriegszeit und in unserem Zusammenhang als Ausgangspunkt zur Beantwortung weiterführender Fragestellungen anzusehen10. Entsprechendes gilt für die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen: Obwohl man sich gerade hier um eine wissenschaftliche Begründung bemühte, waren für die Programmatik letzten Endes doch politische Wertschätzungen ausschlaggebend. Aus der Zeitbedingtheit der Motivationen darf jedoch keineswegs die Bedeutungslosigkeit der mit ihnen verbundenen Demokratievorstellungen abgeleitet werden. In der Geschichte gibt es vielmehr zahlreiche Beispiele dafür, dass Grundrechtsforderungen oder Verfassungskonzeptionen über ihre situations- und interessenbedingte Motivation hinaus die weitere Entwicklung der Demokratie maßgebend beeinflusst haben und noch heute als fester Bestandteil der Demokratietheorie anerkannt werden. Die beiden Konzeptionen der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ und der „konstitutionellen Demokratie“ dienen gleichzeitig als Kriterien, um die Entstehung der Bundesrepublik als Demokratiegründung zu beschreiben. Der politische Wiederaufbau nach 1945 wird damit keineswegs als ein von ideologiefreier Sachlichkeit bestimmter Vorgang verstanden11, sondern als ein politischer Prozess, dessen Ablauf durch miteinander konkurrierende Neuordnungsvorstellungen bestimmt wird. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Trennungslinie zwischen den beiden Demokratiekonzeptionen nicht identisch ist mit den Abgrenzungen im damals neu entstehenden Parteiensystem. Vor allem in den Jahren 1946/47 bestanden innerhalb der Parteien, deren Organisation damals noch weitgehend dezentralisiert war, sehr unterschiedliche Vorstellungen. Erst bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates kann man davon sprechen, dass sich die Differenzierung der Demokratieauffassungen weitgehend mit den Fronten im parteipolitischen Kräftespiel deckt, obwohl auch hier noch abweichende Auffassungen nachzuweisen sind. In den beiden folgenden Kapiteln wird zunächst die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie dargestellt, weil sie in der Nachkriegssituation die Rolle des „initiativen“ Demokratietypus einnimmt. Die konstitutionelle Demokratie hat demgegenüber einen mehr „reaktiven“ Charakter. Ihre Neuordnungsvorstellungen stellen zwar eine eigenständige Reaktion auf den Untergang der Weimarer Republik und das nationalsozialistische Herrschaftssystem dar. Sie müssen aber zum Teil auch als Antwort auf die Intentionen der sozialen Mehrheitsdemokratie und den mit ihr verbundenen Sozialvorstellungen interpretiert werden. Die Berechtigung unserer Fragestellung ergibt sich nicht zuletzt aus der innenpolitischen Entwicklung Westdeutschlands selbst, wo der Demokratiegründungsvorgang deutlich erkennbar ist. Die frühen Wahlen und das Parteiensystem verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit. Die Zulassung von politischen Parteien ist als erster Schritt in diese Richtung anzusehen, obwohl sie unter der Kontrolle und unter Auflagen der Besatzungsmächte erfolgte. Die Lizenzierungspraxis in den westlichen Besatzungszonen hatte zur Folge, dass der organisatorische Aufbau der Parteien von unten nach oben, d. 10 Zur Bedeutung geschichtlicher Entwicklungen für die politische Kultur eine Landes vgl. S. Verba: Comparative Political Culture, in: L. W. Pye - S. Verba, Political Culture and Political Development, New Jersey 1965, S. 516. 11 So E. Forsthoff: Rechtsstaat im Wandel. Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1950-1964, Stuttgart 1964, S. 198. 12 h. von der Gemeinde- oder Kreisebene ausging, und erst um die Jahreswende 1945/46 zonale Parteiorganisationen gebildet wurden. Die Militärregierungen waren dabei offensichtlich bestrebt, die Zahl der zugelassenen Parteien zu begrenzen und das Wiederaufleben rechtsextremer Parteien zu vermeiden. Lange Zeit wurde auch die überzonale Zusammenarbeit der Parteien (vor allem von französischer Seite) behindert, was jedoch ebenfalls nicht ausreicht, dem Parteiensystem in den Westzonen seinen demokratischen Charakter abzusprechen. Schon seit 1945 kann man demgegenüber in der sowjetischen Zone im Osten Deutschlands von einer abweichenden Entwicklung sprechen: Nach dem entsprechenden Befehl des sowjetischen Oberbefehlshabers vom 10. Juni konnten sich hier die politischen Parteien zwar bereits vor der Potsdamer Konferenz als Zonenparteien konstituieren. Sie schlossen sich jedoch gleichzeitig zu einem antifaschistischen Block zusammen und vereinbarten die Einrichtung eines Verbindungsausschusses sowie die Ausarbeitung eines gemeinsamen Aktionsprogramms. Die Kampagne für die Vereinigung von SPD und KPD, welche schließlich unter dem Druck der Besatzungsmacht im April 1946 zustande kam, sowie Eingriffe in die Personalia der Parteien (wie die Ablösung der CDU-Führung Hermes/ Schreiber im Dezember 1945 und Kaiser/ Lemmer im Dezember 1947) zeigen, dass die Interventionen der Besatzungsmacht hier einen grundsätzlich anderen Charakter hatten und die Entwicklung eines demokratischen Parteiensystems nicht gestatteten12. Unter dem Aspekt der Demokratiegründung gewinnt damit wieder Leonard Kriegers 1949 geäußerte These an Bedeutung, in den Monaten zwischen dem militärischen Einmarsch und der Potsdamer Konferenz habe sich bereits auf beiden Seiten des späteren Eisernen Vorhangs eine ungleiche politische und soziale Weichenstellung vollzogen. Die Viermächteverwaltung fand aus diesem Grunde schon nicht mehr die politische Tabula rasa vor, für die sie ihrem Grundgedanken nach eigentlich gedacht war, sondern statt dessen „a situation already consolidated along certain lines“13. Nach der Zulassung von politischen Parteien folgte mit den Wahlen auf Kommunal- und Landesebene in Westdeutschland ein weiterer Schritt in Richtung auf die demokratische Selbstregierung. Analog zum Parteizulassungsverfahren wurde zuerst in den Kreisen, Städten und Gemeinden gewählt. In der amerikanischen Zone fanden diese Wahlen im Frühjahr 1946 statt; die britische und französische Zone folgten im September/Oktober des gleichen Jahres. In der britischen Zone schlossen sich nach etwa einem halben Jahr die Landtagswahlen an, während die amerikanische Militärregierung zunächst im Juni 1946 verfassungsberatende Landesversammlungen wählen ließ. In der französisch besetzten Zone beschritt man bei der Konstituierung der verfassungsberatenden Versammlungen einen anderen Weg: Sie wurden zu einem Teil von den Mitgliedern der Kreisversammlungen, zum anderen Teil von den Mitgliedern der Stadt- und Gemeindeversammlungen benannt und damit indirekt gewählt. Theodor Heuss bezeichnete in einer Niederschrift vom Juli 1947 die Zulassung politischer Parteien als verfrüht, weil die überregionalen Kommunikationsmöglichkeiten fehlten und der Antiparteieneffekt der nationalsozialistischen Propaganda noch wirksam war. Die frühen Gemeinde- und Kreistagswahlen in der amerikanischen Zone beurteilt er dagegen positiv. Hiermit habe man die Menschen in den „Laufstall der Demokratie“ gestellt und sie vom „bloßen Sprüchemachen“ abgehalten14. Seit der ersten Fassung dieser Studie im Jahre 1974 wurde der Einblick in die westdeutsche Demokratiediskussion der Nachkriegszeit durch zahlreiche Monographien und Dokumentationen erweitert. Bei der Neubearbeitung konnten die Nachweise in den Anmerkungen zusammengefasst und gekürzt werden, weil viele Quellen inzwischen als veröffentlichte Dokumentationen vorliegen. Die 12 K. Niclauß: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Paderborn usw.1995 (UTB 1896), S. 32 ff.; A. Kaden: Einheit oder Freiheit. Die Wiedergründung der SPD 1945/46, Hannover 1964; H. Weber: Kleine Geschichte der DDR, Köln 1988 (2. Aufl.), S.16 ff. 13 L. Krieger: The Inter-Regnum in Germany. March - August 1945, in: Political Science Quarterly 1949, S. 114 14 T. Heuss: Aufzeichnungen 1945-1947. Aus dem Nachlass herausgegeben... von E. Pikart, Tübingen 1966, S. 114 13 Anmerkungen beziehen sich teilweise auch auf mehrere Absätze des Textes. Die 1974 begonnene Edition der Protokolle und Unterlagen des Parlamentarischen Rates gibt inzwischen, mit Ausnahme des Hauptausschusses, die wichtigsten Beratungen zum Grundgesetz im Wortlaut wieder15. Sie wird im folgenden als „PR Akten und Protokolle“ unter Angabe des Bandes zitiert (vgl. Anm. 3). Die 1948/49 hektographierten und gedruckten Materialien des Parlamentarischen Rates dagegen erscheinen in den Anmerkungen unter „PR-...“. Zur Zitierweise weiterer Dokumentationen sei auf den Quellenteil am Schluss des Buches (S....ff.) verwiesen. 15 Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, hrsg. vom Deutschen Bundestag und vom Bundesarchiv, Bd.1-11, Boppard, später München 1974-1997 14 I. Die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie 1. Wirtschaftsprogrammatik und Geschichtsinterpretation Die politischen Motive für die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie lassen sich anhand der Diskussionen in Nachkriegsparlamenten, in Parteigremien und in der umfangreichen Publizistik der ersten Jahre nach 1945 nachzeichnen. Ihre Grundlage bilden in erster Linie wirtschafts- und sozialpolitische Überlegungen, die sich mit bestimmten Interpretationen der jüngsten deutschen Geschichte verbinden. In diesem Zusammenhang muss noch einmal betont werden, dass es sich hierbei um politische Programmatik handelt. Die ökonomischen Zielvorstellungen zum Beispiel wurden in der tagespolitischen Auseinandersetzung entwickelt und sind nur unter Einschränkungen mit der wirtschaftswissenschaftlichen Modellbildung zu vergleichen. Die beteiligten Politiker nahmen bei ihren Äußerungen Rücksicht auf den Sprachgebrauch und die Wertvorstellungen des jeweils angesprochenen Publikums und standen gleichzeitig selbst unter dem Eindruck der damals gängigen Schlagworte und Emotionen. Ihren Äußerungen fehlt daher oft die begriffliche Klarheit und die Folgerichtigkeit wissenschaftlicher Argumentation. Dieser Mangel wird jedoch zum Teil wieder ausgeglichen durch die Diskussionsbeiträge in einer Reihe von Zeitschriften und in zahlreichen Einzelveröffentlichungen, wo man sich um eine wissenschaftliche Begründung der Wirtschaftsprogrammatik bemühte. Aufgrund dieser Beiträge ergibt sich ein genaueres Bild der damaligen Zielvorstellungen, welche im Rahmen dieser Studie jedoch immer als politische Ziele und nicht als Positionen in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung verstanden werden. Das mit der sozialen Mehrheitsdemokratie verbundene Bild von der jüngsten deutschen Geschichte kann seinen zeitgebundenen Charakter ebenfalls nicht verleugnen: Sein Ausgangspunkt ist die Beurteilung der Weimarer Republik, deren Problematik man mit der begrifflich nicht sehr klaren Gegenüberstellung von „politischer“ und „wirtschaftlicher“ Demokratie zu erfassen versuchte. Als ein entscheidender Strukturfehler von Weimar wurde der Widerspruch zwischen der demokratischen Verfassung und dem Einfluss wirtschaftlicher Machtgruppen angesehen. Die „revolutionäre Kraft von 1918/19“, so glaubte man auf sozialdemokratischer Seite feststellen zu können, habe Deutschland zwar zur Republik umgestaltet und den Gedanken der „politischen“ Demokratie verwirklicht. Sie sei aber nicht ausreichend gewesen, um auch die „wirtschaftlichen Kräfte“ in diese demokratische Ordnung einzubeziehen16. Der damalige Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Erik Nölting (SPD), erklärte 1947 vor dem Landtag, wirtschaftliche Interessengruppen hätten die Möglichkeiten der demokratischen Verfassung genutzt, um sich als „Staat im Staate“ zu konstituieren und die lediglich im politischen Bereich durchgesetzte Demokratie nach und nach „abzumontieren“17. Im gleichen Sinne äußerte sich Walter Dirks, als er in der ersten Nummer der „Frankfurter Hefte“ die Problematik der Weimarer Republik mit den Worten kennzeichnete: „Wir haben nicht vergessen, dass die Demokratie von 1918 auch deshalb machtlos war, weil sie nur den Staat, nicht aber die Wirtschaft zu demokratisieren unternahm“. Im Mittelpunkt dieser Zeitgeschichtsinterpretation stand damit das ungeklärte Verhältnis zwischen dem demokratischen Staat und der wirtschaftlich-sozialen Machtverteilung, das von Anfang an ein Teil der Kompromissstruktur von Weimar gewesen ist. Die Konsequenz dieser Betrachtungsweise konnte nur sein, das 1918 Versäumte nachzuholen und nach 1945 nicht nur die politische, sondern auch die „wirtschaftliche“ oder „soziale“ Demokratie zu verwirklichen18. 16 Abg. Gnoß (SPD) im nordrhein-westfälischen Landtag, 1. Wahlperiode, 20. Sitzung vom 27. November 1947 17 Ernannter Landtag von Nordrhein-Westfalen, 5. Sitzung vom 4. März 1947, sowie C. Nölting: Erik Nölting. Wirtschaftsminister und Theoretiker der SPD (1892-1953), Essen 1989, S. 106 ff. 18 W. Dirks: Die zweite Republik (Frankfurter Hefte 1, April 1946, S. 17); Abg. Lausen (SPD) in der Diskussion um Art. 22 der Verfassung von Württemberg-Baden (Verfassunggebende Landesversammlung, 4. Sitzung vom 16. September 1946) 15 Bei der Antwort auf die Frage, wie diese Erweiterung der „politischen“ Demokratie konkret zu verstehen sei, zeigen sich jedoch deutliche Nuancierungen, welche sich bis in die Weimarer Diskussion hinein zurückverfolgen lassen. Damals wurde die Forderung nach „Wirtschaftsdemokratie“ in einem doppelten Sinn verstanden: Sie richtete sich einmal gegen die private Entscheidungsgewalt in Fragen von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung und strebte daher einen wachsenden Einfluss des demokratischen Staates auf das Wirtschaftsleben an. Die Wirtschaft sollte grundsätzlich als öffentlicher Bereich anerkannt werden, während das Privatinteresse als Maxime des wirtschaftlichen Handels nach und nach zurückzutreten hatte. Diese Zielsetzung galt allerdings nicht als Antithese zur „politischen“ und „bürgerlichen“ Demokratie, sondern als deren Weiterentwicklung. Die Idee der Wirtschaftsdemokratie könne nur lebendig werden, heißt es in der gleichnamigen, von Fritz Naphtali herausgegebenen Schrift, wenn die Arbeiterschaft des betreffenden Landes bereits Erfahrungen in der politischen Demokratie habe. Auf der anderen Seite wurde „Wirtschaftsdemokratie“ im Gegensatz zur „wirtschaftlichen Autokratie“ verstanden und erforderte nach Naphtali in erster Linie Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft in der Sozialpolitik und bei den überbetrieblichen Wirtschaftsentscheidungen. Die Neuordnung der Binnenstruktur der Betriebe war demgegenüber von zweitrangiger Bedeutung. Den Überlegungen zur Wirtschaftsdemokratie lag der von Naphtali und seinen Mitarbeitern formulierte Demokratiebegriff zugrunde: Sie bezeichneten Demokratie als „Selbstregierung des Volkes“, deren Wesen die Aufhebung der Teilung zwischen Herrschenden und Beherrschten sei19. In den politischen Erklärungen zur Demokratisierung der Wirtschaft nach 1945 kehrt dieser doppelte Aspekt wieder, ohne dass sich die beteiligten Politiker des grundlegenden Unterschiedes bewusst waren. So sagte etwa Karl Arnold vor dem Landtag von Nordrhein - Westfalen: „Bei einer Formaldemokratie in der Politik und beim Vorhandensein eines Absolutismus in der Wirtschaft kann niemals eine Grundlage für eine sinnvolle Neuordnung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gefunden werden“. Der Zentrumsabgeordnete Dr. Spiecker erhob vor dem gleichen Parlament die doppeldeutige Forderung, auch „Wirtschaft und Gesellschaft“ müssten jetzt mit „echter Demokratie“ erfüllt werden, und fügte hinzu: „Wir können nicht noch einmal Gefahr laufen, die Lehren sammeln zu müssen, die uns in den Jahren 1919 -1933 und erst recht von 1933 -1945 schon erteilt worden sind“. Seine Partei hatte sich schon 1945 mit dem Soester Programm für eine „Durchdringung des ganzen öffentlichen Lebens und der Wirtschaft mit wahrhaft demokratischem und sozialem Geist“ ausgesprochen20. Auf der anderen Seite finden sich in der politischen Auseinandersetzung aber auch Erklärungen zur sozialen Demokratie, aus denen deutlich hervorgeht, dass man hierunter lediglich die Ausweitung der demokratischen Entscheidungen auf den wirtschaftlichen Bereich verstand. In diesem Sinne äußerte der Abgeordnete Knothe bei den hessischen Verfassungsberatungen: „Die politische Demokratie muss in stärkerem Ausmaß, als solches während der Zeit von Weimar der Fall gewesen ist, der Wirtschaft gegenüber wirksam werden . . . Es müssen deshalb nach unserer Auffassung in der neuen Verfassung alle Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich die Wirtschaftsmächte nicht mehr reaktionär entfalten können gegen die politische Demokratie und gegen den demokratischen Staat“. Auf einer wirtschaftspolitischen Tagung der SPD erklärte Erik Nölting im Juni 1947, der Staat sei der Wirtschaft um eine „bedeutende Nasenlänge“ voraus, weil sich hier das Prinzip der Demokratie bereits durchgesetzt habe. Deshalb führe der Weg zur „Wirtschaftseroberung“ über die vorangehende „Staatseroberung“21. Diese Auffassung von sozialer Demokratie wurde im weiteren Verlauf der Diskussion für die 19 F. Naphtali: Wirtschaftsdemokratie - Ihr Wesen, Weg und Ziel. (1928), Neuausg. Frankfurt 1966, S. 13, 21, 137, 154-163 und 182 20 Ernannter Landtag von Nordrhein-Westfalen, 5. Sitzung vom 4. März 1947; Landtag von NordrheinWestfalen, 1. Wahlperiode, 7. Sitzung vom 18. Juni 1947; O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Band II, S. 244 ff. 21 Verfassungsberatende Landesversammlung von Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946; E. Ott: Die Wirtschaftskonzption der SPD nach 1945, Marburg 1979, S. 149 f.. 16 mehrheitsdemokratische Konzeption maßgebend. Soziale Demokratie, wie man sie in der politischen Auseinandersetzung der Nachkriegsphase verstand, ist damit vom Grundgedanken her gleichbedeutend mit Hermann Hellers Konzeption des sozialen Rechtsstaates: Beide verlangen die „Ausdehnung des materiellen Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Güterordnung“ und betrachten wirtschaftliche Entscheidungen nicht mehr nur als private, sondern auch als öffentliche und damit politische Entscheidungen22. Die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie verbundene Wirtschaftskonzeption ist dementsprechend als eine Summe situations- und zeitbedingter Maßnahmen anzusehen, mit deren Hilfe der Grundgedanke der sozialen Demokratie nach 1945 verwirklicht werden sollte. Zu ihrer Charakterisierung kann man die drei Grundforderungen nach planmäßiger Wirtschaftslenkung, Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft und nach Überführung bestimmter Betriebe in Gemeineigentum (Sozialisierung) nennen. Eine isolierende Betrachtung von Einzelmaßnahmen wird jedoch dem wirtschaftspolitischen Reformprogramm nicht gerecht und reicht vor allen Dingen nicht aus, seine Bedeutung für die Demokratiediskussion darzustellen. Der Sinn dieser Einzelforderungen ergibt sich vielmehr erst aus der übergreifenden Forderung nach einer neuen Zielsetzung der Gesamtwirtschaft, die in der unmittelbaren Bedarfsdeckung und in der Sicherung der Vollbeschäftigung bestand. Dieses Wirtschaftssystem können wir in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch in der politischen Diskussion nach 1945 und im wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum als „Gemeinwirtschaft“ bezeichnen. Im Gegensatz zum marktwirtschaftlichen System, das als ein „Wirkungsgefüge“ einzelner, auf Erwerb ausgerichteter Wirtschaftseinheiten anzusehen ist, versteht sich die Gemeinwirtschaft als „Zweckgebilde“ zur unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse23. Der Begriff selbst wurde geprägt von Wichard v. Moellendorf, der zu Beginn der Weimarer Republik Staatssekretär im Reichsfinanzministerium war und in einer Denkschrift vom 7. Mai 1919 die Gemeinwirtschaft als eine „zugunsten der Volksgemeinschaft planmäßig betriebene und gesellschaftlich kontrollierte Volkswirtschaft“ definierte. Gleichzeitig lehnte er jedoch ab, Organisationsschemata und Kontrollmittel für die Gemeinwirtschaft festzulegen, weil es diese in einer allgemein anwendbaren Form nicht gebe. Man könne zwar Zwecke, aber nicht Mittel zum Zweck dogmatisieren 24. Die gemeinwirtschaftliche Zielsetzung stand nach 1945 im Mittelpunkt der Verfassungsberatungen und der Parteiprogramme. Der Bericht des württemberg -badischen Verfassungsausschusses forderte z.B., die neue Landesverfassung sollte zum Ausdruck bringen, dass nicht mehr das Gewinnstreben, sondern das „Wohl der Gemeinschaft“ der „primäre Zweck des Wirtschaftens“ sei. Bei den bayerischen Beratungen erklärte der sozialdemokratische Abgeordnete Pittroff zur gleichen Frage: „Das Gemeinwohl steht im Vordergrund, die rein liberalistische, nur auf den Eigengewinn ausgerichtete Wirtschaft hat keinen Platz mehr“. Eine derartige Argumentation setzt allerdings voraus, dass man dem marktwirtschaftlichen System die Eigenschaft einer optimalen Bedarfsdeckung abspricht, was in der Nachkriegssituation tatsächlich weitgehend der Fall war. Die Berücksichtigung dieses idealtypisch gebildeten Wirtschaftsmodells ist für das Verständnis der wirtschaftspolitischen Vorstellungen nach 1945 von besonderer Bedeutung: Die Begriffsbestimmung der Gemeinwirtschaft als bewusste Gestaltung der Gesamtwirtschaft erklärt nämlich, weshalb damals nicht die Eigentumsordnung, sondern die Planungsproblematik im Brennpunkt der Auseinandersetzung stand. Der Abgeordnete Schlögl (CSU) brachte diesen Zusammenhang in der bayerischen Verfassungsdiskussion auf die kurze Formel: „Gemeinwirtschaft setzt eine Planung der 22 H. Heller: Rechtsstaat oder Diktatur? Tübingen 1930, S. 11; ausführlicher W. Schluchter: Entscheidung für den sozialen Rechtsstaat. Hermann Heller und die staatstheoretische Diskussion in der Weimarer Republik, Köln-Berlin 1968, S. 169 ff. 23 Zur Begriffsbildung mit ausführlicher Literaturübersicht H. Ritschl. Gemeinwirtschaft im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 4. Göttingen 1965, S. 331 ff., sowie vom gleichen Autor: Die Prinzipien der Gemeinwirtschaft, in: W. Weddigen (Hrsg.): Untersuchungen zur sozialen Gestaltung der Wirtschaftsordnung, Berlin 1950, S. 11 24 Abgedruckt in W. von Moellendorf: Konservativer Sozialismus. Hamburg 1932, S.119, sowie vom gleichen Autor: Deutsche Gemeinwirtschaft. Berlin 1916. 17 Wirtschaft voraus“25. Die Forderung (oder die Möglichkeit) planmäßiger Wirtschaftsgestaltung fand daher Eingang in zahlreiche Parteiprogramme und in nahezu alle westdeutschen Landesverfassungen der Jahre 1946/47 26. Besonders weitgehend in dieser Hinsicht war der bayerische Entwurf. Er enthielt im dritten Hauptteil Bestimmungen über die planmäßige Lenkung der Volkswirtschaft durch die Staatsregierung (Art. 113), über die Lenkung des Außenhandels (Art. 124) sowie über die zentrale Leitung des Geld- und Kreditwesens (Art. 122 und 123). Im weiteren Verlauf der Beratungen wurden diese Artikel nicht zuletzt unter dem Einfluss der Besatzungsmacht wesentlich unverbindlicher gefasst 27. Die Priorität der Wirtschaftslenkung kommt auch im hessischen Verfassungstext deutlich zum Ausdruck, der die allgemeinen Prinzipien des Art. 38 (gesetzliche Lenkung der Herstellung sowie der Verteilung von Wirtschaftsgütern) bewusst vor die Sozialisierungsbestimmung in Art. 41 stellt. Der Artikel 38 wurde auch in der nachfolgenden Sozialisierungsdiskussion als das „Grundgesetz des Wirtschaftens der Zukunft überhaupt“ bezeichnet, während man die Sozialisierungsproblematik selbst als „Einzelfrage“ verstand 28. Die Planungsüberlegungen im Motivationsbereich der sozialen Mehrheitsdemokratie galten nicht nur der ökonomischen Produktions- und Verteilungsproblematik, obwohl diese Fragen unter dem Eindruck der Mangelsituation nach 1945 zunächst im Vordergrund standen. Sie bezogen sich vielmehr auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung und sind in diesem Sinne als „politische Planung“ zu verstehen29. Kennzeichnend für die Planungsdiskussion in den drei westlichen Besatzungszonen ist die bewusste Abgrenzung gegenüber der durchgängigen Verwaltungswirt-schaft moderner Diktaturen. Die Kriegsplanung des Nationalsozialismus und das sowjetische Planungsbeispiel betrachtete man als Wirtschaftsformen, in denen eine unkontrollierte Bürokratie die Entscheidungsbefugnis über den Produktionsapparat ausübt. Eine zentralverwaltete Wirtschaft wurde daher von den Vertretern der sozialen Mehrheitsdemokratie bereits als die Grundlage eines totalitären Herrschaftssystems angesehen. Otto Suhr stellte hierzu 1946 in der ersten Nummer der programmatischen Zeitschrift „Das sozialistische Jahrhundert“ die Frage, ob die Planwirtschaft neben der wirtschaftlichen Sicherheit auch die Freiheit verbürgen könne, und fügte hinzu: „Jede Planung und Lenkung bedarf eines Apparats, jeder Apparat aber bringt die Gefahr einer Machtausweitung für fremde Zwecke mit sich, und hier liegt vielleicht das Problem unserer Zeit“30. 25 Bericht des Verfassungsausschusses von Württemberg-Baden, S. 14.; Bayerische Verfassunggebende Landesversammlung, 6. Sitzung vom 13. September 1946 26 Vgl. die Resolution „Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik“ (Protokoll SPD - Parteitag 1947, S. 227 ff.), das Werler Programm der Zentrumspartei vom November 1947, den Teil IV des Ahlener Programms sowie den Abschnitt „Sozialismus und Eigentum“ der Frankfurter Leitsätze vom September 1945 (abgedr. bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 42, 57 und 257); Art. 38 der hessischen Verfassung, Art. 39 der Verfassung von Bremen, Art. 152 der bayerischen Verfassung sowie Art. 51 Abs. 2 und Art. 62 der Verfassung von Rheinland-Pfalz. Auch Art. 25 der Verfassung von Württemberg-Baden wurde ursprünglich als Grundlage für eine geplante Wirtschaft verstanden, wie aus den Erläuterungen Carlo Schmids zur Arbeit des Verfassungsausschusses hervorgeht (Vorläufige Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946). 27 Text des Entwurfs in: Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, Bd. I. München 1948, S. 1 ff. 28 So der hessische Wirtschaftsminister H. Koch (Hrsg.): Die Sozialgemeinschaften - Entwurf des hessischen Sozialisierungsgesetzes mit Begründung und einführenden Beiträgen der Mitarbeiter des Hessischen Wirtschaftsministeriums, o. O. o. J. (1948), S. 3. 29 K. Lompe: Gesellschaftspolitik und Planung. Probleme politischer Planung in der sozialstaatlichen Demokratie, Freiburg 1971, S. 25 ff. 30 O. Suhr: Die große Linie, in: Das sozialistische Jahrhundert, Nov. 1946, S. 2. 18 Bei der Neuordnung der deutschen Wirtschaft sollte deshalb jede Form von „Staatswirtschaft“ vermieden werden. Die Vorstellung von einer „gigantischen Staatsspinne“, von einer „bürokratischen Staatsmaschinerie“, die den Menschen zum seelenlosen Automaten erniedrige, wurde allgemein als Alptraum empfunden und veranlasste den sozialdemokratischen Wirtschaftspolitiker Erik Nölting zu der Feststellung: „Hitler hat die Hybris des staatlichen Omnipotenzwahnes gebracht, und die heidnische Staatsvergottung erzeugte im Grunde eine durchaus gesunde Reaktion. Alle Staatssuperlative sind abgenutzt, und die Theorie der schrankenlosen Hoheit des Staates und der Staatsregierung findet heute keine Anhänger mehr“31. Gleichzeitig fand die Wirtschaftsorganisation der sowjetisch besetzten Zone in Westdeutschland eine zunehmend kritische Beachtung. Am Beispiel Sachsen-Anhalts zeigte sich, dass die in einer als „Industriewerke“ bezeichneten Körperschaft zusammengefassten Landeseigenen Betriebe keinerlei Autonomie oder Selbstverwaltung besaßen, sondern vielmehr „vom Wirtschaftsministerium ausgehend“ eine durchgängige Befehlsgewalt von oben nach unten bestand. Auch nach der Umorganisation Anfang 1948 blieb die „Hauptverwaltung landeseigener Betriebe“ dem Wirtschaftsministerium unterstellt32. Hiermit wird auch der oft angestellte Vergleich zwischen der Volksabstimmung in Sachsen über die Enteignung von etwa 4000 Betrieben und der Volksabstimmung in Hessen über die Sozialisierungsbestimmung der Verfassung fragwürdig: Die vergleichbare Mehrheit der Ja-Stimmen (78 bzw. 72 %) kann nicht über den grundsätzlichen Unterschied der zur Abstimmung stehenden Sachverhalte hinwegtäuschen33. Die nationalsozialistische Kriegswirtschaft und die sowjetzonale Entwicklung bestärkten die Befürworter des gemeinwirtschaftlichen Programms in der Auffassung, dass eine demokratische Planung nur eine begrenzte Planung sein konnte. Sie wandten sich daher in der politischen Auseinandersetzung gegen die neoliberale These, jede Wirtschaftslenkung bilde den Ansatzpunkt zu einer durchorganisierten Zwangswirtschaft. Adolf Arndt (SPD) sprach bei seiner Kontroverse mit dem Wirtschaftswissenschaftler Franz Böhm in der „Süddeutschen Juristenzeitung“ von einem „tendenziösen Sprachdiktat der sogenannten Freiburger Schule, die Sozialisierung mit Verstaatlichung gleichsetzt und Planwirtschaft mit Zentralverwaltungswirtschaft“34. Die „relative Planwirtschaft“ - wie sie in der politischen Diskussion von sozialdemokratischer Seite vertreten wurde - zeichnete sich dadurch aus, dass zwar die großen Linien der Volkswirtschaft durch einen Rahmenplan bestimmt, gleichzeitig aber weite Bereiche des Wirtschaftslebens durch marktwirtschaftliche Steuerungsmechanismen geregelt werden sollten. Die Planung hatte sich nur auf die „entscheidenden Wirtschaftsvorgänge“ zu beziehen und zum Beispiel festzulegen, wie viel Kohle gefördert, wie viel Wohnungen gebaut, wie viel Maschinen hergestellt werden. Victor Agartz sprach sich in seinem Grundsatzreferat vor dem sozialdemokratischen Parteitag in Hannover (1946), das mit anderen Wirtschaftsexperten der SPD abgesprochen war, gegen eine zentralistische Wirtschaft „in der Form der marktlosen Wirtschaft“ aus, weil diese immer die Neigung habe, zu einer 31 Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 162 32 A. Arndt: Landeseigene Betriebe und Gemeineigentum. In: SJZ 2, Nr. 8, August 1947, S. 415-424; H. Zank: Systeme der Sozialisierung, in: Das sozialistische Jahrhundert, Febr. 1948, S. 103-107. Vgl. auch die Bemerkung Carl Derneddes: „Gar keine gemeinsamen Berührungspunkte für die Sozialisierung in Hessen haben sich mit den sog. landeseigenen Betrieben in der Ostzone ergeben. Ihre Ausgestaltung bewegt sich so eindeutig und ausschließlich in der Richtung der Verstaatlichung, dass sie rechtlich und tatsächlich nichts anderes als weisungsgebundene Ausführungsorgane der staatlichen Wirtschaftsverwaltung sind“. (C. Dernedde: Auf der Suche nach neuen Formen, in: H. Koch (Hrsg.): Die Sozialgemeinschaften. .. , S.16). 33 Diese Parallele etwa bei R. Kühnl: Konstituierung und Regierungssystem der Bundesrepublik ( PVS 8, 1967, S. 323 - 352) 34 A. Arndt: Landeseigene Betriebe und Gemeineigentum...S. 422 19 politischen Diktatur auszuarten35. Für die Frage nach der Vereinbarkeit von Planung und Freiheit bot sich damit eine Lösung an, die auch den Intentionen des „christlichen Sozialismus“ entgegenkam. Hier strebte man ebenfalls eine Synthese der „geplanten Volkswirtschaft mit dem alten abendländischen Gedanken der freien, aber verantwortlichen Persönlichkeit“ an - eine Zielsetzung, die schließlich auch in den Frankfurter Leitsätzen der hessischen CDU ihren Ausdruck fand36. Otto Heinrich von der Gablentz, einer der Mitbegründer der Berliner CDU, kam zur gleichen Schlussfolgerung und schrieb über die zukünftige Wirtschaftsstruktur: „Wenn einmal der Rahmen der öffentlichen Planung festgesetzt ist, dann haben alle personellen und sachlichen Eingriffe politischer Instanzen aufzuhören. Die Wirtschaft muss innerhalb dieses Rahmens berechenbar bleiben. Auf der einen Seite gelten die Daten des Planes und die Bedingungen der Gesetze, auf der anderen Seite die Regeln des Marktes“. Ähnlich argumentierte Richard Löwenthal unter seinem Pseudonym Paul Sering. Seiner Ansicht nach hatte der Leistungswettbewerb in einer grundsätzlich geplanten Wirtschaft auf sogenannten „Teilmärkten“ stattzufinden, während der zentrale Plan „nur die großen Linien der Investition und der Einkommensverteilung“ festlegen soll. In der Lenkungswirtschaft sollten demnach die marktwirtschaftlichen Grundsätze der freien Preisbildung und des Wettbewerbs gelten. Mit den Methoden der modernen Marktanalyse und Statistik glaubte man außerdem die Entscheidungsfreiheit des Konsumenten auch in dieser grundsätzlich geplanten Wirtschaft sicherstellen zu können37. Auf internationaler Ebene galt das Interesse der Befürworter einer gemeinwirtschaftlichen Lösung in erster Linie den Planungsexperimenten der westlichen Demokratien. In Skandinavien, Neuseeland und in der Politik der britischen Labour-Regierung glaubten sie Ansätze freiheitlicher Planung zu erkennen, die der eigenen Orientierung dienen konnten. Große Beachtung fand in diesem Zusammenhang das amerikanische Entwicklungsvorhaben im Tennesseetal - nicht zuletzt deswegen, weil der Bericht des Vorsitzenden der Tennessee -Valley - Authority über dieses Projekt auch in deutscher Sprache vorlag. Die Vertreter des gemeinwirtschaftlichen Programms betrachteten die Authority als Beispiel für eine weitgehend unabhängige und gleichzeitig auf kaufmännischer Grundlage arbeitende öffentliche Körperschaft, die ihre Privatinitiative bewahrt hatte. 1948 wurde sogar der Vorschlag gemacht, für das Ruhrgebiet eine internationale Behörde nach dem Vorbild der TVA zu schaffen38. An Hand dieses Überblicks zur Planungsdiskussion nach 1945 wird der pragmatische Charakter der gemeinwirtschaftlichen Konzeption deutlich: Die angestrebte Verbindung von Planung und Freiheit schloss die „einfache Lösung“ der Zentralverwaltungswirtschaft totalitärer Staaten von vornherein aus und konnte auch auf dem Wege theoretischer Modellbildung nicht „hergestellt“ werden. Eine Lösung dieses Problems war allenfalls aufgrund praktischer Erfahrung und eines entsprechenden Lernprozesses zu erreichen. Eugen Kogon sprach sich damals für eine „Markt-Planwirtschaft“ mit stufenförmiger Dezentralisierung der Planungsentscheidungen aus. Freier Sozialismus bedeutete nach seinen Worten „Vielfalt, Mannigfaltigkeit, Veränderlichkeit der Formen und Methoden“. Ein feststehendes Programm 35 G. v. Eynern: Freiheit in der Planwirtschaft, iIn: Das sozialistische Jahrhunde, Febr. 1947, S. 99 ff.; V. Agartz: Sozialistische Wirtschaftspolitik. Hamburg 1946, S. 17. 36 K. H. Knappstein: Die Stunde der Sozialreform, in: Frankfurter Hefte 1, Juni 1946, S.2.; O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente. . ., Bd. II, S. 42. 37 O. H. v. d. Gablentz: Die sozialistische Unternehmung, in: Das sozialistische Jahrhundert, Juli 1947, S. 270 273; R. Löwenthal (Paul Sering): Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung, Berlin-Bonn 1977 (Neudruck der Ausgabe von 1947), S. 93 ff. und 174 f.; H. Koch (Hrsg.): Die Sozialgmeinschaften.....S.4; G. von Eynern: Freiheit in der Planwirtschaft.... 38 R. Löwenthal: Jenseits des Kapitalismus...S. 184-190; W. Brandt: Skandinavische Demokratie, in: Das sozialistische Jahrhundert April 1948, S. 161 f. ; D. E. Lilienthal: Die Tennessee-Stromtal-Verwaltung. Overseas Edition, New York 1944; A. Hermberg: Das Tennessee-Experiment, in: Das sozialistische Jahrhundert, Januar 1948, S. 65-70; G. von Eynern: Die Ruhr-Tal-Verwaltung, in: Das sozialistische Jahrhundert, Dezember 1948, S. 368 ff. 20 lehnte er ab, weil man von der gegebenen Situation ausgehen und das Erreichte „Jahr für Jahr“ korrigieren oder zurechtrücken müsse. Die Zentrumspartei forderte in ihrem Werler Programm vom November 1947 eine Planung und Lenkung zur „Bedarfsdeckung des ganzen Volkes“, die sich auf eine Rahmengesetzgebung beschränken und eines „geordneten Leistungswettbewerbs“ garantieren sollte 39. Aus sozialdemokratischer Sicht vertrat Heinrich Troeger die Auffassung, eine ausgeglichene Friedenswirtschaft werde sich durch die Auflockerung der planwirtschaftlichen Organisation auszeichnen. Zur Verwirklichung der Gemeinwirtschaft erklärte er: „Erst die Praxis wird lehren, welche Stellen beispielsweise für die Planung, welche für die Produktion, welche für die Verteilung am besten arbeiten, wo die Planung aufhören muss, wo der freie Marktverkehr bestehen bleibt, wie Unternehmerinitiative und Planungsvorschriften aufeinander abgestimmt werden können“. Der wirtschaftspolitische Ausschuss der SPD kam Ende 1946 zu dem Ergebnis, ein „bestimmter zentraler Einfluss auf Umfang und Grundrichtung der Produktion“ sei zwar notwendig; die „marktwirtschaftlichen Formen des Wirtschaftsablaufs“ und die individuelle Unternehmerinitiative sollten jedoch beibehalten werden40. Planung wurde im Rahmen dieser Zielvorstellungen, die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie in unmittelbarer Verbindung stehen, als ein dynamischer Prozess betrachtet. Der wirtschafts- und gesellschaftspolitische Rahmenplan war aufgrund neuer Informationen und Erfahrungen laufend zu korrigieren und den veränderten Bedingungen anzupassen. An die Stelle des starren Planungsbeschlusses sollte ein lernfähiges System treten, in dem der Rückkoppelungsprozess nicht zuletzt aufgrund politischer Erwägungen die entscheidende Rolle spielt. Dieses Planungsverständnis hatte zur Folge, dass in der unübersichtlichen Nachkriegssituation die Einzelheiten der zukünftigen Wirtschaftslenkung noch offen blieben. Übereinstimmung bestand allerdings darin, die kriegswirtschaftlichen Lenkungsmittel abzubauen und durch Methoden der indirekten Steuerung zu ersetzen. Die Planung hatte sich in erster Linie auf die Entwicklung der Investitionsgüterindustrie zu beziehen, während im Verbrauchsgütersektor marktwirtschaftliche Überlegungen gelten sollten. Als wichtigstes Lenkungsmittel betrachtete man die zentrale Investitionsplanung. Der Hamburger Sozialisierungsplan verlangt dementsprechend, dass die sozialisierten Unternehmen über die Verwendung ihres Reinertrages und über den Ausbau ihrer Anlagen nur „im Rahmen der volkswirtschaftlichen Investitionslenkung“ disponieren, und in die Verfassung von Rheinland-Pfalz wurde die Bestimmung aufgenommen, der Staat habe für eine Lenkung der Investitionen im „volkswirtschaftlich erwünschten Sinn“ zu sorgen und an diesen Entscheidungen die Organe der wirtschaftlichen Selbstverwaltung zu beteiligen41. Die Organisationsmodelle für die in Gemeineigentum zu überführenden Industrien und Betriebe waren dementsprechend gegenüber dem volkswirtschaftlichen Rahmenplan „offen“. Alle Vorschläge zur Neuordnung der Besitzverhältnisse müssen im Zusammenhang mit dieser gemeinwirtschaftlichen Zielsetzung verstanden werden, weil sie gegenüber der planmäßigen Wirtschaftslenkung eine untergeordnete Bedeutung hatten. Dies ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass die Rahmenplanung für die gesamte Volkswirtschaft gelten sollte, während sich die Sozialisierungsabsicht nur auf bestimmte Industriezweige richtete. Begriffe wie „Überführung in Gemeinwirtschaft“ und „Sozialisierung“ bedeuteten daher nach 1945 aus mehrheitsdemokratischer Sicht mehr als die Überführung von Produktionsmitteln aus privatem in nichtprivates Eigentum, nämlich ihren „Einsatz im Rahmen planmäßigen Wirtschaftens“42. In diesem Sinne ist auch der Hinweis des 39 E. Kogon: Die unvollendete Erneuerung. Deutschland im Kräftefeld 1945-1963, Frankfurt 1964, S. 42 ff. und 61; Text des Werler Programms in O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente...Bd.II, S.257 40 H. Troeger: Gemeinwirtschaft, nicht Planwirtschaft, in: Das sozialistische Jahrhundert, Mai 1947, S. 211 f.; E. Ott: Die Wirtschaftskonzeption...S. 111 ff. 41 Vgl. Sozialisierung in Hamburg - Kommissionsgutachten für den Senat vom 5.2. 1947 (abgedr. in: Das sozialistische Jahrhundert, März 1947, S. 159) sowie die Verfassung von Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947, Art. 62. 42 Sozialisierung in Hamburg... 21 Abgeordneten Menzel bei der Beratung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat zu interpretieren, unter „Gemeineigentum“ sei im Zusammenhang mit dem Kohle - Sozialisierungsgesetz in Nordrhein-Westfalen nicht nur die Frage des Eigentums, sondern auch eine bestimmte Wirtschaftsform verstanden worden43. Man beabsichtigte, die betreffenden Unternehmen mit der Neuregelung der Besitzverhältnisse gleichzeitig aus ihrer Isolierung zu lösen und zu gemeinwirtschaftlichen Zwecken zu verbinden. Die bewusste Ablehnung jeder Form von „Staatswirtschaft“ im Sinne einer Zentralverwaltungswirtschaft veranlasste allerdings einen Teil der Vertreter gemeinwirtschaftlicher Vorstellungen, diese ihrem Wesen nach politische und wirtschaftsorganisatorische Frage vorwiegend als Rechtsproblem zu betrachten. Die pragmatisch-empirische Sicht des Sozialisierungsproblems wurde hierbei nicht immer aufrechterhalten. Eine „Verstaatlichung“ schien demnach schon vorzuliegen, wenn der Eigentumstitel des Betriebes an das Land oder an eine Kommune überging. In der hessischen Sozialisierungsdiskussion führten diese Bedenken schließlich dazu, dass man sowohl privatrechtliche als auch öffentlich-rechtliche Lösungsmöglichkeiten prinzipiell ablehnte. Für das Gemeineigentum war vielmehr die neue rechtliche Form der Sozialgemeinschaften vorgesehen, die als sozialrechtliche Körperschaften verstanden wurden. Das „Sozialrecht“ sollte auf diese Weise als dritte Rechtssphäre neben das private und das öffentliche Recht treten44. Diese Lösung überzeugt zwar vom theoretischen Ansatz her, warf jedoch im Hinblick auf die politische Verwirklichung eine Reihe von vermeidbaren Schwierigkeiten auf. Sie führte zum Beispiel unter den Befürwortern der gemeinwirtschaftlichen Lösung zu einer Kontroverse über die Frage, ob Gemeindeeigentum bereits als Gemeineigentum zu betrachten oder ebenfalls zu sozialisieren sei45. Ein grundsätzlich anderer Weg wurde später bei dem von der Militärregierung nicht bestätigten Gesetz zur Sozialisierung der Kohlewirtschaft Nordrhein-Westfalens gewählt. Die entsprechenden Bodenschätze und Produktionsanlagen waren in das Eigentum des Landes zu überführen, während gleichzeitig die Selbstverwaltung Kohle als öffentlich-rechtliche Körperschaft zur Verwaltung der Betriebe errichtet werden sollte. Kennzeichnend für alle Sozialisierungsentwürfe ist eine „pluralistische“ Zusammensetzung der Verwaltungsräte (bzw. der Generalversammlungen) auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene. Auf diese Weise wurde die Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft in das Organisationsmodell eingefügt. In den Entscheidungsgremien war in der Regel eine Vertretung der Gewerkschaften, des Managements, der Gemeinden oder Gemeindeverbände sowie der Verbraucher vorgesehen. Der politische Einfluss sollte durch Vertreter der Landtage sichergestellt werden, die etwa ein Drittel der Mitgliederzahl zu besetzen hatten46. Lediglich das „Gemeinwirtschaftliche Unternehmen“ Berlin bildet hier eine Ausnahme, weil es im Verwaltungsrat einen unmittelbaren Regierungseinfluss vorsah: Von seinen 21 Mitgliedern waren 8 vom Magistrat und nur 4 durch die Stadtverordnetenversammlung zu bestellen. Den innerbetrieblichen Entscheidungsgremien und den gegebenenfalls nach dem gleichen Muster zu errichtenden überbetrieblichen Wirtschaftskammern wurde zwar eine beratende Funktion bei der Aufstellung des volkswirtschaftlichen Gesamtplans zugebilligt. Die Entscheidungsbefugnis sollte jedoch allein bei den „aus allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl hervorgegangenen Repräsentanten der gesamten im Staat verbundenen Gesellschaft“ liegen, d. h. also bei der parlamentarischen Volksvertretung und ihrer 43 PR- Akten und Protokolle Bd. 3, S. 118. 44 H. Koch: Rechtsformen der Sozialisierung...S. 26 ff. 45 Näheres über die Diskussion sozialdemokratischer Wirtschaftspolitiker im Juni 1947 in Bad Wildungen bei G. von Eynern: Sozialisierung - Gemeindeeigentum gleich Gemeindeeigentum? in: Das sozialistische Jahrhundert, August 1947, S. 309 46 Das gilt für die Hessische Landesgemeinschaft (8 von 24 Sitzen) und den „Kohlerat“ in Nordrhein Westfalen (10 von 33 Mitgliedern). 22 Mehrheit47. Die Eigentumsfrage stand in enger Verbindung mit der auf mehrheitsdemokratischer Seite vorherrschenden Zeitgeschichtsinterpretation: Die Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik schienen zu beweisen, dass die vorausschauend planende Gemeinwirtschaft immer in Frage gestellt blieb, solange sie auf die Kooperation der großen Kapitaleigentümer angewiesen war. Richard Löwenthal widmete 1947 einen eigenen Abschnitt seines Buches den traditionellen Hindernissen sowie den Sabotagemöglichkeiten, und Erik Nölting erklärte 1947 vor dem SPD-Parteitag: „Politische und wirtschaftliche Gründe bestimmen uns, die Grundstoff- und Schlüsselindustrie zu sozialisieren, nicht zuletzt deshalb, weil es sich hier um akute Machtfragen handelt“48. Den gleichen Standpunkt vertrat Karl-Heinz Knappstein, der neben einer neuen Vermögensverteilung den „immer wieder erwiesenen politischen Missbrauch wirtschaftlicher Macht“ als Sozialisierungsgrund anführte. Heinrich Troeger rechnete die Sozialisierungsforderung nicht einmal zu den charakteristischen Merkmalen der gemeinwirtschaftlichen Konzeption. Für wesentlicher hielt er ihre Bestimmung als Bedarfsdeckungswirtschaft (im Unterschied zur „Profitwirtschaft“), die Beteiligung der Betriebsangehörigen an der Geschäftsführung und an den Planungsentscheidungen sowie die Existenzsicherung des einzelnen, wozu er auch die Beteiligung am Ertrag des Unternehmens zählte. Zur politischen Absicherung dieses Programms schien ihm aber ebenfalls die Überführung der wichtigsten Produktionsmittel in Gemeineigentum notwendig zu sein49. Diese Einschätzung der Eigentumsfrage kann insofern pragmatisch genannt werden, als man in der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln nicht mehr einen Wert an sich, sondern ein Mittel zur Erreichung eines konkreten politischen Zwecks sah. Ähnlich argumentierte der frühere bayerische Wirtschaftsminister Dr. Rudolf Zorn vor dem SPD-Parteitag von 1948: „Wir wissen heute aus dem bolschewistischen Beispiel, dass durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel die Schattenseiten der kapitalistischen Ordnung durchaus nicht beseitigt werden, dass durch sie weder Freiheit noch die soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden. Diese Erkenntnis hindert uns nicht daran, festzustellen, dass die Überführung bestimmter Produktionsmittel in Gemeineigentum zumindest eine politische Notwendigkeit erster Ordnung ist. Um die Wirtschaft der Gesellschaft neu zu ordnen, dazu ist allein die Planung und Lenkung dieser Wirtschaft nötig“. Das Referat von Zorn war innerparteilich nicht unumstritten. Es entsprach aber der bereits bestehenden keynesianischen Richtung innerhalb der Sozialdemokratie50. Im Anschluss an die Darstellung des mehrheitsdemokratischen Motivationsbereichs bleibt noch die Frage zu klären, welche Parteien diese Zielvorstellungen in der Nachkriegsdiskussion aufgenommen und vertreten haben. Die Unterschiede im Demokratieverständnis waren nach 1945, wie aus den zitierten Quellen hervorgeht, nicht deckungsgleich mit den parteipolitischen Grenzen. Dies trifft sowohl für die Sozial- und Wirtschaftskonzeptionen als auch für die anschließend zu behandelnden Verfassungsvorstellungen zu. In vielen Fällen stehen in der gleichen Partei mehrheitsdemokratische und konstitutionell-demokratische Motive oder Argumente nebeneinander. Hierzu haben der dezentralisierte Wiederaufbau des Parteiensystems und die Neubildung überkonfessioneller christlicher Parteigruppen beigetragen, welche sich später zur CDU/CSU zusammenschlossen. Lediglich die SPD nimmt im Parteienspektrum der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Sonderstellung ein, weil sie insgesamt einer der beiden Demokratiekonzeptionen zuzuordnen ist. Die Übereinstimmung zwischen den sozialdemokratischen Zielsetzungen und der mehrheitsdemokratischen Konzeption war so weitgehend, 47 H. Koch ( Hrsg.): Die Sozialgemeinschaften....S. 17; V. Agartz: Sozialistische Wirtschaftspolitik...S. 14 48 R. Löwenthal: Jenseits des Kapitalismus...S. 170 f. und Protokoll SPD- Parteitag 1947, S. 160. 49 K. H. Knappstein: Die Stunde der Sozialreform...; H. Troeger: Gemeinwirtschaft, nicht Planwirtschaft... 50 Protokoll SPD - Parteitag 1948, S. 141; H. Grebing: Der Sozialismus, in: A. Schildt/ A. Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 646-658; M. Held: Sozialdemokratie und Keynesianismus. Von der Weltwirtschaftskrise bis zum Godesberger Programm, Frankfurt a. M.-New York 1982, S. 169 ff. und 213 ff. 23 dass man von Identität sprechen kann. Sowohl bei den wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen als auch bei den Geschichtsinterpretationen lässt sich diese Übereinstimmung an Hand der sozialdemokratischen Parteitagsprotokolle von 1946 bis 1948 nachzeichnen. Auf dem Parteitag von Hannover (1946) erläuterte der damalige Leiter des Zentralamtes für Wirtschaft in der britischen Zone, Viktor Agartz, die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik und nahm dabei auch zur jüngsten Vergangenheit Stellung. Er interpretierte den Nationalsozialismus als politische Konsequenz des „kapitalistischen Systems“ und erklärte zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess: „So sehr heute die Welt entsetzt ist über die Gräuel und Verbrechen aller derer, die in Nürnberg auf der Anklagebank sitzen, so fehlt auf dieser Anklagebank das letztlich schuldige soziale System mit seiner inneren Dynamik“. Sein Wirtschaftskonzept sollte daher gleichermaßen der Überwindung des Nationalsozialismus und des Kapitalismus dienen. Agartz erläuterte den Delegierten die bereits dargestellte Konzeption einer umfassenden Rahmenplanung und betonte, dass in erster Linie die Methoden der indirekten Lenkung angewandt und die „marktwirtschaftlichen Elemente des Wettbewerbs“ erhalten bleiben sollten. Die staatliche Rahmenplanung war nach seinen Worten durch ein noch so weitgehendes Mitbestimmungsrecht in den Betrieben nicht zu ersetzen, weil hier kein „volkswirtschaftlicher Gesamtplan“, sondern nur „wirtschaftliche Teilpläne“ entstehen könnten. Kurt Schumacher prägte in Hannover die Formel vom „Sozialismus unter demokratischer Kontrolle“, die von sozialdemokratischer Seite anschließend auch bei den Beratungen der Landesverfassungen vertreten wurde. Er bezeichnete außerdem die Wirtschaftsform im sowjetischen Machtbereich als „zentralistischen diktatorischen Staatskapitalismus“51. Ein Jahr später auf dem Nürnberger Parteitag (1947) erstattete der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, Erik Nölting, Bericht über die Arbeit des wirtschaftspolitischen Ausschusses der Partei. Nölting ging hierbei ausführlicher auf die Sozialisierungsfrage ein und bezeichnete die Kohlewirtschaft, die Eisen- und Stahlindustrie sowie die Großchemie als sozialisierungsreif. Eine „starre Demarkationslinie“ zwischen sozialisierungsreifen und weiterhin privaten Betrieben lehnte er ab. Nölting betonte, die Eigentumsfrage stehe „gewissermaßen nur im Vorfeld der eigentlichen Sozialisierung“; wesentlicher sei der Aufbau neuer Lenkungsorgane für die betreffenden Wirtschaftszweige. Die sozialdemokratische Partei verzichtete nach 1945 auf die Formulierung eines umfassenden neuen Parteiprogramms, weil nach Auffassung Schumachers hierfür in der unübersichtlichen Nachkriegssituation die Voraussetzungen fehlten. Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich bestanden jedoch konkretere Vorstellungen als aus den programmatischen Erklärungen der Partei (wie z. B. den politischen Leitsätzen vom Mai 1946) hervorgeht52. Die Kommunistische Partei Deutschlands unterstützte nach 1945 in vielen Fällen die wirtschaftspolitischen Forderungen aus dem Motivationsbereich der sozialen Mehrheitsdemokratie. Diese Linie entsprach der „antifaschistisch-demokratischen“ Politik, die von kommunistischer Seite seit dem VII. Weltkongress der Komintern im Jahre 1935 propagiert wurde. Der Aufruf des Zentralkomitees vom 11. Juni 1945 lehnt daher das „Sowjetsystem“ für Deutschland ab, weil es den „gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen“ nicht entspreche. Nach der Niederlage des Nationalsozialismus müsse zunächst die 1848 begonnene bürgerliche Umbildung zu Ende geführt und eine 53 „parlamentarisch-demokratische Republik“ eingerichtet werden . Die KPD war dementsprechend bis etwa 1948 an mehreren Landesregierungen in Westdeutschland beteiligt. Unter dem Eindruck des Ost-West-Konflikts und der Auseinandersetzung mit den jugoslawischen Kommunisten nahm die SED/KPD 1947/48 einen Kurswechsel vor, der auch personelle Veränderungen 51 Protokoll SPD-Parteitag 1948, S. 35 f. und 57 ff., sowie Abg. Pittroff (SPD) in der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, 6. Sitzung vom 13. September 1946. 52 Protokoll SPD-Parteitag 1947, S.158 ff. sowie Protokoll SPD-Parteitag 1948, S. 24; O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. III, S. 17 ff. 53 Vgl. Dokumente der Kommunistischen Partei Deutschlands 1945-1956, Berlin 1965, S. 1 ff. 24 im westdeutschen Funktionärskader der Partei zur Folge hatte54. Die Vertreter der KPD waren nach 1945 allerdings der Auffassung, die Pläne der westdeutschen Parteien zur Neuordnung der Besitzverhältnisse in der Großindustrie seien nicht als Sozialisierungsvorschläge zu bezeichnen. Von Sozialisierung könne man erst sprechen, argumentierten die kommunistischen Abgeordneten in Nordrhein-Westfalen, wenn die „Arbeiterklasse im Besitz der ganzen politischen Macht“ sei, und es sich um „Maßnahmen eines sozialistischen Staates“ handele. Die vorgesehene Überführung des Bergbaues in Gemeineigentum war nach ihrer Auffassung notwendig, um der bürgerlichen Demokratie eine „reale wirtschaftliche Machtgrundlage“ zu geben. Im Gegensatz zu den mit der sozialen Mehrheitsdemokratie verbundenen Zielsetzungen trat die KPD für eine Verstaatlichung der in Frage kommenden Industriezweige ein. Der Einwand der demokratischen Parteien, der Staatsapparat erhalte auf diesem Wege eine unkontrollierte Machtposition, dokumentierte nach kommunistischer Auffassung nur das „mangelnde Vertrauen zur eigenen demokratischen Überzeugung“. Der Abg. Reimann erklärte hierzu vor dem Landtag von Nordrhein-Westfalen: „Wir sagen ganz offen, dass wir für die Verstaatlichung dieser Betriebe eintreten. Bei dieser Verstaatlichung in einem demokratischen Staat, in dem die Macht der Konzernherren gebrochen ist, kann sich keine Staatsbürokratie bilden“55. Diese Äußerungen zeigen, dass sich die Vorstellungen der Kommunisten zur Wirtschaftsstruktur durch ein unreflektiertes Bürokratievertrauen von den Grundlagen der sozialen Mehrheitsdemokratie unterschieden. Das eigentliche Anliegen der Gemeinwirtschaft, durch eine begrenzte und parlamentarisch kontrollierte Rahmenplanung Freiheit und Lenkung zu vereinbaren, war der kommunistischen Zielsetzung fremd. Während die Übereinstimmung zwischen der SPD-Programmatik und der mehrheitsdemokratischen Konzeption leicht nachzuweisen ist, lässt sich die Position der CDU/CSU-Gruppen in der Demokratiediskussion der Nachkriegszeit wesentlich schwieriger darstellen. Hierfür ist die Uneinheitlichkeit der Parteigründungen verantwortlich, welche sich bereits in der Herkunft ihrer führenden Politiker dokumentiert. Neben Vertretern des Zentrums waren ehemalige Mitglieder der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der Deutschen Volkspartei (DVP), des Christlich Sozialen Volksdienstes und der Deutschnationalen Volkspartei beteiligt. Entsprechende Unterschiede bestanden in der politischen Zielsetzung: Bei den Gründungen in West- und Süddeutschland stand die interkonfessionelle Zusammenarbeit im Vordergrund, während in Norddeutschland die Zielsetzung dominierte, ein „bürgerliches“ Gegengewicht zur Sozialdemokratie zu schaffen. Die Berliner Parteigründung kann als Synthese beider Bestrebungen verstanden werden56. Die programmatischen Erklärungen der frühen CDU/CSU-Gruppen entsprachen zum Teil den mehrheitsdemokratischen Zielvorstellungen. Bei der Beurteilung der jüngsten deutschen Vergangenheit kommt diese Übereinstimmung etwa in der Feststellung der Kölner Leitsätze (Juni/September 1945) zum Ausdruck, mit dem „Größenwahn“ des Nationalsozialismus habe sich der Einfluss militaristischer Kreise und großkapitalistischer Rüstungsmagnaten verbunden. In den einführenden Sätzen des Ahlener Programms vom Februar 1947 findet sich die Formulierung, das kapitalistische Wirtschaftssystem sei den Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden; eine soziale und wirtschaftliche Neuordnung könne daher nicht mehr auf der Grundlage des „kapitalistischen Gewinn- und Machtstrebens“ erfolgen. Viele CDU-Programme wenden sich gegen die „Vorherrschaft des Großkapitals“ sowie gegen Konzerne, Syndikate und Monopole, welche ihren Trägern neben wirtschaftlichem Einfluss auch politische Macht vermitteln. Gleichzeitig werden Vorschläge zur Veränderung der industriellen Eigentumsstruktur gemacht. Bestimmte Produktionszweige, heißt es, seien als „Angelegenheiten des 54 H. Kluth: Die KPD in der Bundesrepublik. Ihre politische Tätigkeit und Organisation 1945-1956, Köln/ Opladen 1959, S. 29-36. 55 Ernannter Landtag von Nordrhein Westfalen, 5. Sitzung am 4.3.1947 (Ledwohn) sowie 1. Wahlperiode, 7. Sitzung am 18.6.1947 (Reimann) und 10. Sitzung am 1.8.1947 (Lichtenstein). 56 K. Niclauß: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Paderborn usw. 1995 (UTB 1896), S. 67 ff. 25 öffentlichen Dienstes“ zu betrachten oder gar in „Staatsbesitz“ zu überführen. Andere Programme sprechen von einer Überführung in Gemeineigentum oder von Vergesellschaftung und unterstreichen die Notwendigkeit einer gesamtwirtschaftlichen Planung57. Ähnliche Äußerungen lassen sich von führenden Politikern der CDU anführen: Johannes Albers, Mitglied des Kölner Gründungskreises und Gewerkschaftler, vertrat in einem Grundsatzreferat die Ansicht, bestimmte Gruppen, wie „Militaristen“ und „Kreise der Schwerindustrie“, seien aufgrund ihrer politischen Aktivität als „Steigbügelhalter des Nationalsozialismus“ anzusehen. Bei den hessischen Verfassungsberatungen sprach sich der CDU-Abgeordnete v. Brentano für eine geplante Wirtschaft aus. Die „alte kapitalistische und liberalistische Wirtschaftsform“ war nach seinen Worten mit den politischen Interessen der Gesamtbevölkerung in Widerspruch geraten und hatte deshalb ihre Existenzberechtigung verloren. Auch Konrad Adenauer erklärte Anfang 1947 bei der Sozialisierungsdebatte im Landtag von Nordrhein-Westfalen, die Ruhrindustrie habe in den Jahren bis 1933 ihre wirtschaftliche Macht „um Schaden des deutschen Volkes“ ausgenutzt58. Die Übereinstimmung zwischen den Zielsetzungen der christlich-demokratischen Gruppen und den wirtschafts- und sozialpolitischen Motiven der sozialen Mehrheitsdemokratie trifft vor allem für Bestrebungen zu, die man zusammenfassend als „christlichen Sozialismus“ bezeichnet. Gerhard Schulz weist in seiner Untersuchung der CDU/CSU darauf hin, dass dieser Terminus bereits bei seiner Entstehung tendenziösen Charakter hatte und hinsichtlich seiner Bedeutung nicht eindeutig zu bestimmen ist. Er wurde 1918 von Zentrumspolitikern wie Adam Stegerwald und dem Theoretiker der katholischen Soziallehre Heinrich Pesch in die politische Diskussion eingeführt. Die These vom „christlichen Sozialismus“ sollte dokumentieren, dass man mit den eigenen sozialpolitischen Vorstellungen in die Domäne des „Sozialismus“ eindringen und sich dennoch gleichzeitig von ihm abgrenzen könne. Der tendenziöse Charakter war nach 1945 für den „christlichen Sozialimus“ weiterhin bestimmend und wurde unter dem Eindruck des politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs eher noch verstärkt. Werner Conze schreibt, Jakob Kaiser habe dieses Schlagwort „in einem durchaus pragmatischen Sinn“, ohne Reflexion über die theologischen Grundlagen sowie über die wirtschafts- und verfassungspolitischen Konsequenzen aufgegriffen59. Die pragmatische Einstellung zum „Sozialismus“ kam auch bei den Programmberatungen des Kölner Gründungskreises der CDU deutlich zum Ausdruck. Die Dominikaner Welty und Siemer wollten diesen Begriff, „der in aller Munde sei“, von seiner marxistischen Bedeutung trennen. „Es muß doch möglich sein“, erklärte Welty später, „dass wir uns von einer geschichtlich bedingten Wortbedeutung frei machen, wenn dem Wort ein neuer, nicht zu beanstandender, sondern an sich durchaus gutzuheißender Inhalt gegeben wird“60. Die Diskussion um den „christlichen Sozialismus“ stand außerdem in enger Verbindung mit den Führungsrivalitäten in der Gesamtpartei. Das gilt vor allem für den Gegensatz zwischen Adenauer und Kaiser, der bei einer Zusammenkunft westdeutscher CDU/CSU-Politiker am 3. April 1946 in Stuttgart deutlich zum Ausdruck kam: Alle Beteiligten waren sich nach dem Wortlaut des Protokolls darin einig, dass die Bezeichnung „christlicher Sozialismus“ unangebracht sei und unter den Anhängern der Partei nur „Verwirrung und tiefgehende Meinungsverschiedenheiten“ hervorrufen würde. Adenauer wurde beauftragt, dies „Herrn Jakob Kaiser“ mitzuteilen. Gleichzeitig kamen die anwesenden Politiker zu der übereinstimmenden Auffassung, der Sitz der zukünftigen Parteileitung könne weder in Berlin noch in der 57 Vgl. die Programme bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 27-236 58 J. Albers: Die Aufgabe der CDU im Leben des deutschen Volkes. Schriftenreihe der CDU des Rheinlandes, Heft 2. Köln o. J. (Anfang 1946), S. 5; Verfassungsberatende Landesversammlung Hessen, 5. Sitzung vom 29. 9. 1946; Ernannter Landtag von Nordrhein Westfalen, 4. Sitzung vom 23.1.1947. 59 G. Schulz: Die CDU - Merkmale ihres Aufbaus, in: Parteien in der Bundesrepublik, Stuttgart/Düsseldorf 1955, S. 84 f.; W. Conze: Jakob Kaiser. Politiker zwischen Ost und West 1945-1949, Stuttgart 1969, S. 41 60 E. Welty: Die Entscheidung in die Zukunft, Heidelberg 1946, S. 402 f. 26 sowjetischen Besatzungszone sein, sondern nur an einem Ort, der „etwa an der Mainlinie“ liegt61. Der „christliche Sozialismus“ befand sich als politisches Schlagwort immer im Spannungsbereich zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite stand die klare Aussage der Enzyklika „Quadragesimo anno“ aus dem Jahre 1931: „Religiöser Sozialismus, christlicher Sozialismus sind Widersprüche in sich selbst; es ist unmöglich, gleichzeitig guter Katholik und wirklicher Sozialist zu sein“. Andererseits glaubten christliche Politiker und Publizisten einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft gegenüberzustehen, deren „Proletarisierung“ sich auch im politischen Verhalten äußern werde und daher eine sozialistische Antwort auf die Zeitprobleme verlange. In den Fragen der Eigentumsordnung lassen sich nach 1945 nur noch geringe Differenzen zwischen den Bestrebungen des „christlichen Sozialismus“ in der CDU und dem mehrheitsdemokratischen Motivationsbereich feststellen. Unterschiedliche Auffassungen bestanden dagegen in der Planungsfrage: Zahlreiche CDU-Programme, die vom „christlichen Sozialismus“ beeinflusst wurden, sprechen zwar von der Notwendigkeit staatlicher Planung, verweisen aber in der Begründung auf die außergewöhnliche Situation der deutschen Nachkriegswirtschaft. Dies gilt etwa für den Berliner CDU-Aufruf vom Juni 1945 und für das „Ahlener Programm“, während die „Kölner Leitsätze“ die Planungsproblematik nicht erwähnen. Als Gegenpol zur Wirtschaftslenkung wird die Privatinitiative und Eigenverantwortlichkeit (Kölner Leitsätze) oder die Idee der freien und verantwortlichen Persönlichkeit (Frankfurter Leitsätze) herausgestellt. Das Ahlener Programm betont, Planung dürfe nicht als Selbstzweck betrachtet werden; sie sei vielmehr außerhalb wirtschaftlicher Krisensituationen nur von „Fall zu Fall“ notwendig62. Bei den liberalen Gründungskreisen können wir ebenfalls mehrere Richtungen feststellen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Nationalsozialismus auseinander setzten. Neben den „Altliberalen“ und den „Rechtsliberalen“ unterscheidet L. Albertin die „sozialen Demokraten“. Deren Programmentwürfe warnten vor der Monopolbildung sowie dem „Missbrauch wirtschaftlicher Machtstellung“ und gingen in der Gründungsphase sogar soweit, für einzelne Wirtschaftszweige die Überführung in „Gemeinwirtschaft“ zu fordern63 Die Programmatik des Zentrums zeichnet sich nach 1945 durch die gleiche Heterogenität aus wie die Bestrebungen des „christlichen Sozialismus“ innerhalb der CDU/CSU. Maßgebende Vertreter der Partei gingen davon aus, dass die Tendenz zum Sozialismus nach dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruch unvermeidbar sei. In dieser Situation stehe die Kirche (und die christliche Politik) vor der zeitgeschichtlichen Aufgabe, den Sozialismus mit der „Wärme des Christentums zu verschmelzen“, um seine kollektivistische und materialistische Variante zu verhindern64. Wirtschaftliche Planungs- und Reformvorstellungen werden demnach begleitet vom Personalismusgedanken, der im Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie eine wichtige Rolle spielt. Bezeichnend hierfür ist die Uneinheitlichkeit des Werler Programms der Zentrumspartei vom November 1946: Der wirtschaftspolitische Teil fordert die Gesamtplanung der Wirtschaft einschließlich der Kapital- und Investitionspolitik sowie die „Entprivatisierung“ der Grundstoffindustrien. Im kulturpolitischen Teil dagegen wird im Zusammenhang mit der „kommenden Sozialisierung“ vor der „Nivellierung“ gewarnt, die als „lebensfeindliches, a-personales und kulturwidriges Prinzip“ anzusehen sei. Die Sozialisierungsdiskussion in Nordrhein-Westfalen zeigt jedoch, dass das Zentrum in der politischen Praxis den mehrheitsdemokratischen Zielsetzungen näher stand als die CDU. Seine Sprecher Brockmann 61 Text bei H. G. Wiek: Christliche und freie Demokraten in Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg 1945-1946, Düsseldorf 1958, S. 190 f. 62 Text der Programme bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 27 ff. 63 L. Albertin: Das theoriearme Jahrzehnt der Liberalen, in:A. Schildt/ A.Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau... S.659-676 64 H. Wessel: Von der Weimarer Republik zum Demokratischen Volksstaat, o. O. 1946, S. 19-25. 27 und Ballensiefen erklärten, die Zentrumspartei werde „vor einem mutigen Eingriff“ in die Eigentumsverhältnisse des Bergbaus, der Eisen- und Stahlindustrie sowie der Großchemie nicht zurückschrecken65. Diese Position der Zentrumspartei wird schließlich auch durch Kontakte mit der sozialdemokratischen Parteiführung im Sommer 1947 bestätigt, welche die engere Zusammenarbeit beider Parteien im Frankfurter Wirtschaftsrat für die Bizone zum Ziel hatten. Das Zentrum war damals bestrebt, Dr. Carl Spiecker als Vertreter Nordrhein-Westfalens in den Exekutivrat des Frankfurter Wirtschaftsrates wählen zu lassen. Dies gelang im August 1947 mit Unterstützung Kurt Schumachers gegen die Bedenken des CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold66. 2. Die verfassungspolitischen Grundlagen Die Planungsvorstellungen, wie sie im Rahmen der „Gemeinwirtschaft“ entwickelt wurden, haben die Verfassungskonzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie entscheidend beeinflusst. Der pragmatische Charakter dieser Rahmenplanung und ihre bewusste Abgrenzung von der durchgängigen Verwaltungswirtschaft moderner Diktaturen hatten zur Folge, dass dem Gesetzgebungsverfahren für die Verwirklichung dieser Vorstellungen eine besondere Bedeutung zukam. Die gemeinwirtschaftliche Wirtschaftsform konnte nur eingerichtet werden, wenn eine funktionsfähige Parlamentsmehrheit in der Lage war, die hierfür notwendigen Gesetze in möglichst kurzer Zeit zu verabschieden. Entsprechendes gilt für die Vielzahl von Sozialreformen, welche sich im Motivationsbereich der sozialen Mehrheitsdemokratie mit dem gemeinwirtschaftlichen Konzept verbanden. Mit der Einrichtung des neuen Lenkungssystems, das sich nicht nur auf den wirtschaftlichen Bereich im engeren Sinne, sondern auf die gesamte Entwicklung der Gesellschaft bezog, war allerdings nur der erste Schritt getan. Auch hinsichtlich seiner Funktionsfähigkeit blieb dieses System von der parlamentarischen Gesetzgebung abhängig. Sein Anpassungsvermögen an die gesellschaftlichen Bedingungen und seine Offenheit gegenüber neuen Erkennmissen konnten nur auf dem Wege über Parlamentsentscheidungen aufrechterhalten werden. 65 Vgl. den Wortlaut des Werler Programms bei Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 245 ff., sowie Ernannter Landtag von Nordrhein Westfalen, 5. Sitzung vom 4.3.1947 und Landtag von Nordrhein-Westfalen, 1. Wahlperiode, 39. Sitzung vom 7.4.1948. 66 Schumacher-Korrespondenz 1947-1952, Q 24 (AdsD):Briefwechsel mit Dr. Kühr und Dr. Lejeune 28 Vor allem von sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Seite wurde daher die Forderung erhoben, die volkswirtschaftliche Gesamtplanung „unter die Kontrolle einer zentralen parlamentarischen Körperschaft“ zu stellen. Der Rückkoppelungsprozess im gemeinwirtschaftlichen Planungssystem musste aufgrund von Mehrheitsentscheidungen zustande kommen, wenn man den Schritt von der demokratischen zur bürokratischen Planung vermeiden wollte. Die Verwirklichung der sozialen Demokratie, wie sie in der Nachkriegsdiskussion verstanden wurde, hing daher in erster Linie von der Funktionsfähigkeit der Legislative ab. Die mehrheitsdemokratische Konzeption knüpfte mit diesen Überlegungen an die Argumentation Hermann Hellers aus der Schlussphase der Weimarer Republik an. Heller hatte 1930 in seiner polemischen Schrift „Rechtsstaat oder Diktatur?“ der „Volkslegislative“ die entscheidende Rolle bei der Erweiterung der „bürgerlichen“ zur sozialen Demokratie zugesprochen67. Voraussetzung für die Verwirklichung des gemeinwirtschaftlichen Programms einschließlich seiner sozialpolitischen Zielsetzungen war deshalb eine entsprechende Konstruktion der Verfassung: Die parlamentarische Mehrheit musste über einen ausreichenden Spielraum im Verfassungssystem verfügen und sich möglichst frei von institutionellen Schranken entfalten können. Das Bestreben, dem unmittelbar gewählten Parlament und seiner Mehrheit diesen Spielraum zu sichern, ist daher als der verfassungspolitische Grundgedanke der mehrheitsdemokratischen Konzeption anzusehen. Insgesamt kann man den Begriff der sozialen Mehrheitsdemokratie folgendermaßen präzisieren: Aufgrund der wirtschafts- und sozialpolitischen Motivationen, die wir im vorangehenden Kapitel zusammenfassend als „Gemeinwirtschaft“ bezeichnet haben, ist die soziale Mehrheitsdemokratie als soziale Demokratie anzusprechen. Die Aufgabe des staatlichen Gemeinwesens beschränkt sich demnach nicht auf gelegentliche Eingriffe in die Dynamik gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen, sondern besteht in der bewussten Gestaltung dieser Prozesse. Der im deutschen Verfassungsdenken traditionell verwurzelte Gegensatz zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ ist damit grundsätzlich aufgehoben. Der „Staat“, seine Organe und seine Willensbildung werden als ein Mittel der Gesellschaft angesehen, um die eigene Fortexistenz zu sichern und zu gestalten. Die soziale Mehrheitsdemokratie und die ihr gegenüberstehende konstitutionelle Demokratieauffassung traten 1946/47 bei den Verfassungsberatungen in den Ländern zum erstenmal deutlich hervor. Als Kristallisationspunkt für die unterschiedlichen Verfassungs- und Demokratievorstellungen erwiesen sich damals zwei Institutionen, welche allerdings in der Endfassung der Länderverfassungen nur andeutungsweise Berücksichtigung fanden. Es ging einmal um die Frage, ob neben dem Landtag eine zweite Kammer einzurichten sei, und zweitens um den Vorschlag eines neben dem Ministerpräsidenten stehenden Staatspräsidenten. Das Engagement, mit dem man sich bei den Beratungen der Landesverfassungen dieser beiden Einrichtungen annahm, kommt für den rückschauenden Betrachter zunächst überraschend. Die Auseinandersetzung über Staatspräsidentenamt und Zweikammersystem ist aber darauf zurückzuführen, dass sich hier die beiden Demokratieauffassungen auf verfassungspolitischer Ebene gegenüberstanden. Da die unterschiedlichen Positionen zum Teil gegenseitig bedingt waren, kommt in diesem Zusammenhang auch die konstitutionell-demokratische Konzeption zur Sprache, welche erst im folgenden Kapitel zusammenfassend erläutert wird. 67 Vgl. die Entschließung Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik in: Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 227 ff. und von gewerkschaftlicher Seite: Zur Verfassungsfrage - Grundsätzliche Forderungen der Gewerkschaften zum Abschnitt Arbeit und Wirtschaft in den neuen Länderverfassungen, Düsseldorf o. J., sowie H. Heller: Rechtsstaat oder Diktatur?... S. 7 f. 29 Die mehrheitsdemokratischen Bedenken gegen die Einrichtung einer zweiten Kammer auf Länderebene sind darauf zurückzuführen, dass die Kompetenzen dieses Gremiums vorwiegend im Bereich der Legislative liegen sollten. Der „Staatsrat“, „Ständerat“, „Landesrat“ oder „Senat“ konnte einer zügigen Gesetzgebungspraxis nur hinderlich sein und damit die Verwirklichung des gemeinwirtschaftlichen Programms verzögern oder gar blockieren. In Bayern äußerte dementsprechend ein Gegner des Senats, die Volksvertretung brauche keine „Gouvernante“. Die wirtschaftliche Notlage mache vielmehr „ein rasches und exaktes Wirken der Gesetze zum zwingenden Gebot“68. In der neu zu gründenden Demokratie sollte nach mehrheitsdemokratischer Auffassung die Verantwortlichkeit eindeutig geklärt werden, und zwar durch die „Herausarbeitung der universalen Zuständigkeit des Parlaments als des einzig legitimen Vertretungs- und Vollstreckungsorgans des Willens der Gesamtheit“69. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner erklärte im bayerischen Verfassungsausschuss: „Meine Fraktion ist gegen alles, was irgendwie einer zweiten Kammer ähnlich sieht. Wir sind insbesondere dagegen, dass neben dem Landtag noch ein weiteres gesetzgebendes Organ geschaffen wird“. Auch der nordrhein-westfälische Innenminister Menzel (SPD) begründete bei der Vorlage seines Verfassungsentwurfs die Ablehnung der zweiten Kammer damit, diese Institution habe die „Verwässerung der reinen demokratischen Willensbildung“ zur Folge und widerspreche dem Grundsatz, die Landesgewalt habe vom Volke auszugehen70. 68 Abg. Seifried (SPD) in der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, 4. Sitzung vom 11.9.1946. 69 Abg. Hoffmann (SPD) in der Beratenden Landesversammlung von Rheinland-Pfalz, 3. Sitzung vom 6.12.1946. 70 Verfassungsausschuss Bayern, 22. Sitzung vom 26.8.1946, und Landtag von Nordrhein-Westfalen, 1. Wahlperiode, 19. Sitzung am 27. November 1947; ausführlicher G. Bergmann: Der Staatsratsgedanke in Deutschland, Baden-Baden 1994, S. 155 ff. 30 Aus mehrheitsdemokratischer Sicht ging es jedoch nicht nur um die Institution selbst, sondern auch um die Kompetenzen dieser zweiten Kammer. Je weitreichender ihr Mitbestimmungsrecht als Legislative gefasst war, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich bei gesellschaftspolitischen Reformvorhaben als retardierendes Element auswirken würde. Für die Beteiligung der zweiten Kammer am Gesetzgebungsverfahren standen in den einzelnen Ländern unterschiedliche Modelle zur Diskussion, die aufgrund der Kräfteverhältnisse in der betreffenden verfassunggebenden Versammlung und unter Berücksichtigung der alliierten Vorstellungen mehrfach geändert wurden. Oft verzichteten die Befürworter des Zweikammersystems allerdings auch aus taktischen Erwägungen auf eine genauere Festlegung. Als Maximalforderung sind die Vorschläge in Rheinland-Pfalz und in Bayern anzusehen: Während der „Staatsrat“ nach dem Entwurf für Rheinland-Pfalz über ein allgemeines Veto in der Gesetzgebung verfügt, welches der Landtag nur mit Zweidrittelmehrheit überstimmen konnte, sollte dem bayerischen Senat das Recht zustehen, über ein vom Landtag beschlossenes Gesetz einen Volksentscheid herbeizuführen. Als Mindestforderung ist die in Hessen diskutierte Vorschrift anzusehen, ein Veto der zweiten Kammer könne vom Landtag nur mit mehr als der Hälfte seiner gesetzlichen Mitgliederzahl abgelehnt werden. In Baden hat man allerdings von vornherein offenbar nur eine beratende Funktion der zweiten Kammer angestrebt71. Weitergehende Vorstellungen - wie etwa die Mitwirkung der zweiten Kammer bei der Regierungsbildung oder bei der Landtagsauflösung - waren zwar vorhanden; sie wurden jedoch schon vor Beginn der eigentlichen Verfassungsberatungen wieder aufgegeben72. Lediglich in Württemberg-Baden hat man auch im späteren Stadium der Beratungen vorgesehen, dass der Senat gleichzeitig die Aufgaben eines Verfassungsgerichtshofes übernehmen sollte. Neben der Kompetenzfrage stand die Zusammensetzung der geplanten zweiten Kammer im Mittelpunkt der damaligen Verfassungsdiskussion. Die Entwürfe, welche hierzu in den einzelnen Ländern vorgelegt wurden, verstärkten nur die Bedenken der mehrheitsdemokratischen Politiker, weil nach ihrer Auffassung bestimmte Bevölkerungskreise bei der Sitzverteilung keine ausreichende Berücksichtigung fanden. In Hessen wurde kritisiert, von den 36 Senatoren seien allenfalls neun als Interessenvertreter der Arbeitnehmerschaft anzusehen73. In Württemberg-Baden bemerkte der sozialdemokratische Abgeordnete Veit, unter den 40 Mitgliedern des vorgeschlagenen Senats finde man zwar sechs Kirchenvertreter, aber nur vier Vertreter der Arbeitnehmer, und vermutete daher, „dass der Senat die Aufgabe haben soll, ein retardierendes Moment der Gesetzgebung zu bilden und einer unerwünschten fortschrittlichen Entwicklung den Riegel vorzuschieben“74. Als im weiteren Verlauf der Verfassungsberatungen in Hessen und in Württemberg-Baden der Vorschlag gemacht wurde, den Senat als eine Vertretung der regionalen Interessen zu konstituieren, d. h. seine 71 Vgl. die Diskussion über den vorgesehenen Artikel 29m in der 22. Sitzung des bayerischen Verfassungsausschusses am 26. August 1946 sowie am 13. September 1946 im hessischen Siebenerausschuss und den entsprechenden Antrag der CDU-Fraktion Nr. 60; außerdem Dr. Fecht (BCSV) als Berichterstatter in der Beratenden Versammlung Baden, 11. Sitzung am 10.4.1947. 72 Abg. Köhler (CDU): „Sie wissen, dass wir ursprünglich diesem Organ viel weitergehende Rechte einräumen wollten. Wie wollten zum Beispiel die Frage der Regierungsbildung und die Frage der Auflösung des Landtags auch mit den Kompetenzen dieser ersten (d. i. zweiten) Kammer in Verbindung bringen. Wir haben nach sehr reiflicher Überlegung aber davon abgesehen und haben uns auf den Standpunkt gestellt: Entscheidend ist, dass die Gesetzgebung zum ausschließlichen Arbeitsfeld die ersten Kammer gemacht werden muss“ (Hessen - Siebenerausschuss, 4. Sitzung vom 13. September 1946). 73 F. H. Caspary: Vom Werden der Verfassung in Hessen, Offenbach 1946, S. 9. 74 Abg. Veit (SPD) in der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden, 2. Sitzung vom 18. Juli 1946. 31 Mitglieder durch die Kreistage und Stadtparlamente wählen zu lassen, befürchteten die Anhänger der mehrheitsdemokratischen Konzeption eine Unterrepräsentation der städtischen Gebiete und damit der sie unterstützenden Bevölkerungsteile75. Auch interessenpolitische Erwägungen veranlassten sie zur Ablehnung des „Nebenparlaments“, wenn dessen Einrichtung, wie in Hessen, offen mit dem Bestreben begründet wurde, „Fehler zu vermeiden, die tief in die Struktur unserer Wirtschaft eingreifen und die zur Folge haben können, dass kostbares Gut zerschlagen wird, das einer fruchtbaren Entwicklung fähig ist“76. Derartige Erklärungen konnten bei den Vertretern der sozialen Mehrheitsdemokratie nur den Eindruck hervorrufen, durch die Einrichtung einer zweiten Kammer werde die Arbeitnehmerschaft daran gehindert, ihren politischen Einfluss geltend zu machen. Trotz seiner zahlreichen Befürworter fand das Zweikammersystem im Verlauf der Beratungen keine Mehrheit. Die einzige Ausnahme bildet hier der bayerische Senat, dessen Kompetenzen aber in der Endfassung gegenüber den Entwürfen auf ein Mindestmaß reduziert sind. Als ihm in der Schlussphase der bayerischen Verfassungsberatungen auch das Recht abgesprochen wurde, einen Volksentscheid über Gesetzesvorlagen herbeizuführen, erklärte der sozialdemokratische Abg. Roßhaupter: „Die zweite Kammer ist eigentlich keine zweite Kammer, sondern sie ist ein rein begutachtendes und beratendes Element, das neben der ersten Kammer eingeführt werden soll“77. Für die Ablehnung von Wirtschaftskammern oder ähnlichen Einrichtungen waren aus mehrheitsdemokratischer Sicht die gleichen Überlegungen ausschlaggebend, wie für die Ablehnung des Zweikammersystems allgemein. Diese Einrichtungen widersprachen dem Verfassungskonzept der sozialen Mehrheitsdemokratie, weil die Position des aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenen Parlaments hierdurch geschwächt wurde und seine Planungskompetenz unter Umständen in die „freie Selbstverwaltung“ der Kammern übergehen konnte. Damit wäre der Grundgedanke der sozialen Demokratie, nämlich die bewusste Ausweitung des demokratischen Willensbildungsprozesses auf den wirtschaftlichen Bereich, in Frage gestellt worden78. Die Kontroverse in der Zweikammerfrage, welche bei den Beratungen zum Grundgesetz erneut politische Aktualität erlangen sollte, wurde bei den Verfassungsberatungen in den Ländern 1946/47 durch die Diskussion über das Staatspräsidentenamt ergänzt. Die damals zur Debatte stehende Form des Staatspräsidenten darf allerdings nicht verwechselt werden mit der gleichnamigen Einrichtung in einigen Landesverfassungen zur Zeit der Weimarer Republik. Damals hatten die Länder Württemberg, Baden und Hessen ihrem Ministerpräsidenten die Amtsbezeichnung „Staatspräsident“ verliehen. Nach 1945 bezog sich die politische Auseinandersetzung jedoch auf die Einführung einer anderen Institution: Der Staatspräsident sollte in den Ländern als eigene Einrichtung neben dem Ministerpräsidenten stehen. Die einschlägigen Verfassungsentwürfe greifen von der Konstruktion her weitgehend auf das Vorbild der Weimarer Reichsverfassung zurück, die man rückblickend als eine unglückliche Synthese des parlamentarischen und präsidialen Verfassungstyps bezeichnet hat79. Föderalistische Motive, der 75 Vgl. den Bericht der Verfassungsausschusses von Württemberg-Baden, S. 53 76 So der Abg. Euler (LDP) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946; weitere Beispiele bei F. R. Pfetsch: Ursprünge der Zweiten Republik, Opladen 1990, S. 298 ff. 77 Verfassungsausschuss Bayern, 23. Sitzung vom 27. August 1946. 78 F. H. Caspary: Vom Werden der Verfassung in Hessen...S. 9: „So bestechend der Gedanke einer paritätischen Zusammensetzung der Landeswirtschaftskammer auf den ersten Blick war, so beachtlich ist auf der anderen Seite, dass dieses Organ dazu dienen sollte, dem Staat den Einfluss auf die wirtschaftliche Gestaltung weitgehend zu entziehen...“. 79 K. Loewenstein: Beiträge zur Staatssoziologie. Tübingen 1961, S. 331-396 ( Der Staatspräsident - Eine rechtsvergleichende Studie). 32 allgemeine Wunsch nach „Stabilität“ und nicht zuletzt die verfassungsmäßige Bewältigung von Notstandssituationen waren ausschlaggebend für diese Bestrebungen. Adolf Süsterhenn, der als Theoretiker der konstitutionellen Demokratie zu bezeichnen ist, begründete die Einführung des Staatspräsidenten im „Rheinischen Merkur“ mit den zeitgeschichtlichen Erfahrungen: Die Entwicklung in Deutschland, in Frankreich sowie in den anderen parlamentarisch regierten Ländern zwischen den beiden Weltkriegen konnte nach seinen Worten „nicht gerade Begeisterung für eine rein parlamentarische Republik erwecken“. Auf der anderen Seite habe die nationalsozialistische Diktatur das reine Präsidialsystem diskreditiert, so dass man den deutschen Ländern kaum den Charakter von „Präsidentschaftsrepubliken“ geben könne. Er plädierte daher für eine Synthese zwischen dem Präsidialsystem und dem parlamentarischen System, um die Mängel beider Regierungsformen auszugleichen80. Sowohl Süsterhenn als auch die anderen Befürworter dieses Amtes verzichteten jedoch auf die Volkswahl des Staatspräsidenten. Sie glaubten auf diesem Wege eine mit der Weimarer Republik vergleichbare Fehlentwicklung der Institution vermeiden zu können. Der CSU-Abg. Dr. Horlacher erklärte hierzu: „Die Wahl durch das Volk könnte leicht durch das politische Intrigenspiel antidemokratischer Kräfte zu einem neuen Unheil führen. Die Wahl durch den Landtag selbst bedeutet infolgedessen eine Sicherung für das demokratische Funktionieren des Staatspräsidenten“. Bei einer Rundfrage zum hessischen Verfassungsentwurf setzte sich die überwiegende Zahl der angesprochenen Persönlichkeiten und Verbände für das Staatspräsidentenamt ein. Die große Mehrheit der Befürworter war hier allerdings der Ansicht, der Präsident solle unmittelbar vom Volk gewählt werden81. Die Bestrebungen zur Einführung des Staatspräsidenten kamen in der Regel über die Anfangsphase der Beratungen nicht hinaus. Lediglich in Bayern spitzte sich die Kontroverse zu. Der Staatspräsident wurde hier in einer Kampfabstimmung der Verfassunggebenden Versammlung mit 85 zu 84 Stimmen abgelehnt. Bei dieser Abstimmung gingen die Fronten quer durch die beiden großen Parteien: Etwa ein Viertel der CSU-Fraktion stimmte gegen die Aufnahme des Präsidentenamts in die Verfassung. Hierbei handelte es sich vorwiegend um Anhänger des Parteivorsitzenden Josef Müller, der einen im Vergleich zu den anderen CSU-Gruppen zentralistischen Kurs verfolgte, weil seine Ambitionen über Bayern hinausgingen82. Auf der anderen Seite votierten fünf Abgeordnete der SPD-Fraktion um den Ministerpräsidenten Hoegner für den Staatspräsidenten, weil sie in dieser Institution eine Weichenstellung für den föderalistischen Aufbau einer gesamtdeutschen Verfassung erblickten83. Wie weit der Staatspräsident gegebenenfalls in die Legislative eingreifen und die Mehrheitsentscheidungen des unmittelbar gewählten Parlaments beeinträchtigen konnte, zeigt der Verfassungsentwurf von Württemberg-Baden: Bei Nichtübereinstimmung zwischen Landtag und Senat hinsichtlich einer Gesetzesvorlage hatte der Staatspräsident die Wahl, sich entweder über die Einwände des Senats hinwegzusetzen und das Gesetz zu verkünden oder einen Volksentscheid über die Vorlage zu veranlassen. Im letzten Falle konnte die parlamentarische Mehrheit durch das Zusammenspiel von zweiter Kammer, Staatspräsident und Plebiszit umgangen werden. Eine ähnliche Desavouierung der Parlamentsmehrheit drohte, wenn der Staatspräsident von seinem Recht Gebrauch machte, auf Antrag eines Drittels der Landtagsabgeordneten ein beschlossenes Gesetz zum Volksentscheid zu stellen84. 80 A. Süsterhenn: Der Staatspräsident, in: Rheinischer Merkur vom 22. 10. 1946. 81 Bayerische Verfassungsgebende Landesversammlung, 4. Sitzung vom 11. September 1946, und K. Geiler: Die Verfassungsfrage in Großhessen, in: Die Neue Zeitung vom 28.6.1946 82 Hierzu A. J. Heidenheimer: Adenauer and the CDU, The Hague 1960, S. 87 ff. 83 Bayerische Verfassunggebende Landesversammlung, 5. Sitzung vom 12. September 1946; Die Neue Zeitung vom 16.9.1946 ( Präsident in Bayern abgelehnt ) sowie Rheinischer Merkur vom 17.9.1946 ( Eine erste Parlamentskrise in Bayern - Einsetzung des Staatspräsidenten mit einer Stimme Mehrheit abgelehnt ). 84 Bericht Carlo Schmids über den Stand der Verfassungsberatungen (Vorläufige Volksvertretung für 33 Diese Beispiele machen deutlich, dass der Staatspräsident in den Ländern ebenfalls den verfassungspolitischen Zielen der sozialen Mehrheitsdemokratie widersprach. Auch bei einem Verzicht auf die Volkswahl konnte der Präsident den Gesetzgebungsprozess aufgrund seiner verfassungsmäßigen Rechte verzögern oder gar blockieren. In Württemberg-Baden verwiesen die Vertreter mehrheitsdemokratischer Auffassung statt dessen auf die stabilisierende Wirkung des konstruktiven Misstrauensvotums. Seine Neuformulierung erübrigte ihrer Auffassung nach eine derart komplizierte Verfassungsstruktur, wie sie mit der Einführung des Staatspräsidenten geschaffen würde85. Das modifizierte Misstrauensvotum ist zwar generell zum Konsensusbereich der Demokratiediskussion nach 1945 zu zählen. In diesem Zusammenhang zeigt sich jedoch, dass es gelegentlich auch in der Kontroverse zwischen den Demokratiekonzeptionen eine Rolle spielte, weil es unterschiedlich interpretiert werden konnte Aus mehrheitsdemokratischer Sicht hatte diese Verfassungsbestimmung den Sinn, das Parlament in die Verantwortung zu „zwingen“ und auf diesem Wege seine Position zu stärken. Nach konstitutionell-demokratischer Auffassung sollte sie vorwiegend zur Sicherung der Regierung vor dem möglicherweise destruktiven Einfluss des Parlaments dienen. Aus der verfassungspolitischen Diskussion über das Zweikammersystem und über das Amt des Staatspräsidenten geht hervor, dass sich die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie durch ein spezifisches Gewaltenteilungsverständnis auszeichnet: Die Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative wurde nach 1945 nicht in Frage gestellt und allgemein als Vorlage für den institutionellen Teil der Verfassung angesehen. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie betrachteten diese Dreiteilung jedoch nicht als ein System von Gegengewichten (checks and balances), sondern lediglich als Grundriss für die Verteilung der Staatsfunktionen. Der legislativen Funktion räumten sie eine mit der Lehre John Lockes vergleichbare Sonderstellung ein. Die Verteilung der Gesetzgebungsgewalt auf mehrere Institutionen oder Kammern lehnten sie dabei allerdings ab. Die Legislative sollte ausschließlich dem unmittelbar gewählten Parlament anvertraut sein, damit sein Einfluss im gesamten Verfassungssystem verstärkt werde. Diese Zielsetzung kommt in dem Entwurf einer Landesverfassung des nordrhein-westfälischen Innenministers Walter Menzel (SPD) besonders deutlich zum Ausdruck: In Art. 61 des Entwurfs vom November 1947 heißt es, der Landtag lege die „Grundsätze der Landespolitik“ fest und die Landesregierung habe diese Grundsätze durchzuführen. Menzel, der später als Verfassungsexperte der SPD im Parlamentarischen Rat eine führende Rolle spielte, verteidigte diese Formulierung mit dem Hinweis, das Parlament sei „Träger der Gesamtpolitik“. Aus diesem Grunde könne nur der Landtag „und nicht eine Regierung“ die Grundsätze der Politik bestimmen86. Gleichzeitig strebten die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie eine Form der Gewaltenverschränkung an, welche dem Parlament ebenfalls eine Schlüsselposition zubilligte. Der Parlamentseinfluss sollte in diesem System vor allem auf politisch-personellem Wege wirksam werden. Ein interessantes Beispiel für die pragmatische Handhabung der Gewaltenverschränkung aus mehrheitsdemokratischer Sicht bietet die Diskussion um den Art. 108 der bremischen Verfassung: Im Entwurf war ursprünglich vorgesehen, dass Mitglieder der Regierung (Senatsmitglieder) nicht gleichzeitig Mitglieder der Bürgerschaft (des Landtages) sein können. Hinter diesem Vorschlag stand die Vorstellung vom fraktionsmässig nicht gebundenen Senator, der das Recht haben müsse, „sich gegebenenfalls auch von den Auffassungen seiner Partei zu entfernen“. Durch einen zweiten Absatz zum Art. 108 wurde im weiteren Verlauf der Beratungen auf sozialdemokratischen Antrag hin der Wiedereintritt ausscheidender Württemberg-Baden, 8. Sitzung am 28. Mai 1946) sowie Wilhelm Keil: Der württemberg-badische Verfassungsentwurf, in: Die Neue Zeitung vom 14.6.1946. 85 86 Bericht des Verfassungsausschusses von Württemberg-Baden, S. 52. Vgl. Landtag von Nordrhein-Westfalen, 1. Wahlperiode 19. Sitzung vom 27. November 1947 und Drucksache Nr. II-166 vom 15.11.1947. 34 Regierungsmitglieder in den Landtag geregelt und damit die personelle Beteiligung der Parlamentarier an der Regierungsbildung gesichert87. Als legitimes Korrektiv des Parlaments erkannten die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie lediglich den Staats- oder Verfassungsgerichtshof an. Der sozialdemokratische Abg. Kuhn erklärte hierzu in der Schlussphase der rheinland-pfälzischen Verfassungsberatungen: „Der Landtag hat . . . die beiden Umklammerungen, den Staatspräsidenten und den Staatsrat, von sich genommen bekommen. Die Vetos gegen die Gesetzgebung des Landtags können von dieser Seite nicht mehr eingelegt werden. Auch andere Institutionen der Wirtschaft werden nicht mehr gegen ihn auftreten. Lediglich der Staatsgerichtshof soll über die verfassungsmäßige Festlegung von Gesetzen wachen“88. Die Darstellung der sozialen Mehrheitsdemokratie bliebe allerdings unvollständig ohne Berücksichtigung der Föderalismus-Problematik. Die mehrheitsdemokratischen Vorstellungen zu dieser Frage hatten zwar für die Beratungen der Länderverfassungen nur eine mittelbare Bedeutung; sie wurden jedoch deutlicher akzentuiert, sobald die Verfassungsdiskussion über die Länderebene hinausging. Aus der Beschreibung ihres Motivationsbereichs ergibt sich bereits, dass diese Demokratiekonzeption nur im überregionalen Maßstab sinnvoll zu verwirklichen war. Das gemeinwirtschaftliche Programm sollte selbstverständlich auf gesamtdeutscher Ebene durchgeführt werden, sobald die politischen Verhältnisse dies zuließen. Die Länderkompetenzen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche zum größten Teil bereits von vornherein paradigmatischen Charakter hatten, waren in diesem Fall durch entsprechende reichs- oder bundeseinheitliche Regelungen zu ersetzen. Auch eine Rahmenplanung im Sinne des gemeinwirtschaftlichen Konzepts setzt eine Zentralinstanz mit ausreichenden Befugnissen voraus; auf diesen Zusammenhang hat bereits Karl Mannheim in seinem Entwurf einer freiheitlichen geplanten Gesellschaft hingewiesen89. Die mehrheitsdemokratische Verfassungskonzeption zeichnet sich daher durch einen „relativen Zentralismus“ aus. Hierunter ist zu verstehen, dass der bundesstaatliche Charakter der zukünftigen Gesamtverfassung grundsätzlich anerkannt wird. Der Bund sollte jedoch die Gesetzgebungskompetenzen in den wirtschaftspolitisch entscheidenden Fragen erhalten, und das Mitwirkungsrecht der Länderkammer sollte auf ein aufschiebendes Veto begrenzt bleiben. Diesem Modell entsprechen die sozialdemokratischen Verfassungsentwürfe von den „Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik“ (1947) über den Entwurf einer „Westdeutschen Satzung“ (1948) bis hin zum sogenannten zweiten Menzel-Entwurf für das Grundgesetz (1948)90. Ähnliche Vorstellungen entwickelten die Vertreter der Zentrumspartei vor dem Zonenbeirat der britischen Zone: Dr. Spiecker sprach in seinen „Richtlinien für eine künftige deutsche Verfassung“ dem Bundesstaat im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung die Kompetenz für die Fragen des Finanzausgleichs, der Wirtschaftslenkung und der Raumordnung zu. Der Bund sollte außerdem für die Gesamtplanung des Geld- und Kreditwesens und der Investitionen zuständig sein. Nach den Ausführungen seines Parteifreundes Dr. Stricker war die Länderkammer an der Gesetzgebung lediglich zu beteiligen, während der Bundestag von ihm ausdrücklich als der stärkere Partner bezeichnet wird. Der SPD-Sprecher Dr. Menzel billigte bei gleicher Gelegenheit der Länderkammer ein aufschiebendes Veto zu, welches aber niemals den „Willen des Reichstages inhibieren oder zunichte machen“ dürfe. Der unmittelbar gewählte Reichstag sei vielmehr als „Träger der Gesamtgewalt“ anzusehen, dessen politischer Einfluss durch eine zweite Kammer nicht „verwischt“ werden könne91. Bei den Beratungen zum Grundgesetz verband sich 87 Abg. Degener (CDU) und Stockinger (SPD) in: Verhandlungen der Bremischen Bürgerschaft vom 1. August 1947. 88 Beratende Landesversammlung Rheinland-Pfalz, 8. Sitzung vom 25. April 1947. 89 K. Mannheim: Freedom Power and Democratic Planning. London 1950, S. 112-116. 90 Diese Entwürfe sind abgedruckt bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen. Frankfurt 1969, S. 263-293. 91 Zonenbeirat, Deutsches Sekretariat, J. Nr. 1228/47 vom 16. August 1947 ( ADL 132 FDP - brit. Zone, Staat 35 daher die Diskussion über die Zweikammer-Problematik mit den beiden Fragen nach der Kompetenzaufteilung im Bundesstaat und nach dem Ausmaß des Ländereinflusses auf die Bundesgesetzgebung. Die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie weist in vielen Punkten Ähnlichkeit mit der britischen Demokratie auf. Diese Übereinstimmung hängt mit der langen sozialstaatlichen Tradition Englands zusammen, die hier im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowohl von sozialdemokratischer als auch von konservativer und liberaler Seite begründet wurde. Im Anschluss an die utilitaristische Philosophie Jeremy Benthams erarbeiteten zunächst seine Schüler John Stuart Mill und Edwin Chadwick ein umfangreiches Programm sozialgesetzgeberischer Reformen. Ihre Vorstellungen fanden auf dem radikalen Flügel der Liberalen Unterstützung. In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die sozialstaatliche Konzeption bereits das individualistische Staats- und Freiheitsverständnis in der Liberalen Partei Englands abgelöst. Sie bestimmte zu diesem Zeitpunkt auch die Zielsetzung der Konservativen unter Disraeli und wurde schließlich unter dem Einfluss der Fabian Society zur ideologischen Grundlage der Labour Party. Die Lehren von John Maynard Keynes über die wirtschaftlichen Aufgaben des Staates („Die allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“, 1936) und die Denkschrift des liberalen Politikers Lord Beveridge über die Ausdehnung der Sozialleistungen (Beveridge-Plan 1942) haben dazu geführt, dass die Vorstellung eines in alle Lebensbereiche eingreifenden Staates in England allgemeine Anerkennung fand92. Nach 1945 galten die ursprünglichen Planungsvorstellungen der Labour-Regierung als Muster für die westdeutschen Planungsüberlegungen. Die Übereinstimmung der sozialen Mehrheitsdemokratie mit dem englischen Vorbild trifft jedoch nicht nur für den wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich, sondern auch für die verfassungspolitischen Zielsetzungen zu: Die mehrheitsdemokratischen Verfassungs-vorstellungen sind ein Beispiel für den Typ der „simple constitution“ im Sinne Bagehots, während die konstitutionelle Demokratie an der amerikanischen Verfassungstradition orientiert und insofern „composite government“ war93. Die soziale Mehrheitsdemokratie wurde auch als verfassungspolitische Konzeption in erster Linie von der sozialdemokratischen Partei vertreten. Die SPD sprach sich dementsprechend in allen verfassunggebenden Landesversammlungen gegen das Zweikammersystem, gegen das Staatspräsidentenamt und für den Parlamentseinfluss bei der Wahl des Staatsgerichtshofes aus. Der Parteivorstand setzte im September 1946 einen verfassungspolitischen Ausschuss ein, der einen Entwurf für die zukünftige gesamtdeutsche Verfassung ausarbeiten sollte. Der Vorsitzende dieses Ausschusses, Dr. Walter Menzel, erstattete 1947 auf dem Nürnberger Parteitag Bericht über die Beratungen und legte die Richtlinien für den Aufbau der deutschen Republik vor. Sein ausführliches Referat zur Verfassungsproblematik Nachkriegsdeutschlands bringt die weitgehende Übereinstimmung zwischen der mehrheitsdemokratischen Konzeption und den sozialdemokratischen Vorstellungen deutlich zum Ausdruck. Menzel befasste sich mit der Föderalismusfrage, unterstrich die Bedeutung des unmittelbar gewählten Reichstages im Verfassungssystem und bezeichnete das konstruktive Misstrauensvotum als ein Mittel, die „Volksvertreter“ an ihre Verantwortlichkeit zu erinnern. Der zuletzt genannte Gesichtspunkt veranlasste ihn auch, das Volksbegehren und den Volksentscheid zwar nicht grundsätzlich auszuschließen, aber laut Verfassung auf bestimmte konkrete Fälle zu beschränken. Wenn man den Volksentscheid unbegrenzt zulasse, erklärte er, könne das Parlament in schwierigen Fragen die Verantwortung auf den Wähler „abwälzen“. Wie weitgehend die und Verfassung, Außenpolitik) und Zonenbeirat, 17. Plenarsitzung vom 24.11.1947 92 Zusammenfassend Gerhard A. Ritter: Probleme und Tendenzen der englischen Verfassungsentwicklung seit 1914, in: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie, Festgabe für Hans Herzfeld, Berlin 1958, S. 309354. 93 Zur Terminologie W. Bagehot: The English Constitution, London 1963 (The World`s Classics 330), S. 201; zur unvollkommenen britischen Planung nach 1945 A. Shonfield: Geplanter Kapitalismus. Wirtschaftspolitik in Westeuropa und USA, Köln-Berlin 1968, S. 101-139 36 Demokratiediskussion in den Ländern damals die sozialdemokratischen Verfassungsüberlegungen beeinflusst hat, zeigt die Bestimmung der Richtlinien, dass die Länder keinen Staatspräsidenten und keine zweite Kammer erhalten sollen. In der Gesamtrepublik, sagte Menzel, lasse sich aufgrund der bundesstaatlichen Struktur „eine Art zweite Kammer“ nicht vermeiden. Ihr Vetorecht dürfe jedoch nicht zu einem „Hemmschuh für eine fortschrittliche Politik“ werden94. Obwohl die Willensbildung der SPD damals bereits für den Bereich der drei Westzonen einheitlich erfolgte, gab es in Verfassungsfragen auch abweichende Auffassungen: Carlo Schmid vertrat im Mai 1946, als noch keine Verfassungsrichtlinien der SPD vorlagen, im amerikanisch besetzten WürttembergBaden die Aufnahme einer zweiten Kammer und eines Staatspräsidenten in die Landesverfassung. Seine Begründung, die er allerdings als Berichterstatter des Verfassungsausschusses vortrug, war uneingeschränkt konstitutionell-demokratisch. Der „Filter für die politischen Leidenschaften“ und die „neutrale Gewalt“ scheiterten jedoch am Widerstand der sozialdemokratischen Mitglieder der Vorläufigen Volksvertretung95. Für innerparteilichen Ärger sorgte ein Entwurf des niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Kopf (SPD). Er arbeitete im Sommer 1947 (angeblich auf einem Leuchtturm in der Elbmündung) einen Verfassungsentwurf für Niedersachsen aus, der einen Landesrat als zweite Kammer vorsah. Die 33 Mitglieder dieser Kammer sollten mindestens 50 Jahre alt sein und seit drei Jahren ihren Wohnsitz in Niedersachsen haben. Der Entwurf veranlasste Walter Menzel zu einem Brief an Kurt Schumacher mit folgendem Wortlaut: „Zu meinem Entsetzen sehe ich aus den Zeitungen, dass Genosse Kopf durch die Schaffung eines Landesrates das Zweikammersystem in den Ländern einführt. Dies widerspricht den verfassungspolitischen Richtlinien der Partei .. . . Nicht einmal die süddeutschen CDU-Mehrheiten haben eine solche Kammer vorgesehen, und ich werde nun hier in Nordrhein-Westfalen bei meiner Verfassung einen schweren Stand haben. Kann man da noch reparieren?“96. Schwerwiegender als diese Episoden waren die Differenzen zwischen der sozialdemokratischen Parteiführung und dem bayerischen Ministerpräsidenten Hoegner. Unter Berufung auf den sozialdemokratischen Politiker Georg von Vollmar (1850 -1922) und unter dem Eindruck seines Schweizer Exils befürwortete Hoegner einen föderalistischen Staatsaufbau Nachkriegsdeutschlands. Der Föderalismus hatte im Rahmen seiner Verfassungsvorstellungen die Funktion der Machtaufteilung zu erfüllen. Bereits 1945 stießen seine Überlegungen allerdings auf Kritik in der eigenen Partei. Der nordrhein-westfälische Politiker Fritz Henßler schrieb ihm: „Wir brauchen doch lebensnotwendig die Wirtschaftseinheit Rest-Deutschlands mit all ihren Konsequenzen auf anderen Verwaltungsgebieten. Wenn in Deutschland selbst von verantwortlichen Männern föderalistische Lobeshymnen angestimmt werden, wie wollen wir da erreichen, dass die Alliierten zu der Einsicht kommen, dass der Neuaufbau Deutschlands notwendigerweise nach einem großen Aufbauplan erfolgen muss“97. Nachdem Hoegner bei den bayerischen Verfassungsberatungen aus föderalistischen Überlegungen für den Staatspräsidenten eingetreten war, kamen die Differenzen zwischen seinen Verfassungsvorstellungen und den Zielen seiner Partei bei der Besetzung des Parlamentarischen Rates noch einmal deutlich zum Ausdruck: Der Parteivorstand teilte dem bayerischen Landesvorsitzenden im August 1948 mit, man sei bei den Beratungen über die personelle Zusammensetzung der SPD-Fraktion zu dem Ergebnis gekommen, 94 Protokoll SPD-Parteitag 1947, S. 121-139 95 Vorläufige Volksvertretung von Württemberg-Baden, 8. Sitzung am 28. Mai 1946; P. Weber: Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biographie, München 1996, S. 275 ff. 96 Verfassungsentwurf für Niedersachsen - Ältestenrat und Staatsgerichtshof als Kernpunkte - Wahlalter 25 Jahre (Die Neue Zeitung vom 6.9.1947); Brief Menzel vom 3.9.1947. Schumacher-Korrespondenz 1947-1952, Q 25 (AdsD) 97 Henßler an Hoegner vom 13.12.1945, Büro Dr. Schumacher 1945, J 5, US-Zone (AdsD); W. Hoegner: Der schwierige Außenseiter. München 1959, S. 249 und S. 277 ff.;Bayern ist wieder ein Staat - Das Echo auf zwei Reden des bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Hoegner (Rheinischer Merkur vom 15.3.1946) 37 dass die Auffassungen Hoegners von den verfassungspolitischen Richtlinien des Nürnberger Parteitages „sehr weit abweichen“. Im Interesse einer einheitlichen Konzeption bei den Grundgesetzberatungen solle Hoegner daher nicht zum Mitglied des Parlamentarischen Rates gewählt werden98. Während die wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen aus dem Motivationsbereich der sozialen Mehrheitsdemokratie teilweise auch von christlich-demokratischer Seite vertreten wurden, fehlt diese Unterstützung in den Fragen des Verfassungs- und Staatsaufbaus. Der „christliche Sozialismus“ ging vom Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre aus und konnte sich deshalb, wie bereits erwähnt, nur mit Einschränkung für die gemeinwirtschaftliche Rahmenplanung aussprechen. Planung wurde von dieser Seite vorwiegend als Antwort auf die außergewöhnliche Wirtschaftssituation nach 1945 betrachtet. In normalen Zeiten hielt man Wirtschaftsplanung nach der Formulierung des Ahlener Programms nur „von Fall zu Fall“ für notwendig. Sie sollte dann unter Beteiligung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Konsumenten von den Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft vorgenommen werden, welche nur in ihren „letzten Entscheidungen“ der parlamentarischen Kontrolle unterliegen99. Mit der grundsätzlichen Anerkennung der staatlichen Planungs- und Gestaltungsaufgaben fehlte den Vertretern des „christlichen Sozialismus“ ein wesentliches Motiv für die verfassungspolitische Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie. Sie haben aus diesem Grunde nach 1945 auch keine eigenständigen Verfassungsvorstellungen entwickelt. In Hessen wurde der christliche Sozialismus vom „Oberurseler Kreis“ vertreten, der sich um die Herausgeber der „Frankfurter Hefte“, Walter Dirks und Eugen Kogon, gruppierte. Dieser CDU-Gründungskreis war in erster Linie um eine programmatische Neuorientierung bemüht und hatte aufgrund seines Publikationsorgans überregionale Bedeutung. Solange sein Mitglied Werner Hilpert der Regierung angehörte, konnte er auf die Landespolitik Einfluss nehmen. Er war zum Beispiel am Zustandekommen des hessischen Verfassungskompromisses zwischen CDU und SPD beteiligt, der sich auch auf die Sozialisierungs- und Mitbestimmungsartikel bezog. Verfassungsentwürfe wurden allerdings von dieser Seite nicht vorgelegt. Die hessische CDU ging vom Königsteiner Entwurf des Historikers Ulrich Noack aus. Dieser Vorschlag hatte konstitutionell-demokratischen Charakter und sah als Alternativlösungen eine „echte“ zweite Kammer oder einen auf Zeit gewählten Ministerpräsidenten vor100. Als CDU-Sprecher trat im Verlauf der Verfassungs-beratungen Erich Köhler hervor, der damalige Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Wiesbaden. Köhler gehörte vor 1933 der DVP an und kann in der Nachkriegsdiskussion als führender Vertreter der konstitutionellen Demokratie bezeichnet werden. Er war später Präsident des Frankfurter Wirtschaftsrates und erster Präsident des Deutschen Bundestages. Die Kritik Arnold Heidenheimers an der Programmatik der christlich-demokratischen Parteien Europas trifft daher in besonderem Maße auf die Bestrebungen des christlichen Sozialismus (oder des „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“) in Westdeutschland zu: Ihr Mangel an Präzision ist seiner Ansicht nach auf das Fehlen von „middle principles“ zurückzuführen, welche notwendig sind, um die naturrechtlichen Grundsatzforderungen mit den Ansprüchen wirtschaftlicher und sozialer Interessen zu einem konkreten politischen Programm zu verbinden101. Eine bemerkenswerte Sonderstellung nehmen in verfassungspolitischer Hinsicht die liberalen Parteigründungen ein: Sie folgten teilweise der mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption, während die wirtschafts- und sozialpolitischen Zielvorstellungen aus dem Bereich der sozialen 98 Ollenhauer an v. Knöringen vom 6.8.1948. SPD-Vorstand 1948-1960, J 33 Bezirk Bayern (AdsD) 99 Vgl. Teil IV des Ahlener Programms bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente.... Bd. II, S. 57. 100 H. G. Wieck: Christliche und Freie Demokraten in Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg 19451946... S. 54 f.; W. v. Brünneck: Die Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946, in: JöR, N. F., Bd. 3, S. 221. 101 A. J. Heidenheimer: Adenauer and the CDU... S. 15. 38 Mehrheitsdemokratie in ihren Reihen keine Unterstützung fanden. Bei den Vorbesprechungen zur Verfassung von Württemberg-Baden setzten sich zum Beispiel Reinhold Maier und die übrigen Vertreter der DVP für das Einkammersystem ein. Sie waren der Auffassung, das vom Volk gewählte Parlament werde „aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit das Tribunizische und das Senatoriale in sich vereinigen“. Maier fügte hinzu, mit dem parlamentarischen Regierungssystem sei zwar ein gewisses Risiko verbunden; dieses Risiko müsse man jedoch eingehen, wenn man die Demokratie wolle. Wolfgang Haußmann (DVP) erklärte vor der Vorläufigen Volksvertretung, der Landtag müsse nach dem Vorbild der westlichen Demokratien das „politische Sprachrohr“ der gesamten Bevölkerung darstellen, und fügte hinzu: „Es darf nicht die Angst vor der Demokratie sein, die uns dabei leitet“102. In Bayern vertrat der FDP-Abg. Dr. Linnert zur Verfassungsgerichtsbarkeit mehrheitsdemokratische Auffassungen: Nach den Erfahrungen mit dem Staatsgerichtshof der Weimarer Republik könne man zu einem Verfassungsgericht, das „unabhängig von der Volksvertretung“ sei, nicht das nötige Vertrauen haben. Der bayerische Staatsgerichtshof sollte seinem Vorschlag zufolge aus Vertretern des Landtages bestehen. Dr. Dehler lehnte hier im Gegensatz zu seinen späteren Ausführungen vor dem Parlamentarischen Rat eine für vier Jahre gewählte „Regierung auf Zeit“ ab. Er bezeichnete den Landtag als den Träger der Volkssouveränität, der die Regierung „in Spannung halten“ müsse, und berief sich dabei auf England als „Mutterland der Demokratie“. Andere Auffassungen bestanden allerdings in der hessischen LDP, deren Sprecher den Verzicht auf eine zweite Kammer als Grund für die Ablehnung der Landesverfassung bezeichnete103. Die Annäherung der liberalen Landesparteien an die mehrheitsdemokratische Konzeption hat den weiteren Verlauf der Verfassungsberatungen in Westdeutschland maßgebend beeinflusst. Auf diese Weise ergaben sich Berührungspunkte zwischen SPD und FDP in wichtigen Fragen des Staats- und Verfassungsaufbaus, welche schließlich die Zusammenarbeit beider Parteien im Parlamentarischen Rat ermöglichten. Von den kleineren Parteien sprach sich die KPD grundsätzlich gegen die Gewaltenteilung aus und distanzierte sich hierdurch von der mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption. Das Bürgertum befinde sich zwar nicht mehr im Kampf mit dem Absolutismus, wurde von kommunistischer Seite erklärt, halte aber trotzdem an der Dreiteilung fest, um die „eindeutige Herrschaft . . . der breiten Massen der Werktätigen“ zu verhindern. Im nordrhein-westfälischen Landtag kritisierte der kommunistische Sprecher den Verfassungsentwurf des sozialdemokratischen Innenministers, weil dieser die Aufteilung zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung beibehalte. Im Entwurf fehle die „konsequent demokratische Linie“. Der Volkswille werde statt dessen durch die „dunklen Mächte der Verwaltung“ aufgehoben. Die kommunistischen Verfassungsvorstellungen liefen auf eine einheitliche Staatsgewalt hinaus; Verwaltung und Rechtsprechung sollten dementsprechend dem Landtag „unterstellt“ werden104. Die Aktivität der Zentrumspartei blieb nach der Neugründung im Oktober 1945 zunächst auf das Gebiet der britischen Zone begrenzt, wo die Verfassungsfragen in der allgemeinen politischen Diskussion keine so große Rolle spielten wie in Süddeutschland. Nach den Äußerungen führender Zentrumspolitiker zu urteilen, stand diese Partei in den Fragen des Verfassungsaufbaus der mehrheitsdemokratischen Konzeption näher als die Kreise des „christlichen Sozialismus“ in der CDU. Die oben bereits erwähnten Ausführungen von Dr. Spiecker und Dr. Stricker vor dem Zonenbeirat deuten darauf hin, dass das neue Zentrum in der Föderalismusfrage die Erzberger´sche Tradition des gemäßigten Zentralismus fortsetzen 102 Württemberg-Baden: Bericht des Verfassungsausschusses, S. 51 f.; Vorläufige Volksvertretung, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946; Verfassunggebende Landesversammlung, 2. Sitzung vom 18. Juli 1946. 103 Bayern: Verfassungsausschuss, 12. Sitzung vom 5.8.1946 und Verfassunggebende Landesversammlung, 4. Sitzung vom 11. September 1946; U. Wengst: Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 116; Euler (LDP) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 6. Sitzung vom 29. Oktober 1946. 104 Abg. Eckert (KPD) in der Beratenden Versammlung des Landes Baden, 12. Sitzung vom 11. April 1947 und Schabrod (KPD) im Landtag von Nordrhein-Westfalen, 1. Wahlperiode, 20. Sitzung vom 27. November 1947. 39 wollte. Dr. Stricker vertrat die Ansicht, eine konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips führe zum Bundesstaat, und fügte hinzu: „Selbst der Föderalismus kann bedenklich ausarten, wenn er sich nicht selbst in Weisheit Fesseln auferlegt“. Übereinstimmung mit mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption bestand nicht nur in der Zweikammerfrage, sondern auch über die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts: Nach Auffassung des Zentrums sollten in diesem Gerichtshof „politisch erfahrene Persönlichkeiten den maßgeblichen Einfluss besitzen“. Man dürfe ihn keineswegs zu „einer rein juristischen Sache machen“105. Die Auffassungsunterschiede zwischen dem Zentrum einerseits sowie der Sozialdemokratie und der FDP auf der anderen Seite, welche sich im weiteren Verlauf der westdeutschen Demokratie- und Verfassungsdiskussion ergaben, waren nicht im Staats- und Verfassungsaufbau begründet. Sie ergaben sich vielmehr aus dem Bestreben der Zentrumsfraktion im Parlamentarischen Rat, die „Lebensordnungen“ bis hin zu den Fragen des Elternrechts im Grundgesetz zu regeln. Mit Beginn der Verfassungsberatungen in Westdeutschland eröffnete sich für die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie auch die Möglichkeit, die wichtigsten Programmpunkte der gemeinwirtschaftlichen Konzeption zunächst in die Landesverfassungen aufzunehmen und auf diesem Wege die erhoffte Reichsverfassung zu beeinflussen. Diese Möglichkeit wurde in den Jahren 1946/47 genutzt, soweit die Mehrheitsverhältnisse in den verfassunggebenden Landesversammlungen die Aufnahme derartiger Verfassungsbestimmungen zuließen. Alle Landesverfassungen aus jener Zeit, einschließlich der Verfassung des Saarlandes von 1947, enthalten ausführliche Bestimmungen zur Sozial- und Wirtschaftsordnung. Als Vorbild diente bei den Beratungen auch die Weimarer Reichsverfassung, denn hier hatte man im zweiten Hauptteil den Versuch unternommen, die sozialen Lebensbereiche (von der Wirtschaftsordnung über Bildung und Schule bis zu den Religionsgemeinschaften) durch die Verfassung zu regeln. Die entsprechenden Artikel der Landesverfassungen nach 1945 sehen, wie bereits oben erwähnt, staatliche Lenkungsmaßnahmen vor, bezeichnen die Bedarfsdeckung der Bevölkerung als übergeordnete Zielsetzung der Gesamtwirtschaft und ermöglichen die Überführung bestimmter Wirtschaftszweige in Gemeineigentum. Diese Verfassungsbestimmungen zur wirtschafts- und sozialpolitischen Neuordnung stellen jedoch lediglich Programmsätze dar und konnten, ebenso wie die entsprechenden Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung, nur durch eine ausführende Gesetzgebung politische Wirklichkeit werden. Das weitergehende Ziel, unmittelbar verbindliche Verfassungsklauseln zur Änderung der Sozialund Wirtschaftsordnung zu verabschieden, hat man nur mit der Sozialisierungsforderung des Art. 41 in der hessischen Verfassung erreicht106. Gleichzeitig mit den Länderverfassungsberatungen wurde jedoch in der Publizistik auch grundsätzliche Kritik laut gegenüber dem Versuch, wirtschaftliche und soziale Grundrechte in die Verfassung aufzunehmen. Hermann Brill erklärte in der programmatischen Zeitschrift „Das sozialistische Jahrhundert“, die Weimarer Nationalversammlung habe damals die Grundrechte aus dem Entwurf von Hugo Preuß nur zu einem „interfraktionellen Parteiprogramm“ erweitert. Die ergebnislosen Diskussionen um ein Reichsschulgesetz sowie um den Reichswirtschaftsrat, der ein Torso blieb und nach 1923 nicht mehr zusammentrat, schienen ihm zu beweisen, dass Verfassungsbestimmungen dieser Art lediglich als „leere Deklarationen“ anzusehen sind107. Adolf Arndt setzte sich in der „Süddeutschen Juristenzeitung“ kritisch mit der Eigentumsdefinition und mit der Sozialisierungsklausel der Weimarer Reichsverfassung auseinander. Verfassungsbestimmungen wie „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das gemeine Beste“ oder wie die Kann-Vorschrift zur Überführung in Gemeineigentum bezeichnete er als „rechtlich und politisch belanglos“. Kann- und Soll-Vorschriften in der Verfassung hätten zwar ihren Sinn für die Zuständigkeitsregelung in der Gesetzgebung, für die Verwaltung sowie für die Rechtsprechung; sie seien jedoch nicht als „eigentliches Verfassungsgesetz“ anzusehen. 105 Dr. Stricker vor dem Zonenbeirat der brit. Zone, 17. Plenarsitzung vom 24. November 1947. 106 U. Bachmannn: Die Hessische Verfassung - Pate und Vorbild des Grundgesetzes?, in: H. Eichel/ K. P. Möller (Hrsg.): 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen. Eine Festschrift, Opladen-Wiesbaden 1997, S. 90-121, S. 101 f. 107 Hermann Brill. Menschenrechte , in: Das sozialistische Jahrhundert, Nov. 1946, S. 6. 40 In der politischen Praxis ergaben sich vor allem aus der weiteren Diskussion um Art. 41 der hessischen Verfassung Vorbehalte gegenüber der Regelung von „Lebensordnungen“ im Verfassungstext: Es zeigte sich, dass auch für die Durchführung dieser scheinbar „zwingenden“ Verfassungsbestimmung eine ganze Reihe von Gesetzgebungsakten erforderlich war. Neben dem eigentlichen Sozialisierungsgesetz mussten die Form der Treuhandschaft, die Überleitung der Betriebe auf die neuen Rechtsträger und die Entschädigungsfrage rechtlich geregelt werden108. Für die weiterführende Verfassungsdiskussion in Westdeutschland stellte sich angesichts dieser Erfahrungen die Frage, wieweit die Festlegung wirtschaftsund sozialpolitischer Zielsetzungen im Verfassungstext sinnvoll war, wenn die entsprechenden Reformen später auf dem Gesetzgebungswege noch einmal politisch durchgesetzt werden mussten. II. Die Konzeption der konstitutionellen Demokratie 1. Gesellschafts- und Kulturkritik als Grundlage politischer Ordnungsvorstellungen Während die verfassungspolitischen Zielvorstellungen der sozialen Mehrheitsdemokratie von einer ökonomisch bestimmten Zeitgeschichtsinterpretation beeinflusst wurden, lässt sich die Konzeption der konstitutionellen Demokratie auf gesellschafts- und kulturkritische Überlegungen zurückführen. Diese Kritik war zwar vom Ansatz her umfassender als der mehrheitsdemokratische Motivationsbereich, gleichzeitig aber in ihrer Terminologie auch unpräziser. Ihre Argumentation richtete sich allgemein gegen die Erscheinungsformen der modernen Massengesellschaft. Sie wurde von den Theoretikern des Neoliberalismus sowie der katholischen Soziallehre entwickelt und erhielt gelegentlich auch von den Vertretern des protestantischen Konservatismus Unterstützung. Hieraus geht bereits hervor, dass die ideologischen Grundlagen der konstitutionellen Demokratie heterogen sind. Die Parallelität der Argumente berechtigt jedoch dazu, von einer einheitlichen politischen Konzeption zu sprechen. Die Differenzen, welche zwischen diesen Positionen zweifellos bestehen, haben demgegenüber für unsere Fragestellung eine geringere Bedeutung. Die Frage etwa, ob der neuliberale Ansatz mit den Prinzipien der katholischen Soziallehre grundsätzlich zu vereinbaren ist oder gar - den Intentionen des Ordo-Liberalismus entsprechend - die transzendente Ordnung im wirtschaftlich-sozialen Bereich widerspiegelt109, ist in unserem Zusammenhang nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist vielmehr, dass nach 1945 auf beiden Seiten weitgehende Übereinstimmung in der Beurteilung der zeitgeschichtlichen Erfahrungen und über die Grundlinien des politisch-sozialen Wiederaufbaus bestand. Die ideologischen Grundlagen der konstitutionellen Demokratie sind dabei ebenfalls als ein Teil der politischen Kultur im Nachkriegsdeutschland anzusehen - als geistige Strömungen, die den Prozess der Demokratiegründung auf eine noch näher zu bezeichnende Weise beeinflussten. Sie müssen daher in unserem Zusammenhang weniger auf ihre innere Folgerichtigkeit und ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht werden (soweit diese wissenschaftlicher Kritik überhaupt zugänglich sind), als vielmehr hinsichtlich ihrer politischen Konsequenzen. Die Gesellschafts- und Kulturkritik im Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie wurde von einem allgemeinen Krisenbewusstsein getragen, das sich nach Auffassung der einschlägigen Autoren unmittelbar aus der zeitgeschichtlichen Situation ergab und daher keiner weitergehenden Begründung bedurfte. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und der neuen Diktaturen kommunistischer oder 108 109 A. Arndt: Das Problem der Wirtschaftsdemokratie, in : SJZ 1, Nr. 6, Sept. 1946, S. 137-141; H. Koch: Die Sozialgemeinschaften... S. 1-6 O. Veit: Ordo und Ordnung - Versuch einer Synthese, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 5, Düsseldorf-München 1953, S. 6. Anders die umfassende Kritik des Neoliberalismus bei E. E. Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg 1962. 41 faschistischer Prägung sprach man von einer tiefgreifenden Auflösung der Gesellschaft, die in Anlehnung an organische Sozialvorstellungen gerne als „pathologische Entartung“ (Röpke) oder als „schwere Erkrankung des sozialen Organismus“ (Jostock) bezeichnet wurde. Obwohl diese Beurteilung nicht gerade zur begrifflichen Klarheit beiträgt, lassen sich zwei Aspekte der Argumentation unterscheiden: Neben einer umfassenden „geistig-moralischen“ Erschütterung glaubte man soziale Auflösungserscheinungen im engeren Sinne feststellen zu können. Sie wurden damals in der politischen und publizistischen Diskussion als „Vermassung“ bezeichnet110. Die zahlreichen Veröffentlichungen aus der Schweiz über diese Thematik übten auf die westdeutsche Diskussion einen großen Einfluss aus. Eine vermittelnde Funktion übernahm hierbei die von Rudolf Pechel in Berlin herausgegebene „Deutsche Rundschau“. Ihre Berichte und Kommentare aus den Jahren 1946 bis 1948 informierten laufend über Schweizer Publikationen mit entsprechender Tendenz und trugen maßgebend dazu bei, dass die Bezeichnungen „Masse“ und „Vermassung“ in der politischen Auseinandersetzung nach 1945 schlagwortartige Bedeutung erlangten. Die Nachkriegsdiskussion über Vermassungstendenzen kann jedoch nicht als Indiz für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den kollektiven Verhaltensweisen in der modernen Industriegesellschaft gewertet werden, wie sie etwa in der grundlegenden Studie von William Kornhauser vorliegt111. Sie ist vielmehr Ausdruck jener Kulturkritik, welche den Versuch einer soziologischen Analyse der modernen Gesellschaft seit Gustave Le Bon und Jakob Burckhardt begleitet und zum Teil auch beeinträchtigt hat. Ursache und Bedeutung der Vermassungserscheinungen wurden von den einzelnen Autoren unterschiedlich interpretiert. Wilhelm Röpke, der nach 1945 mit seinen Schriften und Artikeln großen Einfluss auf die politische Diskussion ausübte, glaubte für diese Entwicklung drei Faktoren verantwortlich machen zu können: Der Strukturverlust der modernen Gesellschaft schien ihm erstens auf die demographische Komponente zurückzuführen zu sein, d. h. auf den beispiellosen Bevölkerungszuwachs im 19. und 20. Jahrhundert. Hinzu kamen zweitens die moderne technisch-organisatorische Entwicklung mit ihrem Zug zur Großindustrie, zur Verstädterung und zur Massenproduktion sowie als dritter Punkt die Proletarisierung breiter Bevölkerungsteile. Hierunter verstand Röpke die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit, Naturentfremdung und Arbeitsmonotonie. Diese drei Krisenfaktoren werden nach seiner Auffassung von einer allgemeinen „geistigen Niveausenkung und Zerstörung der geistigen Hierarchie“ begleitet112. Vergleichbare Formulierungen finden sich bei Otto Heinrich v. d. Gablentz, dem Mitbegründer der CDU in Berlin, der mit anderen Passagen seiner Programmschrift „Über Marx hinaus“ wiederum den mehrheitsdemokratischen Reformvorstellungen nahe stand. Eugen Kogon, der Herausgeber der „Frankfurter Hefte“, glaubte damals ebenfalls, eine „Atomisierung der Gesellschaft“ feststellen zu können. Als Ursache für diese Entwicklung bezeichnete er die Herauslösung des Einzelnen aus seinen natürlichen Lebens- und Wirkungsgemeinschaften sowie den verhängnisvollen Versuch, die isolierten Individuen zu „Massenparteien“ zusammenzufassen. Alfred Müller-Armack, der den Begriff „soziale Markwirtschaft“ erfand, vertrat demgegenüber die Auffassung, der Vorgang der Vermassung sei in erster Linie ein geistesgeschichtlicher Prozess und könne nicht ohne weiteres aus Bevölkerungszunahme, Technisierung und Industrialisierung abgeleitet werden. Für die Krisenerscheinungen des 20. Jahrhunderts seien vielmehr die Säkularisierung und der nachfolgende „Glaubensabbau“ verantwortlich. Vermassung und Proletarisierung definierte er dementsprechend als „negative Haltung zu Werten“. Theodor Steltzer, ebenfalls Gründungsmitglied der CDU in Berlin, kam damals zum gleichen Ergebnis, als er die 110 A. Müller-Armack: Diagnose unserer Gegenwart. Zur Bestimmung unseres geistesgeschichtlichen Standorts, Gütersloh 1949, S. 254 f; P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre und der Sozialreform, Freiburg 1946, S. 172; W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 1942, S. 16 und 23 111 W. Kornhauser: The Politics of Mass Society, Glencoe 1959; G. Sartori: Demokratietheorie, Darmstadt 1992, S. 34 ff. 112 W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis... S. 27-30 und S. 55 42 Vermassungserscheinungen in der modernen Gesellschaft auf den „Verlust der metaphysischen Basis“ zurückführte113. Die Massen-Problematik fand in der politischen Diskussion der Jahre 1945 bis 1948 eine breite Resonanz und beeinflusste die Verfassungsberatungen der Nachkriegszeit bis in den Parlamentarischen Rat hinein114. Neben Gustave Le Bon, dem Klassiker der Massenpsychologie, berief man sich auch auf Schrift von Karl Jaspers über „Die geistige Situation der Zeit“ aus dem Jahre 1931, welche sich ebenfalls mit dem Verhältnis von Masse und moderner Technik befasst. Die größte Beachtung und Verbreitung fand jedoch Ortega y Gassets „Der Aufstand der Massen“. Dieses Buch erschien 1947 offenbar mit Unterstützung der amerikanischen Militärregierung als Rotationsbroschüre in der für damalige Verhältnisse hohen Auflage von 50 bis 70 Tausend115. Der Nationalsozialismus wurde im Rahmen dieser umfassenden Kritik ebenfalls als Erscheinungsform der allgemeinen Gesellschafts- und Kulturkrise interpretiert. Man sprach von einem „natürlichen Bündnis“ zwischen Diktatur und Masse: Beide Erscheinungen bedingen sich demnach gegenseitig, weil die „Masse“ die Ausübung politischer Macht erleichtert und die „politische Allmacht“ ihrerseits den Vermassungsprozess beschleunigt116. Wilhelm Röpke bezeichnete damals die „proletarischen und traditionslosen Massen“ als soziologische Grundlage des Nationalsozialismus. Für Autoren wie Müller-Armack, die den Vermassungsprozess vorwiegend aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung ableiten zu können glaubten, schien der Nationalsozialismus eine „Idolbildung größten Ausmaßes“ zu sein, die von den Bevölkerungsmassen als Ersatzreligion bereitwillig aufgenommen wurde. Der Erfolg Hitlers war nach dieser Interpretation aus der Tatsache zu erklären, dass er dem „Massenmenschen“ genau das vermittelte, was dieser erwartete – „die Befreiung von der Daseinsangst durch den Glauben an einen Führer und die Einordnung in die totale, festgefügte, kultisch verherrlichte Gemeinschaft der Gleichgesinnten“117. In vereinfachter Form wurde diese Kritik auch von Politikern übernommen, die an den Verfassungsberatungen der Nachkriegszeit beteiligt waren und versuchten, die Ausprägung der Demokratie in Westdeutschland im konstitutionell-demokratischen Sinne zu beeinflussen. Der Nationalsozialismus schien für sie das Ergebnis einer „tieferliegenden geistigen oder geistigseelisch-menschlichen Destruktion“ zu sein118. In der geistigen „Verflachung“ Europas seit dem 19. Jahrhundert erblickten sie die tiefere Ursache für das „Absinken des seelischen Wasserspiegels“ und für die Entstehung der modernen Diktaturen119. Etwas vereinfachend, aber für die tagespolitische 113 O. H. v. d. Gablentz: Über Marx hinaus, Berlin 1946, S. 7 f. und S. 30 f.; E. Kogon: Demokratie und Föderalismus, in: Frankfurter Hefte 1, September 1946, S. 69; A. Müller-Armacks diesbezügliche Kritik an Röpke in: Das Jahrhundert ohne Gott, Regensburg-Münster 1948, S. 26 f. und S. 118 ff.; T. Steltzer: Das Problem des modernen Menschen, in: Die Neue Zeitung vom 8. August 1947 114 P. H. Merkl: Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1965, S. 93 f. 115 K. Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, Neuausg. Berlin 1955, S. 32 ff. sowie Deutsche Rundschau, 1948, Heft 2, S. 164 mit dem Hinweis, die Reihe der Rotationsbroschüren werde maßgebend von der Publications Control Branch München bestimmt. 116 G.Würtenberg: Die Macht der Dämonen - Die Diktatur als Form der Massenherrschaft, in: Rheinischer Merkur vom 28.6.1947. 117 W. Röpke: Die deutsche Frage, Zürich 1945, S. 48 f.; A. Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott... S. 132 ff.; T. Steltzer: Das Problem des modernen Menschen... 118 Abg. Kaes (CDU) bei den nordrhein-westfälischen Verfassungsberatungen. Landtag von NordrheinWestfalen, 1. Wahlperiode, 117. Sitzung vom 14. Dezember 1949. 119 Abg. Haußleiter (CSU) vor der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, 3. Sitzung am 14. August 1946. 43 Auseinandersetzung der Nachkriegsjahre durchaus zutreffend, kann man sagen, dass der Nationalsozialismus von den Vertretern der konstitutionellen Demokratie in erster Linie als „Massenphänomen“ angesehen wurde, als eine Auswirkung der Vermassungstendenzen auf den politischen Sektor, die zu einer „gefährlichen Senkung des politischen Herrschaftsniveaus“ führte120. Aus mehrheitsdemokratischer Perspektive schien er dagegen vorwiegend „Klassenphänomen“, d. h. eine von bestimmten Gruppen getragene Herrschaftsform zu sein. Die These von der Massen-Gesellschaft stellt jedoch ungeachtet ihrer weiten Verbreitung in der Publizistik und in der politischen Diskussion der Nachkriegszeit kaum mehr als ein kritisch-polemisches Argument dar. Aus dieser Argumentation lassen sich keine unmittelbaren Folgerungen für den gesellschaftlichen und politischen Neuaufbau nach 1945 ableiten, bevor nicht die Frage beantwortet ist, welches positive Gegenbild die einschlägigen Autoren und Politiker der unstrukturierten Massengesellschaft gegenüberstellen. Ihre Bemühungen um ein neues Menschenbild haben in diesem Zusammenhang große Bedeutung. Da die Ablösung der Massengesellschaft offenbar nur bei einer gleichzeitigen „Überwindung des Massenmenschen“ möglich war, entwickelte sich eine Grundsatzdiskussion, in deren Mittelpunkt die Sozialprinzipien des Individualismus und des Kollektivismus standen121. Den Individualismus betrachteten vor allem die Vertreter der katholischen Soziallehre als eine Gesellschaftsauffassung, welche geistesgeschichtlich bis auf den mittelalterlichen Nominalismus zurückzuführen sei. Das individualistische Gesellschaftsverständnis tendierte ihrer Meinung nach dahin, die Autonomie des einzelnen zu überschätzen und allein dem Individuum Realitätscharakter zuzubilligen. Damit werde die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen verkannt und die Gesellschaft letztlich zu einer „Summe von Atomen“ abgewertet. Nachdem die Idee des ungebundenen Einzelmenschen in der Renaissance, in der Reformation und in der Aufklärung Anerkennung fand, habe sie sich mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts auch politisch durchgesetzt. Der Liberalismus wurde in diesem Sinne als „das politische System des Individualismus“ bezeichnet122. Eine begriffliche Bestimmung der schillernden Vokabel „Kollektivismus“ ist demgegenüber weitaus schwieriger. Dem Sprachgebrauch der Nachkriegszeit am nächsten kommt Max Gustav Langes Definitionsversuch als „eine zusammenfassende Bezeichnung für alle Phänomene und Prozesse, . . . die eine Übermacht von Ganzheiten, insbesondere der des Staates, begünstigen und verwirklichen“. Sowohl die Vertreter der katholischen Soziallehre als auch die um Erneuerung des Liberalismus bemühten Autoren erblickten im Kollektivismus eine geschichtlich verständliche Reaktion auf extrem individualistische Gesellschaftsvorstellungen. Diese Antwort verfehle jedoch mit ihrer ausschließlichen Betonung der Gemeinschaftsbindung ebenfalls die eigentliche Natur des Menschen. Wilhelm Röpke äußerte 1942 bereits die Auffassung, durch ein rationalistisches und damit „gesellschaftszerstörendes“ Verständnis des Individualismus sei ein an und für sich richtiger Gedanke diskreditiert worden. Man habe auf diese Weise dem Kollektivismus Vorschub geleistet. Reinhold Niebuhr bezeichnete damals den Kollektivismus als eine „gesunde und unvermeidliche Revolte“ gegen den bürgerlichen Individualismus123. Mit dem Sozialismus des 19. Jahrhunderts schien der Kollektivismus zum erstenmal 120 A. Müller-Armack: Diagnose unserer Gegenwart... S. 258. 121 Zum damaligen Verständnis dieser Begriffe vgl. G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung. Augsburg 1947 S. 22-27 sowie T. Steltzer: Von deutscher Politik - Dokumente, Aufsätze und Vorträge. Frankfurt 1949, S. 60 122 So in der einflussreichen Schrift von P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre... S. 25 ff. sowie E. Kogon: Demokratie und Föderalismus... 123 M. G. Lange: Die FDP - Versuch einer Erneuerung des Liberalismus, in: Parteien in der Bundesrepublik. Stuttgart-Düsseldorf 1955, S. 314; W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis... S. 86; R. Niebuhr: Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis. Eine Rechtfertigung der Demokratie und eine Kritik ihrer herkömmlichen Verteidigung, München 1947, S. 43 44 in Form einer politisch-sozialen Bewegung Einfluss auf die geschichtliche Entwicklung genommen zu haben. Einige Autoren verwenden daher den Begriff „Sozialismus“ gleichbedeutend mit diesem Kollektivismus-Begriff124. Individualismus und Kollektivismus werden damit als scheinbar entgegengesetzte, in Wirklichkeit aber sich gegenseitig stützende Krisensymptome angesehen, die gleichermaßen für die Entstehung des Massenmenschen und damit für die Vermassungstendenzen verantwortlich sind. Die Voraussetzung für den gesellschaftlichen Neuaufbau schien daher eine neue Auffassung vom Menschen zu sein, welche den Antagonismus zwischen individualistischen und kollektivistischen Prinzipien aufheben und ersetzen sollte. Diese neue Basis glaubte man im „Personalismus“ gefunden zu haben. Person bedeutete in diesem Sinne mehr als bloße Individualität: Die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung sollte vielmehr ergänzt werden durch seine vernunftbedingte Eigenschaft, sich in die Gemeinschaft einzuordnen, die ihm ihrerseits bei der Verwirklichung seines Lebensziels die notwendige Unterstützung gibt. Die Idee des gemeinschaftsgebundenen Individuums wurde damals nicht nur von Autoren aus dem Bereich der katholischen Soziallehre, sondern auch von einem protestantischen Theologen wie Reinhold Niebuhr herausgestellt, dessen Buch „The Children of Light and the Chil-dren of Darkness“ 1947 in deutscher Sprache erschien. Eine menschenwürdige Gemeinschaft zeichnet sich dementsprechend durch die Tatsache aus, dass der Mensch in ihr Person bleibt und damit seinen Eigenwert behält125. Die neuliberalen Theoretiker kamen bei ihrer Auseinandersetzung mit dem „alten“ Liberalismus zu vergleichbaren Schlussfolgerungen: Sie versuchten, ihr Menschen- und Gesellschaftsbild vom rationalistischen Individualismus kartesianischer Prägung abzugrenzen. Ihr Ziel war dabei die Rückkehr zum „allgemeineren, unantastbaren“ Liberalismus, der sich durch „Persönlichkeitskultur“ und eine dem Menschen angemessene Ausgewogenheit von Freiheit und Bindung auszeichne. Der „wahre Individualismus“ wurde als eine Gesellschaftstheorie bezeichnet, die vom sozialgebundenen Einzelmenschen ausgeht. Im Gegensatz zum optimistischen Menschenbild des „Altliberalismus“ vertraten die Neuliberalen außerdem eine wesentlich skeptischere, zum Teil sogar pessimistische Auffassung vom modernen Menschen und näherten sich damit den Vorstellungen der beiden christlichen Konfessionen. Nach 1945 kann man daher allgemein von einer neuen Einstellung der Liberalen zur Religion und zum Irrationalen sprechen, die aus einem erschütterten Fortschrittsglauben resultiert und von Max Gustav Lange „geläuterter Liberalismus“ genannt wird. Diese Neuinterpretation der individuellen Freiheit durch liberale Autoren fand auf katholischer Seite Beachtung und führte schließlich dazu, dass man auch hier zwischen einem „personalistischen“ und einem „individualistischen“ Liberalismus differenzierte126. Für die Konzeption der konstitutionellen Demokratie sollten vor allem die gesellschaftspolitischen Konsequenzen von Bedeutung sein, welche man aus dieser Kulturkritik ableiten zu können glaubte. Die Vermassung konnte nach Auffassung der Kritiker nur durch eine erneute Aufgliederung der Gesellschaft rückgängig gemacht werden. Otto Heinrich v. d. Gablentz bezeichnete damals die Überwindung der Vermassung als die „soziale Frage des 20. Jahrhunderts“ und forderte, auch unter den Bedingungen des technischen Zeitalters müsse dem Menschen die Möglichkeit gegeben werden, sich in einem überschaubaren engeren Lebenskreis ein selbständiges Urteil zu bilden und danach sein Leben in eigener 124 P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre... S. 27 ff. und G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung... S. 23 125 P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre...S. 6 ff; A. Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott... S. 197 R. Niebuhr: Die Kinder... S. 39 ff. sowie E. Welty: Die Entscheidung in die Zukunft. Grundsätze und Hinweise zur Neuordnung im deutschen Lebensraum, Köln 1946, S. 48-51 126 W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis... S. 41 f.; F. W. Dörge: Menschenbild und Institution in der Idee des Wirtschaftsliberalismus, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 4, Tübingen 1959, S. 82-99; M. G. Lange: Die FDP... S. 356; O. v. Nell-Breuning in: Gesellschaftliche Ordnungssysteme, Wörterbuch der Politik, Heft V. Freiburg 1951, S. 198 ff. Verantwortung zu gestalten127. 45 Aus der Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen der modernen Massengesellschaft leitete sich die Forderung nach sozialer Dezentralisation ab. Diese Zielsetzung hat nicht nur die gesellschaftspolitischen Grundlagen der konstitutionellen Demokratie, sondern auch die Demokratiekonzeption selbst maßgebend beeinflusst. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Dezentralisierung entsprach gleichzeitig auch dem neoliberalen Denken. Vor allem der Ordo-Liberalismus betonte in diesem Zusammenhang die „Interdependenz der Ordnungen“: Mit der Rückkehr zur Konkurrenzwirtschaft sollte gleichzeitig ein „neuer gesellschaftlicher Organismus“ und eine „wirklich gegliederte Struktur der Gesellschaft“ eingerichtet werden128. Soziale Dezentralisierung bedeutete im neuliberalen Sinne, die Tendenz zur Verstädterung, zum Großbetrieb, zur Massenorganisation sowie zu Konzernen und Monopolen rückgängig zu machen. Bei Wilhelm Röpke verbindet sich diese Zielsetzung mit einem konservativ-hierarchischen Gesellschaftsmodell, welches sich durch die „Verlagerung des sozialen Schwerpunkts von oben nach unten“ sowie durch einen organischen Aufbau auf der Grundlage der „natürlichen und nachbarlichen Gemeinschaften“ von der Familie bis zum Staat auszeichnet129. Diese Vorstellungen lassen sich durchaus mit den Zielsetzungen deutscher Widerstandskreise unter Hitler vergleichen; auch Helmut J. v. Moltke war in einer Denkschrift für die „kleinen Gemeinschaften“ eingetreten. Eine Verbindung zwischen Widerstand und Nachkriegsdiskussion wurde in diesem Punkt vor allem durch die Veröffentlichungen Theodor Steltzers hergestellt. Bei Walter Eucken wird die pyramidenförmige Gesellschaftsstruktur durch eine Elitenideologie ergänzt: Unter Berufung auf Le Bon und Pareto fordert er eine Führungsschicht, die der unselbstän-digen und irrationalen Masse den Weg weisen soll130. Für die Theoretiker des Neoliberalismus standen die gesellschaftlichen Dezentralisierungsbestrebungen in enger Verbindung mit ihrer Forderung nach Wiederherstellung der Wettbewerbsordnung und waren damit letztlich markttheoretisch begründet. Die fehlende Integrationskraft der marktwirtschaftlichen Konkurrenz sollte durch den festen Rahmen einer konservativen Gesellschaftsstruktur ausgeglichen werden, welche gleichzeitig aufgrund ihres gegliederten Aufbaus eine genügende Anzahl von Konkurrenten garantierte. Die Marktwirtschaft schien nur funktionsfähig zu sein, wenn sie durch eine „widergelagerte Gesellschaftspolitik“ ergänzt wurde. Dieser Zusammenhang lässt sich recht gut am Beispiel der konjunkturpolitischen Bedeutung verdeutlichen, die man dem Haus- und Garteneigentum zusprach: Es sollte den Arbeiter und den Angestellten in die Lage versetzen, bei Krisensituationen und Arbeitslosigkeit das Lebenswichtigste in Eigenproduktion herzustellen, um „den Tücken des Marktes mit seinen Lohn- und Preiskämpfen und mit seinen Konjunkturen“ (W. Röpke) zu entgehen. Hier glaubte man eine Eigentumsform gefunden zu haben, die den Vermassungstendenzen der modernen Gesellschaft entgegenwirkt. Bei Autoren aus dem Bereich der katholischen Soziallehre finden sich ebenfalls Ansätze dieser Eigenheim-mit-Garten-Ideologie131. Die gesellschaftspolitische Absicherung des Arbeitnehmers in dieser oder einer anderen Form erlaubte den neoliberalen Theoretikern gleichzeitig, gegen die Vollbeschäftigung als vorrangiges Ziel der 127 O. H. v. d. Gablentz: Über Marx hinaus...S. 7 f. 128 W. Eucken: Das ordnungspolitische Problem, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1, Opladen 1946, S. 71 ff. 129 W. Röpke: Civitas humana. Erlenbach-Zürich 1944, S. 270 f. 130 G. van Roon: Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 403 ff..; W. Dörge: Menschenbild und Institution... S. 89 sowie neben zahlreichen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften T. Steltzer: Von deutscher Politik.... 131 E. E. Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie... S. 234 ff.; W. Röpke: Civitas Humana...S. 278; P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre... S. 168 ff. 46 Wirtschaftspolitik Stellung zu nehmen und sich damit von der Keynes-Schule abzugrenzen. Wilhelm Röpke wandte sich dementsprechend gegen den Grundsatz der „Vollbeschäftigung um jeden Preis“ sowie gegen die „künstliche Verlängerung“ der Hochkonjunktur durch eine Politik des billigen Geldes, der öffentlichen Investitionen und der Staatsverschuldung. Eine derartige Steuerung der Gesamtwirtschaft schien ihm zwangsläufig über das marktwirtschaftliche System hinauszugreifen und zum „Kollektivismus“ zu führen. Die „organische Marktkonjunktur“ werde auf diesem Wege durch die „kollektivistische Zwangskonjunktur“ ersetzt. Auch in diesem Punkt zeigt sich eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Neoliberalismus und einzelnen Interpreten der katholischen Soziallehre: Paul Jostock zum Beispiel lehnte ebenfalls den Vorrang der Vollbeschäftigung ab und befürwortete statt dessen eine „gesunde soziale Ordnung, in der möglichst viele auf eigenen Füßen stehen“. Er schloss seine Überlegungen zur Sozialreform mit einer Apologie der Brüning´schen Deflationspolitik ab132. Von katholischer Seite wurde die allgemeine Forderung nach gesellschaftlicher Dezentralisierung mit dem Subsidiaritätsprinzip begründet. Dieses Prinzip geht von der Voraussetzung aus, dass der einzelne und die gesellschaftlichen Gruppen als vorstaatliche, mit eigenen Rechten ausgestattete Einheiten anzusehen sind. Den großen Organisationen und dem Staat steht daher nur ein begrenztes Eingriffsrecht zu, welches erst dann wirksam werden darf, wenn das untergeordnete Gesellschaftsglied die betreffende Aufgabe trotz vorausgegangener Hilfeleistung nicht selbst bewältigen kann. Das Subsidiaritätsprinzip hat damit formalen Charakter und lässt bei seiner Anwendung einen breiten Auslegungsspielraum. Es wurde aber in der publizistischen Diskussion der Nachkriegsjahre vorwiegend negativ, d. h. als abwehrender Schutz für den einzelnen und die kleineren Lebenskreise interpretiert. Unter dem Eindruck des Nationalsozialismus sah man seinen Sinn vorwiegend darin, dass „diese Idee dem brandenden Meer der kollektivistischen Strömungen entgegengestellt werden sollte als ein Fels, an dem sich die Wogen brechen“133. Neoliberale Autoren glaubten sich daher zu der Feststellung berechtigt, das Subsidiaritätsprinzip - verstanden als ein Prinzip der gesellschaftlichen und politischen Dezentralisation verkörpere gleichzeitig das „Programm des Liberalismus in seinem weiten und allgemeinen Sinn“. Walter Eucken vertrat die Auffassung, nur in der Wettbewerbsordnung könne das Subsidiaritätsprinzip voll zur Geltung kommen, und Alexander Rüstow stellte sogar die Behauptung auf, die katholische Soziallehre habe dieses Prinzip aus dem Gedankengut des Liberalismus übernommen134. Die Parallelität der Argumentation zwischen neuliberalen, katholischen und auch protestantischen Autoren darf allerdings nicht überzeichnet werden. Differenzen lassen sich z. B. in der Frage der berufsständischen Ordnung aufzeigen: Von katholischer Seite und auch von protestantischen Autoren wurde dieser Gedanke als erfolgversprechende Alternative zu den Vermassungs- und Proletarisierungstendenzen der modernen Gesellschaft bezeichnet135. Die Vertreter des Neoliberalismus sprachen sich jedoch gegen eine berufsständische Autonomie und Selbstverwaltung aus, weil der damit verbundene Gruppenegoismus ihrer Auffassung nach die Wettbewerbsordnung der Marktwirtschaft beeinträchtigt136. Übereinstimmung bestand allerdings in den Grundprinzipien des Gesellschaftsaufbaus, welche für das Demokratieverständnis und die Verfassungsvorstellungen ausschlaggebend waren. 132 W. Röpke: Die Gesellschaftkrisis... S. 262 ff.; P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre...S. 176 f. 133 J. Piper: Thesen zur sozialen Politik. Die Grundgedanken des Rundschreibens Quadragesimo anno, Frankfurt 1947, S. 46 ff.; P. Jostock: Grundzüge der Soziallehre.... S. 73 sowie die Warnung vor dem „Etatismus“ bei O. v. Nell-Breuning: Kapitalismus und Sozialismus in katholischer Sicht, in: Frankfurter Hefte 2, 1947, S. 665-681 134 W. Röpke: Civitas humana... S. 179.; W. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik. Tübingen 1952, S. 348; A. Rüstow: Wohlfahrtsstaat oder Selbstverwaltung?, in: Wirtschaftspolitische Mitteilungen 12, 1956, S. 5 135 136 J. Piper: Thesen zur sozialen Politik...S. 40-58, sowie O. H. v. d. Gablentz: Über Marx hinaus...S. 30 Vgl. die Übersicht bei E. E. Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie... S. 238 ff und S. 255; W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis... S. 146 ff. 47 Mit der weitverbreiteten Zustimmung zum föderalistischen Gedanken wurde in Westdeutschland die Verbindung hergestellt zwischen den gesellschaftlichen Dezentralisierungsbestrebungen und den verfassungspolitischen Grundlagen der konstitutionellen Demokratie. Unter Föderalismus verstand man damals nicht nur eine staatsrechtliche Maxime, sondern auch ein politisch-soziales Gestaltungsprinzip von umfassender Bedeutung, eine „Sozialanschauung aus einem Guss“ - wie mit Albert Lotz einer seiner einflussreichen Interpreten formulierte. Damit wurde die von Konstantin Frantz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte Föderalismus-Konzeption wieder aufgenommen. Die Schriften und Ideen dieses Kritikers der Reichsgründung von 1871 gewannen in den Nachkriegsjahren durch Walter Ferbers Föderalismus-Schrift Einfluss auf die politische Diskussion137. Unabhängig hiervor lässt sich jedoch schon vor 1945 in der deutschen Emigration und bei Schweizer Autoren eine Neubelebung des föderalistischen Gedankens feststellen. Der universale Föderalismusbegriff entsprach voll und ganz dem Subsidiaritätsgedanken in der nach 1945 vorherrschenden Interpretation. Georg Laforet bezeichnete daher das Prinzip der Subsidiarität als „organisatorische Leitidee“ des Föderalismus138. In einer föderalistischen und subsidiär gegliederten Gesellschaft sollten die „Massen“ aufgelöst werden, indem „die Persönlichkeit jedes einzelnen in den Mittelpunkt stufenweise überblickbarer Ordnungsbereiche“ gestellt und die „Selbstverwaltung der Autoritäten“ anerkannt wird. Gleichzeitig glaubte man hier ein Strukturprinzip für die Staatsorganisation gefunden zu haben, welches „jede Machtzusammenballung schon in der Vorbereitung“ ausschließt und damit die „innere Gleichgewichtspolitik der Demokratie“ sichert139. Analog zur Darstellung der sozialen Mehrheitsdemokratie im vorangehenden Kapitel stellt sich auch für den Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie die Frage nach der parteimäßigen Unterstützung. Die Gesellschaftskritik sowie die hieraus abgeleiteten politischen Folgerungen wurden in der westdeutschen Nachkriegsdiskussion fast ausschließlich in den Reihen der christlich-demokratischen und liberalen Gruppen vertreten. Die liberalen Landesparteien, welche sich später zur FDP zusammenschlossen, griffen in ihren programmatischen Erklärungen das neoliberale Gedankengut auf. Die Freiheit war für sie im 20. Jahrhundert sowohl durch staatliche Machtausübung als auch durch den gesellschaftlichen Kollektivismus in allen seinen Ausprägungen bedroht. Die Kritik des Nachkriegsliberalismus richtete sich dementsprechend nicht nur gegen totalitäre Bewegungen und die staatliche Planungsbürokratie; die privatwirtschaftliche Monopolbildung wurde ebenfalls für die „Vermassungstendenzen“ in der modernen Gesellschaft verantwortlich gemacht140. Auch die frühen CDU/CSU-Programme bestehen vorwiegend aus gesellschaftspolitischen Ziel- und Wertvorstellungen, die zum Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie gehören, während ihre Wirtschaftsprogrammatik sich teilweise mit den mehrheitsdemokratischen Auffassungen deckt. Ihre Übereinstimmung mit der oben erläuterten Gesellschafts- und Kulturkritik tritt deutlich hervor, wenn sich etwa die Frankfurter und die Kölner Leitsätze vom „Kollektivismus“ sowie von „falschen kollektivistischen Zielsetzungen“ distanzieren. Das in Eichstätt beschlossene CSU-Programm vom Dezember 1946 verurteilt jede Form von „Verproletarisierung“, und die anschließenden dreißig Punkte der CSU beklagen die „sittliche Entartung und den seelischen Zerfall“ der Epoche. Sie wenden sich gegen jede „Vermassung des Menschen“ sowie gegen die „Vergottung des Staates“141. 137 A. Lotz: Abgrenzungen, in: Rheinischer Merkur vom 16.7.1946; W. Ferber: Der Föderalismus, Augsburg 1946. 138 G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung.... S. 31 und 69. 139 Diese Überlegungen in dem wichtigen Aufsatz von E. Kogon: Demokratie und Föderalismus....S. 76 140 Ausführlicher M. G. Lange: Die FDP... S. 311 ff. 141 Vgl. die Programme bei Flechtheim (Hrsg.): Dokumente.... Bd. 11, S. 31, 45 und 216. Die 30 Punkte vom 14./15. 12. 1946 sind abgedruckt bei W. Berberich: Die historische Entwicklung der CSU in Bayern bis zum Eintritt in die Bundesrepublik, Phil. Diss., Würzburg 1965, S. 182-190. 48 Durch derartige Formulierungen erhalten die Programme der Gründungskreise einen pessimistischen Unterton, der dem reaktiven Charakter der konstitutionellen Demokratiekonzeption entspricht. Konrad Adenauer erklärte 1946 in seiner Kölner Universitätsrede: „In der heimatlosen, durcheinandergeschobenen, atomisierten Masse, als die sich jetzt unser Volk darstellt, muss jedes Einzelwesen angesprochen und zu Selbstbewusstsein und Verantwortungsgefühl geführt werden. Wieweit das gelingt, ist heute die Schicksalsfrage unseres Volkes und nicht etwa die Frage, wie viele und welche der wenigen uns noch verbliebenen Betriebe sozialisiert oder wie viel Hektar Land enteignet werden sollen“142. Von den positiven Zielsetzungen aus dem Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie fand der Personalismusgedanke Aufnahme in die frühe CDU/CSU-Programmatik. Die Kölner Leitsätze vom Sommer 1945 bezeichnen den Menschen als „selbstverantwortliche Person“ und heben hervor, er sei nicht nur als „bloßer Teil der Gemeinschaft“ anzusehen. Das personalistische Menschenbild kommt auch im mittelständischen Charakter der CDU-Programme zum Ausdruck, weil nach damaliger Auffassung im Handwerk, in der Landwirtschaft und in der Kleinindustrie noch die Voraussetzungen für eine selbstverantwortliche Existenz gegeben waren. Die Frankfurter Leitsätze widmen der Landwirtschaft und dem Handwerk einen eigenen Abschnitt. Die übrigen CDU-Programme bis hin zum Ahlener Programm unterstreichen ebenfalls die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung dieser Berufszweige. Hinzu kam der Gedanke, dass mit dem Ausfall zahlreicher Industrieanlagen der kleine Betrieb in der Nachkriegssituation erneut eine Chance erhalte und der Trend zum Großunternehmen vielleicht sogar rückgängig gemacht werden könne. Der Berliner Gründungsaufruf spricht von den Ausbaumöglichkeiten des selbständigen Handwerks, das nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs vor einer neuen, großen Aufgabe stehe. Ähnliche Überlegungen finden wir in den programmatischen Erklärungen der CDU von Württemberg-Hohenzollern143. Zwischen den liberalen Parteigruppen und der CDU/CSU bestand außerdem Einvernehmen über eine weitgehende Dezentralisierung der Gesellschaft. Die christlich-demokratische Programmatik orientierte sich hierbei am Subsidiaritätsprinzip, obwohl das Prinzip selbst nur in den Zielvorstellungen der bayerischen CSU ausdrücklich erwähnt wird144. Nach den Vorstellungen der christlich-demokratischen Gründungskreise sollten im Zuge der sozialen Aufgliederung auch jene „wirtschaftlichen Machtzusammenballungen“ aufgelöst werden, die man als Ursache für das Versagen der Wettbewerbsordnung und für die kollektivistischen Bestrebungen bis hin zum Sozialismus betrachtete. Während die Landesverbände der Liberalen am industriellen Privatbesitz festhielten, entwickelte die CDU in der britischen Zone für den Bereich des Bergbaus und der übrigen Großindustrie Vorstellungen zur Neuordnung der Besitzverhältnisse, die dem „machtverteilenden Prinzip“ folgten. Das Ziel dieser Vorschläge bestand darin, sowohl den privaten als auch den staatlichen Einfluss auf die Großindustrie durch die Aufteilung der Anteilsrechte zu vermindern und auf diesem Wege eine gegenseitige Kontrolle der Teilhaber zu erreichen. Nach dieser „Industrieverfassung“ sollten die Vertreter des öffentlichen Interesses (Staat, Land, Gemeinden, Gemeindeverbände, aber auch Genossenschaften sowie die im Betrieb tätigen Arbeitnehmer) insgesamt über die Mehrheit der Stimmen verfügen; einzeln durften sie jedoch nur 15 % der Gesellschaftsanteile kontrollieren. Entsprechendes galt für die Vertreter des privaten Kapitals, dessen Beteiligung insgesamt unter 50 % bleiben sollte. Durch Festsetzung des Maximalanteils für private Interessenten auf 10 % glaubte man das Großkapital ausschließen zu können. Dieses „machtverteilende Prinzip“ wurde in das Ahlener Wirtschaftsprogramm vom Februar 1947 aufgenommen 142 Rede des ersten Vorsitzenden der CDU für die brit. Zone Dr. Konrad Adenauer in der Aula der Kölner Universität 24. März 1946 (Schriftenreihe der CDU des Rheinlandes, Heft 8), Köln o. J., S. 6 143 Hierzu O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente.... Bd. 11, S. 27-58 und S. 213-225 144 W. Berberich: Die historische Entwicklung der CSU... S. 184 f. 49 und in den darauffolgenden Wochen durch die CDU-Anträge in der nordrhein-westfälischen Sozialisierungsdiskussion konkretisiert145. 2. Verfassungsvorstellungen und Demokratieverständnis Die politischen Leitgedanken der konstitutionellen Demokratiekonzeption wurden ebenfalls bei den süddeutschen Verfassungsberatungen der Jahre 1946/47 zum erstenmal formuliert und lassen sich auf die im vorangehenden Abschnitt beschriebene Gesellschafts- und Kulturkritik zurückführen. Für den Staatsund Verfassungsaufbau empfahlen die Kritiker der Massengesellschaft nach 1945 die gleichen Prinzipien wie für den Gesellschaftsaufbau: Auch in diesem Bereich sollten die Krisensymptome durch eine strukturelle Neu- und Aufgliederung überwunden werden. Die Forderung nach einer Aufteilung und Ausbalancierung der politischen Macht wurde deshalb zum konstituierenden Prinzip ihrer Demokratievorstellung. Bei den hessischen Beratungen begründete ein Vertreter der konstitutionellen Demokratie diesen Standpunkt mit dem Hinweis: „Wir alle, die wir durch eine harte Schule gegangen sind, sind uns in nüchterner Erkenntnis der menschlichen Natur und ihrer Unzulänglichkeit darüber klar, dass wir uns schützen müssen vor dem berauschenden Narkotikum politischer Macht, wenn unsere ebenso eindeutige Erkenntnis vom Fluch des politischen Machtgedankens als Regler der Beziehungen der Völker untereinander auch innenpolitisch fruchtbringend werden soll“146. Die entsprechende Demokratievariante wird im Rahmen dieser Studie als „konstitutionelle Demokratie“ bezeichnet, weil sie der Idee der Machtbeschränkung, welche in der einen oder anderen Form Bestandteil jeder Demokratiekonzeption ist, Priorität einräumt. Der Begriff des Konstitutionalismus ist hierbei im Sinne Franz Neumanns zu verstehen. Er bezeichnet „Doktrinen und Praktiken, denen mehr daran liegt, die Macht zu beschränken, als daran, ihr eine bestimmte Richtung zu geben und sie für besondere soziale Zwecke zu verwenden“147. Die Forderung nach Machtaufteilung und Dezentralisierung verband sich in der Publizistik der ersten Nachkriegsjahre mit einer teilweise undifferenziert vorgetragenen Polemik gegen den „kollektiven Staat“ sowie gegen jede Form von „Etatismus“ und „Totalitarismus“. Zwischen den Vermassungserscheinungen der modernen Gesellschaft und der konzentrierten staatlichen Machtausübung glaubte man einen engen Zusammenhang feststellen zu können. Jede Analyse des Massenphänomens und seiner politisch-sozialen Folgeerscheinungen, meinte einer der Autoren, habe das „natürliche Bündnis zwischen Diktatur und Masse“ zu berücksichtigen. Bei den bayerischen Verfassungsberatungen unterstrich Hans Nawiasky den Unterschied zwischen dem Volk („ein durchaus gegliederter Körper“) und der Masse, die als „Todfeind der Demokratie“ anzusehen sei. Man müsse daher bei der Verfassungsberatung auf jeden Fall vermeiden, dass die ungegliederte Masse als entscheidender Faktor in das Staatsleben eingefügt werde148. Machtkonzentration und Vermassung waren nach Auffassung der konstitutionell demokratischen Autoren gegenseitig bedingt: Die zentralisierte Staatsmacht schien nur auf der Grundlage der Massengesellschaft möglich zu sein und trug gleichzeitig selbst dazu bei, die Tendenz zum „sozialen Amorphismus“ weiter voranzutreiben. Das Totalitarismus-Argument der Nachkriegsdiskussion richtete sich allerdings nicht nur 145 Vgl. die Rede K. Adenauers in Recklinghausen am 14. August 1947, in: Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 1946-1949, Bonn 1975, S.335. f. sowie A. J. Heidenheimer: Adenauer and the CDU. The Hague 1960, S. 122-133. 146 Abg. Köhler (CDU) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946. 147 C. J. Friedrich: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953, S. 26 ff.; F. Neumann: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt-Wien 1967, S. 183 148 G. Würtenberg: Die Macht der Dämonen..., sowie Nawiasky im Verfassungsausschuss Bayern, 8. Sitzung vom 30. Juli 1946. 50 gegen die beiden ideologisch bestimmten Totalitarismen kommunistischer und nationalsozialistischer Prägung. Die Freiheit schien damals auch durch einen „dritten“ oder „grauen“ Totalitarismus, nämlich durch den modernen „Zwangs- und Planstaat“ mit seiner Bürokratie bedroht zu sein. Die Andeutungen in dieser Richtung müssen vor dem Hintergrund der vielgelesenen Schriften Röpkes und Hayeks gesehen werden, denen die neuliberale These zugrunde liegt, jede Wirtschaftsplanung münde über kurz oder lang in den Kollektivismus. Spätestens hier wird deutlich, dass sich die publizistischen Stellungnahmen nicht zuletzt auch gegen die wirtschaftspolitische Motivation der sozialen Mehrheitsdemokratie richteten. Gleichzeitig erhoben Vertreter der katholischen Soziallehre die Forderung, das gesellschaftliche Leben sei zu entstaatlichen , damit das gesellschaftsphilosophische Leitprinzip „Einheit in wohl gegliederter Vielheit“ verwirklicht werden könne149. In der Verfassungsdiskussion der Jahre 1945 bis 1947 richtete sich der Vorbehalt der konstitutionell-demokratischen Theoretiker nicht gegen die staatliche Machtausübung allgemein, sondern in erster Linie gegen die Kompetenzen des Parlaments und gegen die Tragweite seiner Mehrheitsentscheidungen. Das Mehrheitsprinzip, so wurde argumentiert, sei nur eine Komponente der westlichen Demokratie und mit den Prinzipien des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung weder logisch noch seiner Herkunft nach verbunden. Einer Machterweiterung der Legislative komme die gleiche verhängnisvolle Wirkung zu wie einer Ausweitung der exekutiven Gewalt. Die Diktatur sei keineswegs an den persönlichen Inhaber der Regierungsgewalt gebunden, sondern könne auch eine „gleichsam anonyme und gestaltlose Form“ annehmen, wenn die Gesetzgebungsgewalt der Mehrheit schrankenlos zur Verfügung stehe. Die Geschichte des Parlamentarismus, schrieb Adolf Süsterhenn, habe vor allem auf dem Gebiet der Kirchen-, Schul- und Kulturgesetzgebung bewiesen, „dass Parlamentsdiktaturen einen nicht geringeren Gewissenszwang auszuüben vermögen als Einmanndiktaturen“150. Die Freiheit des Einzelnen und der Minderheiten müsse aus diesem Grunde vor der Mehrheitsherrschaft geschützt werden, die sich in der politischen Wirklichkeit „unter Verbrämung der Demokratie zur Alleinherrschaft“ entwickeln könne. Der CDU-Abgeordnete Dr. Kanka gab bei den hessischen Beratungen zu überlegen: „Wie können wir Sorge tragen dafür, dass die Legislative keine Purzelbäume schlägt, dass sie nicht in zu schnellem Tempo dahinrast? Wenn wir eine Verfassung für lange Dauer schaffen wollen, dann müssen wir nach Möglichkeiten suchen, um zu verhindern, dass ein Parlament in irgendwelche Maßlosigkeiten verfällt“151. Diese Zielsetzungen und Argumente dokumentieren gleichzeitig die Gegensätzlichkeit der beiden Demokratiekonzeptionen und die unterschiedlichen Auffassungen, welche in der Nachkriegsdiskussion über die Position und die Aufgaben des Parlaments bestanden: Während aus mehrheitsdemokratischer Sicht allein das unmittelbar gewählte Parlament als Repräsentant der Volkssouveränität galt, waren die Befürworter der konstitutionellen Demokratieauffassung der Ansicht, die Souveränität des Volkes äußere sich, indem sie die Organe der Exekutive, Legislative und Judikative einrichte und durch diese gleichermaßen wirksam werde152. Etwa 1946 taucht in der Diskussion auch zum erstenmal die Warnung vor dem „Parlamentsabsolutismus“ auf, die später auch im Parlamentarischen Rat erhoben wurde153. 149 H. Zbinden: Gefahren der modernen Demokratie, Frankfurt 1948, S. 59; O. B. Roegele: Die Rettung des Menschen - Der dritte Totalitarismus, in: Rheinischer Merkur vom 25.12.1947; F. A. Hayek: Der Weg zur Knechtschaft. Erlenbach-Zürich 1945, und kritisch W. Harich: Röpke, Pechel und der „Totalitarismus“, in: Tägliche Rundschau vom 23.8.1946; G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung... S. 69 150 W. Martini: Die Lehre von Weimar - Zur Problematik des Mehrheitsprinzips, in: Die Neue Zeitung vom 5.9.1947; E. von Hippel: Gewaltenteilung heute, in: Rheinischer Merkur vom 22.11.1947, sowie A. Süsterhenn: Ein- oder Zweikammersystem? in: Rheinischer Merkur vom 15.10.1946 151 Abg. Köhler (CDU) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung am 5. August 1946; Kanka im Siebenerausschuss - Hessen, 4. Sitzung vom 13. September 1946 152 153 v. Prittwitz und Gaffron (CSU) im Verfassungsausschuss Bayern, 8. Sitzung vom 30. Juni 1946 So z.B. Dr. Lehr (CDU) im Plenum: PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 518 51 Es überrascht daher nicht, wenn Vertreter der konstitutionellen Demokratie selbst die nationalsozialistische Machtergreifung als Mehrheitsentscheidung des Parlaments auffassten. Bereits 1946 vertrat Adolf Süsterhenn hierzu folgende Interpretation: „Der Nationalsozialismus hatte in dieser staatsrechtlichen Möglichkeit des Parlamentsabsolutismus, auf dem die Weimarer Verfassung letztlich beruhte, den archimedischen Punkt erkannt, von dem aus sich die deutsche Demokratie in scheinbar legaler Form aus den Angeln heben ließ. Es gelang dem Nationalsozialismus durch Stimmenfang, durch betrügerische Versprechungen und durch gewaltsame Ausschaltung eines Teils der Parlamentsmitglieder, die Mehrheit im Parlament zu erobern und damit die Macht in der Zentralinstanz an sich zu reißen“. Erich Köhler, der hessische Theoretiker der konstitutionellen Demokratie, äußerte ebenfalls die Auffassung, der Nationalsozialismus sei zumindest in seiner Anfangsphase als Mehrheitsherrschaft zu kennzeichnen154. Die verhängnisvolle Entwicklung der Jahre 1932/33 war demnach auf das Fehlen institutioneller Gegengewichte zurückzuführen. Diese Argumentation stützte sich allerdings vorwiegend auf das Ermächtigungsgesetz und ließ die vorausgehenden Verfassungsdurchbrechungen außer acht. Nach konstitutionell-demokratischer Auffassung sollte die politische Machtaufteilung zunächst mit den Mitteln der konventionellen Gewaltenteilung verwirklicht werden. In der Verteilung legislativer, exekutiver und rechtsprechender Befugnisse auf unterschiedliche Staatsorgane oder Organgruppen glaubte man eine „Sicherheitsmaßnahme“ gegen den „alles verschlingenden Kollektivismus“ gefunden zu haben155. Die Forderung Paul Wilhelm Wengers aus dem Jahre 1946: „Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz dürfen nicht in einer Hand zusammenfallen - auch nicht in der denkbar besten der Welt!“ kann deshalb als repräsentativ für das konstitutionelle Demokratieverständnis gelten. Sie blieb bis in den Parlamentarischen Rat hinein wirksam und veranlasste dort z. B. den Abgeordneten Schwalber (CSU) zu der Warnung, das Übergewicht eines Verfassungsorgans setze die Demokratie aufs Spiel und beschwöre die Gefahr des „Abgleitens in die Diktatur“ herauf156. Die Konzentration der politischen Macht an einer Stelle im Verfassungssystem - „auch wenn es sich hierbei um das Parlament handelt“ - wurde grundsätzlich abgelehnt. Sie führt nach den Worten Süsterhenns zum Despotismus, dessen Träger sowohl der „durch Usurpation an die Macht gelangte Diktator“ als auch die Parlamentsmehrheit sein könne. Durch eine verfassungsmäßige Gewaltenaufteilung nach dem Vorbild Montesquieus wollte man statt dessen eine „pluralistische Staatsgestaltung“ erreichen157. Das Ziel der konstitutionell-demokratischen Theoretiker war demnach die Einrichtung einer „gemischten Verfassung“. Das Gemeinwesen schien ihrer Auffassung nach um so widerstandsfähiger zu sein, je vielfältiger es gegliedert ist. Mit der Gewaltenteilung sollte nicht nur eine Verteilung der Staatsfunktionen, sondern vor allem ein Gleichgewichtssystem festgelegt werden, um auf diese Weise die Konzentration politischer Macht zu verhindern. Das Prinzip der „balance of powers“ wurde dabei als Bestandteil der demokratisch-rechtsstaatlichen Tradition und teilweise sogar als naturrechtlicher Grundsatz angesehen, dessen „apriorische Geltung“ unabhängig von der Verschiedenartigkeit der Staatsformen und institutionellen Einrichtungen sei158. 154 A. Süsterhenn: Freiheit und Recht, in: Rheinischer Merkur vom 12.4.1946 sowie Köhler (CDU) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946 155 A. Müller-Armack: Das Jahrhundert ohne Gott... S. 189 156 P. W. Wenger: Mißbrauchte Staatsallmacht, in: Rheinischer Merkur vom 5.4.1946 und PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 93 157 Vgl. die Beiträge A. Süsterhenns „Die Gewaltenteilung“ und „Ein- oder Zweikammersystem?“ in: Rheinischer Merkur vom 8. und 15.10.1946. 158 Bericht des Verfassungsausschusses von Württemberg-Baden, S. 5; G. Laforet: Föderalismus und Gesellschaftsordnung... S. 82 f. 52 Bei den Verfassungsberatungen in Süddeutschland befürworteten die Vertreter der konstitutionellen Demokratie eine Form der Gewaltenteilung, welche über die klassische Dreiteilung noch hinausging: Sowohl die exekutive als auch die legislative Funktion sollten erneut aufgeteilt und mehreren Staatsorganen übertragen werden. In Hessen erklärte der Abg. Köhler (CDU) vor der verfassungsberatenden Landesversammlung, die konstitutionelle Demokratie sei in verfassungsrechtlicher Hinsicht folgendermaßen zu definieren: „Die gesetzgebende Gewalt muss auf eine erste und zweite Kammer und die vollziehende Gewalt auf den Ministerpräsidenten und den Staatspräsidenten verteilt werden“. Diesen konstitutionell-demokratischen Verfassungsvorstellungen widersprachen, wie im vorangehenden Kapitel geschildert, die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie. Die Unterschiedlichkeit der beiden Demokratieauffassungen kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass sich dieses differenzierte System von „checks and balances“ gegen den Einfluss des unmittelbar gewählten Parlaments und seine Mehrheitsentscheidungen richtete. Köhler sagte hierzu: „Wir sind deshalb der Meinung, dem Gedanken der reinen formalen Mehrheitsdemokratie den Gedanken der sogenannten konstitutionellen Demokratie gegenüberzustellen. Wir halten es für erforderlich, dass neben dem Parlament noch Organe bestehen, die dem reinen Mehrheitsgedanken einen Ausgleich bieten“. Dies bezog sich einmal auf den Vorschlag des Staatspräsidenten als einer Institution, „die über den Dingen sich halten kann“ und „aus der Sphäre des rein politischen Parlaments herausgehoben ist“159. In Bayern wurde betont, diese Einrichtung solle den „festen Punkt“ bilden, welcher dem Staatsgefüge Stabilität verleihe. Als im weiteren Verlauf der Beratungen Wilhelm Hoegner den Vorschlag machte, die Abberufung des Präsidenten durch eine Zweidrittelmehrheit des Landtags zuzulassen, stieß er auf Widerspruch. Alois Hundhammer (CSU) und Hans Nawiasky wandten ein: „Dann fällt der feste Punkt“. Bei den badischen Beratungen brachte man ähnliche Argumente zugunsten des Staatspräsidenten vor, der „unabhängig von der Gunst oder Missgunst der Parteien“ sein sollte. Er war als „ruhender Pol“ gedacht und hatte die Aufgabe, die Regierungskontinuität zu sichern, „wenn in stürmischen Zeiten das parlamentarische Leben von Kämpfen zerrissen wird“160. Die zweite Kammer neben dem unmittelbar gewählten Landtag sollte nach konstitutionell demokratischer Auffassung ebenfalls als „Stabilisierungsfaktor“ dienen und „übereilte Beschlüsse“ verhindern. Sie wurde außerdem als Gegengewicht zum „bloß parteipolitischen Denken“ und zum „bloß parteipolitischen Aufbau der Repräsentation des Volkes“ bezeichnet161. Ihre systematische Begründung in der Verfassungsdiskussion nach 1945 hing aufs engste mit der Mehrheits-Minderheits-Problematik zusammen, denn die Einwände gegen das Einkammersystem wurden mit einem Vorbehalt gegen die Mehrheitsentscheidungen des unmittelbar gewählten Parlaments gerechtfertigt. Das publizistische Echo auf den Entwurf zur nordrhein-westfälischen Verfassung des Innenministers Dr. Menzel (SPD), der ein Einkammersystem vorsah, zeigt deutlich, in welchem Maße die Vorschläge zum Zweikammersystem in der Furcht vor der Majorität motiviert waren: Ernst v. Hippel sprach von einer „im Prinzip schrankenlosen Tyrannis“, die sich vom Dritten Reich lediglich dadurch unterscheide, dass an die Stelle des Führers die Mehrheit getreten sei. Nur durch die Einrichtung einer zweiten Kammer könne der drohenden Gefahr einer „Barbarisierung der Gesetzgebung begegnet und der Kulturstaat gerettet werden“. Ottmar Bühler sah im Menzel-Entwurf die Gefahr der „Landtags-Omnipotenz“ und vermisste ebenfalls das Gegengewicht eines „nicht parteipolitisch orientierten“ Gremiums. Noch 1950, in der Schlussphase der nordrhein-westfälischen Verfassungsberatungen, wurde die Einrichtung einer zweiten Kammer heftig diskutiert und mit dem „Mißtrauen gegen die Mehrheit“ begründet162. 159 Abg. Köhler (CDU) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1956 und im Verfassungsausschuss Hessen, 3. Sitzung vom 14. August 1946. 160 Verfassungsausschuss Bayern, 27. u. 29. Sitzung vom 2. bzw. 4. September 1946; Dr. Fecht (BCSV) in der Beratenden Versammlung Baden, 11. Sitzung vom 10. April 1947. 161 Ehard (CSU) im Verfassungsausschuss Bayern, 22. Sitzung vom 26. August 1946. 162 E. v. Hippel: Gewaltenteilung heute... und O. Bühler: Die geistige Lage des neuen deutschen 53 Die Zusammensetzung der zweiten Kammer war gegenüber der ihr zugedachten Funktion von zweitrangiger Bedeutung. Die Forderung nach einer „ständischen“ Zusammensetzung fand zunächst aufgrund ihrer in sich schlüssigen Ableitung aus den Prinzipien der katholischen Soziallehre die Zustimmung breiter Kreise. Diese Form der zweiten Kammer sollte die unmittelbare Beteiligung der überschaubaren Lebensgemeinschaften am politischen Willensbildungsprozess ermöglichen. Sie wurde deshalb als eine Verfassungseinrichtung betrachtet, mit deren Hilfe man den Vermassungstendenzen der modernen Gesellschaft besonders wirksam entgegentreten konnte. Süsterhenn wies 1946 bei seinem entsprechenden Vorschlag darauf hin, über die zweite Kammer würden die „natürlichen Sozialeinheiten“ zur Geltung kommen, während bei der Wahl zur ersten Kammer das „Individuum losgelöst von seinem natürlichen Lebenskreis“ entscheide163. Der weitere Verlauf der Verfassungsberatungen zeigte jedoch, dass diese Begründung nicht das politisch ausschlaggebende Motiv für das Zweikammersystem war: Als sich die amerikanische Militärregierung im August/September 1946 gegen die Aufnahme ständischer Vertretungsorgane in die Verfassungen ihrer Zone aussprach, hat man die Entwürfe nur dahingehend geändert, dass nunmehr die regionale Gliederung des Landes zur Grundlage der zweiten Kammer erklärt wurde. Die Einrichtung sollte jetzt vorwiegend aus Vertretern der Stadt- und Landkreise gebildet werden164. Der hessische CDU-Abgeordnete Dr. Kanka vertrat die damals auf konstitutionell-demokratischer Seite vorherrschende Auffassung, mit dem Verzicht auf die berufsständischen Zusammensetzung habe der Senat keineswegs seine Berechtigung verloren. Man könne durchaus auf den ständischen Charakter der zweiten Kammer verzichten, ohne ihren Grundgedanken aufzugeben. Man dürfe allerdings nicht so weit gehen, dass man dem „Institut, das als Bremse wirken soll, lediglich beratende Funktionen zuweist“165. Diese Motivation des Zweikammersystems hat auch die weiterführenden Verfassungsberatungen in Westdeutschland maßgebend beeinflusst. Das gilt zunächst für die Verfassungsdiskussion im Zonenbeirat der britischen Zone, wo die CDU-Vertreter Dr. Lehr und Dr. Adenauer die stabilisierende Wirkung der geteilten Legislative herausstellten. Vor allem Adenauer griff dabei auf die geschichtlichen Erfahrungen der Jahre 1918 bis 1933 zurück und bezeichnete eine indirekt gewählte Kammer als „Sicherungsmaßnahme“ gegen radikale Entwicklungen, mit denen seiner Auffassung nach noch auf Jahrzehnte zu rechnen sei. Er hatte schon vor dem Zonenausschuss seiner Partei im September 1946 lapidar festgestellt: „Die Sozialdemokraten sind gegen zwei Kammern. Bei ihnen ist eine zweite Kammer ein Hort der Reaktion“166. Der Grundsatz der Machtaufteilung sollte nach konstitutionell demokratischer Auffassung auch durch die Position der Judikative im Verfassungssystem gesichert werden. Bereits bei den Verfassungsdiskussionen Länderparlamentarismus, in: Die Wandlung, 1948, S. 334 ff.; Dr. Scholtissek (CDU): ...die Forderung nach dem Staatsrat ist zum Teil aus einem gewissen Misstrauen gegen die Mehrheit entstanden. Es ist durchaus nicht immer so, dass die Mehrheit recht hat ( Nordrhein-westfälischer Landtag, Verfassungsausschuss, 32. Sitzung am 13. Januar 1950) 163 A. Süsterhenn: Ein- oder Zweikammersystem?... 164 Schlitt (CDU) im Siebenerausschuss Hessen, 4. Sitzung vom 13. September 1946; Kühn (CDU) in der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden, 10. Sitzung vom 25. September 1946; W. Hoegner: Der schwierige Außenseiter, München 1959, S. 249 165 Hessen - Siebenerausschuss, 4, Sitzung vom 13. September 1946; ausführlicher zur Diskussion in den Ländern G. Bergmann: Der Staatsratsgedanke im parlamentarischen Deutschland, Baden-Baden 1994, S. 155285 166 Zonenbeirat, 17. Plenarsitzung vom 24. November 1947 und 19. Plenarsitzung vom 25./26. Februar 1948; Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone . . .S. 191 54 in den Ländern stand die personelle Zusammensetzung des Staats- oder Verfassungsgerichtshofs im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Demokratiekonzeptionen. Die Vertreter der konstitutionellen Demokratie waren bestrebt, den Einfluss des Parlaments und der politischen Parteien auf die Besetzung des obersten Gerichts nach Möglichkeit zu begrenzen. Ihren Überlegungen lag die verfassungspolitische Zielsetzung zugrunde, die Legislativgewalt des unmittelbar gewählten Parlaments durch die Judikative zu kontrollieren und gegebenenfalls zu hemmen. Konrad Adenauer brachte diese Absicht bei den Verfassungsdiskussionen des Zonenbeirats der britischen Zone deutlich zum Ausdruck, als er erklärte: „Es gibt nicht nur eine Diktatur eines einzelnen, es kann auch eine Diktatur einer parlamentarischen Mehrheit geben, und davor wollen wir einen Schutz haben in der Form des Staatsgerichtshofes. Auch darin wollen wir aus den Erfahrungen lernen, die wir 1933 gemacht haben“167. Die diskussionsbestimmende Frage lautete damals, welchen Einfluss der Landtag auf die personelle Zusammensetzung des Gerichtshofes haben sollte. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie legten Wert darauf, die politische Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit durch eine entsprechende personelle Besetzung der Gerichte zu unterstreichen. Sie beabsichtigten daher, dem Laienelement gegenüber den Berufsrichtern den maßgebenden Einfluss zu sichern, die Zahl der Mitglieder von Amts wegen gegenüber den vom Landtag gewählten möglichst klein zu halten oder sogar Abgeordnete des Landtages ins Verfassungsgericht zu wählen - falls man sich nicht zur strikten Inkompatibilität zwischen beiden Ämtern entschließen konnte. Der Verlauf der Diskussion und die unterschiedlichen Vorstellungen in dieser Frage lassen sich am hessischen Beispiel recht gut nachzeichnen: Ein SPD-Antrag sah die Wahl aller neun Verfassungsrichter (von denen allerdings vier die Befähigung zum Richteramt haben sollten) durch den Landtag vor. Er ließ damit die Möglichkeit offen, dass sich der Gerichtshof ausschließlich aus Parlamentariern konstituierte, und stieß infolgedessen vor allem bei der LDP, aber auch bei der CDU auf Bedenken. CDU und SPD einigten sich im Verfassungsausschuss zunächst auf den Vermittlungsvorschlag Heinrich von Brentanos, des späteren Außenministers, der Verfassungsgerichtshof solle aus fünf Berufsrichtern und „sechs vom Landtag aus seiner Mitte gewählten Mitgliedern“ bestehen. Brentano begründete diesen Vorschlag im Sinne der sozialen Mehrheitsdemokratie und erklärte: „Der Staatsgerichtshof ist eine politische Institution, und er hat über eminent politische Fragen zu entscheiden; da muss auch die höchste politische Instanz, der Landtag, ausschlaggebend in ihm vertreten sein“. Im weiteren Verlauf der Beratungen erhob allerdings die amerikanische Militärregierung Einspruch gegen diese Fassung. Sie forderte die Inkompatibilität zwischen Parlament und Verfassungsgericht und bewirkte damit, dass ein ursprünglich nur von dem LDP-Politiker Euler vertretener Vorschlag in den Verfassungstext aufgenommen wurde168. In Bayern verlief die Diskussion ähnlich: Im kleinen und großen Senat des Verfassungsgerichtshofes hatten nach dem Entwurf die vom Landtag gewählten Vertreter, welche auch dem Landtag angehören durften, die Mehrheit. Die Militärregierung wandte sich jedoch dagegen, dass Mitglieder des Landtages über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entscheiden. So kam es auf Vorschlag von Dr. Ehard zur Einrichtung eines dritten Senats für diese spezielle Aufgabe. Er besteht aus vom Landtag gewählten Berufsrichtern, die dem Landtag nicht angehören dürfen169. Das Votum der amerikanischen Militärregierung entsprach auch hier der konstitutionell demokratischen Zielsetzung, während sich ihre Stellungnahme gegen eine berufsständisch zusammengesetzte zweite Kammer zugunsten der mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption auswirkte. 167 Zonenbeirat, 17. Plenarsitzung vom 24. November 1947 168 Verfassungsausschuss Hessen, 13. und 15. Sitzung vom 25. September und 1. Oktober 1946, sowie W. v. Brünneck: Die Verfassung des Landes Hessen vom Dezember 1946, in: JöR, N. F., Bd. 3, S. 235 f. 169 Vgl. den Bericht Dr. Ehards über die Änderungsvorschläge der Militärregierung (Bayer. Verfassunggebende Landesversammlung, 10. Sitzung vom 26. Oktober 1946) sowie die Endfassung des Art. 68 der bayrischen Verfassung. 55 Die von Vertretern der konstitutionellen Demokratie angestrebte Machtverteilung im Verfassungssystem kann als horizontale Gewaltenteilung bezeichnet werden, weil sie von der konventionellen Dreiteilung der Staatsfunktionen ausgeht und mit einem auf einer Ebene angeordneten Gleichgewichtssystem zu vergleichen ist. Diese horizontale Gewaltenteilung wurde in der Nachkriegsdiskussion durch die Forderung nach einer vertikalen Aufgliederung ergänzt, der sich allerdings nicht alle Befürworter der konstitutionellen Demokratie anschlossen. Die vertikale Gewaltenteilung sollte durch eine weitgehende Autonomie von Gebietskörperschaften und Berufsständen verwirklicht werden. Sie entsprach damit dem Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre und dem umfassenden Föderalismusbegriff, der ebenfalls vorwiegend von katholischer Seite vertreten wurde170. Für die Beratungen der Länderverfassungen hatte diese Form der Machtaufteilung kaum mehr als theoretische Bedeutung. Sie beeinflusste jedoch die Verfassungsdiskussion, sobald sich mit der staatlichen Zusammenfassung der drei Westzonen die Frage nach der föderalistischen Gliederung stellte. Ein Bundesstaat nach konstitutionell-demokratischer Vorstellung beruhte dementsprechend auf einem doppelten Balancesystem: einmal auf der traditionellen Gewaltenteilung, die man auf Montesquieu zurückführen zu können glaubte, zum zweiten auf der „föderativen Balance“, auf dem Gleichgewichtssystem zwischen Bund und Ländern. Unter Föderalismus verstand man in diesem Sinne „das System der festen Stützpunkte, auf welche die Macht in der Demokratie verteilt ist“171. Vor allem bei den hessischen Beratungen kam zum Ausdruck, dass die maßgebenden Vertreter der konstitutionellen Demokratie durch ihr kompliziertes Verfassungssystem die Beteiligung aller politischen Richtungen an den Entscheidungen sicherstellen wollten. Der CDU-Abgeordnete Köhler erwartete von der neuen Verfassung einen „Schutz vor dem Machtrausch der politischen Partei“. Er schlug vor, alle Beteiligten sollten eine „Versicherung auf Gegenseitigkeit“ abschließen, um das „Abgleiten in die eigene Machtgier“ zu verhindern. Die besonderen Bedingungen der Nachkriegssituation erforderten seiner Auffassung nach, dass alle politischen Parteien in der einen oder anderen Form an der politischen Verantwortung beteiligt sind. Diese Zielsetzung beeinflusste auch den weiteren Verlauf der Verfassungsberatungen in Westdeutschland . Robert Lehr (CDU) erklärte als Berichterstatter des Rechtsund Verfassungsausschusses vor dem Zonenbeirat der britischen Zone, die zukünftige gesamtdeutsche Verfassung müsse durch einen differenzierten Verfassungsaufbau das „politische Übergewicht einer Partei“ vermeiden. Im Parlamentarischen Rat befürwortete Lehr später eine zweite Kammer, die je zur Hälfte aus Vertretern der Länderregierungen und aus gewählten Senatoren bestehen sollte. Er begründete diese Konstruktion mit dem Hinweis, auf diese Weise werde die Gefahr vermieden, dass die Regierung in die Hand einer Partei übergehe172. Die konstitutionell-demokratischen Überlegungen zur Macht- und Gewaltenaufteilung lassen sich ideengeschichtlich auf Montesquieu und die Montesquieu-Tradition in der Verfassungslehre zurückführen. Montesquieu war einer der wenigen Klassiker, die in der westdeutschen Demokratiediskussion nach 1945 wiederholt zitiert wurden. Die Vertreter der konstitutionellen Demokratie sahen in ihm den maßgebenden Vertreter der klassischen Gewaltenteilungslehre, welche sie mit ihren eigenen verfassungspolitischen Bestrebungen weiterzuführen glaubten. Die Übereinstimmung zwischen der konstitutionell-demokratischen Argumentation und den Gedankengängen Montesquieus ist 170 Zur Unterscheidung zwischen horizontaler und vertikaler Gewaltenteilung A. Süsterhenn: Das Subsidiaritätsprinzip als Grundlage der vertikalen Gewaltenteilung, in: Vom Bonner Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung, Festschrift für Hans Nawiasky, München 1956, S. 141-155. 171 Abg. Dr. Schwalber (CSU) und Dr. Seebohm (DP) in PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 93 und 233 f.; E. Kogon: Demokratie und Föderalismus.... S. 75. 172 Verfassungsberatende Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946, und Verfassungsausschuß Hessen, 3. Sitzung vom 14. August 1946; Zonenbeirat, 19. Plenarsitzung vom 25./26. Februar 1948; PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 222 56 allerdings in wesentlichen Punkten fraglich: Montesquieu nahm die staatstheoretische Unterscheidung der drei Funktionen Legislative, Exekutive und Judikative zum Anlass, die politisch-sozialen Machtfaktoren seiner Zeit (Monarch, Adel und Bürgertum) in das von ihm vorgeschlagene Verfassungssystem einzubauen und ihnen bestimmte Aufgaben zuzuschreiben173. Diese gesellschaftlich-politische Zielsetzung wurde von den Befürwortern der ausgeprägten Gewaltenteilung nach 1945 nicht übernommen. Sie verstanden Montesquieu vielmehr als staatsrechtlichen Theoretiker und waren der Auffassung, mit der organisatorischen Aufteilung der drei Grundfunktionen auf unterschiedliche Verfassungsorgane seine Theorie zu verwirklichen. Ihr Montesquieu-Verständnis stellt in Wirklichkeit einen Rückgriff auf das dogmatisch-rationalistische Gewaltenteilungsschema dar, welches im 18. und 19. Jahrhundert zunächst in Frankreich, dann in den übrigen Verfassungsstaaten Europas und in der amerikanischen Diskussion entwickelt wurde174. Am Beispiel der Judikative wird der Unterschied zwischen den konstitutionell-demokratischen Gewaltenteilungsvorstellungen und der Lehre Montesquieus besonders augenfällig: Die Forderung nach einer unabhängigen und starken Position der „dritten Gewalt“ ist als fester Bestandteil der konstitutionellen Demokratiekonzeption anzusehen, während Montesquieu gerade diese Staatsfunktion neutralisieren wollte und nur Exekutive und Legislative als Gewalten gelten ließ. Der Rückgriff auf Montesquieu verbindet sich im konstitutionell-demokratischen Demokratieverständnis mit der bewussten Abgrenzung gegenüber Rousseau, welche schließlich den FDP-Abg. Dr. Dehler im Parlamentarischen Rat zu der Erklärung veranlasste: „Wir halten es mit Montesquieu und nicht mit Rousseau, mit dem esprit des lois und nicht mit dem contrat social“175. Diese Gegenüberstellung erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, weil die Identitätslehre Rousseaus in der Demokratiediskussion nach 1945 allgemein abgelehnt wurde. Die Befürworter beider Demokratiekonzeptionen stimmten darin überein, dass die neu zu gründende Demokratie eine repräsentative Demokratie sein sollte. Bei einer genaueren Betrachtung der konstitutionell-demokratischen Argumentation zeigt sich allerdings, dass Rousseaus Identitätslehre, die später auch Gegenstand der wissenschaftlichen Demokratiediskussion in der Bundesrepublik werden sollte176, damals gar nicht im Mittelpunkt des Interesses stand. Die Vertreter der konstitutionellen Demokratie lehnten Rousseau nicht in seiner Eigenschaft als Theoretiker der unübertragbaren „volonté generale“ ab, sondern als vermeintlichen Vater des sogenannten Parlamentsabsolutismus. Eine „Verfassung à la Rousseau“, erklärte Adolf Süsterhenn im Parlamentarischen Rat, zeichne sich durch eine „Konzentration der totalen Kompetenzfülle“ beim Parlament aus177. Die Gegenüberstellung von Montesquieu und Rousseau bezweckte in der westdeutschen Verfassungsdiskussion nach 1945 die Begrenzung des Parlamentseinflusses und seiner Mehrheitsentscheidungen. Sie richtete sich damit gegen den verfassungspolitischen Leitgedanken der sozialen Mehrheitsdemokratie. Anlass für die Gegenüberstellung von Montesquieu und Rousseau war damit nach 1945 nicht die Frage der plebiszitären oder repräsentativen Demokratie, sondern die Frage nach der Form des Repräsentativsystems. In diesem Punkt traten die Unterschiede zwischen den beiden Demokratiekonzeptionen deutlich hervor: Während nach mehrheitsdemokratischer Auffassung dem unmittelbar gewählten Parlament ein Repräsentationsmonopol zustand und alle übrigen Verfassungsorgane ihren repräsentativen Charakter über das Parlament erhielten, sollte nach konstitutionell-demokratischer Vorstellung das Volk durch verschiedene Organe gleichermaßen 173 Zur Motivation Montesquieus vgl. M. Drath: Die Gewaltenteilung im heutigen deutschen Staatsrecht, in: Faktoren der Machtbildung, Berlin 1952, S. 99-138. 174 W. Steffani: Gewaltenteilung im demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat, in: PVS 3, 1962, S. 256-282 175 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 225 176 G. Leibholz: Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958, S. 93 ff. und 247 ff.; E. Fraenkel: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1968, S. 81-119. 177 PR- Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30. November 1948. repräsentiert werden178. 57 Während das englische Demokratiebeispiel in vielen Punkten Vorbild für die mehrheitsdemokratische Konzeption war, diente die amerikanische Verfassungstradition als Vorbild für die konstitutionelle Demokratie. Diese Verbindung lag nahe, weil die Beratung der amerikanischen Bundesverfassung ebenfalls von der Furcht vor der unbeschränkten Mehrheitsherrschaft beeinflusst wurde. Robert Dahl bezeichnete dementsprechend die Abwehr des „elective despotism“ als theoretische Grundlage für sein Modell der „Madisonian democracy“179. Wenn die Vertreter der konstitutionellen Demokratie bei den Verfassungsberatungen gelegentlich auf die amerikanische Diskussion zurückgriffen, so hing das nicht etwa mit der Anwesenheit amerikanischer Besatzungstruppen zusammen, sondern resultierte aus einer vergleichbaren verfassungspolitischen Zielsetzung. Die Formulierung Madisons: „In einem republikanischen Regierungssystem dominiert notwendigerweise die Legislative. Diesem Mangel begegnet man dadurch, daß man die Legislative in mehrere Körperschaften aufteilt“, hätte nach 1945 wortwörtlich in ein Plädoyer für das Zweikammersystem übernommen werden können180. Im bayerischen Verfassungsausschuss verwies der CSU-Abgeordnete von Prittwitz und Gaffron, der bis 1934 Botschafter in Washington war und als Vertreter konstitutionell-demokratischer Vorstellungen anzusehen ist, auf die Beratungen des Philadelphia-Konvents. Dort habe man bereits erkannt, dass neben der persönlichen Tyrannenherrschaft in der „Tyrannei der Masse“ der zweite Feind der Demokratie zu sehen sei. Aus mehrheitsdemokratischer Sicht erklärte demgegenüber Hermann Brill als hessischer Vertreter im Herrenchiemsee-Konvent, ein „freies Leben in dem immer noch andauernden Kolonialstil der Vereinigten Staaten“ entspreche einer völlig anderen Vorstellungswelt als die Erwartungen der deutschen Wählerschaft in der Nachkriegssituation. Die Überlegungen Jeffersons und Hamiltons seien aus diesem Grunde für die deutsche Demokratieproblematik nach 1945 „bestenfalls literarisch interessant“, aber politisch nicht weiterführend181. In der konstitutionell-demokratischen Argumentation wurde gelegentlich der „Parlamentsabsolutismus“ als das eigentliche Prinzip der Demokratie bezeichnet.. In Hessen erklärte Erich Köhler (CDU), bei den Verfassungsberatungen der Nachkriegsjahre komme es darauf an, zu verhindern, „dass wir noch einmal in einer totalen Herrschaft versinken, und sei es die Herrschaft der totalen Demokratie“. Ähnliche Argumente erwähnte Carlo Schmid in seinem Bericht über den Stand der Verfassungsberatungen in Württemberg-Baden: Bei den Vorbesprechungen glaubte man hier ebenfalls, die neue Demokratie sowohl vor dem „nichtdemokratischen“ als auch vor dem „demokratischen“ Totalitarismus bewahren zu müssen. Die neue Verfassung sei deshalb organisatorisch so zu gestalten, dass die Demokratie „gegen ihre eigenen Gefahren“ geschützt werde. In der Diskussion über die zukünftige Verfassung Nordrhein-Westfalens kennzeichnete ein Landtagsabgeordneter den aus seiner Sicht doppeldeutigen Sinn des Wortes „Demokratie“ mit den Worten: „Das Optimum an Demokratie kann nur erreicht werden, wenn die Demokratie versteht, mit ihren eigenen Prinzipien Maß zu halten“182. Von neuliberaler Seite bezeichnete man ausdrücklich das liberale Prinzip, nicht das demokratische, als Gegenpol des kollektivistischen Staates. Der „reinen“ Demokratie dagegen wurde eine „illiberale 178 Diese Alternative trug Carlo Schmid bereits als Berichterstatter in Württemberg-Baden vor (Vorläufige Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946). 179 R. A. Dahl: A Preface to Democratic Theory. Chicago 1956, S. 4 ff. 180 Federalist, Nr. 51. 181 Verfassungsausschuss Bayern, 8. Sitzung vom 30. Juli 1946; PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 72 f. 182 Verfassungsberatende Landesversammlung Hessen, 2. Sitzung vom 5. August 1946; Vorläufige Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946; Abg. Kaes (CDU) im Landtag von Nordrhein-Westfalen, 117. Sitzung vom 14. Dezember 1949. 58 Tendenz“ zugesprochen. Hier klingt eine Differenzierung zwischen Demokratie und Liberalismus an, die auch in den damaligen Schriften von Gerhard Leibholz zum Ausdruck kommt und letztlich auf eine angenommene Antinomie von Freiheit und Gleichheit zurückzuführen ist183. Theodor Heuss stellte in seinem Grundsatzreferat vor der Landesversammlung von Württemberg-Baden die Frage: „Steckt nicht schon in der modernen Demokratie selber eine Gefahr der Verpöbelung, der Vermassung?“ Er glaubte jedoch, diesem reservierten Demokratieverständnis und der damit verbundenen Abwertung der Weimarer Republik energisch entgegentreten zu müssen, und fügte hinzu, für viele sei der „mögliche nächste Hitler“ zu einer Schreckfigur geworden, so dass sie „vor der Demokratie selber Angst bekommen“, weil diese unter Umständen wieder missbraucht werden könne184. Die ambivalente Verwendung des Wortes „Demokratie“ stimmt mit dem vorwiegend pessimistischen Menschenbild im Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie überein, welches sich aus der kritischen Auseinandersetzung mit den Erscheinungsformen der industriellen Massengesellschaft ergab. Dem Einbruch der Vermassungstendenzen in den Bereich der politischen Entscheidungen glaubte man in erster Linie mit verfassungspolitischen Mitteln, d. h. durch die Einschränkung des Mehrheitsprinzips sowie durch zahlreiche Kontroll- und Ausgleichsvorkehrungen begegnen zu müssen. Diese Lagebeurteilung erklärt gleichzeitig, weshalb die Argumentation der konstitutionell-demokratischen Theoretiker einen ausgesprochen defensiven Charakter hatte, Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie dagegen zweifelten auch nach den zeitgeschichtlichen Erfahrungen nicht an der Demokratietauglichkeit des modernen Menschen, weil sie für das nationalsozialistische Herrschaftssystem bestimmte Interessengruppen und die Mängel der Weimarer Demokratie verantwortlich machten. Die verfassungspolitischen Zielvorstellungen der konstitutionellen Demokratie wurden nach 1945 von der CDU/CSU und teilweise auch von den liberalen Landesparteien vertreten. Die christlich-demokratischen Gruppen verfolgten trotz ihrer personellen Heterogenität in der Verfassungsdiskussion eine einheitliche Zielsetzung. In den Jahren 1946 bis 1947 fand - offenbar ausgelöst durch die damaligen Verfassungsberatungen in den Ländern - in diesen Fragen eine Konkretisierung der Vorstellungen statt, denn die CDU/CSU vertrat damals bereits einheitlich die konstitutionell-demokratische Verfassungskonzeption. Das Zweikammersystem und die Institution des Staatspräsidenten wurden aus ihren Reihen vorgeschlagen und begründet. Entsprechendes gilt für die Bestrebungen, den Einfluss des Parlaments auf die Personalia der Verfassungsgerichtsbarkeit zu begrenzen. Das konstitutionell-demokratische Prinzip der Machtaufteilung war schon in den Gründungskreisen der CDU/CSU vorherrschend. In das Parteiprogramm der CDU für die britische Zone vom März 1946 fand der Grundsatz Aufnahme, die Mehrheit habe kein „willkürliches und uneingeschränktes“ Recht gegenüber der Minderheit. Konrad Adenauer erklärte zur gleichen Zeit in seiner Kölner Universitätsrede: „Die Demokratie erschöpft sich für uns nicht in der parlamentarischen Regierungsform oder gar in der Herrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit. Wie die parlamentarische Regierungsform sogar zur Herbeiführung der Diktatur missbraucht werden kann, wenn die Menschen nicht wirklich demokratisch denken und fühlen, das haben uns die ersten Monate des Jahres 1933 gezeigt“185. Oberhalb der Länderebene zeichnet sich der Beitrag der CDU/CSU zur Verfassungsdiskussion durch das Nebeneinander von horizontaler und vertikaler Machtaufteilung aus. Die bereits erwähnte Unterscheidung dieser beiden Verfassungsprinzipien ist der Schlüssel zum Verständnis der Differenzen in der Föderalismusfrage, welche zwischen der CDU in der britischen Zone und der süddeutschen CDU/CSU 183 W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis...S. 135 und 152; G. Leibholz: Strukturprobleme...S. 152 ff. 184 Verfassungsgebende Landesversammlung für Württemberg-Baden, 2. Sitzung vom 18. Juli 1946. 185 Vgl. das Parteiprogramm von Neheim-Hüsten bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente..., Bd. II, S. 51, sowie Rede des ersten Vorsitzenden der CDU für die britische Zone...in der Aula der Kölner Universität...24. März 1946.. S. 6 f. 59 bestanden. Die norddeutschen CDU-Vertreter waren der Auffassung, die Ausgewogenheit der Verfassung sei in erster Linie durch ein System von „checks and balances“ zwischen den Organen des Bundes und erst in zweiter Linie durch die föderative oder vertikale Machtaufteilung zu erreichen. Diese Zielsetzung kam im Zonenbeirat deutlich zum Ausdruck, wo Adenauer die Bedeutung des Verfassungsgerichtshofes als Gegengewicht zu Parlament und Regierung hervorhob. Der Staatsgerichtshof, fügte er hinzu, solle nicht nur die Interessen der Länder vor der Zentralgewalt, sondern umgekehrt auch den Bund vor „Ungehorsam oder Übergriffen“ der Länder schützen186. Die süddeutschen Föderalisten in der CDU/CSU waren dagegen bestrebt, den Einfluss der Landesregierungen auf die Bundespolitik zumindest durch eine entsprechende Zusammensetzung der zweiten Kammer zu sichern. Stellenweise wurde sogar der rigorose Vorschlag gemacht, die Einrichtungen des Bundes aus den entsprechenden Organen der Länder zu bilden. Eine dem bayerischen CSU-Politikers Alois Hundhammer zugeschriebene Denkschrift sah zum Beispiel als zweite Kammer ein „Staatenhaus“ aus Vertretern der Landesregierungen vor. Für das „Volkshaus“ stellte Hundhammer die indirekte Wahl über die Landtage zur Diskussion. Ein Kollegium von Regierungsvertretern aus den Ländern sollte auch die Exekutive des Bundes bilden, der damit den Charakter eines Staatenbundes erhielt. Diese Vorschläge wurden ganz im Sinne der konstitutionellen Demokratie mit dem Subsidiaritätsprinzip begründet. Eine „möglichst weitgehende Gliederung und Dezentralisation des Staatsaufbaus“ betrachtete der Verfasser als Voraussetzung für die Sicherung der Freiheit und für „staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein“. Erst die Auflockerung des zentralistischen Staatsapparates gebe dem einzelnen die Möglichkeit, die politischen Probleme im „kleinen überschaubaren Kreis“ zu beurteilen und zu entscheiden. Ein „zur Masse gewordenes Volk“ sei dagegen nicht in der Lage, einen „konstitutionellen Staat“ zu tragen, sondern werde „mit den Mitteln der Demokratie alle Sicherungen der persönlichen Freiheit hinwegfegen und damit die Demokratie selbst aufheben“187. Bei den Verfassungsberatungen in den Ländern vertrat von den liberalen Gruppen eigentlich nur die hessische LDP eindeutig das konstitutionell-demokratische Verfassungskonzept. Ihr Sprecher stimmte den Demokratievorstellungen des CDU-Fraktionsvorsitzenden Dr. Köhler ausdrücklich zu, weil hierin der Minderheitenschutz und die „Versicherung auf Gegenseitigkeit gegen die Anwandlungen des Machtrausches“ Berücksichtigung fanden. Das Staatspräsidentenamt wurde allerdings auch von der hessischen LDP mit Rücksicht auf die Reichseinheit von vornherein abgelehnt. Bei den Verfassungsdiskussionen in Nordrhein-Westfalen sprach sich der FDP-Abgeordnete Dr. Middelhauve im Namen seiner Fraktion gegen die Einrichtung einer zweiten Kammer aus. Er stellte jedoch für die Landesverfassung einen Vorschlag zur Diskussion, der später im Parlamentarischen Rat von der FDP-Fraktion erneut aufgegriffen wurde: Statt des parlamentarischen Regierungssystems, das dem Parlament jederzeit die Ablösung der Regierung ermöglicht, sollte eine auf drei oder vier Jahre gewählte „Regierung auf Zeit“ eingerichtet werden188. Dieser Vorschlag hatte zweifellos konstitutionell-demokratischen Charakter, weil er den politischen Einfluss der Parlamentsmehrheit verminderte. Während das mehrheitsdemokratische Verfassungsverständnis die personelle und politische Verbindung zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung betonte, sollte durch Einrichtung der „Regierung auf Zeit“ auch die Beziehung zwischen Parlament und Exekutive in das System der „checks and balances“ eingeordnet werden. 186 Zonenbeirat, 17. Plenarsitzung vom 24. November 1947 187 Vgl. den Text der Denkschrift bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen, Stuttgart 1969, S. 294 ff. 188 Abg. Euler (LDP) in der Verfassungsberatenden Landesversammlung Hessen, 6. Sitzung vom 29. Oktober 1946: Landtag von Nordrhein-Westfalen 1. Wahlperiode, 20. Sitzung vom 27. November 1947. 60 III. Von den Frankfurter Dokumenten zum Parlamentarischen Rat In den Jahren 1948 und 1949 gingen die westdeutschen Politiker davon aus, dass die Länder und die Zoneneinrichtungen später in einer gesamtdeutschen Republik aufgehen würden. Die Texte der frühen Landesverfassungen bezeichnen die von den Besatzungsmächten zum größten Teil neugeschaffenen Länder je nach Föderalismusverständnis als „Gliedstaat der deutschen Republik“ (Hessen), „Glied der Deutschen Republik“ (Württemberg-Hohenzollern) oder „Glied der Gemeinschaft der deutschen Länder“ (Baden). Auch die Einrichtungen des Zweizonen-Wirtschaftsrats für die britische und amerikanische Zone standen nach ihrer Erweiterung im Februar 1948 noch unter dem Vorbehalt, es handele sich um eine Wirtschaftsverwaltung, die in politischer Hinsicht nichts präjudiziere. Als die Westmächte im Frühjahr 1948 auf der Londoner Sechsmächtekonferenz beschlossen, für das Gebiet ihrer drei Besatzungszonen eine gemeinsame deutsche Regierung einzurichten, stand auch für deutsche Politiker fest, dass der Demokratiegründungsprozess weiterhin auf Westdeutschland begrenzt bleiben würde. Der Anstoß zur Konstituierung der Bundesrepublik kam damit von außen. Das Vorgehen der USA, Großbritanniens und Frankreichs ist gleichermaßen auf die Verschärfung des Ost-West-Konflikts sowie auf das Scheitern der 1945 beabsichtigten Viermächteverwaltung für Deutschland zurückzuführen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass zwischen den ergebnislosen Außenministerkonferenzen des Jahres 1947 in Moskau und London die Weichenstellung in Richtung auf eine westdeutsche Staatsgründung erfolgte. Dies gilt insbesondere für die Haltung der Vereinigten Staaten: In amerikanischen Regierungskreisen setzte sich damals in zunehmendem Maße die Auffassung durch, die wirtschaftliche Krise Westeuropas könne nur durch ein umfassendes Hilfsprogramm gelöst werden. Diese Überlegung führte schließlich zum European Recovery Program, das aufgrund der maßgeblichen Beteiligung des damaligen US-Außenministers auch Marshall-Plan genannt wird. Zumindest der westliche Teil Deutschlands sollte in dieses Programm einbezogen werden, weil das Ruhrgebiet ein funktionswichtiges Glied der europäischen Gesamtwirtschaft darstellte. Auf englischer und amerikanischer Seite kam die Erwartung hinzu, auf diesem Wege auch das Dilemma der finanziell aufwendigen Besatzungspolitik lösen zu können. Auch für Frankreich verlor die Besatzungszone zu diesem Zeitpunkt ihre Rentabilität im wirtschaftlichen Sinne. Die Konstituierung der Bundesrepublik vollzog sich 1948/49 in drei Etappen: Zunächst mussten sich die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien über die Gründung eines politischen Gemeinwesens und über die hierzu notwendigen Verfahrensweisen verständigen. Als zweite Phase folgten die Beratungen der deutschen Vertreter (Ministerpräsidenten und Parteiführer) untereinander sowie mit den Vertretern der Besatzungsmächte. Die dritte Phase schließlich bilden die Grundgesetzberatungen auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat. Am Beginn der Weststaatsgründung steht die bereits erwähnte Sechsmächtekonferenz in London, wo die drei Westmächte unter Hinzuziehung der Benelux-Staaten eine Einigung über den politischen Zusammenschluss ihrer Zonen erzielten. Die Konferenz begann Ende Februar 1948 und schloss ihre Beratungen nach mehrfacher Unterbrechung im Juni ab. Die Militärgouverneure Clay (USA), Robertson (Großbritannien) und Koenig (Frankreich) informierten die westdeutschen Ministerpräsidenten am 1. Juli 1948 in Frankfurt über die Ergebnisse der Londoner Konferenz und überreichten bei dieser Gelegenheit drei Dokumente. Dokument I der Frankfurter Dokumente beauftragte die Ministerpräsidenten, bis zum 1. September 1948 eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Dieses Gremium sollte nach dem Wortlaut der Empfehlungen eine demokratische Verfassung mit föderalistischer Struktur ausarbeiten, welche die individuellen Rechte und Freiheiten garantiert. Außerdem schreibt das Dokument die Einzelheiten über Wahl und Zusammensetzung der verfassunggebenden Versammlung vor. In Dokument II werden die Ministerpräsidenten ermächtigt, die Ländergrenzen zu überprüfen und gegebenenfalls Änderungen vorzuschlagen. Dokument III enthält allgemeine Richtlinien über das Verhältnis der zukünftigen deutschen Regierung zu den Besatzungsmächten. Es stellt ein Besatzungsstatut in Aussicht, dass die Abgrenzung deutscher und alliierter Kompetenzen vornehmen sollte189. 61 Die Frankfurter Dokumente kamen als Kompromiss der in London vertretenen Regierungen zustande und ließen aus diesem Grunde einen breiten Interpretationsspielraum offen. Dies gilt nicht nur für die Bemerkungen zum Besatzungsstatut, über dessen Inhalt damals auf alliierter Seite noch keine Übereinstimmung bestand, sondern auch für den Auftrag, eine föderalistische Verfassung zu schaffen. Der Begriff „structure gouvernementale de type fèdéral“ oder „governmental structure of federal type“ war alles andere als eindeutig. Dahinter standen vielmehr unterschiedliche Auffassungen, die bei den interalliierten Beratungen deutlich zum Ausdruck kamen. Die Engländer und Amerikaner vertraten gemeinsam die Ansicht, eine westdeutsche Zentralregierung müsse über ausreichende Kompetenzen zur Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme verfügen. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die Ziele des europäischen Wiederaufbauprogramms in Deutschland nicht erreicht würden. Auf amerikanischer Seite war hierbei allerdings das eigene Föderalismusverständnis mit einer klaren Aufgabentrennung zwischen Föderation und Einzelstaaten vorherrschend. Die französischen Vorstellungen dagegen liefen auf eine lose Konföderation der westdeutschen Länder hinaus: Die Zentralregierung hatte nur begrenzte, von den Ländern ausdrücklich delegierte Aufgaben wahrzunehmen. Sie sollte auch in finanzieller Hinsicht von den Ländern abhängig sein und nur auf den Gebieten der auswärtigen Beziehungen, des Zollwesens sowie der Eisenbahnen über einen eigenen Verwaltungsapparat verfügen. Die Einigung über Dokument I erfolgte schließlich unter dem Eindruck des Auszuges der sowjetischen Vertretung aus dem Alliierten Kontrollrat (20. März 1948). Die französische Regierung musste nach dem demonstrativen Schritt des sowjetischen Militärgouverneurs Sokolovskij befürchten, die Vereinigten Staaten und Großbritannien würden gegebenenfalls auch ohne französische Mitwirkung in ihren Besatzungsgebieten ein deutsches Regierungssystem einrichten. Nachdem sich die Londoner Konferenz vertagt hatte, fanden daher in Berlin amerikanisch-französische Gespräche zwischen Couve de Murville, der Mitglied der französischen Delegation in London war, und General Clay statt. Beide Seiten einigten sich, den westdeutschen Ministerpräsidenten nur allgemeine Richtlinien für die Verfassungsberatung zu übermitteln. Clay begründete diesen Schritt später mit der Überlegung, man habe zeitraubende Verhandlungen über Details vermeiden wollen, die später möglicherweise in den deutschen Vorschlägen gar nicht berührt würden. Die Londoner Sechsmächtekonferenz folgte dem in Berlin ausgearbeiteten Entwurf und nahm lediglich die grundsätzliche Vorschrift einer föderalistischen Verfassung in das Dokument I auf. Gleichzeitig einigten sich die Delegationen allerdings auf einen zunächst vertraulichen „Letter of Advice“, welcher den Militärgouverneuren als Richtlinie für die Prüfung des deutschen Verfassungsentwurfes dienen sollte. In diesem vierten Dokument findet sich die für den Parlamentarischen Rat folgenreiche Bestimmung, der Bund dürfe Steuern nur für Zwecke erheben, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallen190. Nach Übergabe der Frankfurter Dokumente wurde die innerdeutsche Diskussion von der Frage bestimmt, unter welchen Bedingungen die Ministerpräsidenten dem an sie herangetragenen Vorschlag einer Staatsgründung auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen entsprechen sollten. An der Willensbildung zu dieser Grundsatzfrage waren nicht nur die Länderregierungen beteiligt. Unmittelbar nach dem Frankfurter Treffen befassten sich auch die Landtage und die Führungsgremien der politischen Parteien mit den Vorstellungen der Alliierten. Bei diesem Meinungsaustausch zeigte sich, dass alle politischen Richtungen - mit Ausnahme der KPD - der Errichtung einer gemeinsamen Regierung für die drei Westzonen grundsätzlich zustimmten. Gleichzeitig betonten die deutschen Politiker jedoch den provisorischen Charakter des westdeutschen Gemeinwesen. Mit Rücksicht auf die Reichseinheit hielten 189 Vgl. den Text in PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 30-36 190 FRUS 1948, Vol. II, S. 240 f.; L. D. CIay: Decision in Germany, Garden City 1950, S. 397-407; S. Rothstein: Die Londoner Sechsmächtekonferenz 1948 und ihre Bedeutung für die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, jur. Diss. Freiburg 1968, S. 43-72. 62 sie es zum Beispiel nicht für sinnvoll, das verfassungsberatende Gremium ausdrücklich als verfassunggebende Versammlung zu bezeichnen. Die Stellungnahme der Ministerpräsidenten zu den Frankfurter Dokumenten wurde auf einer Konferenz auf dem Rittersturz in Koblenz vom 8. bis zum 10. Juli erarbeitet. Die führenden Parteipolitiker nahmen an den Vorbesprechungen teil und wirkten auch auf der Konferenz selbst als „Berater“ mit. In ihrer Antwort erklärten sich die Ministerpräsidenten zwar grundsätzlich zur Annahme des in den Frankfurter Dokumenten umschriebenen Auftrags bereit. Sie wollten gleichzeitig aber alles vermeiden, was der politischen Integration Westdeutschlands den Charakter eines neuen Staates verleihen konnte. Statt der unmittelbar gewählten verfassunggebenden Versammlung schlugen sie einen „Parlamentarischen Rat“ vor, der von den Landtagen benannt werden sollte. Seine Aufgabe bezeichneten sie nicht als Verfassungsberatung, sondern als Vorbereitung eines „Grundgesetzes für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebietes“. Die Ratifizierung dieses Grundgesetzes durch ein Referendum lehnten sie ebenfalls ab, weil ihm hiermit eine Bedeutung zugemessen werde, die eigentlich nur der zukünftigen gesamtdeutschen Verfassung zustehe. Schließlich äußerten sie den Wunsch, dass das Besatzungsstatut vor Beginn der Grundgesetzberatungen vorliege, damit der Parlamentarische Rat über eine sichere Arbeitsgrundlage verfüge. Gegen Dokument III der Frankfurter Dokumente wurde bereits unmittelbar nach der Übergabe der Einwand geltend gemacht, die Besatzungsmächte hätten hier ihre Rechte gegenüber den Besetzten formuliert, während man auf deutscher Seite eine Festlegung der eigenen Rechte gegenüber der Besatzungsmacht erwarte191. Die Antwort der Ministerpräsidenten stand damit ganz im Zeichen der Provisoriumskonzeption, die bei den dreitägigen Verhandlungen auf dem Rittersturz vor allem von Carlo Schmid vertreten wurde. Bei den Konferenzteilnehmern setzte sich schließlich seine Argumentation durch, vorläufig könne nur ein provisorisches Verwaltungsstatut verabschiedet werden, weil die staatliche Neuordnung lediglich einen Teil Deutschlands umfasse und nicht als souveräne Entscheidung des deutschen Volkes anzusehen sei192. Die Provisoriums-These fand damals auch Unterstützung durch eine Analyse des Büros für Friedensfragen vom 5. Juli 1948. Die Sachverständigen dieses Büros, das Anfang 1947 von den Ministerpräsidenten der englischen und amerikanischen Zone in Stuttgart eingerichtet wurde, kamen bei der Untersuchung von Dokument III zu dem Resultat, dass die dort aufgeführten Vorbehalte der Alliierten sich praktisch auf die gesamte Gesetzgebung erstreckten. Die Studie empfahl daher, entweder gar nicht auf das Angebot der Westmächte einzugehen oder eine provisorische Lösung mit administrativem Charakter anzustreben193. Neben dem gesamtdeutschen Vorbehalt war für die Zurückhaltung der Ministerpräsidenten auch die damalige Situation Berlins ausschlaggebend: Nach der Blockade und den Gegenmaßnahmen der Westmächte die Luftbrücke trat Ende Juni in Aktion stellte sich die Frage, ob die Gründung eines westdeutschen Staates die Lage der Stadt nicht zusätzlich erschweren würde. Entsprechende Befürchtungen hatten Berliner Politiker bereits vor der Koblenzer Konferenz geäußert. Auf dem Rittersturz selbst appellierte Luise Schröder als Vertreterin Berlins an die Konferenzteilnehmer, mit Rücksicht auf die Reichshauptstadt und die sowjetische Zone keiner endgültigen Regelung zuzustimmen. So kam es, dass die Koblenzer Beschlüsse eine kaum verklausulierte Ablehnung des alliierten Vorschlags darstellen, auf dem Gebiet der drei Besatzungszonen einen westdeutschen Staat zu errichten. Die Ministerpräsidenten betrachteten ihre Antwort allerdings auch als Positionsbestimmung für die zu erwartenden Gespräche mit den Militärgouverneuren. Die Mehrheit von ihnen war durchaus bereit, den 191 So der württemberg-badische Ministerpräsident Reinhold Maier vor dem Landtag, 77. Sitzung vom 7. Juli 1948; Text der Antwort in PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 143-150 192 P. Weber: Carlo Schmid...S.332-336 193 Text in PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 36-59 Vorschlägen der Frankfurter Dokumente entgegen zu kommen194. 63 Die deutsche Antwort fand wenig Beifall bei den Alliierten, die ihre Bedenken zunächst auf informellem Wege äußerten. Vertreter der amerikanischen Militärregierung in Berlin warfen der deutschen Seite Verantwortungsscheu vor und wiesen auf die möglichen Konsequenzen für den bedrohten Teil der Stadt hin. Der amerikanische Militärgouverneur General Clay nahm wenige Tage später bei einer Konferenz mit den Ministerpräsidenten seiner Zone zu den Koblenzer Beschlüssen Stellung. Er äußerte seine Verwunderung darüber, dass die Ministerpräsidenten offenbar weniger Machtbefugnisse annehmen wollten, als ihnen angeboten werde. Clay befürchtete neue Verhandlungen auf Regierungsebene, Schwierigkeiten mit Frankreich sowie eine hieraus resultierende Verzögerung der wirtschaftlichen, verwaltungsmäßigen und politischen Konsolidierung Westdeutschlands. Vertreter der britischen Regierung wandten sich an die Parteiführer ihrer Zone und betonten den Kompromisscharakter der Frankfurter Dokumente und die Bedeutung des französischen Sicherheitsinteresses195. Auf französischer Seite war tatsächlich die Tendenz spürbar, sich von dem Kompromiss der Londoner Sechsmächtekonferenz zurückzuziehen, dem die Nationalversammlung nur mit knapper Mehrheit (300 gegen 286 Stimmen) zugestimmt hatte: Bei einer internen Besprechung der Militärgouverneure am 15. Juli äußerte General Koenig Verständnis für die Haltung der Ministerpräsidenten und schlug vor, die Londoner Abmachungen zugunsten einer weniger weitreichenden Lösung zu modifizieren. Die Alliierten sollten ein Besatzungsstatut erlassen und auf eine deutsche Verfassung verzichten. Damit forderte er den Widerspruch seiner Kollegen Clay und Robertson heraus, die eine Verzögerung angesichts des verschärften Ost-West- Gegensatzes als unverantwortlich bezeichneten. Erst kurz vor der zweiten Frankfurter Konferenz der Militärgouverneure mit den Ministerpräsidenten am 20. Juli ließ sich General Koenig nach der Darstellung von Clay erneut auf den Inhalt der Londoner Vereinbarungen verpflichten. Den Ministerpräsidenten konnte daher in Frankfurt eine gemeinsame Erklärung übermittelt werden, die den geringen Verhandlungsspielraum deutlich machte. Sie hob hervor, dass die Koblenzer Beschlüsse in wichtigen Punkten von den Frankfurter Dokumenten abwichen und eine Abänderung dieser Dokumente nur auf dem Wege neuer Regierungsverhandlungen möglich sei196. Die wenig kompromissbereite Stellungnahme der Alliierten löste bei der nächsten Besprechung der westdeutschen Ministerpräsidenten am 21. und 22. Juli eine Grundsatzdiskussion aus, die man in Koblenz zugunsten einer einheitlichen Linie vermieden hatte. Auf Schloss Niederwald bei Rüdesheim standen sich der von Carlo Schmid vertretene Gedanke des provisorischen Verwaltungsstatuts und der von Ernst Reuter entwickelte Kernstaatsgedanke gegenüber. Reuter bezeichnete die politische und wirtschaftliche Konsolidierung Westdeutschlands als Voraussetzung für eine Verbesserung der Lage Berlins und für die “Rückkehr des Ostens zum gemeinsamen Mutterland“. Falls die politische Situation im Westen weiterhin so ungeklärt bleibe wie bisher, könne sich die Situation der geteilten Stadt nur noch verschlechtern. Die Ausführungen Reuters widersprachen der Stellungnahme, welche Luise Schröder 14 Tage vorher im Namen Berlins auf der Koblenzer Konferenz abgegeben hatte. Dieser Positionswechsel war für die Meinungsbildung der Konferenzteilnehmer in Rüdesheim von großer Bedeutung, weil mehrere Ministerpräsidenten in Koblenz ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Weststaatslösung aufgrund der Berliner Bedenken zurückgestellt hatten. Reuters Argumentation schien außerdem den Widerspruch zwischen dem Ziel einer schrittweisen Ablösung der Besatzungsherrschaft im Westen sowie dem Wunsch nach Wiederherstellung der deutschen Einheit zumindest in der Theorie auflösen zu können. Er bot damit 194 Text ebenda , S. 60-142 sowie J. Gimbel: The American Occupation of Germany. Politics and the Military 1945-1949, Stanford 1968, S. 212; W. Brandt / R. Löwenthal: Ernst Reuter - Ein Leben für die Freiheit. München 1957, S. 469 ff. 195 PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 151-156 sowie J. Gimbel: The American Occupation...S. 217 196 FRUS 1948, Vol. II, S. 399; C. Buffet: Mourir pour Berlin. La France et l´Allemagne 1945-1949, Paris 1991, S. 141-148 und 181 f. 64 den Ministerpräsidenten einen Ausweg aus dem Dilemma ihrer politischen Grundsätze an, mit dem sie seit 1948 konfrontiert waren. Carlo Schmid wies zwar warnend darauf hin, man habe in Koblenz Empfehlungen für die innere Ordnung der drei westlichen Besatzungszonen beschlossen, sei aber nun unter alliiertem Druck auf dem Wege, einen Staat zu schaffen, der Westdeutschland aufgrund von Wahlen und die sowjetische Zone aufgrund eines angenommenen stillschweigenden Einverständnisses repräsentiere. Seine Bedenken hatten aber nur bei dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) Erfolg, der sich gegenüber dem Landtag gebunden fühlte und den Beschlüssen der Konferenz nicht zustimmte197. Als Ergebnis der Rüdesheimer Konferenz formulierten die Ministerpräsidenten ein Memorandum, das ihnen als Grundlage für ihr bevorstehendes Gespräch mit den Militärgouverneuren diente. Nach dem Tenor dieses Dokuments zu urteilen, waren die deutschen Politiker grundsätzlich bereit, im Sinne der alliierten Vorschläge zu verfahren Die Ministerpräsidenten betrachteten zwar die politische Vereinigung der Westzonen weiterhin als „vorläufige Regelung“, zeigten sich aber entschlossen, diese „so kraftvoll und wirksam wie möglich zu gestalten“. Im einzelnen hielten sie an der Bezeichnung „Grundgesetz“ fest und schlugen als englische Übersetzung „basic constitutional law“ vor. Sie stellten auch Vorschläge zur Neugliederung der Ländergrenzen in Aussicht. Die von den Alliierten hierfür gesetzte Frist (1. September 1948) schien ihnen jedoch nicht ausreichend zu sein. Die Ministerpräsidenten sprachen sich außerdem gegen ein Verfassungsreferendum aus und empfahlen statt dessen eine Abstimmung in den Landtagen. Auf der dritten und letzten Konferenz mit den Militärgouverneuren vor Beginn der Grundgesetzberatungen am 26. Juli 1948 in Frankfurt kam ihre Kompromissbereitschaft noch deutlicher zum Ausdruck: Nach der Erläuterung der deutschen Vorschläge durch die Ministerpräsidenten Arnold (CDU) und Lüdemann (SPD) gab der Hamburger Bürgermeister Brauer (SPD) die Erklärung ab, die deutschen Vertreter seien an einer möglichst schnellen Einigung interessiert, weil sie befürchteten, andernfalls wäre die Durchführung des Marshall-Plans für Westdeutschland gefährdet. Brauer bezeichnete die noch bestehenden Differenzen als „Verfahrensfragen“ und fügte hinzu, man werde deshalb die Gesamtlösung nicht scheitern lassen. General Koenig entgegnete zunächst im Namen der Militärgouverneure, die deutschen Vorschläge ständen im Widerspruch zu den Londoner Beschlüssen und müssten deshalb an die Regierungen weitergeleitet werden. Als strittige Punkte nannte er den Namen der Verfassung, den Zeitpunkt für die Neuregelung der Ländergrenzen und die Frage des Referendums. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss, der die Aufnahme der Verfassungsberatungen zum vorgesehenen Zeitpunkt ermöglichte: Die Militärgouverneure stimmten der Bezeichnung „Grundgesetz“ mit dem Zusatz „provisorische Verfassung“ zu. Hinsichtlich der Ländergrenzen und des Referendums hielten sie die Entscheidung ihrer Regierungen für erforderlich. Sie sicherten aber zu, den deutschen Standpunkt zu befürworten. Die Ministerpräsidenten erklärten sich ihrerseits bereit, einer Volksabstimmung zuzustimmen und Vorschläge zur Neuregelung der Ländergrenzen fristgemäß vorzulegen, falls die alliierten Regierungen ihre Bedenken nicht berücksichtigen sollten. Mit dieser Einigung, die allerdings durch ein teilweises Hinausschieben der Probleme erkauft wurde, war der Weg frei für den Zusammentritt des Parlamentarischen Rates198. Eine zusammenfassende Beurteilung der deutsch-alliierten Gespräche über die Gründung eines westdeutschen Staates ist nicht zuletzt durch die Tatsache erschwert, dass wichtige Fragen noch offen blieben und erst im weiteren Verlauf der Entwicklung geklärt oder entschieden wurden. Wer zu dem Schluss kommt, die Ministerpräsidenten hätten schließlich doch den Inhalt der Frankfurter Dokumente 197 PR Akten und Protokolle Bd. 1, S.172-264 und die dokumentierte Darstellung bei T. Vogelsang: Die Option für den westdeutschen Staat im Juli 1948, in: Festschrift für Hermann Heimpel, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 174 ff. 198 Texte in PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 270-282 65 „ohne substantielle Abstriche“ akzeptiert199, wird gleichzeitig die Frage nach dem zur Verfügung stehenden Handlungsspielraum stellen müssen, den John Gimbel in seiner Studie über die amerikanische Besatzungspolitik als sehr begrenzt bezeichnet. Die Entscheidungsfreiheit der deutschen Politiker wurde vor allem durch die Berliner Blockade beeinträchtigt. Die hiermit verbundene Zuspitzung der Ost-West-Beziehungen ließ ihre verfassungsrechtlichen Bedenken nach und nach in den Hintergrund treten200. Da dieser Zusammenhang den Beteiligten erst während der Beratungen mit den Militärgouverneuren bewusst wurde, können die Koblenzer Beschlüsse nur bedingt als Maßstab für das Ergebnis der deutsch-alliierten Verhandlungen dienen. Hinzu kommt, dass die Ministerpräsidenten bei ihrer ersten Konferenz über den Verhandlungsspielraum der Militärgouverneure und die hinter den Frankfurter Dokumenten stehenden Überlegungen nur unzureichend informiert waren. Die Koblenzer Beschlüsse müssen daher auch als Maximalprogramm zu Beginn diplomatischer Gespräche gewertet werden. Immerhin gelang es den Ministerpräsidenten, mit den Bezeichnungen „Parlamentarischer Rat“ und „Grundgesetz“ sowie mit der Ratifizierung durch die Landtage ihre Provisoriumsthese zumindest in terminologischer Hinsicht aufrechtzuerhalten. Die Forderung von Koblenz, das Besatzungsstatut solle zu Beginn der Grundgesetzberatungen vorliegen, ließ sich allerdings nicht durchsetzen: Eine Einigung über den Inhalt des Statuts erreichten die Besatzungsmächte vielmehr erst im April 1949 auf der Washingtoner Außenministerkonferenz und damit zu einem Zeitpunkt, als das Grundgesetz bereits die dritte Lesung im Hauptausschuss passiert hatte. Für die Beratungen im Parlamentarischen Rat war es allerdings kein Nachteil, dass beide Dokumente unabhängig voneinander zustande kamen. Der Kompromiss zwischen den Fraktionen wurde hierdurch erleichtert, und die deutsche Position war in der Schlussphase der Grundgesetzberatungen stärker als zu Beginn. Schließlich bleibt nach diesem Überblick der Eindruck bestehen, dass die grundsätzlichen Bedenken der Ministerpräsidenten gegen die Einrichtung eines Weststaates auf alliierter Seite kaum nachvollzogen werden konnten, weil sie letztlich auf das Einigungsproblem der deutschen Geschichte und auf das spezifisch deutsche Staatsverständnis zurückgehen. Der Wunsch der deutschen Politiker, zwar politische Verantwortung in größerem Ausmaß zu übernehmen, aber gleichzeitig den nicht-staatlichen Charakter des westdeutschen Gemeinwesens festzulegen, muss den englischen und amerikanischen Vertretern weitgehend unverständlich gewesen sein. In ihrer Sprache ging es lediglich um die Einrichtung eines „constitutional German government“ - so lautet die entsprechende Formulierung im englischen Text der Frankfurter Dokumente. Die verärgerte Reaktion General Clays auf die in Koblenz beschlossenen Gegenvorschläge der Ministerpräsidenten sollte auch unter diesem Aspekt gesehen werden. Nach der Einigung zwischen den Ministerpräsidenten und den Militärgouverneuren wurde mit Einberufung des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee die Phase der Grundgesetzberatungen eingeleitet. Bezeichnend für die Verhandlungsposition der Ministerpräsidenten in der Endphase der deutsch-alliierten Gespräche über die Frankfurter Dokumente ist die Tatsache, dass sie bereits am 25. Juli - also am Tage vor der entscheidenden dritten Konferenz mit den Gouverneuren - durch gemeinsamen Beschluss einen Sachverständigenausschuss für Verfassungsfragen einsetzten. Dieser Verfassungsausschuss trat auf Einladung des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard am 10. August 1948 auf der Herreninsel im Chiemsee zusammen. Jedes Land war durch einen bevollmächtigten Delegierten vertreten; auch der Berliner Magistrat entsandte auf besondere Einladung hin als Bevollmächtigten Dr. Otto Suhr. Hinzu kamen insgesamt 15 Mitarbeiter der Delegierten und vier Sachverständige201. 199 So W. Sörgel: Konsensus und Interessen, Stuttgart 1969, S. 53 200 J. Gimbel: The American Occupation... S. 224 201 Vgl. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 19. bis 23. August 1948, München 1948, S. 3-9 (nicht gedruckt in PR Akten und Protokolle Bd. 2) 66 Die politischen Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates wurden in der Regel bereits auf Herrenchiemsee ausführlich diskutiert. Bei einer Untersuchung der Grundgesetzberatungen unter dem Gesichtspunkt des Demokratieverständnisses wird man daher auf die bisher nur zum Teil gedruckten Protokolle des Konvents zurückgreifen. Auch in der Organisation seiner Beratungstätigkeit diente der Konvent dem Parlamentarischen Rat als Vorbild: Man praktizierte hier bereits die abwechselnde Beratung im Plenum und in den Ausschüssen. Nach einer allgemeinen Aussprache über die zukünftige westdeutsche Verfassung setzte der Konvent drei Unterausschüsse ein: Unterausschuß I befaßte sich u. a. mit den Grundrechten, mit der Gliederung des Bundesgebietes sowie mit der Festlegung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze für die Länder. Unterausschuß II behandelte die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung einschließlich der gesamten Finanzverfassung. Unterausschuß III schließlich war für den Aufbau und die Funktionsweise der Bundesorgane zuständig. Als Ergebnis seiner Beratungen legte der Herrenchiemsee-Konvent einen vollständigen Grundgesetzentwurf von nicht weniger als 149 Artikeln vor. Der Bericht des Konvents enthält weiterhin einen fast 50 Druckseiten umfassenden „darstellenden Teil“ mit einer ausführlichen Übersicht zum Diskussionsverlauf und zur Motivation seiner Mitglieder bei der Formulierung des Entwurfs. Hinzu kommt schließlich noch ein „kommentierender Teil“ mit Erläuterungen zu einzelnen Artikeln des Verfassungsvorschlags. Der Konvent begnügte sich damit, in strittigen Verfassungsfragen zwei oder gar drei Alternativvorschläge in den Entwurf aufzunehmen. Er verstand sich selbst als Sachverständigenausschuss, der „keinerlei politische Entscheidungen zu treffen oder auch nur zu empfehlen“ habe. Ziel der vorbereitenden Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee sollte das Gegenüberstellen von Lösungsmöglichkeiten, nicht das Erarbeiten von politischen Kompromissen sein. Es fragt sich allerdings, ob der Herrenchiemsee-Konvent nicht durch die Gründlichkeit seiner Beratungen sowie durch den Umfang seiner Vorschläge den weiteren Verlauf der Verfassungsdiskussion präjudiziert und damit auch politisch beeinflusst hat. Sein ursprünglicher Auftrag lautete, „Richtlinien für ein Grundgesetz“ auszuarbeiten, um dem Parlamentarischen Rat eine Grundlage für seine Beratungen zu vermitteln202. Im Verlauf seiner zweiwöchigen Tätigkeit ist der Konvent zweifellos über diesen Auftrag hinausgegangen. Der den Deutschen oft nachgesagte Wesenszug „to be thorough in all things“203 hat sich hier offenbar mit dem Interesse der Länderregierungen verbunden, vor dem Zusammentritt des Parlamentarischen Rates den Verlauf der Grundgesetzberatungen noch einmal wirksam zu beeinflussen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Frage berechtigt, ob auf Herrenchiemsee die maßgebenden politischen Gruppierungen Westdeutschlands vertreten waren. Die Bevollmächtigten der Länder sind in der Regel gleichzeitig als Repräsentanten ihrer Parteien anzusehen. Das trifft etwa für die späteren Mitglieder des Parlamentarischen Rates Josef Schwalber (CSU), Adolf Süsterhenn (CDU), Carlo Schmid (SPD) und Otto Suhr (SPD) zu. Fritz Baade und Hermann Brill gehörten der SPD, Josef Beyerle und Paul Zürcher der CDU an. Der Vorsitzende des Herrenchiemsee-Konvents, der damalige Leiter der Bayerischen Staatskanzlei Dr. Anton Pfeiffer, wurde später von der CSU in den Parlamentarischen Rat entsandt. Ein anderes Bild bieten die Mitarbeiter der Delegierten und die Sachverständigen: Sie waren den Bevollmächtigten rein zahlenmäßig um das Doppelte überlegen und rekrutierten sich vorwiegend aus Verwaltung und Hochschule. Diese Gruppe dominierte in der Redaktionskommission, die nach Vertagung des Konvents den Schlußbericht verfaßte. Parteipolitiker waren bei diesem wichtigen Vorgang nicht mehr beteiligt. Hinsichtlich der Länderrepräsentation ist im Herrenchiemsee-Konvent ein Übergewicht des süddeutschen und ausgesprochen föderalistischen Elements festzustellen. Bei einem Zahlenvergleich 202 Ebenda., S. 4 f. 203 So J. F. Golay: The Founding of the Federal Republic of Germany, Chicago 1958, S. 23 67 zwischen Bayern und Nordrhein-Westfalen unter Einschluss der Sachverständigen und Mitarbeiter ergibt sich zum Beispiel ein Verhältnis von 6 : 2 zugunsten Bayerns (Pfeiffer, Schwalber, Leusser, Kollmann, Ringelmann, Nawiasky gegenüber Kordt und Berger). In den Ausarbeitungen des Konvents kommt das Dilemma zwischen Weststaatsgründung und gesamtdeutscher Perspektive, dem sich die Ministerpräsidenten bei ihren Verhandlungen mit den Alliierten gegenübersahen, erneut zum Ausdruck. Im darstellenden Teil des Berichtes findet sich die These vom „doppelten Provisorium“: Das in Westdeutschland zu gründende Gemeinwesen wird demnach auf der einen Seite als „zeitliches Provisorium“ betrachtet, das heißt, es war als Notlösung gedacht, welche später durch eine in freier Selbstbestimmung beschlossene gesamtdeutsche Verfassung abgelöst werden sollte. Mit dieser Überlegung blieb der Gedanke eines Verwaltungsstatuts ansatzweise erhalten. Andererseits spricht der Konvent von einem „räumlichen Provisorium“, weil das Grundgesetz nicht auf das Gebiet der elf Länder beschränkt bleiben, sondern jeder Teil Deutschlands die Möglichkeit zum Beitritt haben sollte. Dies war eine Umschreibung des Kernstaatsgedankens, wie er von Ernst Reuter auf der Rüdesheimer Konferenz vertreten wurde. Mit seinem ausführlichen Verfassungsentwurf hat sich der Herrenchiemsee-Konvent in der Praxis für die letztgenannte Alternative entschieden. Er hielt zwar an der These fest, auf dem Gebiet der drei Westzonen könne nur ein „Staatsfragment“ entstehen. Der fragmentarische Charakter sollte jedoch nicht in den Institutionen und Grundprinzipien der Verfassung zum Ausdruck kommen, sondern in der Beschränkung ihrer Wirksamkeit durch äußere Einflüsse204. Die rechtlichen und technischen Voraussetzungen für den Zusammentritt des Parlamentarischen Rates haben die Ministerpräsidenten ebenfalls zu einem frühen Zeitpunkt geschaffen: Unmittelbar nach ihrer letzten Frankfurter Besprechung mit den Militärgouverneuren schlossen die Regierungschefs ein Abkommen, als dessen wichtigster Teil die Bestimmungen über die Verteilung der Abgeordnetensitze auf die Länder anzusehen sind. Auf je 750 000 Einwohner sollte demnach ein Abgeordneter in den Parlamentarischen Rat gewählt werden. Falls für ein Land mindestens 200 000 Reststimmen übrig blieben, kam ein weiterer Abgeordneter dazu. Dieser Verteilungsschlüssel hatte zur Folge, dass die kleinen Länder im Parlamentarischen Rat relativ günstig vertreten waren. Ein entsprechendes Gesetz wurde im August/ September 1948 bis auf Nordrhein-Westfalen in allen Ländern gleichlautend erlassen. Es regelte außerdem das Wahlverfahren der Abgeordneten, ihre Immunität und Aufwandsentschädigung sowie die Nachwahl ausscheidender Ratsmitglieder205. Als die Landesparlamente im August die Abgeordneten der verfassunggebenden Versammlung wählten, stellte sich heraus, dass zwischen den beiden großen Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Stimmengleichheit bestand: Beide waren mit 27 Abgeordneten im Parlamentarischen Rat vertreten. Die FDP/DVP/LDP-Gruppen erhielten fünf, die Deutsche Partei, das Zentrum und die KPD jeweils zwei Sitze. Insgesamt hatte der Parlamentarische Rat damit 65 stimmberechtigte Mitglieder. Hierzu kamen fünf Berliner Delegierte (drei der SPD, je einer der CDU und der FDP angehörend), die jedoch nicht stimmberechtigt waren. Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates bildeten Fraktionen, obwohl die CDU/CSU und die FDP/DVP/LDP von einer einheitlichen Parteiorganisation noch weit entfernt waren. Die Zusammenarbeit der Landes- und Zonenverbände bei den Grundgesetzberatungen hat hier den späteren Zusammenschluss auf Bundesebene vorbereitet. Die Verteilung der Sitze auf die Parteien gab später Anlass zu Diskussionen. Bei der Wahl durch die Landtage hatten CDU und SPD ein Tauschgeschäft abgeschlossen. Demnach erhielt die CDU zwei Sitze im Parlamentarischen Rat für Hamburg und Schleswig-Hostein, die ihr dort angesichts der SPD-Mehrheit nicht zustanden, während die Sozialdemokraten in Baden und Württemberg-Hohenzollern je einen Abgeordneten wählen konnten. Einer der Begünstigten dieser Absprache zwischen CDU und SPD war Carlo Schmid, der am 13. August 1948 vom Landtag Württemberg-Hohenzollerns gewählt wurde. Als die Differenzen zwischen den Fraktionen im Parlamentarischen Rat zunahmen, warf Adenauer dem Regierungschef von Württemberg204 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 507-509 205 PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 283-290 68 Hohenzollern, Gebhard Müller (CDU), vor, er habe die Entsendung des wortgewaltigen Szialdemokraten ermöglicht206. Für die Ausarbeitung der einzelnen Abschnitte des Grundgesetzes richtete der Parlamentarische Rat fünf Fachausschüsse ein, und zwar für Grundsatzfragen, Zuständigkeitsabgrenzung, Finanzfragen, für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege (Rechtspflegeausschuss) sowie für die Organisation des Bundes. Hinzu kamen die Fachausschüsse für Wahlrechtsfragen und für das Besatzungsstatut. Außerdem wurden ein Geschäftsordnungsausschuss und ein Überleitungsausschuss gebildet, der aber ohne politische Bedeutung blieb. Die Grundsatzdiskussion des Parlamentarischen Rates fand vorwiegend im Hauptausschuss statt. Dessen Aufgabe bestand darin, die Vorschläge der Fachausschüsse zu einem Entwurf für das Plenum zusammenzufassen und gleichzeitig die politischen Vorentscheidungen zu treffen. Im Hauptausschuss waren CDU/CSU und SPD mit je acht, die FDP mit zwei und die DP, das Zentrum sowie die KPD mit je einem Abgeordneten vertreten. Die Bedeutung des Hauptausschusses geht allein daraus hervor, dass er insgesamt 59 Sitzungen abhielt, während das Plenum nur zwölfmal zusammentrat. Während der gesamten Tagungsdauer des Parlamentarischen Rates fanden interfraktionelle Besprechungen unter dem Vorsitz Adenauers statt. Die personelle Zusammensetzung dieses Kreises wechselte häufig. Bis zu 20 Abgeordnete aus allen Fraktionen (mit Ausnahme der KPD) nahmen an diesen Verhandlungen teil. Im Verlauf der Beratungen wurden außerdem drei weitere Ausschüsse gebildet, die man von ihrer Funktion her als Koordinationsausschüsse bezeichnen kann. Sie haben vor allem in der Schlussphase die Kompromissfindung zwischen den Fraktionen erleichtert und maßgebend dazu beigetragen, dass schließlich eine breite Mehrheit des Parlamentarischen Rates dem Grundgesetz zustimmte. Anfang November 1948 setzte der Ältestenrat zunächst einen „Allgemeinen Redaktionsausschuss“ ein. Dieses Dreiergremium nahm im wesentlichen die Aufgaben des Bindegliedes zwischen den Fachausschüssen und dem Hauptausschuss wahr. Sein Einfluss blieb jedoch nicht auf die redaktionelle Bearbeitung der Entwürfe beschränkt. In der Besetzung Dehler (FDP), Zinn (SPD) und v. Brentano, bzw. v. Mangoldt oder Strauß von der CDU erarbeitete der Redaktionsausschuss eine Reihe inhaltlicher Änderungsvorschläge, die vom Hauptausschuss trotz vereinzelter Proteste als Parteikompromisse akzeptiert wurden. Im Anschluss an die zweite Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschuss (Januar 1949) beschlossen die Fraktionen die Einsetzung einer Kommission, die den Namen „Fünferausschuß“ erhielt. Mitglieder waren in der Regel die Abgeordneten v. Brentano, Kaufmann (CDU/CSU), Menzel, Schmid (SPD) und Schäfer, bzw. Heuss, Dehler oder Höpker-Aschoff für die FDP. Je nach Beratungsgegenstand wechselte man auch die Mitglieder aus oder zog weitere Abgeordnete hinzu. Auf diese Weise wurden die bis dahin formlos geführten interfraktionellen Beratungen institutionalisiert, um eine möglichst schnelle Einigung über die noch umstrittenen Passagen des Grundgesetzes zu erreichen. Als nach Überreichung des alliierten Memorandums vom 2. März 1949 erneut interfraktionelle Besprechungen notwendig waren, beschloss man eine Erweiterung der Fünfer-Kommission zum sogenannten „Siebenerausschuß“: Mit den Abgeordneten Seebohm und Brockmann wurde je ein Vertreter der DP und des Zentrums hinzugenommen, so dass nunmehr alle Fraktionen bis auf die KPD beteiligt waren. Die bayerische CSU war weder im Allgemeinen Redaktions-, noch im Fünfer- oder im Siebenerausschuss vertreten. Sie nahm allerdings an der weiterlaufenden interfraktionellen Besprechungen teil. Obwohl diese Koordinierungsausschüsse in vielen Fällen über die verfassungspolitischen Alternativen entschieden, liegt über ihre Beratungen wenig dokumentarisches Material vor. Im Gegensatz zu den anderen Ausschüssen des Parlamentarischen Rates hat man bei den interfraktionellen Besprechungen, im Allgemeinen Redaktionsausschuss, im Fünfer- sowie im Siebenerausschuss keine offiziellen stenographischen oder Kurzprotokolle angefertigt. Es gibt aber zahlreiche Mitschriften und 206 Die Unionsparteien 1946-1950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU Deutschlands und der Konferenzen der Landesvorsitzenden, Düsseldorf 1991,.S. 296 und 298 ff. 69 Aufzeichnungen über diese Gespräche, die in der Regel von Teilnehmern verfasst wurden. Der Allgemeine Redaktionsausschuss hat seine Vorschläge mit Anmerkungen versehen, die in einigen Fällen Rückschlüsse auf seine Motivation zulassen. Die politikwissenschaftliche Analyse der Grundgesetzberatungen wird durch diese Dokumentationslücken nicht unwesentlich erschwert. Der zeitliche Ablauf der Grundgesetzberatungen im Parlamentarischen Rat lässt sich in vier Abschnitte gliedern: Seine erste Phase wird durch die Tätigkeit der Fachausschüsse bestimmt, die bei ihren Überlegungen in der Regel vom Aufbau und von den Formulierungen des Herrenchiemsee-Entwurfs ausgingen. In ein- oder zweimaliger Beratung erarbeiteten sie Entwürfe für die einzelnen Abschnitte des Grundgesetzes, welche über den Allgemeinen Redaktionsausschuss dem Hauptausschuss zugeleitet wurden. Diese Ausschussberatungen waren nichtöffentlich, weil man durch einen Verzicht auf unmittelbare Publizität die Sachlichkeit der Diskussion und den zügigen Fortgang der Beratungen fördern wollte. Bereits vor Abschluss der Arbeit in den Fachausschüssen kam es am 20. und 21. Oktober im Plenum zu einer Grundsatzdiskussion über die Formulierung der Präambel sowie über die Fragen der Finanzverfassung und der Länderkammer. Als zweite Phase sind die beiden ersten Lesungen des Grundgesetzes im Hauptausschuss anzusehen, die vom November 1948 bis zum Januar 1949 dauerten. Der allgemeine Redaktionsausschuss nahm nach der ersten und zweiten Lesung zu den Beschlüssen des Hauptausschusses Stellung, und die Fachausschüsse traten erneut zusammen. In diese zweite Phase fällt auch die erste Intervention der Alliierten: Die Westmächte hatten sich wie bereits dargestellt zwischen den beiden Sessionen der Londoner Sechsmächtekonferenz darauf geeinigt, den Ministerpräsidenten zunächst nur die allgemeinen Prinzipien der zukünftigen Verfassung mitzuteilen. Die vielfältigen Probleme der alliierten Deutschlandpolitik (Besatzungsstatut, Berliner Blockade, Eingliederung der französischen Zone in die Bizone) verhinderten dann offenbar eine Präzisierung des alliierten Standpunktes zum Bund-Länder-Verhältnis. Im Hintergrund stand aber immer noch die vertrauliche Londoner Vereinbarung mit weiteren Einzelheiten zur bundesstaatlichen Struktur. Dieses sogenannte vierte Frankfurter Dokument war für die Militärgouverneure bestimmt und wurde den deutschen Vertretern zunächst nicht mitgeteilt. Lediglich zur Finanzverfassung erhielt der Vizepräsident des Parlamentarischen Rates, der SPD-Abgeordnete Schönfelder, am 30. Oktober von alliierter Seite die Information, der Bund solle berechtigt sein, auch für Steuern, die ihm nicht zustehen, einheitliche Sätze festzulegen. Die Verwaltung und Verwendung dieser Abgaben müsse jedoch ausschließlich den Ländern vorbehalten bleiben207. Am 22. November 1948 überreichten die Militärgouverneure schließlich dem Präsidenten des Parlamentarischen Rates ein Memorandum mit Erläuterungen zu Dokument I der Frankfurter Dokumente, das die bisher vertraulichen Londoner Abmachungen enthielt. Dieses Memorandum bekräftigte noch einmal den alliierten Standpunkt zur Finanzverfassung und äußerte sich auch zu anderen Punkten der Föderalismus-Problematik (Zweikammersystem, Bundesbefugnisse in Polizeiangelegenheiten, Verfassungsgerichtsbarkeit und Errichtung von Bundesbehörden). Insgesamt war die alliierte Stellungnahme aber vom Tenor her nicht so dringend, als dass sich der Parlamentarische Rat veranlasst sah, sie in seinem eigenen Entwurf unmittelbar zu berücksichtigen. Der Präsident des Rates, Dr. Adenauer, erklärte vor dem Hauptausschuss zur Übergabe des Dokuments, die alliierten Verbindungsstäbe hätten ausdrücklich betont, sie wollten die Entscheidung des Parlamentarischen Rates nicht beeinflussen, sondern nur „einige Sätze aus dem Ihnen bekannten Dokument Nr.1“ erläutern. Der Hauptausschuss nahm daraufhin eine Entschließung an, die das Memorandum ausdrücklich als „Erläuterung“ der Frankfurter Dokumente bezeichnete und hinzufügte: „Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates setzen die Beratungen als Vertreter des deutschen Volkes fort, dessen Vertrauen sie nach Bonn entsandt hat“208. Auf deutscher Seite war man offensichtlich bestrebt, die alliierte 207 PR-Akten und Protokolle Bd. 8, S. 18-23 208 PR-Hauptausschuß, 9. Sitzung vom 25. November 1948 und der mehrsprachige Text des Memorandums vom 22.11.1948 im PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 37-42 70 Intervention herunterzuspielen, um später aus einer besseren Position heraus mit den Militärgouverneuren über den Gesamtentwurf des Grundgesetzes zu verhandeln. Im Anschluss an die Übergabe des Memorandums fand in Frankfurt eine Besprechung zwischen den drei Militärgouverneuren und einer Delegation des Parlamentarischen Rates statt. Bei dieser Gelegenheit wurden nicht nur Fragen des Besatzungsstatuts, sondern auch Verfassungsprobleme erörtert, zu denen eine Einigung zwischen den Fraktionen noch ausstand. Die dortige Verhandlungsführung Konrad Adenauers, der als Präsident des Parlamentarischen Rates Vorsitzender der deutschen Delegation war, löste eine heftige Kontroverse zwischen den Parteien und damit die erste Krise im Rat aus. Die Fraktionen der SPD, FDP und des Zentrums warfen Adenauer vor, er habe entgegen vorheriger Abmachung die Finanzverfassung und die Zweikammerfrage zur Sprache gebracht. Auf diese Weise sei den Militärgouverneuren die Möglichkeit eröffnet worden, bei den Differenzen der deutschen Parteien eine Schiedsrichterrolle zu übernehmen209. Mit diesem Intermezzo wurde die dritte Phase der Grundgesetzberatungen eingeleitet. Sie stand im Zeichen der Bestrebungen, einen Kompromiss zwischen den divergierenden Auffassungen im Parlamentarischen Rat und zwischen den Parteien herbeizuführen und damit eine breite Mehrheit für das Grundgesetz zu erreichen. Zu diesem Zweck konstituierte sich der bereits erwähnte „Fünferausschuss“. Zwischen dem 26. Januar und dem 5. Februar 1949 einigten sich hier die Vertreter der drei größten Fraktionen über die umstrittenen Punkte und legten schließlich einen durchgehend formulierten Grundgesetzentwurf vor. Dieser Vorschlag diente dem Hauptausschuss als Grundlage für seine dritte Lesung, die aufgrund der Vorarbeiten nur drei Tage in Anspruch nahm. Nach Abschluss der Beratungen im Hauptausschuss erhielten die Militärgouverneure am 10. Februar vom Präsidenten des Parlamentarischen Rates ein Exposé mit Erläuterungen zur Fassung der dritten Lesung. Diese Zusammenstellung hatte der SPD-Abgeordnete Zinn in Übereinstimmung mit den Fraktionen ausgearbeitet. Sie sollte den alliierten Stellen als Unterlage für ihre internen Besprechungen dienen und hob den föderalistischen Charakter des Entwurfs hervor210. Die Gouverneure bestätigten zunächst, dass sie das Grundgesetz in der vom Hauptausschuss verabschiedeten Fassung überprüfen und die Entscheidung ihrer Regierung einholen würden, falls der Entwurf den Londoner Vereinbarungen widerspreche. Am 2. März überreichten sie schließlich den Vertretern des Parlamentarischen Rates auf einer kurzfristig angesetzten Besprechung eine ausführliche Stellungnahme zum Entwurf des Grundgesetzes. Ihr Memorandum stellt fest, das Grundgesetz weiche in mehreren Punkten von den alliierten Richtlinien ab. Es führt im einzelnen sieben Änderungswunsche auf, von denen die Vorschläge zur Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern sowie zur Finanzverfassung besondere Erwähnung verdienen. Mit dem alliierten Memorandum vom 2. März 1949 begann die zeitweise turbulente vierte Phase der Grundgesetzberatungen. Die Weiterführung der deutsch-alliierten Verhandlungen und der Gespräche zwischen den Parteien erwies sich als äußerst schwierig, weil der innerdeutsche Kompromiss des Fünferausschusses durch die Einwände der Besatzungsmächte in Frage gestellt war. Die interfraktionellen Beratungen wurden gleichzeitig im größeren Kreis und im Rahmen des Siebenerausschusses geführt, der sich in informellen Kontakten mit den Verbindungsoffizieren sowie anhand der zunächst nicht mitgeteilten französischen Fassung des Memorandums zusätzliche Informationen über die alliierten Vorstellungen verschaffte. Der Ausschuss schlug zweimal Kompromissformulierungen vor (am 10. und 18. März.), die jedoch von den Militärgouverneuren nicht akzeptiert wurden. 209 PR Akten und Protokolle Bd. 8, S.61 ff. und 76 ff.; PR-Hauptausschuss, 28. Sitzung vom 18. Dezember 1948; K. Adenauer: Erinnerungen 1945-1953, Stuttgart 1965, S. 159 ff.; R. Morsey: Die Rolle Konrad Adenauers im Parlamentarischen Rat (VjZG 18, 1970, S. 73-78) 210 Text in PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 101-105 71 Die scheinbar ausweglose Situation änderte sich auch nicht, als die Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und der USA Anfang April in Washington zusammentraten und eine Reihe von Vereinbarungen bezüglich Westdeutschlands trafen (u. a. die Abkommen über Dreimächtekontrolle, über Reparationen, über verbotene und beschränkte Industrien sowie über die Kontrolle des Ruhrgebietes). Die Washingtoner Außenministerkonferenz legte den Entwurf des Besatzungsstatuts vor und ließ dem Parlamentarischen Rat am 5. April eine Erklärung zukommen, in der sie ihn zur Weiterarbeit am Grundgesetz ermunterte, ohne jedoch die strittigen Verhandlungspunkte mit einem Wort zu erwähnen. Die sozialdemokratische Partei betrachtete die Formulierungen des Siebenerausschusses vom 17. März als die äußerste Grenze ihrer Konzessionsbereitschaft. Sie stellte den Gedanken des Verwaltungsstatuts erneut zur Diskussion, indem sie einen „auf das Notwendigste beschränkten“ Grundgesetzentwurf veröffentlichte. Erst am 22. April gaben die Militärgouverneure überraschend ein zweites Dokument zum Grundgesetz bekannt, das zu den Fragen der Finanzverfassung sowie der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern eine kompromissbereite Haltung erkennen ließ und die starren Instruktionen des Memorandums vom 2. März praktisch zurücknahm. Die Außenminister hatten dieses Dokument bereits am 8. April auf der Washingtoner Konferenz unterzeichnet und den Militärgouverneuren mit der Anweisung zugeleitet, es zu einem geeigneten Zeitpunkt dem Parlamentarischen Rat mitzuteilen. Clay wandte sich jedoch zunächst gegen seine Übergabe und wurde hierin von dem französischen Militärgouverneur General Koenig unterstützt. Er argumentierte, eine Überreichung dieser konzilianten Erklärung vor Wiederaufnahme der Beratungen im Parlamentarischen Rat hätte sich als Stellungnahme zugunsten der sozialdemokratischen Position ausgewirkt und die politische Neutralität der Gouverneure hinsichtlich der innerdeutschen Auseinandersetzungen in Frage gestellt211. Die Bekanntgabe am 22. April bestätigte tatsächlich die Politik der SPD, während die CDU/ CSU die Haltung der Alliierten offensichtlich falsch eingeschätzt hatte. In diesem Zusammenhang wurde auch die Vermutung geäußert, die sozialdemokratische Führung sei von englischer Seite über die Konzessionsbereitschaft der Alliierten informiert worden und habe daher in der Schlussphase der Grundgesetzberatungen ihre unnachgiebige Haltung ohne Risiko beibehalten können212. Nach der Erklärung der Militärgouverneure vom 22. April konnten die Grundgesetzberatungen in kurzer Zeit zum Abschluss gebracht werden. Die noch ausstehenden Lesungen nahmen kaum mehr als zwei Wochen in Anspruch. Zunächst einigten sich die Fraktionen in zweitägigen Beratungen auf Vorschläge, die den alliierten Verbindungsoffizieren noch am 24. April übergeben wurde. Am nächsten Tag fand bereits die entscheidende Konferenz zwischen einer Delegation des Parlamentarischen Rates unter dem Vorsitz von Dr. Adenauer und den Militärgouverneuren statt, die ebenfalls zu einer grundsätzlichen Einigung über die noch strittigen Verfassungsprobleme führte. Der Allgemeine Redaktionsausschuss in der Besetzung Dehler (FDP), v. Mangoldt (CDU) und Zinn (SPD) übernahm die Aufgabe, das Ergebnis der deutsch-alliierten Besprechungen in den vorliegenden Entwurf einzuarbeiten. Er berücksichtigte hierbei auch die Beschlüsse des Fünfer- sowie des Siebenerausschusses, soweit diese nicht inzwischen überholt waren. Nach erneuten interfraktionellen Besprechungen wurde der zusammenfassende Entwurf des Redaktionsausschusses dem Hauptausschuss als Grundlage für eine vierte Lesung vorgelegt. Obwohl damit insgesamt über 100 Änderungsanträge eingereicht waren, konnte der Hauptausschuss diese Lesung bis auf einige Punkte, die zurückgestellt wurden, in einer Sitzung am Abend des 5. Mai abschließen. Fünf Stunden später trat bereits das telegraphisch einberufene Plenum zusammen, um die zweite Lesung des Grundgesetzes in Angriff zu nehmen. Auch hier verlief die Beratung reibungslos: Neben der redaktionellen Änderung einiger Überschriften wurden lediglich vier Artikel umformuliert. Bei der Abstimmung standen 47 Ja-Stimmen allerdings zwei Gegenstimmen der KPD und 15 Enthaltungen gegenüber. Die dritte Lesung des Grundgesetzes wurde daraufhin für den 8. Mai angesetzt und begann mit einer allgemeinen Aussprache zum Grundgesetzentwurf. Mehrere Redner erinnerten daran, daß dies der 211 212 L. D. Clay: Decision in Germany... S. 431 f. K. Adenauer: Erinnerungen 1945-1953... S. 170 f.; J. F. Golay: The Founding... S. 100 ff. 72 Jahrestag der deutschen Kapitulation und des Endes der NS-Herrschaft sei. Am 8. Mai 1945 waren die Deutschen nach den Worten von Theodor Heuss „erlöst und vernichtet in einem“213. Anschließend fand eine Einzelberatung statt, die jedoch nur noch zu geringfügigen Änderungen der vorliegenden Fassung führte. In der darauf folgenden namentlichen Schlussabstimmung wurde das Grundgesetz mit 53 gegen 12 Stimmen angenommen. Für das Grundgesetz stimmten die Abgeordneten der SPD, der CDU, der FDP sowie zwei CSU-Abgeordnete. Gegen die neue Verfassung votierten die Abgeordneten der Deutschen Partei, des Zentrums, der KPD und sechs Abgeordnete der CSU. Nachdem die Militärgouverneure am 12. Mai mit ihrem „Letter of Approval“ ihre Zustimmung gegeben hatten, wurde das Grundgesetz den Volksvertretungen der westdeutschen Länder zur Ratifizierung vorgelegt. Da alle Länderparlamente bis auf den Bayerischen Landtag zustimmten, konnte es am 23. Mai 1949 in Bonn feierlich unterzeichnet werden und trat mit seiner gleichzeitigen Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt in Kraft. 213 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 542 73 IV. Vorentscheidungen oder offene Fragen? Die Entstehung des Grundgesetzes kann nur unter Berücksichtigung der innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen angemessen beschrieben werden. Eine Interpretation des Parlamentarischen Rates muss vor allem den Spielraum seiner Mitglieder berücksichtigen, weil die politische Relevanz der Grundgesetzberatungen nur auf diese Weise zu bewerten ist. Hierbei geht es um die Frage: War der Parlamentarische Rat eine Versammlung, welche die sozialen Strukturen Westdeutschlands beeinflussen wollte und konnte, oder hatte er nur die Aufgabe, für die bereits getroffenen Weichenstellungen den verfassungsmäßigen Rahmen zu schaffen? Im ersten Fall wäre er als ein politisches Gremium anzusehen, im zweiten Fall als eine Zusammenkunft von juristischen Experten, die für ein bereits bestehendes Gebäude den verfassungsrechtlichen “Überbau” zu erarbeiten hatten. Die Beantwortung dieser Frage ist auch in der Zeitgeschichtsforschung und in der Politikwissenschaft umstritten. Mehrere Autoren vertreten die Präjudizierungsthese. Die Besatzungsmächte und die Wirtschaftspolitik der Zweizonen-Verwaltung haben demnach bewirkt, dass die wichtigsten Entscheidungen für die weitere Entwicklung Westdeutschlands bereits vor dem Zusammentritt des Parlamentarischen Rates getroffen wurden214. Andererseits lässt sich nachweisen, dass grundlegende Fragen der Sozial- und Wirtschaftsordnung während der Grundgesetzberatungen noch in der Schwebe waren und erst nach der Bundestagswahl vom August 1949 entschieden wurden. Diese Offenheit der Situation soll im folgenden anhand von vier Beispielen erläutert werden. Die Außenpolitik der vier Besatzungsmächte wird in diesem Zusammenhang nicht ausführlicher behandelt. Aber auch sie war 1948/ 49 aus der Sicht der deutschen Politiker keineswegs so eindeutig, wie man aus heutiger Perspektive vermutet. Der Inhalt des angekündigten Besatzungsstatuts blieb z.B. bis zum Ende der Grundgesetzberatungen unbestimmt. Schwerwiegender war die Unsicherheit über die Zukunft Berlins, denn die sowjetische Blockade des Westteils der Stadt begann bereits vor dem Zusammentritt des Parlamentarischen Rates und wurde erst nach Fertigstellung des Grundgesetzes aufgehoben. Die Zuspitzung des Ost-West-Konflikts hat auf den Inhalt des Grundgesetzes einen sehr viel geringeren Einfluss gehabt als in der Literatur oft behauptet wird. Von großer Bedeutung für die westdeutschen Politiker war jedoch die Möglichkeit, dass Großbritannien und die USA den Plan der Weststaatsgründung wieder aufgaben zugunsten einer “Trizonenverwaltung” mit Frankreich oder eines erneuten Kompromissversuchs mit Moskau. Erste Warnungen in diese Richtung gab es bereits während des Herrenchiemsee-Konvents, der im August 1948 einen Grundgesetzentwurf formulierte. Der amerikanische Verbindungsoffizier Carl J. Friedrich erklärte einem Mitglied des Konvents, die Grundgesetzberatungen sollten weitergeführt werden, obwohl aufgrund der seit 2. August 1948 laufenden 214 H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln- Opladen 1970, insbes. S. 66 ff.; H. Thum: Mitbestimmung in der Montanindustrie. Der Mythos vom Sieg der Gewerkschaften, Stuttgart 1982, S. 30 f.; M. Held: Sozialdemokratie und Keynesianismus, Frankfurt/M.-New York 1982, S. 207 ff.; G. J. Trittel: Von der “Verwaltung des Mangels” zur “Verhinderung der Neuordnung”...in: C. Scharf/ H.-J. Schröder (Hrsg.): Die Deutschlandpolitik Großbritanniens und die britische Zone 1945-1949, Wiesbaden 1979, S. 132 u.147; W. Abelshauser; Die verhinderte Neuordnung? Wirtschaftsordnung und Sozialstaatsprinzip in der Nachkriegszeit (Politische Bildung 9, 1976, Heft 1, S. 53 - 72), S. 54 74 Viermächtegespräche in Moskau mit einer Genehmigung durch die Militärgouverneure möglicherweise nicht zu rechnen sei215. Carlo Schmid (SPD), der ebenfalls am Herrenchiemsee-Konvent teilnahm, erklärte deshalb einen Monat später auf dem Parteitag in Düsseldorf: “Welcher Schlag würde der deutschen Demokratie versetzt, wenn sich in Moskau oder anderswo die vier Besatzungsmächte auf eine andere Politik einigen würden als die des Londoner Abkommens...”. Der amerikanische Militärgouverneur Clay berichtete dementsprechend am 18. September 1948 nach Washington, der Parlamentarische Rat gehe “very cautiously” vor und sei wegen der Haltung der drei Westmächte gegenüber der Sowjetunion besorgt216. Die Unsicherheit der westdeutschen Politiker über die Deutschlandpolitik der vier Besatzungsmächte blieb auch in den folgenden Monaten bestehen, zumal über den Inhalt des Besatzungsstatuts wenig zu erfahren war. Ende Januar 1949 erhielten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates erneut die Information, in Washington habe das Interesse an der Errichtung einer westdeutschen Regierung nachgelassen. Konrad Adenauer und Jakob Kaiser befürchteten, eine sowjetisch-amerikanische Annäherung in der Berlin-Frage werde “auf unserem Buckel” erfolgen217. 1. Parteipolitik und Personalentscheidungen im Frankfurter Wirtschaftsrat Als sich abzeichnete, dass die Pariser Außenministerkonferenz vom April/Mai und Juni/Juli 1946 für Deutschland ohne Ergebnis enden würde, erklärte der amerikanische Außenminister Byrnes die Bereitschaft der USA, ihre Besatzungszone mit jeder anderen Zone zum Zwecke einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik zusammenzuschließen. Dieses Angebot wurde im Alliierten Kontrollrat der vier Mächte wiederholt und von der britischen Regierung angenommen. In den letzten Monaten des Jahres 1946 fanden zahlreiche Gespräche zur Organisation der “Bizone” zwischen den beiden Besatzungsmächten und den deutschen Verwaltungen statt. Die hektische Vorbereitung des Zonenzusammenschlusses hatte zur Folge, dass deutsche Bizonen-Behörden bereits tätig waren, bevor das entsprechend englisch-amerikanische Abkommen am 2. Dezember 1946 in New York unterzeichnet wurde und zu Jahresbeginn 1947 in Kraft trat. Die Hauptmotive für diesen Schritt bildeten die kritische Wirtschafts- und Ernährungslage in Deutschland sowie der Erkenntnis, dass bei einer weiteren Aufteilung in vier separate Wirtschaftsgebiete keine Besserung zu erwarten sei. Vor allem die britische Regierung war bei der Finanzierung des Defizits ihrer Besatzungszone an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gegangen und hoffte, die USA würden den größten Teil der gemeinsamen Kosten übernehmen. Die Zeit der Zweizonen-Wirtschaftsverwaltung ist vielschichtig und bedarf einer sorgfältigen Analyse. Dass es sich um eine reine Wirtschaftsverwaltung handelte, war die Arbeitshypothese der Briten und Amerikaner. Die Bizone sollte auf keinen Fall als politischer Zusammenschluss erscheinen, da man eine gemeinsame Deutschlandpolitik der vier Besatzungsmächte oder ein gemeinsames Vorgehen mit Frankreich noch nicht ausschließen wollte. In Wirklichkeit trieben die Deutschen im Rahmen dieser Organisationsstruktur ungeniert Politik, und zwar nicht nur Wirtschaftspolitik, sondern auch Partei-, Personal- und Koalitionspolitik. Sie ließen sich hiervon auch durch die dringende Mahnung der 215 Dr. Beyerle, HCh - Unterausschuß I, 5. Sitzung vom 19.8. 1948. 216 Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der SPD vom 11. bis 14. September 1948 in Düsseldorf, Berlin - Bonn 1976, S. 47 f.; J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General Lucius D. Clay. Germany 19451949, Vol. II, Bloomington - London 1974, S. 859. 217 Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, bearb. von R.Salzmann, Stuttgart 1981, S. 366 f. und 399 f.; Die Unionsparteien 1946-1950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU Deutschlands und der Konferenzen der Landesvorsitzenden, bearb. von B. Kaff, Düsseldorf 1991, S. 413. 75 Militärgouverneure zur konstruktiven Arbeit nicht abhalten. Andererseits sind die Vorgänge und Entscheidungen in den Frankfurter Institutionen der Bizone unlösbar mit dem Beginn des Wirtschaftswunders verbunden. Die Neigung zur Legendenbildung ist deshalb nicht nur in populärwissenschaftlichen Darstellungen und in den Berichten der Zeitzeugen, sondern auch in der Zeitgeschichtsschreibung spürbar. Die wirtschaftspolitische Entwicklung von 1948 bis 1951 erscheint verkürzt und ineinandergeschoben. Der genaue Ablauf der Ereignisse muss gelegentlich zurechtgerückt werden, damit Ursache und Wirkung zu erkennen sind. Angesichts der politischen und wirtschaftspolitischen Komplexität ist es sinnvoll, die Bizone mit dem Blick auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates unter zwei Aspekten genauer zu betrachten: Auf der einen Seite haben die partei- und personalpolitischen Entscheidungen in Frankfurt die spätere Entwicklung der Bundesrepublik über den wirtschaftspolitischen Bereich hinaus maßgebend geprägt. Andererseits ist der Ablauf der Ereignisse im Wirtschaftsrat wegen der Neigung zu vorschnellen Interpretationen genauer darzustellen. Außerdem ist die damalige Bewertung der Bizonen-Politik aus deutscher und alliierter Sicht zu berücksichtigen. Nach den Vorstellungen der beiden Militärregierungen wurden im Herbst 1946 für die beiden Zonen fünf einheitliche deutsche Verwaltungen für Wirtschaft, Ernährung und Landwirtschaft, Verkehr, Finanzen sowie für Post- und Fernmeldewesen gegründet. Jede der fünf Verwaltungen unterstand einem Verwaltungsrat, bestehend aus den entsprechenden Fachministern der Länder in der britischen und amerikanischen Zone. Dieser wählte einen Vorsitzenden, der die Funktion des Behördenchefs der Verwaltung wahrnahm. Bereits bei den ersten Wahlen der fünf Vorsitzenden spielten die Parteien eine maßgebende Rolle, obwohl auch parteilose Kandidaten gewählt wurden. Besonders umstritten war die Wahl des hessischen Wirtschaftsministers Rudolf Mueller zum Vorsitzenden der Wirtschaftsverwaltung. Die SPD hatte hierfür Viktor Agartz, den Leiter des Zentralamts für Wirtschaft in der britischen Zone vorgeschlagen. Der politische Charakter dieser Entscheidung kommt im Kommentar Konrad Adenauers deutlich zum Ausdruck, denn der damalige Vorsitzende der CDU in der britischen Zone erklärte wenige Tage später, Mueller sei parteilos, stehe aber der CDU nahe. Mit seiner Wahl seien die “Sozialisierungsbestrebungen des Herrn Agartz und der SPD und der britischen Regierung wohl erledigt”218. Auch bei der Wahl der anderen Vorsitzenden-Posten kamen die Sozialdemokraten nicht zum Zuge. Sie wurden von Vertretern der FDP (Mattes, Dietrich), der CDU (Blank) oder von Parteilosen (Schiller) besetzt. In den folgenden Monaten änderte sich die Zusammensetzung des aus den Wirtschaftsministern der Länder bestehenden Verwaltungsrats für Wirtschaft zugunsten der SPD. Im Januar 1947 gelang es ihr sogar, die Wirtschaftsministerien in allen Ländern der britischen und amerikanischen Zone zu besetzen. Mueller wurde daraufhin wieder abgelöst und durch den Sozialdemokraten Viktor Agartz ersetzt219. Die Personalpolitik der Parteien spielte demnach in Frankfurt bereits eine dominierende Rolle bevor Ludwig Erhard dort die politische Bühne betrat, und bevor die Währungsreform in Sichtweite kam. Die Bizonen-Verwaltung war in ihrer ersten Form allerdings wenig effektiv. Die lag nicht nur an der Aufteilung der einzelnen Verwaltungen auf fünf verschiedene Städte, sondern auch an der unübersichtlichen Kompetenzverteilung, durch die vorübergehend der wirtschaftspolitische Einfluss der Länder wieder verstärkt wurde. In London und Washington hielt man jedoch daran fest, die Bizone für den Beitritt weiterer Besatzungszonen offen zu halten und den Eindruck eines separaten politischen Zusammenschlusses in Westdeutschland zu vermeiden. Zu einer Reorganisation der Bizone erklärten sich 218 Konrad Adenauer und die CDU in der britischen Besatzungszone 1946-1949, Bonn 1975, S. 190 219 G. Ambrosius: Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945-1949, Stuttgart 1977, S. 61 ff. 76 die beiden Besatzungsmächte deshalb erst nach dem “Hungerwinter” 1946/47 und nach der ergebnislosen Moskauer Außenministerkonferenz vom März/April 1947 bereit. Die Organisationsform der “zweiten Stufe” trug bereits die wesentlichen Merkmale eines Regierungssystems: Als Zweizonen-Parlament wurde ein Wirtschaftsrat eingerichtet. Er hatte Gesetzgebungsbefugnisse und wählte die Direktoren. Seine 52 Mitglieder wurden allerdings von den Landtagen und damit indirekt gewählt. Der Exekutivrat war ein Zwitter zwischen Exekutive und Länderkammer. Er bestand aus je einem Vertreter der acht Landesregierungen, sollte die Ausführung der Beschlüsse des Wirtschaftsrats überwachen und besaß das Vorschlagsrecht für die Wahl der Direktoren. Diese standen an der Spitze der nach wie vor fünf Verwaltungen, deren Arbeit vom Exekutivrat koordiniert werden sollte220. Im Bizonen-Parlament, dem indirekt gewählten Wirtschaftsrat, waren CDU/CSU und SPD mit je 20 Abgeordneten gleich stark vertreten. Die liberalen Landesparteien verfügten über vier, die KPD über drei, das Zentrum und die Deutsche Partei über je zwei und die WAV aus Bayern über einen Sitz. Im Exekutivrat dagegen hatten die Vertreter der SPD sechs Stimmen, die Unionsparteien jedoch nur zwei. Der angesichts dieser Konstellation zu erwartende Disput über die Person des Wirtschaftsdirektors sollte sich als eine folgenschwere Weichenstellung für die spätere politische Entwicklung der Bundesrepublik erweisen: Die beiden ersten Vorschläge des Exekutivrats nominierten für die Bereiche Wirtschaft und Finanzen Kandidaten der SPD, für die drei übrigen Direktorenstellen Kandidaten der CDU. Nachdem die beiden SPD-Kandidaten für das Wirtschaftsressort (Kubel und Potthoff) am 24. Juli 1947 mit 27:21 Stimmen vom Wirtschaftsrat abgelehnt worden waren, erklärte der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Schoettle, seine Partei werde alle Kandidaten zurückziehen und in die Opposition gehen. Der Exekutivrat legte daraufhin mit Billigung der SPD eine dritte Liste bestehend aus CDU/CSUKandidaten vor, die mit 26, bzw. 27 Stimmen vom Wirtschaftsrat gewählt wurden. Das Amt des Wirtschaftsdirektors fiel an Johannes Semler (CSU)221. Nach den bisher vorliegenden Dokumenten betrachtete die SPD die Besetzung des Wirtschaftsdirektors als “conditio sine qua non” für ihre “Regierungsbeteiligung” auf Zweizonen-Ebene. Sie hatte schon vor Beginn der Direktorenwahlen dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU “gedroht”, bei Ablehnung ihres Kandidaten für dieses Amt in die Opposition zu gehen. Von Seiten der CDU/CSU wurde offenbar als Kompromiss vorgeschlagen, die SPD solle für das Amt des Wirtschaftsdirektors auf die Wirtschaftsministerien in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen verzichten. Der Präsident des Wirtschaftsrates Köhler (CDU), sprach sich in der Unionsfraktion sogar dafür aus, das Amt des Wirtschaftsdirektors den Sozialdemokraten zu überlassen. Sowohl Adenauer, der zweimal zu Fraktionssitzungen nach Frankfurt reiste, als auch Schumacher drängten jedoch auf ein kompromisslose Haltung. Adenauer wollte nicht nur die Besetzung des Wirtschaftsressorts erreichen, sondern auch einen klaren Trennungsstrich zur SPD ziehen. Er erwartete hiervon die Stärkung seiner eigenen Position in der Auseinandersetzung mit dem christlich-sozialen Flügel der CDU in der britischen Zone. Schumacher setzte in der damaligen Situation auf die Oppositionsrolle und erhoffte sich hiervon Vorteile bei zukünftigen Wahlen. Einem Kritiker des Oppositionskurses schrieb er wenige Tage nach der ersten Frankfurter Direktorenwahl: “Wir sind jetzt in der Periode der zukünftigen Majoritätsbildung. Dieser Kampf ist noch längst nicht entschieden. Gleichgültig, ob das ganze Deutschland oder sein Westen zuerst zum Zuge kommt, werden wir in absehbarer Zeit die Umwandlung des Wirtschaftsrates in ein politisches Parlament erleben. Für diesen 220 H. Potthoff/ R. Wenzel: Handbuch politischer Institutionen und Organisationen 1945-1949, Düsseldorf 1983, S. 188 ff. 221 Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebiets 1947-1949, Band 2, München-Wien 1977, 2. Vollversammlung vom 23./24. Juli 1947, S. 25-39 Augenblick müssen wir gerüstet sein.”222. 77 In der praktischen Arbeit des Wirtschaftsrates wurde der Gegensatz zwischen den beiden großen Parteien durch den Druck der Probleme gemildert. Die CDU/CSU-Direktoren konnten zwar in der Regel mit der Unterstützung der FDP und der Deutschen Partei rechnen, verfügten damit aber noch nicht über eine arbeitsfähige Mehrheit. Die SPD-Fraktion bekannte sich ausdrücklich zur konstruktiven Opposition und war bestrebt, die konkreten Entscheidungen im Wirtschaftsrat mitzugestalten. Von der sachlichen Seite her war diese Kooperationspolitik unproblematisch, da es sich nicht um grundlegende wirtschaftliche Entscheidungen, sondern um eine Verbesserung des Zuteilungs- und Lenkungsmechanismus, um die optimale Verwaltung des akuten Mangels handelte. Aus politischer Sicht erwies sich die “konstruktive Opposition” allerdings nicht als widerspruchsfrei. Acht Monate später erklärte der SPDFraktionsvorsitzende Schoettle in der Diskussion vor der Wahl Ludwig Erhards zum Wirtschaftsdirektor: “Wir haben uns in vielen Fällen so intensiv an der Erarbeitung der Gesetzestexte beteiligt, dass mancher von unseren Freunden im Lande den Eindruck hatte, dass wir die Arbeit machen und die anderen die Regierung darstellen”223. Durch die erneute Reform der Bizonen-Strukturen im Februar 1948 wurde die politische Konstellation zunächst nicht verändert. Im Wirtschaftsrat saßen jetzt doppelt so viele Abgeordnete wie vorher. Der Verteilungsschlüssel nach Ländern und Parteien blieb jedoch gleich, so dass sich die Mehrheitsverhältnisse nicht verschoben. Der Exekutivrat wurde durch einen Länderrat ersetzt, der aufgrund seiner geänderten Kompetenzen als zweite Kammer anzusehen war. Er bestand aus je zwei Vertretern der Landesregerungen, hatte das Recht der Gesetzesinitiative sowie ein aufschiebendes Vetorecht gegen Gesetzesvorhaben des Wirtschaftsrats. Die fünf Direktoren der Verwaltungen wurden zu einem regierungsähnlichen Verwaltungsrat zusammengefasst, an dessen Spitze ein Oberdirektor stand. Die Sozialdemokratische Partei beschloss bereits vor Konstituierung des erweiterten Wirtschaftsrats, in der Opposition zu bleiben. Über die Besetzung des Oberdirektors gab es lange Diskussionen innerhalb der CDU/CSU sowie mit der FDP, die den früheren Reichsminister Dietrich als eigenen Kandidaten präsentierte. Schließlich wurde der Kölner Oberbürgermeister Hermann Pünder (CDU) gewählt. Er erhielt allerdings nur 40 Stimmen von den insgesamt 104 Abgeordneten des Wirtschaftsrats. Seine Bestätigung im Länderrat erfolgte mit der klaren Mehrheit von 14 zu zwei Stimmen, d. h. mit der Zustimmung mehrerer sozialdemokratischer Vertreter. Die Direktoren der Verwaltungen wurden in ihren Ämtern bestätigt. Lediglich für das Wirtschaftsressort musste ein neuer Direktor gefunden werden: Der CSUWirtschaftdirektor Johannes Semler hatte am 4. Januar 1948 in Erlangen auf einer Parteiveranstaltung die amerikanische Besatzungsmacht kritisiert und die Maislieferungen aus den USA als “Hühnerfutter” bezeichnet. Er wurde daraufhin trotz aller Rechtfertigungsversuche von den Militärgouverneuren Clay und Robertson wegen “malicious opposition to the Occupying Powers” entlassen224. Die Suche nach einem Nachfolger für Semler verlief ähnlich wechselvoll wie die Nominierung des neuen Oberdirektors. In der CDU/CSU-Fraktion zog man zunächst fünf Kandidaten in die engere Wahl, von denen der DP-Politiker und spätere Bundesverkehrsminister Seebohm favorisiert wurde. Die FDP trat für den parteilosen liberalen Wirtschaftsfachmann Ludwig Erhard ein und erhob dessen Wahl zur Bedingung für die weitere Zusammenarbeit mit der CDU/CSU. Erhard war bis Ende 1946 bayerischer 222 Vgl. die Details in: Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone ...S. 368 ff.; Die CDU/CSU im Frankfurter Wirtschaftsrat. Protokolle der Unionsfraktion 1947-1949, Düsseldorf 1988, S. 28 und 43-55 sowie C. Stamm (Hrsg.): Die SPD-Fraktion im Frankfurter Wirtschaftsrat 1947-1949, Bonn 1993, S. 7 ff. Hier S. 18 f. das zitierte Schreiben Schumachers an Berger vom 7. 8. 1947. 223 G. Ambrosius: Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft... S. 141 f.; Wörtliche Berichte... 12. Vollversammlung vom 2. 3. 1948, S. 331 224 W. Benz: Von der Besatzungsherrschaft zur Bundesrepublik. Stationen einer Staatsgründung 1946-1949, Frankfurt 1984, S. 95 ff. und J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General L. D. Clay. Germany 1945-1949, Bloomington-London 1974, Vol II, S. 528 78 Wirtschaftsminister gewesen und leitete zu Beginn des Jahres 1948 die “Sonderstelle Geld und Kredit”, welche sich mit der Vorbereitung der Währungsreform befasste. Aus Sicht der FDP war er in fachlicher und politischer Hinsicht geeignet und erklärte sich auch ohne Zögern bereit, das Amt des Wirtschaftsdirektors zu übernehmen. Trotzdem verlief seine Wahl nicht reibungslos: Jakob Kaiser reiste aus Berlin an, um die CDU/CSU-Fraktion von der Wahl des liberalen Wirtschaftsfachmanns abzubringen. Zugunsten der Zusammenarbeit mit der FDP verzichtete die CDU/CSU schließlich auf die Nominierung Seebohms und entschied sich für Erhard. “Die verschiedentlich gehegten Bedenken wurden zugunsten der Fraktionsdisziplin zurückgestellt” - heißt es im Fraktionsprotokoll225. Die FDP besaß in dieser Situation ein wirksames Druckmittel, denn nur mit ihrer Zustimmung war es möglich, die leeren Stimmzettel der SPD und der KPD in einer Geschäftsordnungsdebatte für ungültig erklären zu lassen. Keiner der Direktoren erreichte bei der Wahl die absolute Mehrheit von 53 Stimmen. Ludwig Erhard wurde am 2. März 1948 mit 48 Stimmen zum Wirtschaftsdirektor gewählt226. Die Wahl Erhards verstärkte die Bindungen zwischen der CDU/CSU und der FDP im Wirtschaftsrat. Eine formelle Koalition wurde jedoch nicht geschlossen. Der Fraktionsvorsitzende der Union, Holzapfel, rechnete lediglich mit einer “teilweisen Unterstützung” von Seiten der Freien Demokraten. Das wichtigste Ergebnis der Wahl des liberalen Wirtschaftsdirektors war die Gewichtsverlagerung in der Unionsfraktion zugunsten des Wirtschaftsflügels. Die Reaktion in der CDU/CSU auf die Grundsatzrede Erhards vor dem Wirtschaftsrat am 21. April 1948 fiel eher zurückhaltend aus. Bezeichnend war, dass in der anschließenden Aussprache kein Gewerkschaftsvertreter aus der Unionsfraktion das Wort ergriff. Mit der Wahl Erhards vergrößerte sich auch der Abstand zwischen den beiden großen Parteien. Der SPDFraktionsvorsitzende erklärte: “Die Fronten sind klar” und schloss jede Verständigung mit der CDU/CSU aus. Diese vorschnelle Polarisierung unterstellte dem “Regierungslager” jedoch eine Homogenität, die zum damaligen Zeitpunkt keineswegs vorhanden war. Die forschen wirtschaftspolitischen Schritte Erhards unmittelbar vor und nach der Währungsreform vom Juni 1948 wurden innerhalb der CDU/CSU mit Distanz beobachtet. Dies gilt auch für Konrad Adenauer, der in einem Brief an Erhard vom 9. August seine Besorgnis wegen der “Preissteigerungen” äußerte. Er ermahnte den Wirtschaftsdirektor, auch an die Folgen für die bevorstehenden Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen zu denken227. Als der Preisauftrieb anhielt, nahmen die kritischen Stimmen aus dem Unionslager zu. Paul Bausch, der stellvertretende CDU-Vorsitzende in Nord-Württemberg, forderte z. B. Ende August 1948 einen Kurswechsel in der Frankfurter Politik und sprach sich für eine Zusammenarbeit mit der SPD aus. Erhard wurde eingeladen, seine Politik auf dem Parteitag der CDU in der britischen Zone am 29. August zu erläutern. Er interpretierte hier die Preissteigerungen als Übergangserscheinungen und stellte ein deutsches Utility-Programm in Aussicht, welches die wichtigsten Gebrauchsgüter zu mäßigen Preisen auf den Markt bringen sollte. Erhard bezeichnete bei dieser Gelegenheit sein Konzept erstmals als “soziale verpflichtete Marktwirtschaft” und vertrat die Auffassung, die Einkommensunterschiede könnten in Zukunft “nur relativ schwach” sein, blieben aber als Leistungsanreiz unverzichtbar. Er verteidigte in seinem Referat die Warenhortung als notwendiges Element der Währungsreform und stellte in Aussicht, dass die “Sünder” im Zuge des Lastenausgleichs “ihrer Früchte wieder beraubt werden”. Die Reaktion des CDU-Zonenparteitags auf die Rede Erhards war offenbar gemischt: Das Protokoll verzeichnet mehrfach Zustimmung; andererseits gab es skeptische Kommentare, insbesondere von Vertretern der Sozialausschüsse. Johannes Albers warnte in seinem Korreferat vor schweren sozialen 225 Die CDU/CSU im Frankfurter Wirtschaftsrat ... S. 157 226 V. Hentschel: Ludwig Erhard . Ein Politikerleben, München 1996, S. 53 f.; Wörtliche Berichte ... 12. Vollversammlung vom 2. März 1948, S. 322-342 227 Wörtliche Berichte ... 14. Vollversammlung am 21. 4. 1948, S. 436-455; Adenauer. Briefe 1947-1949, o. O., o. J., S. 287 79 Konflikten, falls die Preis den Löhnen “davonlaufen”. Die Bevölkerung müsse zu der Überzeugung kommen, “dass es nicht nur für einzelne Kreise, sondern für alle aufwärts geht”. Bezeichnend ist auch, dass Konrad Adenauer in seinem ausführlichen Einführungsreferat sowie in seinem Schlusswort das Thema Wirtschaftspolitik aussparte und Ludwig Erhard nicht einmal erwähnte. Die Resolution des Parteitags sprach sich zwar für die “konsequente Fortsetzung des von der CDU im Wirtschaftsrat eingeschlagenen Weges” aus, monierte aber “Missstände in der Preisgestaltung” und forderte die Bekämpfung des Preiswuchses228. Dass Adenauer Erhards Rede als “ausgezeichnete Empfehlung für den Wahlkampf” bezeichnete und ihren Druck veranlasste, ist eine Legende229. Auch das Urteil eines Adenauer-Biographen: ”Erhard kommt großartig an”, lässt sich angesichts des Protokolls kaum nachvollziehen230 In Frankfurt kritisierte vor allem der Länderrat mit Unterstützung der CDU/CSU-Minister die Preisentwicklung. Die Länderkammer der Bizone geriet hierdurch zunehmend in Opposition zur Mehrheit des Wirtschaftsrates, die Erhard weiterhin unterstützte. In mehreren Landtagen fanden im Herbst 1948 wenige Wochen nach Zusammentritt des Parlamentarischen Rates - Preisdebatten statt. Die Kritik aus der bayerischen CSU an Erhard und am Ernährungsdirektor Schlange-Schöningen hatte in dieser Situation einen nicht zu überhörenden verfassungspolitischen Beigeschmack, denn sie verband sich mit der Kritik am “Frankfurter Zentralismus”231. Auch außerhalb der Parteien und Parlamente sank die Zustimmung zur Politik des Wirtschaftsdirektors: In mehreren Städten demonstrierten Tausende gegen die “Wucherpreise”. Am 30. Oktober 1948 kam es in Stuttgart nach einer Gewerkschaftsveranstaltung zu Ausschreitungen, bei denen Scheiben zu Bruch gingen und amerikanische Autos mit Steinen beworfen wurden. Der US-Militärgouverneur Clay reagierte mit einem mehrtägigen Ausgehverbot für die gesamte Bevölkerung der Stadt232. Die Gewerkschaften planten im Herbst 1948 einen Generalstreik aus Protest gegen die Frankfurter Wirtschaftspolitik. Die Stuttgarter Demonstrationen und die Reaktion Clays waren schlechte Vorzeichen für dieses Unternehmen, denn die Gewerkschaftsführung befürchtete Auflagen oder sogar ein Verbot durch die Besatzungsmächte. Nach einer Besprechung am 8. November stimmten die beiden Militärgouverneure Clay und Robertson zu, “da die Demonstration gewerkschaftlichen und keinen politischen Charakter habe”. Der Streik fand am 12. November 1948 statt und war auf 24 Stunden befristet. Kundgebungen und Versammlungen wurden mit Rücksicht auf die Stuttgarter Vorgänge nicht angesetzt. Ein Unterstützungstelegramm des FDGB aus der sowjetischen Zone, welches den “Einsatz” von 9 Millionen Gewerkschaftlern gegen die “Reaktion” anbot, hatte vor dem Hintergrund der Berliner Blockade den entgegengesetzten Effekt. Wegen der Abwertung ihrer Guthaben durch die Währungsreform konnten die Gewerkschaften auch keine Streikunterstützung zahlen. Trotz der einschränkenden Bedingungen beteiligten sich in der Bizone mehr als 9 Millionen Arbeitnehmer und damit etwa 80 % der Beschäftigten am Streik. Der Streikaufruf der Gewerkschaften forderte die Verkündung des wirtschaftlichen Notstandes und hatte durchaus politischen Charakter. Ein Lastenausgleich, der den Sachwertbesitz und die Sachwertgewinne aus der Währungsreform erfasst, stand ebenso auf der Wunschliste wie die Überführung der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum und die gleichberechtigte Mitwirkung der Gewerkschaften in 228 V. Hentschel: Ludwig Erhard ... S. 81 f. sowie die Texte in: Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone.... S. 581-713 229 So T. Eschenburg u. a.: Jahre der Besetzung 1945-1949, Stuttgart-Wiesbaden 1983, S. 437 f. 230 H.-P. Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 602 231 G. Ambrosius: Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft... S. 186 f. 232 L. D. Clay: Decision in Germany, Westport 1970 (Reprint von 1950), S. 296 f. 80 allen Organen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung233. Im Dezember 1948 vertraten nach einer Befragung 70 % der Westdeutschen die Auffassung, die Behörden sollten die Preise wieder kontrollieren. Erhard war aufgrund der Preissteigerungsrate, wie sein Biograph unter Berufung auf die Umfrageergebnisse des Allensbacher Instituts feststellt, “unversehens zum unpopulärsten Mann in Deutschland” geworden234. Auch die Unterstützung der Parteien, die für die Zweizonen-Wirtschaftspolitik verantwortlich zeichneten, ließ in der Bevölkerung zu wünschen übrig: Die seit Januar 1946 durchgeführten Befragungen der amerikanischen Militärregierung in ihrer Zone zeigen einen Rückgang der CDU/CSU Befürworter von 46 % im März 1946 auf 24 % Anfang August 1948. Bis Ende August sank die Unterstützung der Unionsparteien erneut bis auf 20 %. Auch die SPD-Kurve in der US-Zone war leicht rückläufig, nachdem die Partei im Januar/ Februar 1947 mit 38 und 37 % ihren Höchststand erreicht hatte. Im August/ September 1948 lagen die Sozialdemokraten aber 1 - 3 % vor den Unionsparteien235. Die Umfragen der Besatzungsmacht waren “restricted” und den deutschen Politikern kaum bekannt. Diese orientierten sich in erster Linie an Wahlergebnissen. Nachdem der Parlamentarische Rat seine Beratungen aufnahm, fanden zunächst am 17. Oktober 1948 in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen statt. Die CDU blieb hier stärkste Partei, musste aber gegenüber den Kommunalwahlen von 1946 deutliche Verluste hinnehmen (-7,4 % in den Gemeinden, -5,4 % in den Ämtern und -8,4 % in den Kreisen). Insgesamt verlor die CDU ca. 6.000 Mandate. Die SPD schnitt 3 - 4 % besser als bei den 1946er Wahlen ab und gewann ca. 1.500 Mandate hinzu. Die Zentrumspartei und die FDP konnten ihren Stimmenanteil teilweise bis auf 12,2 % bzw. 6,9 % steigern. Bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein, die eine Woche später stattfanden, konnte die CDU ihren Stimmenanteil in den Kreisen leicht und in den Gemeinden deutlich verbessern (+5,6 %). Die SPD hielt ihre Position und lag gleichauf mit den Christdemokraten. Die Länder der französischen Besatzungszone wählten am 14. November 1948 ihre Gemeinde- und Kreisvertretungen neu. Im südlich gelegenen Baden verlor die CDU als BCSV ca. 10 % der Stimmen und ca. 1000 Mandate. Die SP (auf französisches Insistieren noch ohne D) gewann 6,9 % und 8 % hinzu, während die Demokraten (später FDP) mit 13,6 % und 19,1 % ihre starke Position behielten. In Württemberg - Hohenzollern waren die CDU Verluste mit ca. 20 % noch deutlicher: Ihr Anteil bei den Gemeinderatswahlen sank von 38,3 % im Jahre 1946 auf 20 %. In den Kreisen, wo die Wahl am 5. Dezember nachgeholt wurde, kam die CDU nach 62,8 % für 1946 nur noch auf 41 %. Die SPD musste in Württemberg-Hohenzollern leichte Verluste hinnehmen, bewegte sich aber mit 10,5 % und 15,2 % auf niedrigem Niveau. Im dritten Land der französischen Besatzungszone, in Rheinland-Pfalz, gab es am 14. November ebenfalls deutliche CDUVerluste: von 45,2 % auf 26,3 % in den Gemeinden und von 54,9 % auf 44,6 % in den Kreisen. Die Sozialdemokraten kamen in den Gemeinden auf 25,2 % (plus 0,7 % gegenüber 1946) und in den Kreisen 34,1 % (plus 3,9 %).Bei den Kommunalwahlen in Niedersachsen am 28. November 1948 war die CDU wieder erfolgreich und verbesserte sich in den Gemeinden von 15 % im Jahre 1946 auf 22,7 %. Auch in den Kreisen schnitt sie mit 24,3 % etwas besser ab als 1946 (22,5 %). Die SPD verzeichnete hier leichte Verluste, lag aber mit 39, 6 % (Kreistage) und 36,4 % (Gemeinden) immer noch deutlich vor der Union. Bemerkenswert war in Niedersachsen das gute Resultat der NLP (später Deutsche Partei) mit 19,1 % bzw. 20,0 %. Den Schlusspunkt für 1948 setzten die Stadt- und Bezirksverordnetenwahlen in West-Berlin, das damals durch die Luftbrücke versorgt wurde: Am 5. Dezember gewann die SPD hier 64 % der Stimmen und steigerte sich gegenüber 1946 um nahezu 16 %. Die CDU kam auf ca. 19 % und musste gegenüber 233 G. Beier: Der Demonstrations- und Generalstreik vom 12. November 1948, Frankfurt/M.- Köln 1974, S. 34 ff.; E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung 1945-1952, Frankfurt 1970, S. 141 ff. 234 V. Hentschel: Ludwig Erhard... S. 74; E. Noelle/ E. P. Neumann: Jahrbuch der öffentlichen Meinung 19471955, Allensbach 1956, S. 154; W. A. Boelcke: Die Kosten von Hitlers Krieg, Paderborn 1985, S. 202 f. 235 A. J. Merritt/ R. L. Merritt: Public Opinion in Occupied Germany, Urbana usw. 1970, S. 48 f. 81 der vorangehenden Wahl Verluste von etwa 2,5 % hinnehmen. Bemerkenswert beim Berliner Ergebnis ist das gute Abschneiden der FDP, deren Wählerschaft von 9,3 % bzw. 9,4 % im Jahre 1946 auf 16,1 % anstieg236. In den ersten Monaten der Bonner Grundgesetzberatungen bestand demnach in den wichtigen Fragen der Koalitionspolitik, der Wahlchancen und der Wirtschaftpolitik eine offene Situation: Die Zusammenarbeit von CDU/CSU, DP und FDP im Zweizonen-Wirtschaftsrat erscheint aus späterer Sicht zwar als Vorentscheidung. Im Herbst 1948 betrachteten aber die Politiker aller Parteien die Frankfurter Wirtschaftspolitik mit Vorbehalten. Der parteilose Wirtschaftsdirektor Erhard war in der CDU/CSU umstritten, und die Fortsetzung der Zusammenarbeit von Unionsparteien, Deutscher Partei und den Liberalen im Wirtschaftsrat war keineswegs sicher. Die Deutsche Partei kündigte Ende August 1948 sogar ihre Fraktionsgemeinschaft mit der Union und begründete dies mit Differenzen in der Agrar- und Sozialpolitik237. Im Grunde hatte nur die SPD eindeutig Position bezogen, wenn man von der grundsätzlich ablehnenden Haltung der beiden KPD-Abgeordneten im Wirtschaftsrat absieht. Bei der ersten Direktorenwahl vom Juli 1947 vertraten die Sozialdemokraten fragwürdige Maximalforderungen. Statt alle Wirtschaftsministerien in den Ländern und das Amt des Wirtschaftsdirektors besetzen zu wollen, wäre auch ein personalpolitischer Kompromiss mit der CDU/CSU in Frankfurt möglich gewesen. Das Angebot der CDU, das Direktorenamt für Wirtschaft den Sozialdemokraten zu überlassen, falls diese auf zwei oder drei Landeswirtschaftsministerien verzichten, erscheint rückblickend als eine versäumte Gelegenheit, wenn es denn ernst gemeint war. Die SPD hätte aufgrund ihrer starken Position im Exekutivrat aber die Möglichkeit gehabt, diesen oder einen anderen Kompromiss mit der CDU/CSU durchzusetzen. Statt dessen entschied man sich zu einem Zeitpunkt für die Oppositionsrolle, als der Marshall-Plan gerade angekündigt war und alle wirtschaftspolitischen Entscheidungen von Gewicht noch von den Besatzungsmächten getroffen wurden. Die Begründung für den freiwilligen Schritt in die Opposition lautete, die Wirtschaftspolitik der Union und ihrer Hilfstruppen werde scheitern. Die SPD bleibe hiervon unbelastet und könne danach die ersten westdeutschen Wahlen aufgrund ihrer guten Ausgangsposition für sich entscheiden. Diese vom Parteivorsitzenden Kurt Schumacher durchgesetzte Linie war in ihrer Begründung hypothetisch und hatte nach außen hin einen vulgär-marxistischen Beigeschmack. Der wichtigste Grund für Schumachers Haltung dürfte seine Überzeugung gewesen sein, die CDU (die “große Herde”) sei keine Parteigründung von Dauer. In ihrer Frankfurter Politik sei sie eine “starre Rechtspartei”, führe sich aber in ihrer Sprache als soziale Mittelpartei auf, erklärte er vor dem SPD-Parteitag im September 1948238. Schumachers Begründung konnte die Widersprüche der SPD-Politik in Frankfurt nicht ausräumen: Die angekündigte “konstruktive Opposition” lief auf eine Politik des “als ob” hinaus. Sie wollte auf eine Mitwirkung nicht verzichten, um die Voraussetzungen für zukünftige Reformen im sozialdemokratischen Sinne zu schaffen, betonte aber andererseits die Abgrenzung zum gegnerischen Lager, das in der damaligen Situation noch gar kein Lager war. Diese inkonsequente Haltung veranlasste z.B. die sozialdemokratische Fraktion im Wirtschaftsrat, das Bewirtschaftungsnotgesetz abzulehnen und wenig später den Durchführungsverordnungen zum Gesetz zuzustimmen. Das “Leitsätzegesetz”, welches den Wirtschaftsdirektor Erhard nach der Währungsreform zur Aufhebung der Bewirtschaftung ermächtigte, wurde von der SPD-Fraktion ebenfalls abgelehnt, während die sozialdemokratischen Politiker im Länderrat zustimmten239. 236 H. Potthoff/ R. Wenzel: Handbuch... S. 334 ff. 237 Die CDU/CSU im Frankfurter Wirtschaftsrat... S. 26 238 Kurt Schumacher: Reden-Schriften-Korrespondenzen 1945-1952, hrsg. v. W. Albrecht, Bonn 1985, S. 582 u. 607 239 C. Stamm (Hrsg.): Die SPD-Fraktion... S. 70 f., 110 f. und 228; G. Ambrosius: Die Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft...S.137-142 und 175-181 sowie zur Bewertung K. Klotzbach: Der Weg zur 82 Die Problematik der sozialdemokratischen Politik im Zweizonen-Wirtschaftsrat wurde allerdings erst später deutlich. In den letzten Monaten des Jahre 1948 waren Parteipolitik und Wirtschaftspolitik in der Schwebe. Dies gilt auch für die politische Zukunft des Frankfurter Wirtschaftsdirektors. Ein Stimmungsumschwung trat erst zu Jahresbeginn 1949 ein: Der Preisauftrieb ließ nach, die Löhne begannen langsam zu steigen, und das nächste Problem der Wirtschaftsentwicklung, die zunehmende Arbeitslosigkeit, war noch nicht spürbar. Erst zu diesem Zeitpunkt, als die Bonner Grundgesetzberatungen bereits ihrem Ende zugingen, kam es zum “Bündnis” zwischen Erhard und der Union, dessen Motive Volker Hentschel anschaulich geschildert hat. Erhard suchte eine Partei, die ihm nach Gründung der Bundesrepublik die Fortsetzung seiner politischen Laufbahn und den Weg in das seiner Überzeugung nach nur ihm zustehende Amt des Wirtschaftsministers sichern konnte. Führende Politiker der CDU suchten nach einem für den ersten Bundestagswahlkampf geeigneten wirtschaftspolitischen Konzept. Konrad Adenauer wandelte sich vom Skeptiker zum Befürworter der Politik des Wirtschaftsdirektors. Mit Ehrhard und seiner Marktwirtschaft konnte man aus seiner Sicht den bevorstehenden Bundestagswahlkampf führen und nebenbei das für viele in der CDU/CSU höchst lästige Ahlener Programm in den Hintergrund treten lassen. Die enge Verbindung zwischen dem nach wie vor parteilosen Wirtschaftsdirektor und der CDU wurde auf der Sitzung des CDU-Zonenausschusses der britischen Zone am 25. Februar 1949 hergestellt. Während Adenauer bei der Vorstellung Erhards auf dessen Verbindung mit der FDP anspielte, erklärte dieser zu Beginn seines Referats, daß er sich der CDU zugehörig fühle und den bevorstehenden Wahlkampf für diese Partei bestreiten werde240. Die von Erhard vertretene Wirtschaftspolitik war auch nach seinem “Bündnis” mit der CDU keineswegs unumstritten: Mit Beginn des Jahres 1949 stabilisierten sich die Preise und die Kosten der Lebenshaltung sanken angesichts ansteigender Löhne. Gleichzeitig stiegen jedoch die Arbeitslosenzahlen sprunghaft an. Während die Erwerbslosenquote im letzten Quartal 1948 noch bei 5,3 Prozent lag, betrug sie zu Beginn des Jahres 1949 8,0 Prozent und erhöhte sich bis zum ersten Quartal 1950 auf 12,2 Prozent. Zu den ungelösten Problemen gehörte auch der ursprünglich zusammen mit der Währungsreform geplante Lastenausgleich. Die Besatzungsmächte hatten eine reine Geldreform angeordnet, die den Sachbesitz unangetastet ließ. Sie hatten den Wirtschaftsrat beauftragt, den Lastenausgleich bis zum Jahresende zu regeln. Der Wirtschaftsrat begnügte sich jedoch mit einem Soforthilfegesetz und überließ die abschließende Regelung dem zukünftigen Bundesparlament. Im November 1948, drei Monate nach dem Soforthilfegesetz, waren bei einer Befragung in der amerikanischen Zone mehr als 80 Prozent von der Durchführung des Lastenausgleichs überzeugt, mehr als die Hälfte hielten die Durchführung für dringend241. Noch im Januar des Jahres 1950 monierte die amerikanische Marshallplanverwaltung die Beschäftigungspolitik der Bundesregierung und die passive Handelsbilanz. Zwei Wochen später legten die Wirtschaftsberater der Alliierten Hohen Kommission eine kritische Analyse der westdeutschen Wirtschaftspolitik vor, die kurz darauf im SPIEGEL publiziert wurde. Die Wirtschaftsberater bezeichneten die Massenarbeitslosigkeit, die Investitionsschwäche und die unzureichenden Ausfuhren als Hauptprobleme der westdeutschen Wirtschaft. Sie warfen der Bundesregierung vor, sie habe keines dieser drei dringenden Probleme ernsthaft in Angriff genommen. Der Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 schien die wirtschaftliche Situation zunächst weiter zu verschärfen. Die erhöhte Nachfrage nach Gütern auf dem Weltmarkt löste aber in der zweiten Jahreshälfte von 1950 in Westdeutschland einen Boom aus. Die Industrieproduktion und die Löhne stiegen erheblich, die Arbeitslosigkeit sank von 12,2 auf 8,2 Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin-Bonn 1982, S.110 ff. und 135 f. 240 V. Hentschel: Ludwig Erhard... S. 80 ff. sowie die Protokolle des Zonenausschusses in: Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone... S. 803 und 838 f. 241 A. J. Merritt/ R. L .Merritt (Hrsg.): Public Opinion in Occupied Germany ... S. 287 f. 83 Prozent. Die Bundesrepublik schaffte (nach der Terminologie von Abelshauser) in diesem Jahr den Übergang von der “Mangelwirtschaft” zur “Arbeitsgesellschaft”. Die “nostalgische Retrospektive” neigt allerdings dazu, das “Wirtschaftswunder” vorzudatieren und mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948 beginnen zu lassen242. 2. Sozialisierung Als Beleg für die These von der frühzeitigen Präjudizierung der Wirtschaftsordnung dient vor allem das Scheitern der Sozialisierungsbestrebungen. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen hierbei die hessische Sozialisierung aufgrund des Art. 41 der Landesverfassung und das Veto der britischen Militärregierung gegen die vom Landtag Nordrhein-Westfalens beschlossene Überführung der Kohlenindustrie in “Gemeineigentum”. Die Vorbehalte der amerikanischen Militärregierung gegen “public ownership” veranlassten den stellvertretenden Militärgouverneur Clay bereits im Jahre 1946, gleichzeitig mit der Volksabstimmung über die hessische Verfassung eine separate Abstimmung über den sogenannten Sozialisierungsartikel anzuordnen. Beide Abstimmungen ergaben jedoch am 1. Dezember 1946 mit 76,8 % für den Verfassungsentwurf und 71,9 % für Art. 41 ein klares positives Votum. Die hessische Landesregierung setzte für die in “Gemeineigentum” überführten Betriebe Treuhänder ein, und der Landtag blieb bei seinen Beratungen über ein Ausführungsgesetz zunächst unbehelligt. Mit dem Gesetz Nr. 75, das die britische und die amerikanische Militärregierung gemeinsam für die beiden Zonen am 10. November 1948 in Kraft setzten, wurden jedoch der Kohlebergbau sowie die Eisen- und Stahlindustrie aus der ohnehin dürftigen hessischen “Sozialisierungsmasse” herausgelöst. Da aufgrund späterer Gerichtsurteile kommunale Betriebe sowie Klein- und Mittelbetriebe ebenfalls aus der Treuhänderschaft entlassen wurden, blieben praktisch nur die Kasseler Verkehrsgesellschaft, fünf Kleinbahnen, die Hessischen Braunkohlen- und Ziegelwerke sowie die Eisenerzeugung bei Buderus übrig. Die Betriebe wurden später entweder eingestellt oder wegen mangelnder Rentabilität vom Lande Hessen wieder “reprivatisiert”243. Die hessischen Sozialisierungsbemühungen bildeten den Anlass für Legendenbildung: So wird in der Literatur mehrfach behauptet, General Clay habe sein Veto gegen die Durchführung des Art. 41 der Hessischen Verfassung eingelegt, was in dieser Form unzutreffend ist. Gimbel berichtet vom Einspruch der amerikanischen Militärregierung gegen die Sozialisierung von Teilen der IG-Farben-Industrie. Die Chemie war aber weder von Art. 41 noch von den Ausführungsbestimmungen betroffen244. Der schwerwiegendste Eingriff in die hessische Sozialisierung, das britisch-amerikanische Entflechtungsgesetz Nr. 75 vom 10. November 1948, erfolgte allerdings erst zu einem Zeitpunkt, als das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat bereits Gestalt annahm und die Bildung einer westdeutschen Regierung für Beginn des Jahres 1949 erwartet wurde. Die Ausführungsgesetzgebung zu Art. 41 der Hessischen Verfassung war bis dahin kaum vorangekommen. Nach den Vorstellungen des hessischen Wirtschaftsministers Koch sollte die hessische Sozialisierung als Modell für andere Länder und eine zukünftige Bundesgesetzgebung dienen. Er erarbeitete mit seinen Mitarbeitern einen perfektionistischen Entwurf, der die Bildung von Sozialgemeinschaften als Rechtsträger der in Gemeineigentum überführten Unternehmen vorsah. Das Gesetz über die Sozialgemeinschaften wurde erst im Sommer 1948 im Kabinett ausführlich beraten und scheiterte am 27. Oktober 1950 mit Stimmengleichheit (41 zu 41) im hessischen Landtag. Zur Verzögerung trugen Interpretationsfragen des hessischen Verfassungstextes, wie etwa die Unterscheidung 242 W. Abelshauser: Die langen fünfziger Jahre, Düsseldorf 1987, S. 28 ff. und S. 78 sowie V. Hentschel: Ludwig Erhard...S. 111 ff. 243 G. Winter: Sozialisierung in Hessen 1946-1955 (Kritische Justiz 7, 1974, S. 157-175) 244 J. Gimbel: The American Occupation of Germany, Stanford 1968, S. 117 und 292. 84 zwischen Stahl und Eisen erzeugenden und verarbeitenden Betrieben, bei. Ein Haupthindernis war die hessische Diskussion über die Frage, ob die kommunalen Versorgungs- und Verkehrsbetriebe sich bereits in Gemeineigentum befinden. Mit dem Ausbau der Zweizonen-Wirtschaftsverwaltung und dem Gründungsprozess der Bundesrepublik wurde der Sinn einer auf Hessen beschränkten Sozialisierung immer fragwürdiger, weil das Ziel nicht nur in der Enteignung, sondern vor allem im Aufbau neuer Leitungs- und Mitbestimmungsstrukturen bestand. Dieses Ziel war aber ab 1947 nur oberhalb der Länderebene zu realisieren245. Das zweite Sozialisierungsbeispiel, die Kohleindustrie im Ruhrgebiet und um Aachen, hatte allerdings im Unterschied zu Hessen höchste nationale und internationale Bedeutung. Die Besatzungsmächte und die Nachbarstaaten Deutschlands bewerteten die Schwerindustrie an der Ruhr als das Hauptinstrument für die deutsche Aggression im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Die Kontrolle dieses Industriekomplexes aus Kohle, Eisen und Stahl schien aus wirtschaftlichen und politischen Überlegungen unverzichtbar zu sein. Die britische Militärregierung beschlagnahmte am 22. Dezember 1945 zunächst die Ruhrbergwerke und verwaltete sie durch die Besatzungsbehörde North German Coal Control (NGCC). Dieser Schritt war zwar mit der Ankündigung verbunden, die Zechen würden den alten Eigentümern nicht mehr zurückgegeben. Hinter dieser Erklärung standen aber zunächst keine Sozialisierungsabsichten. Die Schwerindustrie an der Ruhr sollte nach den damaligen Planungen der britischen Regierung in einer internationalen Holding-Gesellschaft zusammengefasst werden, an der die Besatzungsmächte und die Anliegerstaaten zu beteiligen waren. Da man die Sowjetunion als Besatzungsmacht von der Internationalisierung der Ruhr kaum ausschließen konnte, verlor dieses Konzept mit dem zunehmenden Misstrauen Londons gegenüber der sowjetischen Deutschlandpolitik an Bedeutung. Die Vereinigung von SPD und KPD zur SED unter dem Druck der sowjetischen Militärregierung im April 1946 wurde von der britischen Regierung als Anzeichen für das selbständige Vorgehen Moskaus in der eigenen Zone bewertet. Zur gleichen Zeit lehnte die Sowjetunion im Alliierten Kontrollrat ein gemeinsames Export-Import-Programm für alle Zonen ab, während die Einrichtung zentraler Verwaltungsstellen am Widerstand Frankreichs scheiterte. Im Foreign Office rückte man unter dem Eindruck dieser Entwicklung von der Internationalisierung des Ruhrgebietes ab und suchte nach einer britischen Lösung des Problems, die man im Vickers-Plan zu finden glaubte. Dieser von dem Juristen Sir Geoffrey Vickers entwickelte Plan sah vor, dass die Schwerindustrie an der Ruhr in deutschem Besitz bleiben, aber in “public ownership” überführt werden sollte. Damit rückte die Sozialisierung in den Mittelpunkt der britischen Überlegungen. Zum Vickers-Plan gehörte auch die Bildung eines neuen Landes in der britischen Besatzungszone. Es sollte als Rechtsträger des öffentlichen Eigentums dienen und zur Ruhr-Industrie in einem ähnlichen Verhältnis stehen wie die britische Regierung zum National Coal Bord. Auch der Vickers-Plan sah eine internationale Kontrolle vor, die aber erst mit Beendigung des Besatzungsregimes eingerichtet werden und die britische Kontrolle fortführen sollte246. Im Sinne dieser neuen Konzeption beschloss die Londoner Regierung bereits im Juni 1946 die Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Am 20. August 1946 wurde auch die Eisen- und Stahlindustrie von der Militärregierung beschlagnahmt und, analog zu den Kohlezechen, der North German Iron and Steel Control (NGISC) unterstellt. Am 22. Oktober 1946 gab der britische Außenminister Bevin vor dem Unterhaus eine Erklärung zur Deutschlandpolitik ab, in der er versicherte, die Ruhrindustrie werde nicht den Magnaten (magnates) zurückgegeben, die Hitler finanzierten und mit der deutschen Militärmaschine eng verbunden waren. Sie solle vielmehr in öffentliches Eigentum des 245 H. Koch (Hrsg.): Die Sozialgemeinschaften. Entwurf des hessischen Sozialisierungsgesetzes mit Begründung..., o. O., o. J. (1948); D. Gosewinkel: Adolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie 1945-1961, Bonn 1991, S. 95 ff.; K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei... S. 137 ff. 246 R. Steininger: Die Rhein - Ruhr - Frage im Kontext britischer Deutschlandpolitik, in: H. A. Winkler (Hrsg.): Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945-1953, Göttingen 1978, S. 118 ff. deutschen Volkes überführt werden (“owned and worked by the German people”)247. 85 In der Verwirklichung des Sozialisierungsziels war die britische Regierung aber keineswegs so entschlossen, wie die Erklärung ihres Außenministers erwarten ließ. Dies lag zunächst an Differenzen innerhalb des Kabinetts: Während Bevin dem neuen Land Nordrhein-Westfalen die Eigentumsrechte übertragen wollte, plädierte der Deutschlandminister Hynd dafür, die Eigentumsfrage vorläufig offen zu lassen und die Treuhänder für die Schwerindustrie in der britischen Zone durch den Zonenbeirat zu ernennen. Die weitere Entwicklung wurde mehr und mehr von der kritischen Ernährungslage in der britischen Besatzungszone und von den zunehmenden Kosten der Zone für den britischen Steuerzahler bestimmt. Beide Probleme konnten nur gelöst werden, wenn die USA bei der Bildung der Bizone den größten Teil der Finanzierung übernahmen. Zwischen Washington und London diskutierte man sogar den Tausch der Besatzungszonen. Das Bizonen-Abkommen vom 2. Dezember 1946 erwähnte die Sozialisierungsproblematik nicht. Die beiden Außenminister Bevin und Byrnes kamen nach der Darstellung von Steininger überein, diese Frage auszuklammern, so dass die britische Regierung vor dem Unterhaus erklären konnte, sie halte an ihrer bisherigen Politik in dieser Frage fest248. Der erste Schritt der Britischen Regierung in diese Richtung, ein Kabinettsbeschluss vom Februar 1947 zur Ernennung deutscher Treuhänder (custodians) für die Betriebe an der Ruhr, stieß aber bereits auf internationale Proteste. Die Niederlande, Belgien und Luxemburg verlangten eine Garantie der Beteiligungen ihrer Unternehmen und Aktionäre an der Ruhrindustrie. Die französische Regierung machte außerdem sicherheitspolitische Bedenken gegen die Konzentration der Eigentumstitel bei einer deutschen Landesregierung geltend. In Paris hielt man an der Internationalisierung des Ruhrgebietes fest. Die Londoner Regierung verschob unter dem Eindruck der Proteste die Ernennung von Treuhändern und forderte von Frankreich sowie den Benelux-Staaten zunächst eine Übersicht ihrer Besitzstände an der Ruhr. Eventuelle Entschädigungsansprüche durften nach Londoner Auffassung auf keinen Fall den britischen Haushalt belasten249. Von größerer Bedeutung für die Sozialisierungsfrage waren jedoch im Frühjahr 1947 die zunehmende Wirtschaftskrise Europas und die Entschlossenheit der USA, diese Krise (auch im eigenen Interesse) zu lösen. Die Wirtschaftskrise war nicht zuletzt durch eine Energiekrise bedingt, und die wichtigste europäische Energiequelle stellte der deutsche Kohlenbergbau dar. Da die Förderleistung im Ruhrbergbau im Frühjahr 1947 erneut absank, schien sich die Krise zu verschärfen. US-Außenminister Marshall bezeichnete dementsprechend in seiner Rundfunkansprache im Anschluss an die Moskauer Außenministerkonferenz die Kohleförderung als das vorrangige Problem des deutschen Wiederaufbaus250. Gegen eine Veränderung der Eigentums- und Managementstrukturen in diesem sensiblen Bereich sprachen aus amerikanischer Sicht nicht nur grundsätzliche Erwägungen, sondern vor allem die aktuelle Notlage. Ende Juni 1947, wenige Wochen nach Ankündigung seines Plans, ließ Marshall seinem britischen Kollegen mitteilen, er bewerte das britische Kohlenmanagement als “pathetisch”. Zur Frage der Sozialisierung erklärte er: “time does not permit of experimentation”251. Mit den Verhandlungen über die Revision des Bizonen-Abkommens vom 2. Dezember 1946 stieg der 247 Text bei B. Ruhm von Oppen (Hrsg.): Documents on Germany under Occupation 1945-1954, London 1955, S. 184. 248 R. Steininger: Die Rhein - Ruhr - Frage ..., S. 160. 249 H. Lademacher: Die britische Sozialisierungspolitik an Rhein und Ruhr, in C. Scharf/ H.-J. Schröder (Hrsg.): Die Deutschlandpolitik Großbritanniens und die britische Zone 1945-1949, Wiesbaden 1979, S. 70 und 74 ff. 250 Rundfunkerklärung Marshalls vom 24.4.1947 in: B. Ruhm von Oppen (Hrsg.): Documents..., S. 219 ff. 251 FRUS 1947, Vol. II, S. 929. 86 amerikanische Einfluss proportional zu den erwarteten finanziellen Leistungen aus Washington. Auf der Washingtoner Kohlenkonferenz vom August/ September 1947 beschlossen die USA und Großbritannien die Einrichtung einer gemeinsamen Kohlekontrolle (US/UK Coal Control Group), die an die Stelle der britischen NGCC trat. Unter ihrer Aufsicht wurde eine “Deutsche Kohlen-Bergbau-Leitung” (DKBL) eingerichtet. Zur Eigentumsfrage enthielt der Konferenzbericht jedoch “ only the vaguest reference”, indem er die USamerikanische Position erwähnte, eine Sozialisierung solle so lange aufgeschoben werden wie die Kohleforderung ein Problem darstelle. Beide Regierungen waren der Auffassung, eine Kohlesozialisierung zuzulassen, wenn sie von den Deutschen auf demokratischem Wege beschlossen werde252. Außenminister Marshall äußerte gegenüber dem französischen Botschafter in Washington im September 1947, für die britische Regierung sei offenbar die Sozialisierung (nationalisation) der Zechen der wichtigste Punkt, während die USA die maximale Förderungsleistung als vorrangiges Ziel betrachte. Alle übrigen Fragen könnten jedoch geklärt werden “ as soon as the coal begins to roll out of the Ruhr in adequate volume”253. Die im Sommer 1947 beginnenden Beratungen des Landtages von Nordrhein-Westfalen über ein Gesetz zur Sozialisierung der Kohleindustrie standen deshalb von Anfang an unter ungünstigen Vorzeichen. Vorgesehen war die Überführung der Zechen und Betriebe in das Eigentum des Landes und die Einrichtung einer “Selbstverwaltung Kohle”. Deren Hauptorgan, der “Kohlerat”, sollte aus Vertretern des Landtages, der Gewerkschaften, der Gemeinden und der Unternehmen gebildet werden. Nach ausführlichen Beratungen und taktischen Manövern innerhalb der von Adenauer geführten CDU-Fraktion lag das Gesetz schließlich am 6. August 1948 zur Schlussabstimmung vor und wurde mit den Stimmen von SPD, KPD und Zentrum angenommen. Die FDP-Fraktion lehnte ab, und die CDU-Fraktion enthielt sich der Stimme254. Auf der gleichen Sitzung wählte der Landtag von Nordrhein-Westfalen bereits die Abgeordneten für den Parlamentarischen Rat. Am 23. August 1948 verweigerte die britische Militärregierung ihre Zustimmung zum Sozialisierungsgesetz mit der Begründung, die Kohleindustrie gehöre zum “nationalen Vermögen”. Über die zukünftige Eigentumsform könne deshalb nicht ein Land allein, sondern nur eine repräsentative und aus freier Wahl hervorgegangene deutsche Regierung (government) entscheiden. Diese Begründung der Ablehnung hatte der britische Militärgouverneur Robertson bereits im Februar 1948 nach einem Gespräch mit seinem amerikanischen Kollegen Clay entworfen255. Dass die Politik der Washingtoner Regierung entscheidend für den vorläufigen Verzicht auf die Sozialisierung der Kohleindustrie des Ruhrgebiets war, steht aufgrund der inzwischen geöffneten Archive außer Zweifel. Umstritten ist, ob es sich hierbei um eine konsequente Politik der Wiederherstellung privatkapitalistischer Verhältnisse oder um eine situationsbedingte Entscheidung handelt, die sich aus der desolaten Wirtschaftslage Europas sowie aus den Beziehungen zwischen den Besatzungsmächten ergab. Die Untersuchungen von John Gimbel, Dörte Winkler, Horst Lademacher, Rolf Steininger, Carsten Lüders und Wolfgang Krieger zeichnen ein differenziertes Bild der US-amerikanischen Deutschlandpolitik: Auf der einen Seite traten der Kriegs- und der Marineminister (Patterson und Forrestal) sowie der Militärgouverneur Clay und sein Wirtschaftsberater Draper aus ideologischen Gründen für die Verzögerung und Verhinderung von Sozialisierungsmaßnahmen ein. Sie waren überzeugt, die Deutschen selbst würden sich für das private Unternehmertum entscheiden, sobald sich ihre Versorgungssituation verbessert. Marineminister Forrestal sah in der Sozialisierung sogar einen “opening wedge for 252 FRUS 1947, Vol. II, S. 962-966. 253 FRUS 1947, Vol. III, S. 746 f. 254 ausführlicher P. Hüttenberger: Nordrhein-Westfalen und die Entstehung seiner Parlamentarischen Demokratie, Siegburg 1973, S. 410 ff. 255 H. Lademacher: Die britische Sozialisierungspolitik..., S. 85. communism”256. 87 Im Außenministerium (State Department) war man jedoch der Auffassung, die Deutschen sollten über ihre Wirtschaftsordnung selbst entscheiden. Ein Veto gegen eventuelle Sozialisierungsgesetze konnte nach Ansicht des für Deutschland zuständigen Beamten Riddleberger nur Ressentiments gegen die USA auslösen. Unter dem Eindruck der kritischen Situation des Frühjahres 1947 schloss sich das Außenministerium jedoch der Linie des Kriegs- und Marineministeriums an und stimmte dem aufschiebenden Veto gegen die Kohlesozialisierung zu. Marshall war nicht bereit, seinen Wiederaufbauplan für Europa durch eine Reorganisation der Kohleförderung im Ruhrgebiet zu gefährden257. Die Vorstellungen des amerikanischen Militärgouverneurs Clay gingen allerdings weiter: Sein Mitarbeiter William Draper hatte vor der Washingtoner Kohlekonferenz vorgeschlagen, die Kohlesozialisierung für fünf Jahre aufzuschieben. Diese Forderung wurde von der britischen Delegation mit Erfolg zurückgewiesen. Clay selbst meinte während der Konferenz resignierend, sie sei “ too obnoxious to the British”258. Teilweise neigen die Autoren dazu, die Intentionen Clays mit der amerikanischen oder mit der britischamerikanischen Politik gleichzusetzen. So wird im Widerspruch zum dokumentierten Konferenzergebnis behauptet, die Washingtoner Kohlenkonferenz habe einen fünfjährigen Sozialisierungsstop beschlossen259. Außerdem findet man in der Literatur häufig die These, der Marshall-Plan habe Veränderungen der Eigentumsverhältnisse von Großunternehmen ausgeschlossen. Dieses Argument ist wenig überzeugend, da sich nicht nur in Großbritannien, sondern auch in den Empfängerländern Frankreich und Italien ein erheblicher Wirtschaftssektor im öffentlichen Besitz befand. Die Auffassung, der Ost-West-Konflikt habe zum Scheitern der deutschen und britischen Sozialisierungspläne beigetragen, ist zutreffend, wenn man bei der Argumentation einen großen Bogen schlägt. Die Londoner Deutschlandpolitik wäre möglicherweise bei einer funktionierenden Viermächteverwaltung nicht in finanzielle Schwierigkeiten geraten, und das Ruhrgebiet hätte sich im Rahmen eines gesamtdeutschen Export-Import-Programms durchaus als Trumpfkarte der britischen Politik erweisen können. Dies wiederum hätte der Londoner Labour-Regierung eine selbständige Eigentumspolitik ermöglicht. Der Ost-West-Konflikt behinderte aus dieser Perspektive die britischen Reformvorstellungen für die deutsche Wirtschaft. Die konkreten Anstöße für die wirtschaftspolitischen Entscheidungen ergaben sich aber aus dem wachsenden Defizit der britischen Besatzungszone, aus der europäischen Wirtschaftskrise und aus dem Entschluss Washingtons, das europäische und das westdeutsche Problem durch ein breit angelegtes Hilfsprogramm zu lösen. Die Sozialisierungsdiskussion war mit dem aufschiebenden Veto Robertsons gegen das nordrheinwestfälische Sozialisierungsgesetz aber keineswegs beendet. Die Position der britischen und der amerikanischen Besatzungsmacht, eine zukünftige deutsche Regierung könne über die Eigentumsstruktur der Großindustrie frei entscheiden, wurde mehrfach wiederholt und ist keineswegs als Lippenbekenntnis zu bewerten. Auf der Londoner Sechsmächtekonferenz, die den Weg zur Gründung der Bundesrepublik ebnete, spielte die Eigentumsstruktur an der Ruhr eine wichtige Rolle. Der britische Vertreter, Sir William Strang, sprach sich gegen eine Internationalisierung der Besitzverhältnisse oder des Managements aus und 256 FRUS 1947, Vol. II, S. 928. 257 D. Winkler: Die amerikanische Sozialisierungspolitik in Deutschland 1945-1948, in: H. A. Winkler (Hrsg.): Politische Weichenstellungen..., S. 105 f. 258 FRUS 1947, Vol. II, S. 964-966; J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General Lucius D. Clay..Vol. I... S. 413. 259 so W. Krieger: General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik, Stuttgart 1987, S. 298; H. Thum: Mitbestimmung in der Montanindustrie, Stuttgart 1982, S. 30; J. Gimbel: The American Occupation..., S. 158. 88 plädierte für “German public ownership of selected heavy industries”. Die französische Delegation und die Vertreter der Benelux-Staaten traten demgegenüber für eine internationale Kontrolle der deutschen Schwerindustrie ein. Der amerikanische Vertreter, Botschafter Douglas, bekräftigte jedoch die angloamerikanische Kompromissformel: Das deutsche Volk (“within such Germany as might be reconstituted...”) werde die Frage der Sozialisierung frei entscheiden, wenn hieraus auch nach seiner persönlichen Ansicht die Gefahr einer wirtschaftlichen Machtkonzentration in den Händen der Regierung entstehen könnte260. Während der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates die erste Lesung des Grundgesetzes in Angriff nahm, trat das bereits erwähnte Entflechtungsgesetz Nr. 75 der britischen und amerikanischen Militärregierung in Kraft (10. November 1948). Hier finden wir ebenfalls die Absichtserklärung, über das Eigentum der Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie solle eine repräsentative und frei gewählte deutsche Regierung (government) entscheiden. Die französische Regierung protestierte mit den bereits bekannten Argumenten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der französische Außenminister Schumann damals von einer bevorstehenden Sozialisierung der deutschen Schwerindustrie ausging. Er bezweifelte am 18. November 1948 auf der Pariser Außenministerkonferenz und in anschließenden Gesprächen, dass eine deutsche Regierung überhaupt privates Eigentum an diesen Industrien zulassen werde261. Die Eigentumsfrage der Ruhrindustrien war demnach während der Beratungen des Parlamentarischen Rates aus Sicht der drei Besatzungsmächte noch offen. Mit der Einigung der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Benelux-Staaten über den Text des Ruhrstatuts am 28. Dezember 1948 änderte sich diese Haltung nicht. Im gleichzeitig veröffentlichten Communique heisst es vielmehr ausdrücklich: “The agenda of the meeting did not include the question of the final ownership of the industries concerned and this question is in no way affected by the discussions or the draft agreement”262. Während die Bonner Grundgesetzberatungen zu Ende gingen, bekräftigten der britische und der amerikanische Militärgouverneur ihre Haltung zu dieser Frage noch einmal in einem “Joint Statement” zur Mitbestimmung und Sozialisierung vom 1. März 1949. Sie verwiesen auf die USA, wo man das private Unternehmertum bevorzuge, und auf den öffentlichen Sektor in der britischen Industrie. In beiden Ländern könne die Bevölkerung “from time to time” über die ihren Bedingungen entsprechende Unternehmensstruktur entscheiden. Die Militärgouverneure fügten hinzu: “...so must you decide here in Germany”263. Die Vermutung, mit dem Übergang zur Marktwirtschaft nach der Währungsreform vom 20. Juni 1948 hätte die Sozialisierungsfrage auf deutscher Seite an politischer Relevanz verloren, entspricht nicht der damaligen Situation. Eine Umfrage der amerikanischen Militärregierung vom Februar 1949 zeigt, dass eine Mehrheit der Deutschen die Sozialisierung (social ownership) der Ruhrindustrie befürwortete. In der US-Zone sprachen sich hierfür 51 %, in Berlin 66 % und in Bremen 63 % der Befragten aus. Die Rückgabe der Betriebe an private Eigentümer wurde zu diesem Zeitpunkt in der US-Zone nur von 31 % der Befragten unterstützt (Berlin 25 %, Bremen 30 %)264. 260 FRUS 1948, Vol. II, S. 93/94 und S. 98-100. 261 FRUS 1948, Vol. II, S. 517-522 und 548. 262 Ebenda, S. 577 ff. 263 B. Ruhm von Oppen: Documents..., S. 366; anders T. Eschenburg u. a.: Jahre der Besetzung 1945-1949.. ..S. 251: “Für die Besatzungsmacht war die Sozialisierungsfrage mit dem Gesetz Nr. 75 erledigt...” 264 Opinion Surveys Branch OMGUS, Report No 179, “German Desires and Expectations on Future Ownership of the Ruhr Factories”, 1 July 1949 (Amerikahaus München) 89 3. Mitbestimmung Die politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegsjahre um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer werden ähnlich kontrovers interpretiert, wie die Bestrebungen zu Änderung der Eigentumsverhältnisse. In der Weimarer Diskussion hatten sich die Gewerkschaften auf die überbetriebliche Mitbestimmung konzentriert und unter Bezugnahme auf Art. 165 der Weimarer Reichsverfassung die gleichberechtigte Mitwirkung in den wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörperschaften sowie bei der staatlichen Kontrolle der Wirtschaft gefordert. Aufgrund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik erblickten Parteien und Gewerkschaften nach 1945 in der “Demokratisierung des Betriebes”, d.h. in der betrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer, ein Ziel von gleich großer Bedeutung. Der Alliierte Kontrollrat beschloss am 10. April 1946 ein Rahmengesetz über Betriebsräte, welches vom angelsächsischen Rechtsverständnis geprägt war. Die Einrichtung von Betriebsräten war demnach freigestellt; ihre Aufgaben und Rechte sollten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelt werden265. Die Gewerkschaften strebten jedoch eine verbindliche Regelung der Rechte der Betriebsräte sowie ihre eigene Beteiligung an der innerbetrieblichen Mitbestimmung an. Sie konzentrierten sich deshalb auf entsprechende Ermächtigungen in den Landesverfassungen und hieran anknüpfende Betriebsrätegesetze. Hierbei konnten sie auf die Unterstützung der SPD, der KPD und großen Teilen der CDU rechnen. Während die Landesverfassungen der amerikanischen Zone bereits im Dezember 1946 in Kraft waren, zogen sich die Beratungen der Betriebsrätegesetze hin. Am hessischen Beispiel, das auch in dieser Hinsicht Modellfunktion hatte, lässt sich die teilweise bewusst herbeigeführte Komplikation der Materie deutlich nachvollziehen. Das hessische Betriebsrätegesetz wurde schließlich am 26. Mai 1948 vom Landtag beschlossen. Am 10. Januar hatte bereits die Bremische Bürgerschaft ein Betriebsrätegesetz verabschiedet, und am 18. August folgte ein entsprechendes Gesetz für Württemberg-Baden. In der französischen Zone beschloss der badische Landtag am 24. September 1948 ein Betriebsrätegesetz sowie ein Gesetz über Fachkommissionen, welches die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in wirtschaftliche Fragen einschloss. Die Verabschiedung dieser Gesetze erfolgte vergleichsweise spät und zu einem Zeitpunkt, als sich die Errichtung einer deutschen Regierung für die drei Westzonen bereits abzeichnete266. Die zeitliche Nähe zu den Grundgesetzberatungen bildete gleichermaßen den Anlass und die offizielle Begründung für das Einschreiten der amerikanischen Militärregierung: Der amerikanische Militärgouverneur Clay suspendierte Anfang September 1948 zunächst die Bestimmungen zur wirtschaftlichen Mitbestimmung im hessischen und einen Monat später die entsprechenden Paragraphen im württemberg-badischen Betriebsrätegesetz. Er übte ab Januar 1949 zusammen mit dem britischen Militärgouverneur Robertson Druck auf den französischen Militärgouverneur Koenig aus, das badische Mitbestimmungsgesetz nicht zu genehmigen. Koenig hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das Betriebsrätegesetz unterzeichnet. Unter dem Eindruck der Einwände Clays lehnte er jedoch die Zustimmung zum Gesetz über die Fachkommissionen ab. In Bremen verzichtete man offenbar von vornherein auf Mitbestimmungsregelungen im Betriebsrätegesetz. Das Hauptmotiv Clays war, ebenso wie in der Sozialisierungsfrage, seine Überzeugung von der Überlegenheit des privaten Unternehmertums. Die Mitwirkung der Betriebsräte beim Management gefährdete seiner Auffassung nach den Wiederaufbau und sei mit der Gefahr kommunistischer Einflüsse verbunden. Er äußerte sogar die Auffassung, die Mitbestimmung der Arbeiter sei schädlicher für die wirtschaftliche Entwicklung als die Sozialisierung (national ownership) von Betrieben. Zum Teil waren seine Argumente aber pragmatisch begründet: Die zukünftige Bundesregierung konnte aus seiner Sicht 265 E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung ...S. 64 ff. und S. 90 266 A.R.L. Gurland: Die CDU/CSU. Ursprünge und Entwicklung bis 1953, Frankfurt 1980, S. 339 ff.; C. Kleßmann: Betriebsräte und Gewerkschaften in Deutschland 1945-1952, in: H.A. Winkler (Hrsg.):Politische Weichenstellungen... S. 67 ff. und E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung... S. 163 f. 90 nicht erfolgreich sein, wenn die Länder eine unterschiedliche Wirtschaftspolitik betrieben. Eine Landesgesetzgebung zur Mitbestimmung hielt er deshalb für ebenso fragwürdig wie zur Sozialisierung. Die späte Verabschiedung der Mitbestimmungsklauseln im Jahre 1948 erweckte bei ihm den Eindruck, die Landespolitiker seien bestrebt, “ to get this legislation on the books”, bevor das westdeutsche Grundgesetz in Kraft trete. Clay vermutete auch nicht ganz zu Unrecht, sein französischer Kollege Koenig habe dem badischen Betriebsrätegesetz zugestimmt, um die wirtschaftspolitische Zuständigkeit der Länder zu untermauern und die Grundgesetzberatungen in diese Richtung zu beeinflussen267. Das Hauptargument der amerikanischen Militärregierung lautete mit Billigung der Washingtoner Ministerien, zuerst müsse das bevorstehende Grundgesetz über die Zuständigkeiten zur Gesetzgebung in Wirtschaftsfragen entscheiden. Falls die Mitbestimmung nicht in die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers fallen, könnten die suspendierten Bestimmungen der Betriebsrätegesetze aus den Ländern in Kraft treten. Obgleich Clay und seine Mitarbeiter jede gesetzliche Regelung im Bereich des Managements gerne verhindert hätten, war die von ihnen verkündete Politik nur eine “policy of postponement”, eine Aufschiebung der Entscheidung bis zum Zusammentritt eines westdeutschen Parlaments. Die USA blieben auch nach der Gründung der Bundesrepublik bei dieser Linie: Wirtschaftsfragen wurden vom parlamentarischen Rat der konkurrierenden Gesetzgebung zugeordnet. Landesgesetze waren demnach in diesem Bereich zulässig, solange der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch machte. Der amerikanische Hohe Kommissar McCloy forderte deshalb im März 1950 Bundeskanzler Adenauer auf, für eine gesetzliche Regelung der Mitbestimmung zu sorgen. Am 7. April 1950 genehmigte McCloy das Inkrafttreten der von Clay suspendierten Mitbestimmungsklauseln des hessischen und des württemberg-badischen Betriebsrätegesetzes. Er stärkte hiermit die Position der Gewerkschaften und beschleunigte die Verhandlungen über die Montan-Mitbestimmung268. In der britischen Besatzungszone nahm die Auseinandersetzung einen anderen Verlauf. Da es hier noch keine Landesverfassungen gab, fehlte der Anknüpfungspunkt für eine gesetzliche Regelung. Im Sinne des Kontrollratsgesetzes vom 10. April 1946 schlossen jedoch die Betriebsräte von 21 Betrieben bis zum Herbst 1947 Vereinbarungen mit den Arbeitgebern. In mehreren Fällen wurden diese Betriebsvereinbarungen durch Streiks erzwungen. Hinter der paritätischen Mitbestimmung blieben die Resultate allerdings weit zurück. Dieses Ziel konnten die Gewerkschaften nur im Bereich der Eisen- und Stahlindustrie erreichen. Die Betriebe dieser Branche wurden von der britischen Militärregierung am 20. August 1946 beschlagnahmt und, wie bereits erwähnt, von der Besatzungsbehörde NGISC (North German Iron and Steel Control) kontrolliert. Die NGISC richtete mit der “Treuhandverwaltung” eine deutsche Unterbehörde ein, die eine “Entflechtung” (decartelization) der Konzerne vorzubereiten und die Aktien zu verwalten hatte. Auf Einladung des Leiters der NGISC, Harris-Burland, fanden von November 1946 bis Januar 1947 mehrere Gespräche mit dem deutschen Leiter der Treuhandverwaltung, Dinkelbach, und der Gewerkschaftsführung der britischen Zone statt. Hierbei einigte man sich auf die paritätische Besetzung des Aufsichtsrats sowie auf einen Vertreter der Arbeitnehmer im Vorstand der “entflochtenen” Unternehmen, der für Personal und soziale Fragen zuständig sein sollte. Die Initiative der britischen Militärregierung zur Einführung einer Arbeitnehmermitbestimmung, die es in den verstaatlichten Industrien Großbritanniens nicht gab, resultierte vorwiegend aus pragmatischen Überlegungen: Man wollte auf diese Weise das Interesse der Arbeiter am Betrieb sowie an der Produktion erhöhen, damit die Zahlungen aus dem britischen Haushalt für die eigene Besatzungszone reduziert werden konnten. HarrisBurland versicherte bei diesen Gesprächen mehrfach, die zu entflechtenden Betriebe würden den alten Eigentümern nicht zurückgegeben. 267 E. Schmidt, ebenda, S. 161 ff.; J. Gimbel: The American Occupation... S. 236 f. sowie J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General Lucius D. Clay... Vol. II...S. 689, 981, 989 f. und 1027. 268 H. Thum: Mitbestimmung in der Montanindustrie... S. 39 f. 91 Die Vertreter der Konzerne machten den Gewerkschaftlern im Januar 1947 weitgehende Mitbestimmungsangebote in der Absicht, die Entflechtung doch noch zu verhindern oder zumindest zu begrenzen. Diese Offerten kamen jedoch zu spät, denn zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Treuhandverwaltung und die Gewerkschaftsführung bereits über die Besetzung der Vorstands- und Aufsichtsratsposten in den ersten vier der neu zu bildenden Unternehmen geeinigt. Bis März 1947 wurden insgesamt 25 Eisen und Stahl produzierende Betriebe aus den alten Konzernen ausgegliedert. Ihre Aufsichtsräte hatten elf Mitglieder, von denen je fünf die Interessen der Unternehmer und der Arbeitnehmer vertraten. Das elfte Mitglied ernannte die Treuhandverwaltung. Im Vorstand der Unternehmen wurde der Posten des Arbeitsdirektors eingerichtet. Er konnte nur mit Zustimmung der im Aufsichtsrat sitzenden Betriebsräte und Gewerkschaftler besetzt werden269. Die Entwicklung in der Kohleindustrie einerseits sowie bei Eisen und Stahl auf der anderen Seite verlief damit unterschiedlich. Bei der Kohle stand das Ziel der Überführung in Gemeinwirtschaft im Vordergrund. Das entsprechende Sozialisierungsgesetz des Landtages Nordrhein-Westfalen wurde aber erst im August 1948 verabschiedet und scheiterte am aufschiebenden Widerspruch der amerikanischen Besatzungsmacht. Die Mitbestimmungsregelung in der Eisen- und Stahlindustrie dagegen wurde bereits anderthalb Jahre früher mit britischer Zustimmung beschlossen und blieb bestehen. In diesem Zusammenhang wird oft übersehen, dass die zwischen Amerikanern und Engländern im Sommer 1947 vereinbarte Neuorganisation der Kohleindustrie ebenfalls eine Mitbestimmungsregelung beinhaltete: Dem Leiter der Deutschen Kohlenbergbauleitung (DKBL), Heinrich Kost, stand ein Beirat zur Seite, der mit je sechs Vertretern der Unternehmer und Arbeitnehmer paritätisch besetzt war. Von den sechs Abteilungsdirektoren der DKBL wurden zwei auf Vorschlag der Gewerkschaften bestimmt270. In der bereits erwähnten gemeinsamen Erklärung vom 1. März 1949 zu den “industrial relations in Germany” nahmen der amerikanische und der britische Militärgouverneur auch zur Mitbestimmung Stellung. Sie betonten die Entscheidungsfreiheit der Deutschen und erklärten noch einmal ihre Vorbehalte gegen eine Regelung durch Landesgesetze, bevor die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern entschieden sei. Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern über Mitbestimmung könnten jedoch bereits vorher beschlossen werden271. Hinsichtlich der Mitbestimmung in Großbetrieben bestand demnach zur Zeit der Grundgesetzbeartungen eine ähnlich offene Situation wie in der Frage des Gemeineigentums. Die amerikanische Militärregierung hatte zwar auf Länderebene die Mitbestimmungsklauseln der Betriebsrätegesetze suspendiert. Entsprechenden Entscheidungen des Bundesgesetzgebers wollte und konnte sie jedoch nicht widersprechen. 4. Öffentlicher Dienst Unter dem Eindruck der kontroversen zeitgeschichtlichen Diskussion über die Eigentums- und Mitbestimmungsfragen traten andere Bereiche der Nachkriegspolitik in den Hintergrund, obwohl sie für die politische Struktur der Bundesrepublik eine gleich große Bedeutung haben sollten. Dies gilt z. B. für den öffentlichen Dienst. Seine Neuordnung war zwischen den Deutschen und den Besatzungsmächten so umstritten, dass dieser Konflikt die nicht unwesentlichen innerdeutschen Differenzen überlagerte. In der Diskussion ging es um zwei Probleme, die miteinander eng verbunden waren: Einerseits um eine grundsätzliche Neuordnung des deutschen Beamtentums, die vor allem von den Briten und Amerikanern gefordert wurde, andererseits um das soziale Problem der “verdrängten” Beamten, welches vor allem die 269 E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung... S. 75-82; H. Thum: Mitbestimmung... S. 31-36. 270 G. Müller-List: Die Entstehung der Montanmitbestimmung, in: W. Först (Hrsg.): Zwischen Ruhrkontrolle und Mitbestimmung, Köln 1982, S. 121-142, S. 218. 271 B. Ruhm von Oppen (Hrsg.): Documents... S. 365 f. 92 deutschen Politiker berührte. Die Bezeichnung “verdrängte Beamte” bezog sich zunächst auf alle Beamten und Versorgungsempfänger (Pensionäre, Witwen, Kinder etc.), die aufgrund von Flucht und Vertreibung oder wegen Auflösung des Dienstherren (z. B. des Deutschen Reiches) ohne Stelle oder Bezüge waren. Später rechnete man auch die wesentlich kleinere Zahl derjenigen hinzu, die aufgrund von Entnazifizierungsverfahren entlassen oder nicht wieder eingestellt wurden. Die verdrängten Beamten wurden nach Kriegsende von den Ländern mit Übergangszahlungen versorgt. Die Beträge lagen aber weit unter den Bezügen der Kollegen im Amt. Die Heimatvertriebenen forderten z. B. die Gleichstellung der Pensionen von “Flüchtlingsbeamten” mit einheimischen Beamten. Während die Sowjetische Militäradministration bereits im September 1945 das Deutsche Beamtengesetz von 1937 aufhob und damit die Beamten durch Staatsangestellte ersetzte, versuchten die Briten und Amerikaner, eine Reform des öffentlichen Dienstes mit Unterstützung der deutschen Parteien und Parlamente zu erreichen. Die amerikanische Militärregierung wurde als erste initiativ und veranlasste die Ministerpräsidenten ihrer Zone, bereits im Herbst 1946 (und damit vor der Wahl der ersten Landtage) Beamtengesetze zu erlassen. Nach amerikanischen Vorstellungen sollten Personalämter eingerichtet, der Unterschied zwischen Angestellten und Beamten beseitigt, und alle Stellen ausgeschrieben werden. Für die Stellenbesetzung sollte die gegebenenfalls durch Prüfung festzustellende Qualifikation und nicht der formale Bildungsabschluss entscheidend sein. Die Umsetzung dieser Vorstellungen stieß jedoch in den Landesverwaltungen auf hinhaltenden und erfolgreichen Widerstand. Die zuständigen Abteilungen der amerikanischen Militärregierung kritisierte mehrfach die unzureichenden Kompetenzen der eingerichteten Personalämter, das de facto bestehende Juristenmonopol, die Überbewertung formaler Schul- und Studienabschlüsse sowie die Bevorzugung früherer nationalsozialistischer Beamter. Eine Änderung der deutschen Praxis konnten die USAmerikaner jedoch in ihrer Zone bis zu Gründung der Bundesrepublik nicht erreichen, obwohl sie von den deutschen Gewerkschaften unterstützt wurden. Ein Grund hierfür war die starke Vertretung des “öffentlichen Dienstes” in Parteien und Parlamenten. Die Militärregierung hatte es versäumt, die Wahl von Beamten in die Landtage im Sinne der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative zu unterbinden. Der Landtag von Württemberg-Baden z. B. war zu dieser Zeit zu 48 % mit Beamten besetzt272. In der britischen Zone galt für die deutschen Behörden das von nationalsozialistischen Elementen “gereinigte” Beamtengesetz von 1937, welches auch in der französischen Besatzungszone weiterverwendet wurde. Die britische Militärregierung vertrat in ihrer Beamtendirektive vom Juni 1946 das Prinzip der Dezentralisierung: Die Parlamente in den Gemeinden, Kreisen und Ländern sollten jeweils eigene Regeln für die Anstellung ihrer Bediensteten sowie für Beförderung, Entlassung, Bezahlung, Pensionen usw. aufstellen. Auf diese Weise wollte man den traditionellen deutschen Beamtenapparat auflösen. Dieses Konzept war jedoch nach den Worten eines auf britischer Seite Beteiligten “one of those British ideas which could never have worked”. Es stieß auf energischen Widerstand der deutschen Parteien und war offenbar auch objektiv unpraktikabel. Darüber hinaus deckten sich die britischen Vorstellungen mit den amerikanischen, legten aber größeren Wert auf die parteipolitische Neutralität der Bediensteten im Sinne des eigenen “Civil Service”. Die historische Begründung der Reformen aus britischer und amerikanischer Sicht war ebenfalls ähnlich. Der preußische Beamte hatte nach den Worten des für Verwaltungsfragen zuständigen Mitglieds der britischen Militärregierung bei aller Gewissenhaftigkeit einen entscheidenden Nachteil: Er war kein Zivilist, sondern “a soldier in civilian clothes”273. 272 W. Benz: Versuche zur Reform des öffentlichen Dienstes in Deutschland (VjZG 29, 1981, S. 216-245) S. 220-225 273 R. Ebsworth: Restoring Democracy in Germany, London-New York 1960, S. 142 ff. 93 Die Landespolitiker der britischen Zone verhielten sich gegenüber diesen Reformvorstellungen genauso zurückhaltend wie ihre Kollegen in der amerikanischen Zone. Widerstand regte sich nicht nur bei der alten Beamtenschaft und im Adenauer-Flügel der nordrhein-westfälischen CDU. Auch sozialdemokratische Landesminister legten Wert auf die Einheitlichkeit des öffentlichen Dienstrechts. Führende Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher und der nordrhein-westfälische Innenminister Walter Menzel wandten sich außerdem gegen die von den Briten geforderte politische Neutralisierung des Beamtentums. Hierdurch werde die bis 1945 vorherrschende, angeblich “unpolitische” Beamtenschaft gestärkt und der Einfluss der Mitglieder demokratischer Parteien in den Verwaltungen geschwächt. Auch die Gewerkschaft ÖTV meldete Widerspruch gegen die Reformbestrebungen an, weil sie Nachteile für die Bahn- und Postbediensteten sowie eine Abwanderung ihrer Mitglieder zu den sich neu organisierenden Beamtenverbänden befürchtete. Mit der Währungsreform nahm die Reformbereitschaft auf deutscher Seite weiter ab. Der Spielraum der öffentlichen Haushalte wurde durch die Einführung der DM erheblich eingeschränkt, so dass Länder- und Kommunen jede Reform ablehnten, die möglicherweise mit einem erweiterten Kündigungsschutz für Angestellte und einer verbesserten Altersversorgung verbunden war274. Nach dem Zusammenschluss der britischen und amerikanischen Besatzungszone zur Bizone mit Jahresbeginn 1947 waren die beiden Besatzungsmächte gemeinsam bestrebt, zumindest für das deutsche Bizonen-Personal eine Regelung durchzusetzen, die ihren Vorstellungen entsprach. Das “Bipartite Civil Service Committee” legte bereits im Dezember 1946 entsprechende Richtlinien vor, die den britischen und amerikanischen Reformvorschlägen auf Länderebene entsprachen. Anstellung und Beförderung sollten sich nach Eignung und Befähigung richten, die parteipolitische Tätigkeit der Bediensteten sollte begrenzt und ein Personalamt eingerichtet werden. Freie Stellen waren auszuschreiben, und die Unterscheidung zwischen Beamten und Angestellten sollte wegfallen. Die Reaktion des Zweizonen-Wirtschaftsrats ließ auf sich warten. Nach einer energischen Mahnung durch das BICO (Bipartite Control Office) verabschiedete er schließlich am 22. April 1948 ein Übergangsgesetz zur Rechtsstellung der Bediensteten, welches einige Forderungen der Besatzungsmächte berücksichtigte. Im Juni 1948 wurde außerdem ein Personalamt eingerichtet. Die anglo-amerikanischen Dienststellen stimmten dieser vorläufigen Regelung unter der Bedingung zu, daß der Verwaltungsrat bis zum 1. Oktober 1948 dem Wirtschaftsrat einen vollständigen Entwurf des neuen Personalgesetzes zur Beratung vorlegt. Die deutschen Parteien hielten das Übergangsgesetz für ausreichend und schlugen den beiden Besatzungsmächten vor, angesichts der inzwischen begonnnen Grundgesetzberatungen des Parlamentarischen Rats auf ein Personalgesetz zu verzichten. Lediglich die SPD-Fraktion des Wirtschaftsrats scherte im September 1948 aus der “Ablehnungsfront” aus und plädierte für eine “völlig neue Lösung” des öffentlichen Dienstrechts. In den Ausschüssen des Frankfurter Wirtschaftsrats wurde in den darauffolgenden Monaten über ein entsprechendes Gesetz beraten. Hierbei war aber nicht zu übersehen, dass die deutschen Politiker und Beamten „auf Zeit” spielten. Neben den Landesregierungen plädierten auch die ÖTV und der Beamtenausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes für einen Aufschub der gesetzlichen Regelung bis die zukünftige westdeutsche Verfassung verabschiedet sei. Der Zweizonen-Wirtschaftsrat befasste sich erst im März 1949 mit dem Problem der „verdrängten” Beamten, d. h. zu einem Zeitpunkt als die Grundgesetzberatungen kurz vor dem Abschluss standen. Der Länderrat der Bizone vertrat dementsprechend die Auffassung, die Problematik sei auf Zweizonen-Ebene „nicht mehr mit der erforderlichen Gründlichkeit” zu lösen. Die Regelung müsse vom zukünftigen Bundesgesetzgeber erfolgen275. 274 ausführlicher C. Garner: Zerschlagung des Berufsbeamtentums? Der deutsche Konflikt um die Neuordnung des öffentlichen Dienstes 1946-1948 am Beispiel Nordrhein-Westfalens (VjZG 39, 1991, S. 55-101) sowie U. Reusch: Deutsches Berufsbeamtentum und britische Besatzung. Planung und Politik 1943-1947, Stuttgart 1985, S. 240 ff. 275 U. Wengst: Beamtentum zwischen Reform und Tradition, Düsseldorf 1988, S. 24 f. und 58 ff. 94 Wie der Verlauf der Diskussion zeigte, legten die Besatzungsmächte besonderen Wert auf die Aufhebung des Unterschieds zwischen Beamten und Angestellten sowie auf die Einschränkung der politischen Tätigkeit und des passiven Wahlrechts der Bediensteten. Bei den deutschen Parteien bestand dagegen Einigkeit, alle Bestimmungen zurückzuweisen, deren Ziel die Begrenzung der politischen Rechte von Beamten und Angestellten war. Auch die britischen Vorstellungen einer Dezentralisierung des öffentlichen Dienstrechts wurden nach wie vor abgelehnt. Dies bedeutet aber nicht, dass auf deutscher Seit überhaupt keine Reformbereitschaft bestand. Eine gegenüber dem Beamtentum kritische Haltung war in der westdeutschen Öffentlichkeit deutlich spürbar. Sie wurde durch die weitgehende personelle Kontinuität in den Behörden nach der Auflösung des „Dritten Reiches” gefördert. Hinzu kamen die Mängel der „Zuteilungswirtschaft” in der Nachkriegssituation, denn die Befriedigung der einfachsten Lebensbedürfnisse (Wohnung, Nahrungsmittel etc.) hing von entsprechenden „Bewilligungen” der Behörden ab. Außerdem gab es unübersehbare Ansätze zur Korruption im öffentlichen Dienst. Die nordrhein-westfälische Regierung ernannte im Herbst 1947 sogar einen „Staatskommissar”, der gegen Korruption und Schwarzhandel vorgehen sollte276. Die Vorstellungen der deutschen Parteien zur Reform des öffentlichen Dienstes waren in den Jahren 1947/48 trotz der gemeinsamen „Abwehrfront” gegen die Pläne der Besatzungsmächte keineswegs einheitlich. Die KPD orientierte sich an der Abschaffung des Beamtentums in der sowjetischen Zone. Die SPD war im Prinzip reformfreudig, verzichtete aber darauf, die vom Parteitag in Hannover 1946 ausgesprochene Forderung eines einheitlichen Dienstrechts zu konkretisieren. Die Positionen und Interessen der Gewerkschaften dämpften offenbar die sozialdemokratische Reformbereitschaft. In der CDU und in der Zentrumspartei standen sich Traditionalisten und Reformer gegenüber und selbst die FDP als exponierte Vertreterin der „hergebrachten Grundsätze” war zumindest an einer zahlenmäßigen Reduzierung der Beamtenzahl interessiert277. Die unterschiedlichen Vorstellungen auf deutscher Seite und die gemeinsame Frontstellung gegen die Reformvorschläge der Briten und Amerikaner hatten zur Folge, dass die Frage des öffentlichen Dienstes bis in die Beratungen des Parlamentarischen Rats hinein und darüber hinaus offen blieb. In der Beamtenfrage wurde eine „policy of postponement” mit umgekehrten Vorzeichen betrieben: Bei Sozialisierungs- und Mitbestimmungsentscheidungen begründeten General Clay sowie das Washingtoner Kriegs- und Marineministerium den Aufschub mit den bevorstehenden Grundgesetzberatungen und der Zuständigkeit des zukünftigen westdeutschen Parlaments. Beim öffentlichen Dienst versuchten die Besatzungsmächte dagegen noch unmittelbar vor Gründung der Bundesrepublik ihre Vorstellungen zumindest im Bereich der Bizone durchzusetzen. Als deutlich wurde, dass der Parlamentarische Rat im Grundgesetz keine Reform des öffentlichen Dienstes festschreiben würde, oktroyierten die britische und amerikanische Militärregierung am 18. Februar 1949 das Gesetz Nr. 15 für die Verwaltungsangehörigen der Bizone, welches ihren Reformvorstellungen entsprach. Nach der ersten Bundestagswahl starteten die Briten und Amerikaner mit Zustimmung des französischen Militärgouverneurs den verzweifelten und vergeblichen Versuch, das Bizonen-Gesetz auch auf die Bundesbeamten auszudehnen278. 276 P. Hüttenberger: Nordrhein-Westfalen... S. 302 ff. 277 C. Garner: Zerschlagung des Berufbeamtentums... S. 72 f. 278 U. Reusch: Deutsches Berufsbeamtentum... S. 28-31. 95 V. Der Konsensusbereich in der Verfassungsdiskussion nach 1945 1. Die Entscheidung für eine parlamentarische und parteienstaatliche Demokratie Obwohl die politische Auseinandersetzung nach 1945 im Mittelpunkt dieser Studie steht, darf die gemeinsame Basis der unterschiedlichen Neuordnungsvorstellungen nicht unberücksichtigt bleiben. Die beiden Demokratiekonzeptionen waren durch einen Konsensusbereich miteinander verbunden, der schließlich trotz aller Auffassungsunterschiede die Einigung über die verfassungsmäßigen Grundlagen des westdeutschen Gemeinwesens ermöglicht hat. Bei der Darstellung dieses Konsensusbereichs werden die Beratungen über das Grundgesetz eine ausführlichere Berücksichtigung finden als bisher. Der Vorgriff auf den Parlamentarischen Rat ergibt sich dabei aus dem Aufbau dieser Studie: Die beiden Konzeptionen der „sozialen Mehrheitsdemokratie” und der „konstitutionellen Demokratie” dienen im weiteren Verlauf der Untersuchung als Kriterien für die Einordnung und Bewertung des Gründungsvorgangs von 1948/49. Die nachfolgende Interpretation der Grundgesetzberatungen in Kapitel VI. ist dementsprechend unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Demokratievorstellungen geschrieben. Aufgrund dieser Gliederung erscheint es sinnvoll, die gemeinsamen Ziele der Parteien und Fraktionen des Parlamentarischen Rates in die hier anschließende Darstellung einzubeziehen. Zum Konsensusbereich der Nachkriegsdiskussion gehört zunächst das übereinstimmende Votum aller politischen Richtungen für die parlamentarische Demokratie, deren Willensbildungsprozess durch die Konkurrenz und das Zusammenspiel politischer Parteien bestimmt wird. Diese Entscheidung wurde damals unter den Nachkriegspolitikern als selbstverständlich betrachtet, nachdem sich in den Jahren 1945/46 ein Parteiensystem konstituiert hatte, welches trotz bemerkenswerter Abweichungen (Neugründung der CDU/CSU) an das Weimarer Vorbild anknüpfte. Offen bleibt allerdings, wieweit die Anerkennung des Parteiwesens damals von der Bevölkerung der drei westlichen Besatzungszonen nachvollzogen wurde. Aus den Repräsentativumfragen der amerikanischen Militärregierung, die seit dem Herbst 1945 in regelmäßiger Folge durchgeführt wurden, ergibt sich hierzu kein eindeutiges Bild: Im Dezember 1945 waren nur etwa 4 % der Bevölkerung in der amerikanischen Zone Parteimitglieder; 21 % der Befragten äußerten allerdings zu diesem Zeitpunkt die Absicht, einer Partei beizutreten. Im März 1946 hatte sich die Mitgliedschaft der Parteien auf rund 7 % erhöht, während nur noch 16 % beitrittswillig waren. Aus beiden Befragungen geht hervor, dass ein Block von 77 % (75 % im Dezember 1945) der Gesamtbevölkerung weder Mitglied einer Partei war noch die Absicht zum Parteibeitritt hatte. Diese Gruppe begründete ihre Zurückhaltung teils mit einem allgemeinen politischen Desinteresse (35 %), teils mit dem Mangel an politischer Information, die den Befragten zum Parteibeitritt notwendig erschien (9 %). 22 % führten weitere Gründe an, wie z. B. die Antwort, Frauen sollten sich aus der Politik grundsätzlich zurückhalten. Bemerkenswert ist außerdem, dass sich bei drei Befragungen vom November 1945 bis zum März 1946 die Mehrheit für ein Drei- oder Vierparteiensystem aussprach (50 %, später 63 % der Befragten). Die Abschaffung der Parteien überhaupt fand nur bei 1–2 % Zustimmung, während im März 1946 immerhin 11 % für das Einparteiensystem eintraten. Die oft geäußerte Vermutung, die deutsche Bevölkerung sei damals aufgrund der widrigen Lebensbedingungen an politischen Dingen desinteressiert gewesen, wird durch eine Befragung über “political meetings” nicht bestätigt: Der Prozentsatz derjenigen, denen politische Veranstaltungen nach Aufhebung des alliierten Verbots als sinnvoll und nützlich erschienen, stieg vom November 1945 bis zum März 1946 von 60 auf 72 %. Im gleichen Zeitraum sank die Anzahl der Befragten, die hierzu keine Meinung hatten, von 29 auf 12 %279. 279 Surveys Section, Intelligence Branch - Information Control Division: OMGUS-USFET Report No. 3 (März 1946 - Amerikahaus München). 96 Die Parteien fanden auch in der weitverzweigten Publizistik der Nachkriegsjahre zunehmend Anerkennung. Sie wurden nicht mehr, wie noch zur Zeit der Weimarer Republik, lediglich als „notwendiges Übel” der modernen Demokratie betrachtet. Bei den Verfassungsberatungen in den Ländern scheute man sich jedoch, hieraus die Konsequenzen zu ziehen und die Parteien verfassungsrechtlich zu institutionalisieren. Die Länderverfassungen der Jahre 1946/47 enthalten zwar ausführliche Bestimmungen über das Gesetzgebungsverfahren und die Arbeitsweise der Landtage. Was das Parteiwesen betrifft, folgen sie jedoch in der Regel der Weimarer Reichsverfassung, welche die politischen Parteien lediglich in Art. 130 unter einem eher negativen Aspekt erwähnt280. Wie aus dem Bericht Carlo Schmids vor der Vorläufigen Volksvertretung Württemberg - Badens hervorgeht, wurde in diesem Zusammenhang auch über die Frage diskutiert, ob der einzelne Abgeordnete Vertreter des “ganzen Volkes”, des Wahlkreises oder der Partei sei, die ihn zur Wahl nominiert. Man habe trotz aller Bedenken – sagte Schmid – die “alte Formel” wiederaufgenommen, der Parlamentarier vertrete die Gesamtbevölkerung und sei nur seinem Gewissen verantwortlich. Aus diesen Erwägungen verzichte der Verfassungsentwurf bewusst darauf, die Parteien “formell in der Verfassung zu nennen und damit zu Elementen des Verfassungsgefüges zu machen”. Eine bemerkenswerte Ausnahme von dieser vorherrschenden Auffassung stellt die badische Verfassung vom Mai 1947 dar: Den Parteien gilt hier ein eigener Abschnitt des Verfassungstextes, der ausführliche Bestimmungen enthält über die freie Parteibildung, über die Beitritts- und Austrittsmöglichkeit der Mitglieder, über die Aufgaben oppositioneller Parteien sowie über die Möglichkeit des Verbots verfassungsfeindlicher Parteien durch den Staatsgerichtshof281. Diese Regelung ist weitergehender und ausführlicher als der spätere Parteienartikel im Grundgesetz (Art. 21 GG). Das parlamentarische Regierungssystem, nach dessen Grundidee die Regierung durch das Votum des Parlaments eingesetzt und jederzeit wieder abgelöst werden kann, war in der Nachkriegsdiskussion nicht unumstritten. Vor allem in Süddeutschland betrachtete man 1945/46 die schweizerische Verfassung als ein nachahmenswertes Modell für eine “feste Regierung”, die während der ganzen Legislaturperiode im Amt bleibt. Ab 1947 spielten ähnliche Überlegungen, wie bereits erwähnt, auch in den Verfassungsvorstellungen der FDP eine Rolle. Theodor Heuss nahm bei der Verfassungsdiskussion in Württemberg-Baden allerdings gegen diese Pläne Stellung. Er erklärte, die Politik der Schweiz sei seit der Sicherung ihrer Neutralität innen- und außenpolitisch als eine “wunderbare Entwicklung” anzusehen, von der man nicht erwarten könne, sie werde sich in Deutschland wiederholen. Für die deutschen Verhältnisse schien ihm eine “starre” Lösung der Beziehung zwischen Parlament und Regierung nicht sinnvoll zu sein, weil die vielfältigen Probleme des inneren Wiederaufbaus und die unsichere außenpolitische Situation ein beweglicheres Verfassungssystem verlangten282. Im Verfassungsentwurf für Bayern war zunächst eine Regierung auf Zeit vorgesehen. Sie ging offenbar auf die Initiative des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner und des Staatsrechtlers Hans Nawiasky zurück, die beide ihre Emigrationsjahre in der Schweiz verbrachten. Hoegner schrieb damals zu diesem Entwurf: „Das Parlamentarische System, nach welchem die Regierung jederzeit durch ein Misstrauensvotum des Parlaments gestürzt werden kann, ist beseitigt. Der Ministerpräsident wird vielmehr vom Landtag auf vier Jahre gewählt, kann aber natürlich zurücktreten. Diese Regelung entspricht dem einmütigen Wunsch aller Reformer der Demokratie, jeder Regierung eine Arbeitsmöglichkeit zu sichern, wozu eine längere Amtsdauer erforderlich ist.” Im weiteren Verlauf der 280 R. Thoma: Über Wesen und Erscheinungsformen der modernen Demokratie, Bonn 1948, S.17, sowie Art. 130 WRV: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei“. 281 Vorläufige Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946; Verfassung des Landes Baden vom 22. Mai 1947, Art. 118-121. 282 Vorschlag Walter (CDU) und die Entgegnung Heuss (DVP) in der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden, 2. Sitzung vom 18. Juli 1946. 97 bayerischen Verfassungsberatungen wurde jedoch diese Konstruktion im Sinne des „abgeschwächten” Parlamentarismus verändert, indem man den keineswegs eindeutigen Passus hinzufügte, der Ministerpräsident müsse zurücktreten, „wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen”. Das kann in der politischen Praxis gleichbedeutend sein mit dem parlamentarischen System, wenn der Ministerpräsident entsprechend verfährt. Es kann aber auch zur Folge haben, dass ein widerstrebender Regierungschef durch den Verfassungsgerichtshof zum Rücktritt gezwungen werden muss283. Bei den Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee, die der Vorbereitung des Grundgesetzes galten, wurde der Plan einer Regierung auf Zeit erneut diskutiert. Der Verfassungskonvent kam jedoch zu der Auffassung, dieses Regierungssystem bringe gerade in Deutschland Risiken und Nachteile mit sich, obwohl es in anderen Ländern erfolgreich praktiziert werde. Die überwiegende Mehrheit seiner Mitglieder war der Ansicht, dass die Regierung „grundsätzlich vom Vertrauen der Mehrheit des Bundestages abhängig bleiben” solle284. Im Parlamentarischen Rat leistete der Organisationsausschuss die Vorarbeit zum organisatorischen Teil des Grundgesetzes und kam in diesem Zusammenhang auch auf die Regierungsform zu sprechen. Der FDP-Abgeordnete Dr. Dehler schlug vor, eine „Regierung auf Zeit” zu schaffen, und berief sich hierbei auf die entsprechende Regelung der bayerischen Verfassung. Nach seinem Entwurf sollte der Bundeskanzler durch eine Bundesversammlung (Bundestag und Bundesrat in gemeinsamer Sitzung) gewählt und vom Bundespräsidenten auf die Dauer von vier Jahren ernannt werden. Obwohl diese Überlegungen bei den beiden großen Fraktionen des Parlamentarischen Rates auf Ablehnung stießen, und damit kaum Aussicht auf ihre Verwirklichung bestand, wurde Dehler zusammen mit seinem Fraktionskollegen Dr. Becker im Januar 1949 in dieser Frage erneut initiativ. Ihr Vorschlag forderte jetzt nicht nur die „Regierung auf Zeit”, sondern darüber hinausgehend auch die Vereinigung der beiden Ämter des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten. Carlo Schmid (SPD) erwiderte auf diesen Vorschlag mit den gleichen Argumenten, die Theodor Heuss 1946 in Württemberg-Baden angeführt hatte: Regierungen auf Zeit erschienen ihm nur dort sinnvoll, wo eine stabile Sozialstruktur vorhanden sei und „wo man es sich leisten kann, auch dringende Dinge auf die nächste Wahlperiode zu vertagen”. Diese Bedingungen waren nach seiner Auffassung in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten gegeben. Dort aber, wo sich die gesellschaftlichen Verhältnisse gewollt oder ungewollt „in Bewegung” befänden – wie etwa im Nachkriegsdeutschland –, müsse das Regierungssystem „elastisch” sein. Nur auf diese Weise könnten die gesellschaftlichen Veränderungen gegebenenfalls auch einen Regierungswechsel bewirken, den er als „Ventil” für den Ausgleich sozialer Spannungen bezeichnete285. Für die Ablehnung der „Regierung auf Zeit” war damit nach 1945 nicht nur die Erinnerung an das Weimarer Präsidentenamt ausschlaggebend, sondern auch die Einsicht in die sozialen Probleme der Nachkriegszeit sowie in die enge Verbindung zwischen Staatsverfassung und Gesellschaftsstruktur. Übereinstimmung zwischen den demokratischen Parteien und den politischen Strömungen in 283 W. Hoegner: Der bayerische Verfassungsentwurf (Die Neue Zeitung v. 7.6.1946); W. Hoegner: Der schwierige Außenseiter, München 1959, S. 250 ff.; Verfassungsausschuss Bayern, 24. Sitzung v. 28. 8.1946 sowie H. Nawiasky / C. Leusser: Die Verfassung des Freistaates Bayern vom 2. Dezember 1946. Systematischer Überblick und Handkommentar, Bd. 1, München 1948, S. 121 284 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 551 285 PR-Organisationsausschuss, 5. Sitzung vom 23. September 1948, Stenoprot. S.25-58, und 8. Sitzung vom 30. September 1948, Stenoprot. S. 23-59 sowie die Diskussion im PR- Hauptausschuss, 32. Sitzung vom 7. Januar 1949; U. Wengst: Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 124 ff. und den Text des Becker/ Dehler - Vorschlags vom 11.1.1949 in ADL, FDPFraktion Parlamentarischer Rat D 2 - 2282 98 Westdeutschland bestand weiterhin über die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte. Bereits bei den Verfassungsberatungen der Länder war man sich einig, dass diese Rechte die Grundlage der neu zu errichtenden Demokratie bilden. Es gebe zwar die verschiedensten Formen des demokratischen Lebens, erklärte der Sozialdemokrat Wilhelm Keil in Württemberg-Baden, aber “nur einen Grundsatz der Wahrung der persönlichen Rechte des Menschen”. Diese Renaissance der Grundrechte ist als unmittelbare Reaktion auf das Herrschaftssystem des Nationalsozialismus anzusehen. Die nahezu unbegrenzten Eingriffsmöglichkeiten des totalitären Regimes in den Lebensbereich des einzelnen sollten nach 1945 durch ein Rechtssystem abgelöst werden, welches die Sicherheit und persönliche Freiheit des Menschen gewährleistet. Im weiteren Verlauf der Demokratiediskussion fand auch die Grundrechtsproblematik in der sowjetisch besetzten Zone mehr und mehr Beachtung. Der Herrenchiemsee-Konvent zum Beispiel erklärte in deutlicher Anspielung auf die dortige Beschränkung der Grundfreiheiten, ein “gesamtdeutsches Bekenntnis” zu den Grundrechten erscheine ihm notwendig, weil diese Rechte immer noch schwerer Bedrohung ausgesetzt seien286. Der Konsensus über die Grundrechte war allerdings, wie sich im Parlamentarischen Rat zeigen sollte, von begrenzter Tragweite. Einerseits wollte man den Grundrechten die Bedeutung von Rechtsnormen geben, mit denen nach den Worten Carlo Schmids „ein Anwalt vor Gericht plädieren kann, und die nicht erst durch ein Gesetz in anwendbares Recht transformiert werden müssen”287. Offenbar hatte man aber bei der Formulierung der Länderverfassungen von 1946/47 noch nicht erkannt, dass die Konsequenz dieser Forderung eine Beschränkung auf die individuellen Freiheits-, Gleichheits- und Eigentumsrechte war, weil sich nur diese Rechte – im Gegensatz zu den „sozialen Grundrechten” – exakt bestimmen und ohne weiterführende Gesetzgebung auf dem Rechtswege durchsetzen lassen. Andererseits bestand die Tendenz, auch „soziale Grundrechte” sowie Aussagen über die Wirtschaftsordnung und kulturelle Fragen in die Verfassung aufzunehmen. Die Grundrechtsdiskussion der Nachkriegszeit ist demnach nicht widerspruchsfrei: Während die Forderung nach rechtlicher Verbindlichkeit eine Eingrenzung des Grundrechtsverständnisses bewirkte, verlangte der Gedanke des “demokratischen Fundamentalismus” seine Ausweitung. Die Menschenrechtsdiskussion auf internationaler Ebene wies in die zuletzt genannte Richtung: Von der Forderung Franklin D. Roosevelts nach “Freiheit von Not” im Jahre 1942 bis zur Menschenrechts-Erklärung der Vereinten Nationen vom Dezember 1948 lässt sich hier eine Erweiterung des Grundrechtsverständnisses um die soziale Problematik feststellen. Am Beispiel der Grundrechtsdiskussion tritt die Belastung des Demokratiegründungsprozesses durch die Anwesenheit der Besatzungsmächte besonders deutlich hervor. Es bestand nämlich die Gefahr, dass die in den Landesverfassungen oder später im Grundgesetz verankerten Rechte durch Besatzungsrecht verletzt und schließlich auch politisch diskreditiert wurden. Die Diskussion hierüber nahm vor allem im französisch besetzten Baden breiten Raum ein, weil hier die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg in einer Eingabe an die verfassungsberatende Versammlung auf den Widerspruch zwischen Grundrechtsproklamation und Besatzungsrecht hingewiesen hatte. Die paradigmatische Bedeutung der Landesverfassungen für die zukünftige Reichsverfassung und die positive Einschätzung der weiteren Entwicklung veranlassten jedoch die deutschen Politiker, in dieser Belastung eine vorübergehende Beeinträchtigung der demokratischen Grundsätze zu sehen. Das gleiche Problem stellte sich später bei den Beratungen zum Grundgesetz: Auch hier drohte eine Beschränkung der Grundrechte durch das Besatzungsstatut, und man diskutierte die Frage, ob diese “Hypothek” nicht auch im Verfassungstext erwähnt werden müsse. Man verzichtete schließlich hierauf, weil eine derartige Bestimmung von den 286 W. Keil in seinem Bericht (Verfassunggebende Landesversammlung für Württemberg-Baden, 4. Sitzung vom 16.9.1946); R. Haerdter: Die neuen Menschenrechte (Die Gegenwart vom 31.1.1947) sowie PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 512 f. 287 Vorläufige Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946, und ähnlich in PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 37 99 Besatzungsmächten als “Blanko-Vollmacht” aufgefasst werden konnte, während sie durch einen uneingeschränkten Grundrechtskatalog stets auf die demokratiegemäße Begrenzung ihrer Herrschaft hingewiesen wurden288. Die Politiker und Verfassungsexperten der Nachkriegszeit waren bemüht, durch eine Neuordnung der Staatsorgane, ihrer Kompetenzen und ihres Zusammenspiels die Funktionstüchtigkeit des Regierungssystems gegenüber dem Weimarer Vorbild zu erhöhen. Die Vorschläge zur Verbesserung des Regierungssystems nahmen vorwiegend auf die Endphase der Weimarer Demokratie Bezug. Der Übergang zum Präsidialsystem, das schließlich die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ermöglichte, war nach Auffassung der Nachkriegspolitiker auf verfassungspolitische Mängel zurückzuführen, die sich beim Aufbau der zweiten deutschen Republik auf keinen Fall wiederholen durften. Das Interesse der “Verfassungsväter” (und der vier Verfassungsmütter) im Bund und in den Ländern für diesen folgenschweren Abschnitt der jüngsten deutschen Geschichte ist auch darauf zurückzuführen, dass sie diesen Zeitraum aus eigener Anschauung erlebt hatten und in der Regel bereits damals verantwortliche Positionen in Parlamenten, Verwaltung oder Wissenschaft innehatten. Bei den Parteipolitikern aus der Weimarer Zeit trat das Bewusstsein hinzu, für das Scheitern der ersten deutschen Republik mitverantwortlich zu sein. Die verfassunggebenden Versammlungen der Nachkriegsjahre (und insbesondere der Parlamentarische Rat) sahen sich aufgrund dieser Erfahrungen zu zahlreichen Neuregelungen im organisatorischen Teil der Verfassung veranlasst. Ihre Überlegungen galten hierbei – wie bereits im vorangehenden Abschnitt angedeutet – vorwiegend dem Amt des Staatsoberhaupts, der Auflösung des Parlaments und der Stellung der Regierung im Verfassungssystem. Die weitgehende Übereinstimmung der demokratischen Parteien in diesen Fragen des Verfassungsaufbaus ist auf das allen gemeinsame Motiv zurückzuführen, welches der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Katz vor dem Parlamentarischen Rat mit den Worten zum Ausdruck brachte: “Wir wissen genau, dass hinter der Krise des demokratischen Systems der Diktator lauert”289. Die Reichsverfassung von 1919 beruhte auf dem Dualismus zwischen Präsident und Parlament, der sich rückblickend als eine verhängnisvolle Fehlkonstruktion erwiesen hat. Beide Institutionen konnten für sich in Anspruch nehmen, in der unmittelbaren Volkswahl ihre Grundlage zu haben und damit über die gleiche demokratische Legitimation zu verfügen. Die Regierung nahm eine vermittelnde und, wie sich später herausstellte, labile Position zwischen diesen Polen des Verfassungsmodells ein: Der Reichskanzler wurde vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen (Art. 53 WRV), benötigte gleichzeitig jedoch für seine Regierungstätigkeit das Vertrauen des Reichstages (Art. 54 WRV). Diese beiden Bedingungen waren nur so lange zu vereinbaren, als sich Präsident und Reichstag auf einen Kanzler einigen konnten. Falls dies nicht gelang, oder im Parlament keine Mehrheitsbildung zustande kam, lag ein Konflikt zwischen den beiden Machtzentren des Verfassungssystems nahe, der dann in der Endphase tatsächlich auch mit den Mitteln der Notverordnungspolitik und der Parlamentsauflösung ausgetragen wurde. Verfassungsgeschichtlich lässt sich dieses Modell auf Robert Redslob zurückführen, dessen Thesen zum “wahren Parlamentarismus” von Hugo Preuß und maßgebenden Mitgliedern der Weimarer Nationalversammlung in modifizierter Form übernommen wurden. Der “echte” Parlamentarismus zeichnet sich demnach durch ein Gleichgewicht zwischen Staatsoberhaupt und Parlament aus, so dass der Reichstag der “Gegenkontrolle” des Reichspräsidenten unterlag290. Das Vorbild der Weimarer 288 Dr. Fecht (BCSV) als Berichterstatter vor der Beratenden Versammlung Badens, 11. Sitzung vom 10.4.1947 und HCh-Unterausschuss I: Grundsatzfragen, 4. Sitzung vom 18. August 1948 (vor allem die Beiträge von Danckwerts und Schmid) 289 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 231 290 U. Scheuner: Das Amt des Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung. Tübingen 1966, S. 13-22, und F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, Tübingen 1962, S. 25 ff. 100 Konstruktion war zweifellos die vorausgehende alte Reichsverfassung: Der Reichspräsident nahm eine dem Kaiser vergleichbare bevorzugte Stellung im Verfassungssystem ein, während sich in der Position von Parlament und Regierung die historische Vorbelastung des deutschen Parlamentarismus widerspiegelt. Wieweit diese Traditionen auch nach 1945 wirksam waren, zeigen die bereits erwähnten Vorschläge zur Einrichtung von Staatspräsidenten in den Ländern. Theodor Heuss stellte damals angesichts der Entwürfe in Württemberg-Baden die Frage, ob diese Institution nicht eine „Misstrauensaktion gegen die Demokratie” und eine „verfassungsmäßig embryonale Vorleistung für den kommenden Diktator” darstelle291. Bei den süddeutschen Verfassungsberatungen stand der (Landes-)Präsident noch im Mittelpunkt der Kontroverse zwischen den beiden Konzeptionen der konstitutionellen Demokratie und der sozialen Mehrheitsdemokratie. In den Verfassungsvorschlägen der Parteien für die politische Integration der drei Westzonen zeichnet sich jedoch bereits ein Konsensus über die Gestaltung des Präsidentenamts ab: Das zukünftige Staatsoberhaupt sollte nach übereinstimmender Auffassung aller politischen Richtungen auf keinen Fall erneut die Kompetenzen seines Weimarer Vorgängers erhalten. Auch föderalistische Motive sprachen für eine Beschränkung der Machtbefugnisse des Präsidenten: Während ein neben der Landesregierung stehender Staatspräsident die Eigenständigkeit des betreffenden Landes unterstrich, stärkte ein machtvoller Bundespräsident die Zentralgewalt und verminderte damit den Einfluss der Länder im Verfassungssystem. 1947 wurde allerdings verschiedentlich noch an der Volkswahl des Präsidenten festgehalten. Der sozialdemokratische Verfassungsexperte Dr. Walter Menzel sprach sich in seinem Grundsatzreferat vor dem Nürnberger Parteitag zwar gegen ein Notverordnungsrecht des Präsidenten aus, weil damit den Parteien die „politische Verantwortung abgenommen” werde, befürwortete jedoch die unmittelbare Wahl des Staatsoberhauptes für einen Zeitraum, der über der Legislaturperiode des Parlaments liege. In den Verfassungsrichtlinien der FDP für die britische Zone wird zur gleichen Zeit ebenfalls noch die Volkswahl des zukünftigen Präsidenten vorgeschlagen292. Die Mehrheit des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, der im August 1948 von den westdeutschen Ministerpräsidenten einberufen wurde, sprach sich für einen Bundespräsidenten mit begrenzten Befugnissen aus, der von Bundestag und Bundesrat gewählt werden sollte. Eine Minderheit des Konvents schlug dagegen vor, die Funktionen des Staatsoberhauptes von einem Dreierkollegium wahrnehmen zu lassen, welches aus den Präsidenten der beiden Kammern und dem Kanzler bestehen sollte. Dieses Kollegium sei ein „neues demokratisches Organ”, das sich durch die unterschiedlichen Funktionen seiner Mitglieder selbst kontrolliere. Zugunsten der Kollegiallösung wurde weiterhin angeführt, der Gedanke des pouvoir neutre sei überholt. Die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit hätten vielmehr bewiesen, daß in „Grenzsituationen der Politik” kein Präsident neutral über den Parteien stehen könne293. Auf sozialdemokratischer Seite war im Jahre 1948 die Auffassung vorherrschend, mit Rücksicht auf den vorläufigen Charakter der westdeutschen Verfassung auf das Präsidentenamt überhaupt zu verzichten. Auf Herrenchiemsee erklärte der sozialdemokratische Vertreter Hessens, Hermann Brill: „Einen Bundespräsidenten halte ich schlechterdings für entbehrlich . . . Ich sehe nicht ein, warum wir in einer staatlichen Ordnung, die hoffentlich nur zwei oder drei Jahre dauert, uns mit einem solchen Requisit versehen sollten”294. Den beiden Menzel - Entwürfen zum Grundgesetz vom August und September 1948 291 T. Heuss in der Verfassunggebenden Landesversammlung für Württemberg-Baden, 2. Sitzung vom 18. Juli 1946 292 Protokoll SPD Parteitag 1947, S. 132; Richtlinien für die künftige Verfassung, ausgearbeitet durch das FDP-Mitglied Johannes Siemann, 27. August 1947 ( ADL 132 FDP - brit. Zone, Staat und Verfassung, Außenpolitik) 293 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 546 ff. 294 Ebenda, S. 85 101 fehlt ebenfalls die Einrichtung des Bundespräsidenten. Im Parlamentarischen Rat vertraten die sozialdemokratischen Sprecher zunächst die Kollegiallösung. Später schlug Dr. Katz (SPD) vor, zwar den Bundespräsidenten in der Verfassung vorzusehen, dieses Amt jedoch bis zur Klärung der außenpolitischen Situation vom Präsidenten des Bundestages wahrnehmen zu lassen. Erst mit der Ablehnung dieses Vorschlags in der ersten Lesung des Hauptausschusses verzichtete der Parlamentarische Rat auf alle Alternativ- oder Übergangslösungen295. Bei der Beratung des Grundgesetzes waren alle politischen Richtungen bestrebt, die Gleichgewichtskonstruktion der Weimarer Reichsverfassung zu vermeiden und die Stellung des Parlaments sowie der parlamentarisch gewählten Regierung auf Kosten des Präsidentenamtes zu stärken. Dieses Bestreben kommt zunächst in dem Verzicht auf die unmittelbare Wahl des Staatsoberhauptes durch das Volk zum Ausdruck. Der CDU-Abg. Dr. Süsterhenn erklärte hierzu vor dem Plenum des Parlamentarischen Rates, die Weimarer Präsidentenwahlen hätten erwiesen, dass die Volkswahl für das deutsche Volk nicht die geeignete Form ist. Im Jahre 1925 sei der „Kandidat der Reaktion” gewählt worden, und 1932 hätten die demokratischen Kräfte durch ihre Unterstützung der Wiederwahl Hindenburgs „aus Angst vor dem Tode Selbstmord begangen”296. In die gleiche Richtung zielen die ebenfalls vom Parlamentarischen Rat vorgenommene Verkürzung der Amtszeit auf fünf Jahre und die Beschränkung der Wiederwahl des Bundespräsidenten. Da das Grundgesetz auf Einrichtungen der plebiszitären Willensbildung bewusst verzichtet, verlor der Bundespräsident auch das dem Reichspräsidenten zustehende Recht, einen Volksentscheid über Gesetze anzuordnen, die das Parlament bereits beschlossen hatte. Übereinstimmung bestand auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat weiterhin über den Verzicht auf ein Notverordnungsrecht des Präsidenten im Sinne des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung. Die an der Grundgesetzberatung beteiligten Politiker berücksichtigten nicht nur die instrumentale, sondern auch die psychologische Wirkung dieses für das Schicksal der Weimarer Demokratie verhängnisvollen Artikels: Der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Menzel sagte hierzu im Plenum des Parlamentarischen Rates, vor 1933 sei es für die Parteien sehr leicht gewesen, die politische Verantwortung „abzuwälzen”, weil in der „politischen Kulisse” immer der Reichspräsident mit seinem Notverordnungsrecht bereitstand297. Mit der Neufassung des Präsidentenamtes im Grundgesetz war die Absicht verbunden, das Parteienparlament zur Verantwortlichkeit zu zwingen und auf diesem Wege seine Position im Verfassungssystem zu stärken. Neben der Frage des Notverordnungsrechts wurden nach 1945 vor allem die Rolle des Präsidenten bei der Regierungsbildung und seine Befugnis zur Parlamentsauflösung diskutiert298. In diesen beiden Punkten sollte das Bestreben der Nachkriegspolitiker besonders deutlich zum Ausdruck kommen, die parlamentarische Regierungsform gegenüber Weimar zu verbessern. Die Einflussmöglichkeiten des Weimarer Reichspräsidenten auf die Regierungsbildung betrachteten sie mit Recht als eine der Voraussetzungen für den Weg zum Präsidialsystem und damit auch für die Machtübernahme Hitlers. Im Herrenchiemsee-Konvent bestand deshalb bereits eine grundsätzliche Übereinstimmung, dass die Regierung in ein „möglichst enges Verhältnis zum Bundestag gebracht werden müsse”. Der Kanzler sollte vom Parlament gewählt und nicht, wie nach Art. 53 der Weimarer Verfassung, vom Präsidenten ernannt werden. Der Herrenchiemsee-Konvent blieb jedoch auf halben Wege stehen, weil er im Art. 87 seines Entwurfs ein aufschiebendes Veto des Bundespräsidenten gegen den vom Bundestag „benannten” Kanzler vorsah. 295 Vgl. JöR, N. F. Bd. 1, S. 379 f. und V. Otto: Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates. Ein Beitrag zur Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1971, S. 138 ff. 296 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 66 297 a. a. O. , S.77 298 vgl. hierzu die systematische Darstellung von Jean Amphoux: Le Chancellier Fédéral dans le Régime Constitutionnel de la République Fédérale d`Allemagne, Paris 1962, S. 30-116. 102 Der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates nahm zunächst einen sozialdemokratischen Antrag an, welcher die Kanzlerwahl ausschließlich dem Parlament zusprach und den Bundespräsidenten zur Ernennung des Gewählten verpflichtete. Auf Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses entschied man sich schließlich für einen Mittelweg zwischen der reinen Parlamentswahl und der Nominierung durch den Präsidenten: Der Bundespräsident erhielt das Vorschlagsrecht im ersten Wahlgang; falls sein Kandidat nicht die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält, geht das Vorschlagsrecht auf das Parlament über. Diese Regelung erlaubt es dem Präsidenten nicht mehr, dem Bundestag einen Kanzler aufzuzwingen. Lediglich bei unübersichtlichen Mehrheits- und Koalitionsverhältnissen hat er die Möglichkeit – wie der CDU-Abgeordnete Dr. von Mangoldt im Hauptausschuss betonte -, durch seinen Vorschlag das Ergebnis der Kanzlerwahl und die Zusammensetzung der Regierung zu beeinflussen299. Während der Weimarer Reichspräsident aufgrund seiner Machtbefugnisse die Position eines “Ersatzkaisers” einnahm, hat sich der Parlamentarische Rat bei der Formulierung der Kompetenzen und Aufgaben des Staatsoberhaupts im wesentlichen am Vorbild der konstitutionellen Monarchie orientiert300. Die Vorschläge zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems bezogen sich nach 1945 allerdings nicht nur auf das Präsidentenamt, sondern auch auf die Stellung der Regierung im Verfassungssystem. Bereits in den Ländern und auf Herrenchiemsee war man bestrebt, die Führungsrolle und die Verantwortlichkeit des Ministerpräsidenten stärker herauszustellen als in der Weimarer Reichsverfassung. Erst der Parlamentarische Rat verwirklichte das “Kanzlerprinzip” in vollem Umfang, indem er dem Regierungschef laut Verfassung die alleinige Entscheidung über die Berufung und Entlassung seiner Kabinettskollegen zusprach. In der politischen Praxis ist der Kanzler hierbei allerdings an die Koalitions- und Mehrheitsverhältnisse im Parlament gebunden. Ein bemerkenswerter Versuch zur Stabilisierung der parlamentarischen Regierung mit verfassungspolitischen Mitteln war nach 1945 zweifellos das konstruktive Misstrauensvotum. Sein Grundgedanke besteht darin, den Sturz der Regierung durch das Parlament nur zuzulassen, wenn gleichzeitig ein neuer Kanzler gewählt wird. Diese Verfassungskonstruktion ist auf die politischen Verhältnisse in den Ländern gegen Ende der Weimarer Republik zurückzuführen: In Preußen, Bayern, Württemberg, Hessen und Hamburg waren zwischen 1930 und 1933 oft mehrere Jahre lang geschäftsführende Regierungen im Amt, denen eine regierungsunfähige Landtagsmehrheit aus KPD, NSDAP und DNVP gegenüberstand. Schon damals gab es Reformbestrebungen mit dem Ziel, die amtierende Landesregierung vor heterogenen Parlamentsmehrheiten zu schützen und das Misstrauensvotum mit der Regierungsneubildung zu verbinden301. In den Verfassungsüberlegungen des Widerstandes und der Emigration bestand bereits ein weitgehender Konsensus über die Neufassung des Misstrauensvotums: Ein Programmentwurf der sozialdemokratischen Politiker Stampfer, Geyer und Rinner vom November/ Dezember 1933 schlägt zum Beispiel vor, die Ablösung des Regierungschefs nur noch durch die Wahl eines Nachfolgers zuzulassen302. Eine Denkschrift des Kreisauer Kreises aus dem Jahre 1942 nimmt ebenfalls den Grundgedanken des konstruktiven Misstrauensvotums vorweg. Sie sieht vor, dass der vom Reichspräsidenten mit Zustimmung des Reichstages zu ernennende Reichskanzler nur gestürzt werden kann, wenn das Parlament gleichzeitig einen neuen Kanzler vorschlägt303. 299 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 550 f. und 597 sowie PR- Hauptausschuss, 4. Sitzung vom 17. November 1948 300 so V. Otto: Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates... S. 146 ff. 301 F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz... S. 102 ff. 302 Text bei E. Matthias - W. Link (Hrsg.): Mit dem Gesicht nach Deutschland, Düsseldorf 1968, S. 208. 303 Text bei G. van Roon: Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung. München 1967, S. 546 f. 103 Bei den Verfassungsberatungen der Jahre 1946/47 formulierte man zunächst eine Vorform des konstruktiven Misstrauensvotums. Nach den Verfassungen von Baden, Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Bremen muss die Regierung im Falle des Misstrauensvotums ihren Rücktritt erklären, der jedoch erst wirksam wird, wenn der Landtag eine neue Regierung wählt304. Von hier aus war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum konstruktiven Misstrauensvotum, das die Rücktrittsverpflichtung unmittelbar an die Nachfolgewahl bindet. Der Herrenchiemsee-Konvent formulierte das modifizierte Misstrauensvotum dem Sinne nach zum erstenmal so, wie es später auch in das Grundgesetz übernommen wurde. Im Art. 90 seines Entwurfs heißt es: „Der Bundestag kann dem Bundeskanzler sein Misstrauen nur dadurch aussprechen, dass er den Bundespräsidenten unter Benennung eines Nachfolgers ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen.”. Über diese Verfassungsbestimmung bestand weitgehende Übereinstimmung, denn der Konvent erwähnt weder im Entwurf noch im kommentierenden Teil eine abweichende Auffassung. Zur Begründung seines Vorschlags führt der Bericht über den Verfassungskonvent die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit an. Damals sei das Misstrauensvotum oft von negativen Mehrheiten beschlossen worden, die selbst nicht beabsichtigten, sich auf ein politisches Konzept zu einigen und eine Regierung zu bilden. Aufgrund dieser Konstellation hätten geschäftsführende Regierungen oft für längere Zeit die Regierungsaufgaben wahrnehmen müssen. Mit der Vorschrift einer konstruktiven Mehrheit glaubte der Konvent, den Missbrauch dieses Votums als „Akt bloßer Obstruktion” in Zukunft vermeiden und die „echten parlamentarischen Spielregeln” wiederherstellen zu können305. Aufgrund dieser Vorarbeiten fand der Gedanke des positiven oder konstruktiven Misstrauensvotums in der Generaldebatte des Parlamentarischen Rates bei den Sprechern der beiden großen Fraktionen, Dr. Süsterhenn (CDU) und Dr. Menzel (SPD), uneingeschränkte Zustimmung306. Im weiteren Verlauf der Beratungen gab es hierzu eine Grundsatzdiskussion im Hauptausschuss, aus der hervorgeht, dass sich die beteiligten Politiker der beschränkten Wirksamkeit dieser Verfassungsklausel durchaus bewusst waren. Der Abgeordnete Dr. v. Mangoldt (CDU) stellte die Frage, ob hier tatsächlich eine „Patentlösung” vorliege oder nicht vielmehr die Verfassungswirklichkeit verschleiert werde. Sobald der Kanzler die Mehrheit im Parlament verliere, müsse man bereits mit Koalitionsverhandlungen hinter seinem Rücken rechnen. Auch der Bundestag sei in dieser Situation kaum noch arbeitsfähig. Für die politische Praxis würden sich daher „sehr unangenehme Verhältnisse” ergeben. Nach Auffassung Dr. Dehlers (FDP) kann die Neufassung des Misstrauensvotums über das Vorliegen einer parlamentarischen Krise nicht hinwegtäuschen, die seiner Ansicht nach nur durch die Auflösung des Parlaments zu beheben war. Die sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Katz und Dr. Greve sahen zwar ebenfalls die Grenzen des konstruktiven Misstrauensvotums und bezeichneten es als „eine mehr oder weniger brauchbare verfassungsrechtliche Konstruktion”. Die Fassung von Herrenchiemsee schien ihnen jedoch den Vorteil der größeren Klarheit zu haben. Wenn der Kanzler schon die Mehrheit im Parlament verlor, sollte er nicht noch zusätzlich mit einem „offiziellen Misstrauensvotum” belastet werden307. Vieles spricht dafür, dass der Parlamentarische Rat von dieser Regelung in erster Linie eine psychologische Wirkung und weniger die Verbesserung der machtpolitischen Position des bedrohten Kanzlers erwartete. Das Misstrauensvotum hat allerdings in der gesamten Geschichte der Weimarer Republik nur zweimal zum Sturz der Reichsregierung geführt – und zwar im Mai 1926 gegenüber der 304 Verfassung des Landes Baden vom 22. Mai 1947, Art. 80; Verfassung für Württemberg-Baden vom 28. November 1946, Art. 73; Verfassung für Württemberg-Hohenzollern vom 20. Mai 1947, Art. 51; Landesverfassung der Freien und Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947, Art. 110. 305 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 552 und 598 306 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 60 und 73 f. 307 PR-Hauptausschuss, 3. Sitzung vom 16. November 1948 104 zweiten Regierung Luther und im September des gleichen Jahres gegenüber dem dritten Kabinett des Reichskanzlers Marx, der dem Zentrum angehörte. In der Regel gab der Zerfall der Koalition den Anstoß für den Rücktritt der Regierungen, und diese Möglichkeit bleibt auch nach der Neuformulierung des Misstrauensvotums im Bonner Grundgesetz uneingeschränkt bestehen308. 2. Volksentscheid und Parlamentsauflösung Die drei größten Fraktionen des Parlamentarischen Rates kamen zu der übereinstimmenden Auffassung, auf plebiszitäre Verfahrensweisen im Grundgesetz zu verzichten. Volksbegehren und Volksentscheid sind dementsprechend auf Bundesebene im Gegensatz zu den Länderverfassungen nicht vorgesehen. Die einzige Ausnahme bildet hier die Volksabstimmung bei der Änderung der Ländergrenzen nach Art. 29 des Grundgesetzes. Außerdem wurde die Möglichkeit der Bundestagsauflösung vom Verfassungsgeber beschränkt, wenngleich es über das Ausmaß dieser Beschränkung in den siebziger und achtziger Jahren Diskussionen gab. Die Kritik an den etablierten Parteien der Bundesrepublik und der Erfolg der Bürgerbewegung in der DDR haben dazu geführt, dass die partizipatorischen Elemente der Demokratie bereits in den achtziger Jahren diskutiert und mit der deutschen Einigung in den Mittelpunkt der Verfassungsdebatte rückte. In diesem Zusammenhang griff man auch auf die Entscheidungen des Parlamentarischen Rates zurück und stellte die Frage, weshalb die Autoren des Grundgesetzes für eine nahezu lupenreine repräsentative Form der Demokratie optierten. Die Antwort auf diese Frage ist schwierig, weil nur vier Mitglieder des Rates für plebiszitäre Instrumente eintraten und deshalb kaum Anreiz für ausführliche Diskussionen bestand. Die Entscheidung für die repräsentative Willensbildung schien für die weitaus meisten Mitglieder des Parlamentarischen Rates nicht nur selbstverständlich, sondern auch unproblematisch zu sein. Carlo Schmid (SPD) erklärte zu Beginn der Grundgesetzberatungen, ob der Bürger in Form der repräsentativen oder der plebiszitären Demokratie an der Gesetzgebung teilnehme, sei „im allgemeinen eine Zweckmäßigkeitsfrage”309. Man hat den Eindruck, die Problematisierung des Themas habe erst mit der Wiederbewaffnungsdiskussion der fünfziger Jahre begonnen. Der Parlamentarische Rat hatte über zwei unterschiedliche Abstimmungsvarianten zu entscheiden: Auf der einen Seite stellte sich die nur beiläufig erörterte Frage nach der Aufnahme von Volksabstimmungen in das Grundgesetz, auf der anderen Seite stand die ursprünglich von den Besatzungsmächten vorgeschlagene Volksabstimmung über das Grundgesetz selbst zur Diskussion. Die Gründe für den Verzicht auf eine Volksabstimmung über das Grundgesetz wurden nicht immer offen diskutiert und protokolliert, weil sie in einem engen Zusammenhang mit der Ost-West-Auseinandersetzung um Berlin standen und das Verhältnis zu den Besatzungsmächten unmittelbar betrafen. Die beginnende Berliner Blockade veranlasste die Ministerpräsidenten im Juli 1948, die Volksabstimmung abzulehnen und statt dessen die Ratifizierung des Grundgesetzes durch die Landtage vorzuschlagen. Hierbei ging es nicht um die pseudoplebiszitären Propagandaaktionen des von der SED gesteuerten „Deutschen Volkskongresses”, sondern um die Machtmittel der sowjetischen Besatzungsmacht. Die Moskauer Führung um Stalin konnte eine Volksabstimmung zum Anlass nehmen, den Druck auf West-Berlin zu verstärken. Gleichzeitig dachte man an das von den Westmächten angekündigte Besatzungsstatut, dessen Inhalt noch unbestimmt war. Dass die Abstimmung über das Grundgesetz zu einem Votum gegen das Besatzungsstatut werden könnte, war nicht ganz auszuschließen. Das Provisoriumskonzept der westdeutschen Politiker sollte ebenfalls ernst genommen werden. Mit ihrer These, im Westen werde kein Teilstaat, sondern nur eine Übergangslösung geschaffen, rechtfertigten sie ihre Politik in den Landesparlamenten sowie gegenüber 308 F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz... S. 79 ff. 309 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 36 105 kommunistischen und nationalen Kritikern. Bei der späteren Diskussion zur Volksabstimmung über das Grundgesetz wurde häufig übersehen, dass die Besatzungsmächte ein risikoreiches Abstimmungsverfahren festgelegt hatten. Die Londoner Sechsmächtekonferenz forderte eine Abstimmung in den einzelnen Bundesländern. Falls die Bevölkerung in zwei Dritteln der Länder (d. h. in acht von elf) zustimmte, war demnach das Grundgesetz angenommen. Vier kleine Länder dagegen konnten die Verfassung zu Fall bringen, obwohl sie - wie der schleswigholsteinische Ministerpräsident Lüdemann bei der Ministerpräsidentenkonferenz auf dem Rittersturz bemerkte - noch nicht einmal ein Drittel der Einwohner Westdeutschlands stellten. Es ging also bei dem von den Besatzungsmächten vorgeschlagenen Referendum nicht um eine Mehrheitsentscheidung der westdeutschen Bevölkerung, sondern es bestand die Gefahr, dass eine Minderheit von weniger als 20 % der Abstimmenden ein negatives Ergebnis herbeiführen könnte310. Nachdem der Herrenchiemsee-Konvent die Volksabstimmung in den Ländern und die Annahme des Grundgesetzes durch Landtagsbeschlüsse als gleichwertige Alternativen vorgeschlagen hatte, schob der Parlamentarische Rat das Problem zunächst vor sich her. Der Organisationsausschuss legte erst Anfang Dezember 1948 auf Mahnung des Allgemeinen Redaktionsausschusses einen Entwurf vor, der einen Volksentscheid entsprechend der Londoner Vereinbarungen vorsah. Der Hauptausschuss nahm diesen Vorschlag am 7. Dezember zunächst ohne Debatte mit nur einer Gegenstimme an . Die Militärgouverneure vermieden in dieser Phase eine genaue Aussage zur Ratifizierungsfrage. Als Adenauer am 18. November dem britischen Militärgouverneur seine Bedenken wegen der geringen Vorbereitungszeit für die Abstimmung vortrug, schlug dessen Berater Steel vor, die Bundestagswahl und die Abstimmung über das Grundgesetz am gleichen Tag abzuhalten. Am 17. Dezember erklärten die Militärgouverneure, die Fassung des Hauptausschusses mit der damals in Art. 148 e vorgesehenen Volksabstimmung in den Ländern entspreche den alliierten Vorgaben. Falls diese Fassung geändert werde, wären sie bereit, hierüber zu beraten. In Wirklichkeit waren nicht nur die Engländer und Franzosen, sondern auch die Amerikaner mit einer Ratifizierung durch die Landtage längst einverstanden. General Clay hatte aber durchgesetzt, die deutsche Seite über die Konzessionsbereitschaft nicht zu informieren, weil er ein Referendum für die bessere Lösung hielt311. Auf deutscher Seite sprach sich der SPD-Vorstand eindeutig gegen die vom Hauptausschuss der Parlamentarischen Rates vorgesehene Volksabstimmung aus. In der Fraktion solle „klar gemacht werden”, heißt es im Sitzungsprotokoll vom 10./11. Dezember 1948, dass die Ratifizierung durch die Landtage die einzige Chance sei, „relativ schnell zum Ende zu kommen”. Die SPD-Abgeordneten im Parlamentarischen Rat vertraten von da an in den Ausschüssen konsequent diese Linie und benutzten die Zeitplanung als Hauptargument. In der FDP-Fraktion setzten sich Dr. Dehler und Dr. Becker energisch für die Volksabstimmung ein, während Theodor Heuss Bedenken hatte, Abstimmung und Bundestagswahl an einem Tag stattfinden zu lassen. Die Unionsfraktion des Parlamentarischen Rates entschied sich am 20. Januar 1949 ohne ersichtliche Differenzen für die Volksabstimmung über das Grundgesetz312. Anfang Februar deutete sich aber bereits ein Meinungswandel in der Unionsfraktion an, der für die weitere Entwicklung entscheidend sein sollte. Adenauer trat bei einer Besprechung mit den Ministerpräsidenten im Gegensatz zu seinen Fraktionskollegen für eine Abstimmung in den Landtagen 310 PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 94; ausführlicher K. Niclauß: Der Parlamentarische Rat und die plebiszitären Elemente (APuZ B 45/92, S. 3-15) 311 PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 35 f. und 70 f.; O. Jung: Grundgesetz und Volksentscheid, Opladen 1994, S. 221 f. und 268 ff. 312 SPD-PV, Protokoll v. 10./11.12.1948 (AdsD); O. Jung: Grundgesetz und Volksentscheid.... 260 f. und 263 f.; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, Stuttgart 1981,.S. 350 106 ein. Die CDU/CSU revidierte nach und nach ihren Beschluss für die Volksabstimmung und schwenkte ab März 1949 auf die SPD-Linie ein. Der Grund für diesen Wandel ist in der zunehmenden Auseinandersetzung über die Berücksichtigung des sogenannten Elternrechts sowie über die Anerkennung des Reichskonkordats von 1933 im Grundgesetz zu sehen. Diese Diskussion wird im VI. Kapitel ausführlicher geschildert. Sie führte auch zu Anträgen, Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz aufzunehmen. Adenauer spielte im Januar 1949 selbst mit dem Gedanken eines speziellen Volksentscheides für weltanschauliche Fragen, weil zu diesem Zeitpunkt eine Fusion zwischen CDU und Zentrumspartei erreichbar schien. Die ganze Gefahr dieses Manövers wurde ihm aber bewusst, als der Bischof von Münster, Keller, Anfang Februar den Standpunkt vertrat, er müsse aufgrund der Ablehnung des Elternrechts durch den Parlamentarischen Rat den Katholiken das “Nein” in der Abstimmung zum Grundgesetz empfehlen. Adenauer schrieb einen alarmierenden Brief an den Kölner Erzbischof Frings, der die „katastrophale Bedeutung” dieses Schrittes für die CDU/CSU deutlich machte: Sie würde im Vorfeld der ersten Bundestagswahl für das Grundgesetz stimmen, während maßgebende Vertreter der Kirche ihre Gläubigen dazu auffordern, gegen die Verfassung zu votieren. Für Adenauer und viele andere CDU/CSU-Politiker war die Landtagsabstimmung angesichts dieser Perspektive der sicherere Weg. Der spätere Außenminister v. Brentano z.B. gehörte aber zur „rigorosen Minderheit” (O. Jung) und hielt zusammen mit der FDP bis zum Schluss an der Forderung nach Volksabstimmung fest313. Angesichts der insgesamt dürftigen Quellenlage sollte man sich vor einer monokausalen Erklärung des Verzichts auf die Volksabstimmung über das Grundgesetz hüten. Die Einflussnahme der Kirchen und insbesondere die katholische „Volksbewegung” für das Elternrecht leisteten aber zweifellos einen wichtigen Beitrag zum Konsensus der beiden großen Parteien in dieser Frage. Entgegen der Interpretation von Otmar Jung war in der Endphase der Grundgesetzberatungen die „Gefahr aus Münster” um ein vielfaches höher als die im Parlamentarischen Rat kaum wahrgenommene kommunistische Gefahr aus Ost-Berlin. In der Frage nach der Aufnahme von Volksbegehren und Volksentscheid in das Grundgesetz schien sich zu Beginn des Parlamentarischen Rates eine Kontroverse anzukündigen. Statt dessen breitete sich aber zwischen den Fraktionen aber ein übereinstimmendes Desinteresse aus, das erst im Dezember 1948 durch konkrete Anträge zur Einführung plebiszitärer Verfahrensweisen unterbrochen wurde. Bei der Eröffnungsdiskussion des Plenums erklärte der sozialdemokratische Sprecher Dr. Walter Menzel, man werde Volksbegehren und Volksentscheide “unter bestimmten technischen Voraussetzungen” zulassen müssen. Er vertrat damit die Linie seiner beiden Vorentwürfe zum Grundgesetz, die eine entsprechende Möglichkeit eröffneten. Menzels Ausführungen stimmten auch mit den 1947 vom Parteitag der SPD beschlossenen „Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik” überein. Die Richtlinien sahen allerdings einen Volksentscheid „nur für bestimmte, in der Verfassung festgelegte Fälle” vor. Die generelle Regel lautete: „Die Gesetze werden vom Reichstag beschlossen”. Menzel hatte 1947 vor dem Parteitag argumentiert, falls man „das schwerfällige Instrument des Volksentscheids” in allen Fällen zulasse, könne sich das Parlament bei unbequemen Entscheidungen der Verantwortung entziehen314. Die Volksgesetzgebung war nach sozialdemokratischen Verfassungsvorstellungen von vornherein der Parlamentsgesetzgebung unterordnet. An erster Stelle stand das Ziel, den Entscheidungsspielraum und die Verantwortlichkeit der Parlamentsmehrheit sicherzustellen. Theodor Heuss (FDP) widersprach Menzel mit dem oft zitierten “Cave canem” und warnte davor, die “künftige Demokratie” mit Volksbegehren und Volksentscheid zu belasten. Er begründete seine Ablehnung mit der typisch konstitutionell-demokratischen Argumentation, die unmittelbare Demokratie 313 PR Akten und Protokolle Bd. 11, S. 86; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, Stuttgart 1981, S. 407 und 544; Adenauer. Briefe 1947-1949, o.O.,o.J. S. 397 ff. 314 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 77; Protokoll SPD Parteitag 1947, S. 131 und 226 107 sei nur in überschaubaren Bereichen praktikabel. In der “großräumigen Demokratie” und “in der Zeit der Vermassung und Entwurzelung” werde sie jedoch zu einer “Prämie für jeden Demagogen”. Menzel berichtete dem Parteivorstand in Hannover über die ablehnende Haltung des FDP-Sprechers zu Volksbegehren und Volksentscheid und fügte hinzu, man habe in der sozialdemokratischen Fraktion des Parlamentarischen Rates hierüber noch nicht gesprochen, werde dies aber nachholen315. Eine Erörterung in der Fraktion fand aber offenbar nicht statt, denn in den folgenden Berichten Menzels wird das Thema nicht mehr erwähnt. Auch auf den Vorstandssitzungen der SPD wurden Volksbegehren und Volksentscheid nicht erörtert, obwohl die Parteiführung ausführlich und zum Teil kontrovers über Einzelbestimmungen des Grundgesetzentwurfs diskutierte. Das Thema verschwand im Parlamentarischen Rat für nahezu drei Monate von der Bildfläche. Die Sozialdemokraten hielten es offenbar für nebensächlich und sahen keinen Anlass, eine aus ihrer Sicht überflüssige Kontroverse mit den Liberalen anzuzetteln. Für eine Furcht vor kommunistischer Agitation gibt es in den vertraulichen Berichten Menzels und bei den Beratungen des Vorstandes keinen Anhaltspunkt. Als die Fraktion des Zentrums Anfang Dezember 1948 den offenbar hastig formulierten Antrag auf Aufnahme des Volksentscheides ins Grundgesetz einbrachte, hatte der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates gerade das sogenannte Elternrecht in erster Lesung abgelehnt316. Das Ziel des Antrags war offenbar, nach Verabschiedung des Grundgesetzes eine entsprechende Regelung durch Volksbegehren und Volksentscheid durchzusetzen. In der Eröffnungsdebatte des Plenums vom September 1948 hatte der Zentrumssprecher Brockmann die Verfahrensweisen der unmittelbaren Demokratie überhaupt nicht erwähnt. Dass die KPD sich der Initiative des Zentrums anschloss und ebenfalls einen Antrag auf Volksbegehren stellte, der allerdings besser formuliert war, trug ebenfalls nicht zur Glaubwürdigkeit des Vorhabens bei. SPD und FDP waren angesichts der damals anlaufenden katholischen Unterschriftenaktion nicht bereit, ein Vehikel für das Elternrecht in das Grundgesetz aufzunehmen. Andererseits waren beide Fraktionen auch nicht daran interessiert, die Auseinandersetzung mit den Kirchen über die Fragen des Erziehungswesens und der Konkordate zu verschärfen. Dr. Heuss und Dr. Katz griffen deshalb in ihrer Entgegnung auf ihre persönlichen Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik zurück, die aus heutiger Sicht kritisch kommentiert werden können. Der Hinweis von Katz, es sei „unpraktisch, in den jetzigen aufgeregten Zeiten derartige Zweifelsfragen zum Gegenstand großer Debatten zu machen”, kann als Hinweis auf die damals aktuellen politischen Motive bewertet werden. Der Zentrumsantrag wurde auch von den Sprechern der CDU im Hauptausschuss (Dr. v. Mangoldt, Dr. Fecht) abgelehnt und scheiterte dort mit 18 zu 3 Stimmen317. Der Plan eines Volksentscheids bei Änderungen des Grundgesetzes hatte im Parlamentarischen Rat größere Erfolgsaussichten. Nach dem Entwurf des Herrenchiemsee-Konvents sollten alle Verfassungsänderungen nicht nur mit Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat, sondern außerdem in einer Volksabstimmung beschlossen werden. In der ersten Lesung des Hauptausschusses verzichtete man auf die obligatorische Volksabstimmung bei allen Verfassungsänderungen. Ein Volksentscheid sollte nur noch notwendig sein, falls ein Viertel der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates dies verlangt. Bei den interfraktionellen Besprechungen vom 25. Januar 1949 kam man überein, die Möglichkeit des Verfassungsreferendums ganz aus dem Grundgesetzentwurf zu streichen. Da die Aufzeichnungen über diese Besprechung keinen Hinweis auf die Motive enthalten, ist man bei der Interpretation auf die vorangehenden Diskussionen angewiesen. Wie aus den Beratungen des Hauptausschusses hervorgeht, hatte die SPD-Fraktion bereits Anfang Dezember 1948 vergeblich die 315 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 111 f.; Menzel an Ollenhauer vom 17. September 1948 (NL C. Schmid, 1162 - AdsD) 316 vgl. hierzu Kapitel VI.4. 317 PR-Hauptausschuss, 22. Sitzung vom 8. Dezember 1948 108 Streichung der Volksabstimmung über Verfassungsänderungen beantragt. Die von Dr. Katz hierzu vorgetragene Begründung entsprach dem Grundgedanken der sozialen Mehrheitsdemokratie: Da für Änderungen des Grundgesetzes bereits die Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat vorgeschrieben war, bot die Volksabstimmung eine weitere Möglichkeit der „Verzögerung” und „Verschleppung” bei „notwendig werdenden dringenden Verfassungsänderungen”. Der Vorschlag, zusätzlich zur Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern auf Antrag einer Minderheit von Abgeordneten noch eine Volksabstimmung stattfinden zu lasen, war in der Tat eine Anhäufung von „checks and balances” und damit eine typisch konstitutionell-demokratische Konstruktion318. Ob die SPD bei den interfraktionellen Besprechungen ihre Auffassung durchsetzte, oder die Teilnehmer von CDU/CSU, FDP und DP (das Zentrum und die KPD waren auf dieser Sitzung nicht vertreten) die Fragwürdigkeit des Entwurfs einsahen, bleibt offen. Der Parlamentarische Rat verzichtete damit auf die in anderen Verfassungsstaaten und in den Bundesländern vorgesehenen Verfahrensweisen der unmittelbaren Demokratie. Die einzige Ausnahme war das sogenannte Territorialplebiszit nach Art. 29 GG. Es schreibt Volksabstimmungen bei Änderung der Ländergrenzen vor und war zwischen Fraktionen unumstritten, obwohl die Festlegung des Abstimmungsverfahrens einigen Zeitaufwand erforderte. Volksbegehren und Volksentscheid lagen sozusagen quer zu den im Parlamentarischen Rat vertretenen Demokratiekonzeptionen: Aus Sicht der sozialen Mehrheitsdemokratie beeinträchtigten sie die zentrale Position des Parlaments im Verfassungssystem, aus Sicht der konstitutionellen Demokratie bedrohten sie das System der „checks and balances” einschließlilch der Mitwirkungsrechte des Bundesrates319. Die Frage der Parlamentsauflösung gehört ebenfalls zum Problembereich der unmittelbaren Demokratie, denn eine vorzeitige Neuwahl der Abgeordneten löst zwar im Gegensatz zum Volksentscheid keine Sachprobleme. Sie verbessert aber durch Personalentscheidungen möglicherweise die Voraussetzungen für neue Wege und Lösungen. Der sozialdemokratische Verfassungsexperte Dr. Walter Menzel stellte zu Beginn der Grundgesetzberatungen sogar den Volksentscheid über die Auflösung des Parlaments zur Diskussion320. Der Parlamentarische Rat war jedoch in erster Linie bemüht, bei der Regelung der Bundestagsauflösung eine mit der Weimarer Republik vergleichbare Entwicklung auszuschließen. Nach Art. 25 der Weimarer Reichsverfassung von 1919 hatte der Reichspräsident das Recht zur Reichstagsauflösung und war hierbei an zwei Bedingungen gebunden: Die Auflösung durfte nur „einmal aus dem gleichen Anlass” erfolgen und musste außerdem vom Reichskanzler gegengezeichnet werden. Diese beiden Beschränkungen erwiesen sich in der Verfassungspraxis als unwirksam. Zur ersten Bedingung setzte sich die staatsrechtliche Auslegung durch, der „Anlass” sei stets auf den Einzelfall begrenzt. Da die politischen Verhältnisse sich dauernd ändern, könne man in Wirklichkeit kaum jemals von einem „gleichen” Anlass sprechen321. Die Gegenzeichnungspflicht durch den Kanzler war vor allem in der Schlussphase der Republik als Kontrollmittel wirkungslos, weil ein vom Misstrauensvotum bedrohter Reichskanzler kaum interessiert sein konnte, die Auflösung zu verhindern. Das Auflösungsrecht bildetet neben dem Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung und dem Recht des Reichspräsidenten zur Nominierung des Kanzlers die Voraussetzung für die Präsidialregierungen unter Hindenburg und wurde in der Nachkriegsdiskussion entsprechend kritisch bewertet. Nachdem sich 1946/47 die Pläne zur Einführung von Staatspräsidenten in den Ländern nicht durchsetzen konnten, entschieden sich hier die Verfassungsgeber in der Regel für die Selbstauflösung des Landtages 318 PR-Hauptausschuss, 12. Sitzung vom 1. Dezember 1948; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 360 ff. 319 K. Niclauß: Der Parlamentarische Rat und die plebiszitären Elemente...S. 11 ff. 320 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.77 321 F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz... S. 50 109 oder für die Auflösung aufgrund von Volksbegehren und Volksentscheid. Eine Selbstauflösung des Parlaments sehen auch die beiden Menzel-Entwürfe von 1948 vor322. Der Herrenchiemsee-Konvent lehnte diese Möglichkeit jedoch ab, weil dem Parlament und den Parteien hiermit ein Ausweg eröffnet werde, sich in kritischen Situationen der Verantwortung zu entziehen. Auch die Parlamentsauflösung durch Volksentscheid fand bei den Beratungen zum Grundgesetz keine Unterstützung mehr. Im Parlamentarischen Rat waren alle Fraktionen bestrebt, Parlamentsauflösungen in Zukunft zu erschweren. Bei den ausführlichen Beratungen über die Wahl des Bundeskanzlers stellte sich jedoch heraus, dass diese Möglichkeit bei der Regierungsbildung nicht auszuschließen war. Falls sich die Mehrheit des neugewählten Bundestages nicht auf einen Kanzler einigen kann, hat daher der Bundespräsident die Wahl, entweder einen Minderheitenkanzler zu ernennen oder das Parlament aufzulösen. Im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen erwies sich eine zweite Variante der Bundestagsauflösung als notwendig: Der aus den Abgeordneten v. Brentano (CDU), Dehler (FDP) und Zinn (SPD) bestehende Allgemeine Redaktionsausschuss ging der Frage nach, was passiert, wenn ein Parlament der Regierung die Unterstützung verweigert, gleichzeitig aber „an seinen Sesseln klebt” (Dehler) und kein konstruktives Misstrauensvotum zustandebringt. Als Lösung bot sich die Vertrauensfrage im Sinne des späteren Art. 68 GG an: Wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht von der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags positiv beantwortet wird, kann dieser dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestags vorschlagen. Der Parlamentarische Rat betrachtete diese Grundgesetzbestimmung als ein Instrument zur Stärkung der Regierung. Umstritten ist, ob die Autoren des Grundgesetzes darüber hinaus dem Bundeskanzler den Weg zu Neuwahlen eröffnen wollten, wie er 1972 und 1982 begangen wurde. Für diese Interpretation sprechen die Ausführungen von Dr. Rudolf Katz (SPD), der den Grundgesetzartikel zur Vertrauensfrage formulierte. Katz erklärte in der ersten Lesung des Hauptausschusses, bei der Vertrauensfrage handele es sich nicht nur um einen Ausweg „im Falle eines ernsthaften politischen Konflikts”, sondern auch um ein Auflösungsrecht „für den Fall, dass die Bundesregierung den Wunsch hat, eine wichtige politische Frage durch das Volk entscheiden zu lassen”. Bei der zweiten Lesung im Hauptausschuss wiederholte Katz diese Interpretation und erklärte: „Der Sinn des Artikels . . . ist, der Regierung die Chance einer Neuwahl zu geben, wenn sie es für gegeben erachtet”323. 3. Demokratie- und Verfassungsschutz in der Nachkriegsdiskussion Der Versuch, das parlamentarische Regierungssystem mit institutionellen Reformen zu stabilisieren, wurde in der Nachkriegsdiskussion von Überlegungen begleitet, die man zusammenfassend als den Grundsatz der abwehrbereiten Demokratie bezeichnen kann. Diese Überlegungen ergaben sich aus den Erfahrungen der Weimarer Republik: Damals benutzten antidemokratische Bewegungen die demokratischen Rechte und Freiheiten zum Kampf gegen die Demokratie und hatten hiermit schließlich auch Erfolg. Ein bezeichnendes Beispiel für diese Methode war die von Hitler schon in den zwanziger Jahren propagierte Legalitätstaktik des Nationalsozialismus. Das Weimarer Verfassungssystem billigte grundsätzlich allen die demokratischen Rechte ohne Ansehen ihrer politischen Zielvorstellungen und Absichten zu. Nach 1945 dagegen war man allgemein der Auffassung, nur wer auf dem Boden der demokratischen Verfassung stehe, könne die politischen Freiheiten für sich in Anspruch nehmen. An die Stelle der “formalen Toleranz” von Weimar solle eine “gegenseitige Toleranz” treten nach dem Grundsatz: Die Demokratie toleriert nur diejenigen, die auch ihrerseits bereit sind, die demokratische 322 Text bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 269 und 282. 323 PR-Hauptausschuss, 4. und 33. Sitzung vom 17.11.1948 und 8.1.1949, Stenoprot. S. 44 und 415; K. Niclauß: Mehr Spielraum für den Kanzler (Die Zeit, 3. 12. 1982, S. 5) 110 Grundordnung anzuerkennen. Bereits zur Zeit der Weimarer Republik gab es allerdings Ansätze, den Grundsatz der abwehrbereiten Demokratie zu verwirklichen. Von den Verordnungen im Anschluss an die Ermordung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger (August 1921) bis zum Verbot der SA und SS im gesamten Reichsgebiet (April 1932) diente das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 mehrfach zur Bekämpfung antidemokratischer Bestrebungen. Außerdem bestand die Möglichkeit, durch Verfassungsänderungen über die Neutralität der Reichsverfassung gegenüber verfassungsfeindlichen Bestrebungen hinauszugehen. Diesen Weg beschritt man mit dem “Gesetz zum Schutz der Republik” vom Juli 1922, das fünf Jahre lang galt und 1927 für weitere zwei Jahre verlängert wurde. Für eine erneute Verlängerung war jedoch im Jahre 1929 die notwendige Zweidrittelmehrheit im Reichstag nicht mehr zu erreichen, weil sich die DNVP unter der Führung Hugenbergs inzwischen gegen das Gesetz aussprach. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Schutzgesetzgebung konnte damals – und hier liegt der entscheidende Unterschied zu den Nachkriegsregelungen – mit guten Gründen in Frage gestellt werden. Das Vorgehen gegen antidemokratische Kräfte aufgrund des berüchtigten Art. 48 der Reichsverfassung war zwar verfassungsmäßig besser fundiert, hing aber vom guten Willen des Reichspräsidenten ab. Die Aufhebung des SA- und SS-Verbots unter der Kanzlerschaft Papens unterstrich die Ambivalenz dieser Möglichkeit, denn der Republikschutz trat hier hinter dem Ziel zurück, die NSDAP in das Regierungskonzept einzubeziehen oder zumindest ihre Tolerierung zu erkaufen324. Das Prinzip der abwehrbereiten Demokratie lässt sich bis auf die Diskussionen in der deutschen Emigration zurückverfolgen. Der Ausdruck selbst (militant democracy) wurde zuerst von dem Verfassungsrechtler Karl Loewenstein benutzt. Loewenstein sprach bereits 1937 in der „American Political Science Review“ den vom Faschismus bedrohten Demokratien das Recht zu, Grundrechte aufzuheben und gegebenenfalls nichtdemokratische Parteien sowie paramilitärische Verbände zu verbieten. Der Sozialdemokrat Wilhelm Hoegner schildert in seinen Erinnerungen ähnliche Überlegungen. Er bezieht sich hierbei auf eine internationale Juristenkonferenz, die 1937 in Paris stattfand und sich zu dem Grundsatz „Demokratie nur für Demokraten” bekannte325. Mit Beginn der Verfassungsberatungen in Westdeutschland fand der Gedanke der abwehrbereiten Demokratie bereits allgemeine Anerkennung, wenn er auch noch nicht in allen Landesverfassungen eindeutig festgelegt wurde. In Baden sagte hierzu der Abg. Dr. Fecht (BCSV) als Berichterstatter, der vorliegende Entwurf der Landesverfassung enthalte das, was der Weimarer Verfassung gefehlt habe – nämlich den Grundsatz, dass jeder außerhalb der Verfassung stehe, sobald er die demokratischen Rechte in verfassungswidriger Weise missbrauche. Der Betreffende habe damit auch das Recht verwirkt, “sich gegenüber Notwehrhandlungen des Staates auf verfassungsmäßige Grundrechte und Freiheiten zu berufen”. Carlo Schmid bezeichnete 1946 in Württemberg-Baden die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit als Grundrechte, welche in antidemokratischer Weise Verwendung finden könnten. “Wir wollen uns nicht wieder dadurch lächerlich machen”, fügte er hinzu, “dass wir uns von Leuten, die politisch kein anderes Ziel hatten, als die Freiheit auszulöschen, grinsend vorhalten lassen: Wenn ihr uns daran hindert, dann verstoßt ihr gegen das Prinzip der Freiheit!”326. Der Gedanke der abwehrbereiten Demokratie kommt dementsprechend in mehreren frühen Landesverfassungen zum Ausdruck. Sie enthalten bereits die Möglichkeit zur Aberkennung von 324 G. Jasper: Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922-1930. Tübingen 1963, S. 69 ff. und 277 ff. 325 K. Loewenstein: Militant Democracy and Fundamental Rights, in: APSR, Vol. XXXI, 1937, S. 417 ff. und 638 ff.; ders.: Controle législatif de l´extrémisme politique dans les démocraties européennes, Paris 1939; W. Hoegner: Der schwierige Außenseiter... S. 250 326 Beratende Versammlung Badens, 11. Sitzung vom 10. April 1946 sowie Vorläufige Volksvertretung für Württemberg-Baden, 8. Sitzung vom 28. Mai 1946. 111 Grundrechten, wie sie später als „Grundrechtsverwirkung” mit dem Art. 18 in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Die hessische Verfassung nennt in diesem Zusammenhang die Rechte der freien Meinungsäußerung, der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie das Recht zur “Verbreitung wissenschaftlicher und künstlerischer Werke”. Über die Frage, ob im konkreten Einzelfall der Entzug dieser Rechte zulässig ist, hat der Staatsgerichtshof auf dem Beschwerdewege zu entscheiden. In Württemberg-Baden nahm man ähnliche Bestimmungen in die Grundrechtsartikel zur freien Meinungsäußerung und zum Vereinigungsrecht auf. Besonders weitgehend ist die Regelung der badischen Verfassung, weil sie die Verwirkung aller Grundrechte zulässt. Die Aberkennung von Grundrechten wird im Verfassungstext ausdrücklich als eine “Notwehrhandlung des Staates” bezeichnet, über deren Berechtigung der Verfassungsgerichtshof zu entscheiden hat. Die Verfassungen von Baden und Rheinland-Pfalz erweitern dieses Prinzip auf das Parteiensystem: Sie sehen das Verbot von verfassungswidrigen Parteien oder ihren Ausschluss von Wahlen und Abstimmungen vor327. Nach dem Vorbild der Länderverfassungen war man auch bei den Grundgesetzberatungen bestrebt, das Prinzip der abwehrbereiten Demokratie in erster Linie durch die Einschränkung bestimmter Grundrechte zu verwirklichen. Der Entwurf von Herrenchiemsee enthält in Art. 20 bereits die Bestimmung, wer die Freiheit der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit zum Kampf gegen die freiheitliche und demokratische Grundordnung verwende, könne sich in Zukunft nicht mehr auf diese Grundrechte berufen. Der Konvent erläuterte diesen Grundsatz mit dem Hinweis, “daß jede Demokratie, die in diesem Punkt achtlos ist, in Gefahr steht, selbstmörderisch zu werden”. Die Möglichkeit zur Einschränkung des Vereinigungsrechtes wurde außerdem durch einen Zusatz zu Art. 9 (Vereinigungsfreiheit) bekräftigt. Demnach sind alle Vereinigungen verboten, welche die Demokratie oder die Völkerverständigung gefährden. Für die Parteien sah der Konvent eine Sonderregelung vor, die bereits weitgehend dem Grundgesetz entspricht: Ein Parteienverbot sollte aufgrund dieser Bestimmung nur vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden können, falls die betreffende Partei die “Beseitigung der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung” anstrebt328. Über alle Verfassungsbestimmungen dieser Art bestand auf Herrenchiemsee eine grundsätzliche Übereinstimmung. Ein abweichendes Votum wird weder im Text des Entwurfs noch im kommentierenden Teil des Berichts erwähnt. Im Parlamentarischen Rat wurde der Kreis der in Frage kommenden Rechte gegenüber Herrenchiemsee erweitert: Nach und nach traten mit der Lehrfreiheit, dem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, dem Eigentum sowie dem Asylrecht weitere Grundrechte hinzu. Umstritten blieb allerdings, ob die Grundrechtsverwirkung von vornherein durch das Verfassungsgericht ausgesprochen oder erst auf Beschwerde des Betroffenen bestätigt werden sollte, wie es der Herrenchiemsee-Entwurf vorsah. Gegen den Beschwerdeweg sprach sich im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates vor allem der FDP-Abgeordnete Dr. Dehler aus: Er befürchtete, jede Polizeibehörde und Verwaltungsstelle könne auf diese Weise Grundrechte suspendieren. Der Betroffene sei dann „praktisch vogelfrei”. Er müsse sich an die Gerichte wenden und zusehen, wie er zu seinem Recht komme. Der Hauptausschuss entschloss sich unter dem Eindruck dieser Bedenken mit 13:7 Stimmen, die Kompetenz zur Aberkennung von Grundrechten allein dem Bundesverfassungsgericht zuzusprechen329. Die Endfassung des Art. 18 erhielt dementsprechend den Zusatz: „Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen”. Über die Möglichkeit des Parteienverbots gab es im Parlamentarischen Rat keine Meinungsverschiedenheiten mehr. Wie aus den Beratungen des Organisationsausschusses hervorgeht, bewerteten 327 Vgl. die Verfassungen von Hessen (Art. 17), Württemberg-Baden (Art. 11 und 15), Baden (Art. 118 und 124) sowie Rheinland-Pfalz (Art. 133). 328 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 516, 581 f. und 589 329 PR- Hauptausschuss, 44. Sitzung vom 19. Januar 1949. 112 die Mitglieder des Rates ein eventuelles Verbot nicht nur als rechtliche, sondern auch als politische Entscheidung. Nach den Worten des sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Katz konnten politische Gesichtspunkte dafür sprechen, „dass auch Parteien, die im übrigen bedenklich erscheinen, vorläufig geduldet werden”. Sein Fraktionskollege Dr. Löwenthal gab zu bedenken, ob es zweckmäßig sei, antidemokratische Parteien in die Illegalität zu drängen, wo sie schwerer zu fassen seien. Der Ausschuss wandte sich aufgrund dieser Erwägungen dagegen, eine „feste Marschroute” für das Verfassungsgericht festzulegen330. Der Parlamentarische Rat ließ durch den politischen Charakter des Verfahrens bewusst die Möglichkeit offen, verfassungsfeindlichen Parteien nicht mit dem Instrumentarium des Demokratieschutzes, sondern in der demokratischen Auseinandersetzung entgegenzutreten. Die innere Problematik der “abwehrbereiten Demokratie” entspricht allerdings weitgehend dem Problem der Notstandsregelung in demokratischen Verfassungen: Die Demokratie kann im Unterschied zu autoritären und totalitären Regimen nur bedingt durch Kontrollen und Sanktionen aufrechterhalten werden. Da sie ihre Legitimität von der freiwilligen Zustimmung zum Gemeinwesen und vom Konsensus unterschiedlicher Interessen und Ideen ableitet, verbindet sich mit dem Demokratieschutz in der oben beschriebenen Form immer ein gewisser Selbstwiderspruch. Die Anwendung dieser Bestimmungen setzt eine Unterscheidung zwischen verfassungsmäßiger und verfassungsfeindlicher Opposition voraus, die im konkreten Einzelfall nicht leicht zu treffen ist. Einerseits können die regierenden Parteien in Versuchung geraten, eine zwar unbequeme, aber verfassungsmäßige Opposition zu unterdrücken, andererseits liegt es für verfassungsfeindliche Bestrebungen nahe, die Schutzbestimmungen der Verfassung durch Legalitätstaktik zu umgehen. Mit der Möglichkeit des Parteienverbots besteht gleichzeitig für das demokratische Parteiensystem die Gefahr der Erstarrung: Da sich die etablierten Parteien auf diesem Wege der Konkurrenz von „Außenseitern” entledigen können, verlieren sie möglicherweise ihre Dynamik und ihre Anpassungsfähigkeit an neue gesellschaftliche Entwicklungen. Das Verbot unbedeutender verfassungsfeindlicher Parteien kann außerdem unter politischen Gesichtspunkten überflüssig sein, während das Verbot einer Massenpartei wenig Erfolg verspricht331. Der Parlamentarische Rat hat versucht, die innere Problematik des Demokratieschutzes zu lösen, indem er seine Anwendung den Verwaltungsinstanzen weitgehend entzog und in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts verwies. Zum Bereich des Verfassungsschutzes gehörte nach 1945 auch der Versuch, für bestimmte Teile der geschriebenen Verfassung ein Änderungsverbot durchzusetzen und auf diesem Wege zur Stabilisierung der neu zu errichtenden Demokratie beizutragen. Diese Bestrebungen sind ebenfalls aus der Reaktion auf die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Machtergreifung zu verstehen. Wie bereits oben erwähnt, waren nach dem Wortlaut der Reichsverfassung von 1919 und nach vorherrschender Auffassung der Staatsrechtslehre die Möglichkeiten zur Verfassungsänderung unbegrenzt. Vorausgesetzt wurde lediglich, dass die notwendigen Mehrheiten für das Änderungsgesetz zustande kamen. In dem damals weitverbreiteten Kommentar von Anschütz heißt es zu dieser Frage: „Auf dem durch Art. 76 geregeltem Gesetzgebungswege können . . .Verfassungsrechtsänderungen jeder Art bewirkt werden: nicht nur minder bedeutsame, mehr durch technische als durch politische Erwägungen bedingte, sondern auch bedeutsame, einschließlich solcher, die sich auf die rechtliche Natur des Reichsganzen (Bundesstaat), die Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern, die Staats- und Regierungsform des Reiches und der Länder (Republik, Demokratie, Wahlrecht, Parlamentarismus, Volksentscheid, Volksbegehren) und andere prinzipielle Fragen (Grundrechte!) beziehen”332. Diese Verfassungsinterpretation ging bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik Hand in Hand 330 PR- Organisationsausschuss, 6. Sitzung vom 24. September 1948, Stenoprotokoll S. 34 f. 331 Diese Gesichtspunkte bei K. Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1972, S. 275 ff. 332 G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Berlin 1933, S. 403 113 mit der politischen Praxis, durch verfassungsändernde Ermächtigungsgesetze das Gesetzgebungsrecht vom Parlament an die Regierung zu delegieren. Ursprünglich waren diese Ermächtigungen auf bestimmte Gebiete begrenzt und zeitlich befristet. Außerdem hatte der Reichstag das Recht, die betreffenden Verordnungen gegebenenfalls außer Kraft zu setzen. Unter dem Eindruck der Krisensituation des Jahres 1923 erhielt jedoch die Exekutive zum ersten Mal eine unbegrenzte Ermächtigung zugesprochen: Die damalige Regierung Stresemann wurde am 13. Oktober 1923 beauftragt, alle „Maßnahmen zu treffen, welche sie auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet für erforderlich und dringend” hielt, und konnte hierbei auch von den Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung abweichen. Diese verhängnisvollen Präzedenzfälle dienten Hitler als Vorbild und Rechtfertigung für sein eigenes Ermächtigungsgesetz, das am 24. März 1933 unter der umfassenden Bezeichnung „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit verabschiedet wurde. Die Weimarer Erfahrungen veranlassten den Parlamentarischen Rat, für jede Verfassungsänderung eine ausdrückliche Änderung des Grundgesetztextes zu verlangen. Außerdem sprachen sich die Nachkriegspolitiker für eine „halbstarre Verfassung” aus. Verfassungsvorschriften, auf deren Wirksamkeit ein demokratisches System nicht verzichten konnte, sollten demnach von jeder Verfassungsänderung ausgeschlossen sein333. Die frühen Landesverfassungen sind auch in dieser Hinsicht Vorläufer des Grundgesetzes: Die badische Verfassung zum Beispiel legt fest, dass ihre „Grundbestandteile” auch durch ein verfassungsänderndes Gesetz nicht beseitigt werden können. Die Verfassungen von Bayern und Württemberg-Baden bezeichnen Anträge auf Verfassungsänderung, welche dem demokratischen Grundgedanken der Verfassung widersprechen, als unzulässig. Die hessische Verfassung erklärt die Grundrechte zum festen Bestandteil der Verfassung und enthält außerdem die Bestimmung: „Die Errichtung einer Diktatur, in welcher Form auch immer, ist verboten”334. Nach dem Vorschlag des Herrenchiemsee-Konvents sollten alle Anträge zur Änderung des Grundgesetzes, die auf eine Beseitigung der „freiheitlichen und demokratischen Grundordnung” hinauslaufen, unzulässig sein. Der Konvent bemerkt hierzu im darstellenden Teil seines Berichts, das „föderative Grundelement” werde in diesem Zusammenhang bewusst nicht erwähnt, weil man ihm diesen „letztgültigen Rang” nicht zugestehen wolle335. Trotz dieser Vorarbeiten entwickelte sich im Parlamentarischen Rat eine ausführliche Diskussion zum Verfassungsänderungsverbot. Über die Zielsetzung und die zeitgeschichtliche Begründung dieser Klausel bestand zwar allgemeine Übereinstimmung; umstritten war jedoch ihre politische Wirksamkeit. Der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Katz vertrat im Organisationsausschuss die Ansicht, die Bestimmung des Herrenchiemsee-Entwurfs sei überflüssig, denn der Vorsitzende des Parlaments dürfe derartige Anträge gar nicht zur Abstimmung stellen. Sie könne in dieser Form auch die Errichtung einer Diktatur nicht wirksam verhindern. Der Allgemeine Redaktionsausschuss sprach sich ebenfalls für die Streichung aus, weil revolutionäre Gruppen ihre Ziele nicht in der Form von Anträgen zum Ausdruck bringen336 .Aufgrund dieser Bedenken entschloss sich der Parlamentarische Rat, nur den bundesstaatlichen Aufbau sowie Art. 1 und Art. 20 GG von der Verfassungsänderung auszunehmen. Man war sich darin einig, mit dieser Festlegung keine Revolution verhindern zu können. Eine antidemokratische Machtergreifung sollte sich aber in Zukunft nicht mehr auf eine scheinbare Rechtmäßigkeit berufen können. Der Abg. Dr. Dehler erklärte hierzu vor dem Hauptausschuss, man habe 333 Zum Begriff der halbstarren Verfassung R. Thoma: Über Wesen und Erscheinungsform der modernen Demokratie... S. 36. 334 Vgl. die Verfassungen von Baden (Art. 92), Bayern (Art. 75), Hessen (Art. 26 und 150) und Württemberg-Baden (Art. 85). 335 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 558 336 PR-Organisationsausschuss, 14. Sitzung vom 14. Oktober 1948, Stenoprot. S. 30; PR-Drucksache Nr. 318 vom 26. November 1948 114 diese „Barriere” aufgerichtet mit der Absicht, der Revolution die „Maske der Legalität” zu nehmen337. Schließlich kann man die Frage stellen, ob die Bekenntnisse der westdeutschen Politiker zur Idee des vereinten Europa als Beitrag zum Schutz der Demokratie und zum Schutze der Deutschen vor sich selbst zu interpretieren sind. Die Europaidee erschien in der Nachkriegssituation vielen als Rettungsanker, da das Nationale in Deutschland diskreditiert und angesichts von Besetzung und Teilung des Landes ohne rechten Anknüpfungspunkt war. Die angesehene Zeitschrift “Die Gegenwart” beleuchtete diese Motive zu Beginn des Jahres 1949 in einem Beitrag mit dem Titel “Flucht nach Europa”338. Im Parlamentarischen Rat bestand aber unabhängig hiervon der Konsensus, das Grundgesetz nach Europa hin offen zu halten. Dies ist zunächst darauf zurückzuführen, dass führende Mitglieder des Rates, wie Konrad Adenauer und Carlo Schmid, bereits in der europäischen Einigungsbewegung aktiv waren. Hinzu kam der realpolitische Gedanke an die Zukunft des Ruhrgebiets: Die Londoner Sechsmächtekonferenz hatte bereits im Frühjahr 1948 beschlossen, die dortige Kohle- und Stahlproduktion von einer internationalen Behörde verwalten zu lassen339. Mitglieder des Parlamentarischen Rates schlugen vor, ähnliche Formen der Zusammenarbeit für die Bereiche der Energie und der Flugsicherheit zu entwickeln. Ein dritter Gesichtspunkt war das Sicherheitsbedürfnis Westdeutschlands: Bereits zu Beginn der Grundgesetzberatungen stimmte man überein, dass der zukünftige Bundesstaat einem kollektiven Sicherheitssystem beitreten und in diesem Zusammenhang auf Hoheitsrechte verzichten sollte340. 337 PR-Hauptausschuss, 36. Sitzung vom 12. Januar 1949 338 Die Gegenwart, Februar 1949 339 PR Akten und Protokolle Bd. 1, S. 11 und 14 ff. 340 ausführlicher M. Bermanseder: Die europäische Idee im Parlamentarischen Rat, Berlin 1998 115 VI. Die Demokratiediskussion im Parlamentarischen Rat Der Konsensus im Parlamentarischen Rat bildete die Grundlage für das spätere Regierungssystem der Bundesrepublik. Er steht deshalb im Mittelpunkt der meisten Untersuchungen zur Entstehung des Grundgesetzes. Interessanter sind aber die Kontroversen des Parlamentarischen Rates, weil sie die unterschiedlichen Demokratievorstellungen der Nachkriegszeit deutlich zum Ausdruck bringen. Die folgende Interpretation geht von der politischen Auseinandersetzung der Jahre 1946/47 aus und untersucht, in welcher Form die beiden Konzeptionen der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ und der „konstitutionellen Demokratie“ die Entstehung des Grundgesetzes beeinflussten. Die Demokratiediskussion im Parlamentarischen Rat wird anhand von fünf Verfassungsproblemen untersucht, die bei den Grundgesetzberatungen im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zwischen den Parteien und Fraktionen standen: Die Form und die Rechte der Länderkammer, die Stellung der Judikative im Verfassungssystem, die Grundrechtsproblematik, die Gesetzgebungsbefugnisse und die Aufteilung der Verwaltungskompetenzen einschließlich der Finanzverwaltung. Im Verlauf dieser Untersuchung wird sich zeigen, dass die Beratungen des Parlamentarischen Rates nicht „aus sich heraus“ zu erklären sind. Die politischen Ziele der „Verfassungsväter“ und der vier weiblichen Autoren des Grundgesetzes sind erst in Zusammenhang mit der Neuordnungsdiskussion sinnvoll zu interpretieren, die seit 1945 in Westdeutschland geführt wurde. Die Motive und taktischen Überlegungen der beteiligten Politiker werden in den Aufzeichnungen über die Grundgesetzberatungen oft nur angedeutet und lassen sich nicht auf den ersten Blick rekonstruieren. Gelegentlich retuschierte man im Parlamentarischen Rat sogar das gedruckte Protokoll, um den Kontrahenten zu schonen und die Wirkung nach außen zu dämpfen341. Der dezente Beratungsstil des Parlamentarischen Rates ist nicht in erster Linie auf die Kultiviertheit der maßgebenden Politiker zurückzuführen, sondern auf die äußeren Bedingungen: Man hatte den Auftrag, unter einer Besatzungsherrschaft eine Verfassung zu formulieren, die anschließend von den Besetzern gebilligt werden musste. Die Besatzungsmächte stellten gleichzeitig mit der Übergabe der Frankfurter Dokumente zwar ein Besatzungsstatut in Aussicht, welches die deutschen und alliierten Rechte abgrenzen sollte. Der Inhalt dieses Statuts blieb jedoch bis zum Ende der Grundgesetzberatungen unbestimmt. Hinzu kam die Ungewissheit angesichts der Blockade West-Berlins. Diese begann bereits vor dem Zusammentritt des Parlamentarischen Rates und wurde erst nach Fertigstellung des Grundgesetzes aufgehoben. 341 In der Debatte über die Geltung des Reichskonkordats vom 20. Juli 1933 übte der Abg. Zinn (SPD) Kritik am Verhalten der Katholischen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus. Seine Rede wurde im Protokoll des Hauptausschusses vom 20. Januar 1949 „entschärft“; der ungekürzte Redetext im Nachlass Menzel R 2 - AdsD. 116 1. Funktion und Zusammensetzung der Länderkammer a. Die Positionen Bisher hat man die Beratungen des Parlamentarischen Rates über die Kompetenzen und die Struktur des Bundesrates vorwiegend unter dem Gesichtspunkt des Ländereinflusses im politischen System der Bundesrepublik untersucht, so dass die Zweikammerfrage als ein Teilaspekt der umfassenderen Föderalismusproblematik erschien. Diese Betrachtungsweise entspricht der deutschen Verfassungstradition, weil hier die Mitwirkung der Einzelstaaten an den politischen Entscheidungen des Reiches immer als Maßstab für den föderalistischen Gehalt der Verfassung galt. Die Vielschichtigkeit des Bicameralismus und seine Bedeutung für das Demokratieverständnis wurden dabei nicht immer ausreichend berücksichtigt. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates selbst haben damals offenbar die Problematik der zweiten Kammer differenzierter gesehen. So erklärte zum Beispiel der CDU-Abgeordnete Dr. Lehr vor dem Plenum, Zweikammersystem und Föderalismus dürfe man nicht als „identische Begriffe“ betrachten, denn eine zweite Kammer sei sowohl in einem Bundesstaat als auch in einem Einheitsstaat denkbar. Konrad Adenauer wiederholte diese Überlegung wenige Tage später vor dem Zonenausschuss einer Partei und äußerte sich bei dieser Gelegenheit ausführlicher über die Notwendigkeit von zwei Kammern. Die Deutschen seien „labil“ und neigten zum Radikalismus „sowohl nach der linken wie nach der rechten Seite“. Zur Zeit werde diese Neigung noch durch den Schock des Zusammenbruchs und die Anwesenheit der Besatzungsmächte gebremst. Für die Zukunft sei der eine von der „Massenstimmung losgelöste Struktur“ unbedingt erforderlich. Adenauer war auch der Überzeugung, das Fehlen einer vollwertigen zweiten Kammer sei der Hauptfehler der Weimarer Republik gewesen342. Bereits zu Beginn der Grundgesetzberatungen bestand zwischen den Fraktionen des Parlamentarischen Rates Übereinstimmung, dass neben dem unmittelbar gewählten Parlament eine weitere Kammer als Vertretung der Länder eingerichtet werden sollte, damit das bundesstaatliche Element des neuen Gemeinwesens in der Verfassung ausreichend zur Geltung komme. Die entsprechende Empfehlung des Herrenchiemsee-Konvents wurde zu Beginn der Grundgesetzberatungen im zuständigen Organisationsausschuss des Parlamentarischen Rates bestätigt, als sich auf die Frage des Ausschussvorsitzenden gegen die Errichtung einer zweiten Kammer an sich kein Widerspruch erhob343. Über die konkrete Gestaltung der zweiten Kammer bestanden jedoch Auffassungsunterschiede. Aus einer genaueren Durchsicht der Beratungen geht hervor, dass die Form ihrer Mitwirkung beim Gesetzgebungsverfahren in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist: Im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates wurde diese Frage von den Abgeordneten Rudolf Katz (SPD) und Robert Lehr (CDU) übereinstimmend als das „Kernproblem“ und als „entscheidender Punkt“ der Beratungen bezeichnet. Für Adolf Süsterhenn (CDU), der als prononcierter Vertreter der Länderinteressen gelten kann, hatte die Gleichberechtigung der zweiten Kammer größere Bedeutung als die Frage ihrer Zusammensetzung. Er erklärte, seine Fraktion werde „unter allen Umständen an der Forderung nach Gleichberechtigung festhalten“, gleichgültig wie die innere Struktur dieser Kammer aussehen möge344. Die Frage der Gleichberechtigung oder Nichtgleichberechtigung im Gesetzgebungsverfahren erhielt damit auf Bundesebene eine ähnliche Schlüsselfunktion wie bei den Verfassungsberatungen in den 342 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 219; Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 19461949. Dokumente zur Gründungsgeschichte der CDU, Bonn 1975, S. 20 f.; G. Bergmann: Der Staatsratsgedanke im parlamentarischen Deutschland, Baden-Baden 1994, S. 141-153 sowie die föderalistische Interpretation bei R. Ley: Föderalismusdiskussion innerhalb der CDU/CSU, Mainz 1978, S. 77-94 343 PR-Organisationsausschuss, 3. Sitzung vom 21. September 1948, Stenoprot. S. 3 344 PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30. November 1948. 117 Ländern von 1946/47. Auch im Parlamentarischen Rat gibt ihre Beantwortung Aufschluss über die unterschiedlichen Demokratievorstellungen der Fraktionen und Gruppierungen. Für eine gleichberechtigte Mitwirkung der zweiten Kammer bei der Gesetzgebung sprachen sich im Plenum des Parlamentarischen Rates vor allem die Abgeordneten Dehler (FDP), Lehr (CDU) und Süsterhenn (CDU) aus. Sie begründeten ihre Forderung mit Argumenten, welche für die konstitutionell-demokratische Position typisch sind und zum größten Teil bereits bei den Beratungen der Landesverfassungen Verwendung fanden. Dehler beschwor die Versammlung, man habe vielleicht die letzte Chance, in Deutschland eine „gesunde Demokratie“ zu schaffen. Aus der geschichtlichen Erfahrung glaubte er den Beweis dafür antreten zu können, dass nur diejenigen Demokratien Bestand haben, welche auf „einer gewissen Vielfältigkeit“ und ausgleichenden Einrichtungen beruhen. Die „stilgerechten“ Demokratien aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, zu denen er auch die Weimarer Republik zählte, seien demgegenüber wesentlich anfälliger für die Gefahren der Diktatur gewesen. Man dürfe daher nicht dem „Gesetz der Ästhetik“ folgen, sondern müsse „Gegengewichte“ schaffen. Er war der Auffassung, eine gleichberechtigten zweiten Kammer werde das „Gesetz der Polarität“ verwirklichen und eine fruchtbare Spannung im Verfassungssystem schaffen. Auf diese Weise entstehe ein „Kondominium“, weil ein Gesetz nur durch die positive Entscheidung beider Kammern verabschiedet werde. Gleichzeitig kam in den Ausführungen Dehlers die Frontstellung zur sozialen Mehrheitsdemokratie deutlich zum Ausdruck: Seine Bemerkung, die Gleichberechtigung bilde ein Gegengewicht gegen den „von uns nicht für glücklich gehaltenen übermächtigen Parlamentarismus“, bezog sich auf den verfassungspolitischen Grundgedanken dieser Demokratievariante. Auch mit der Tendenz zum Sozialund Verteilungsstaat, die aus mehrheitsdemokratischer Sicht uneingeschränkt akzeptiert wurde, setzte er sich kritisch auseinander. Gleichberechtigte Kammern waren in seinen Augen ein Regulativ gegen „überstürzte und nicht überdachte Gesetzgebung. Er hielt es für sinnvoll, wenn man eine „Bremse“ einrichte gegen die „Krankheit unserer Zeit“, nämlich gegen die „Hypertrophie der Gesetzgebung“, die auf dem Wahnglauben beruhe, „dass man das Leben normieren könne“. Neben Dehler plädierte im Parlamentarischen Rat vor allem Robert Lehr (CDU) für den Grundgedanken der „Polarität“ und für eine Ausbalancierung der Kräfte im Verfassungssystem. Der „Parlamentsabsolutismus“ schien ihm vermeidbar zu sein, wenn neben das vorwärtsdrängende Element des Parlaments ( „bewegt von seinen Parteien, die wetteifernd um die Probleme des Tages ringen“) ein Element der Kontinuität, der Stabilität und des ruhigen Abwägens trete. Bezeichnend für die konstitutionell-demokratische Sicht der nationalsozialistische Machtergreifung ist außerdem Dehlers Frage, wie Entwicklung im Jahre 1933 verlaufen wäre, wenn zum Ermächtigungsgesetz die Zustimmung einer voll gleichberechtigten zweiten Kammer notwendig gewesen wäre. Auch Adolf Süsterhenn (CDU) setzte sich zu Beginn der Grundgesetzberatungen für eine gleichberechtigte zweite Kammer ein, weil seiner Ansicht nach die politische Willensbildung „grundsätzlich zweigleisig“ erfolgen sollte. Er befürwortete eine pluralistische Gestaltung von Staat und Gesellschaft, in der jede Machtkonzentration von vornherein verhindert werde. Als historisches Vorbild für seine Überlegungen nannte er die Ideen Montesquieus, insbesondere den Grundsatz, dass jede Macht der Gefahr des Missbrauchs ausgesetzt sei und jeder Mensch geneigt sei, „die Gewalt, die er hat, zu missbrauchen, bis er Schranken findet“. Konrad Adenauer hatte aktuellere Motive im Sinn und argumentierte vor der CDU/CSU-Fraktion, man müsse sich davor schützen, dass sich nach der Wahl die Majorität einer Partei ergibt, die anschließend die „Sozialisierung von Eisen, Kohle, Elektrizität, Chemie usw.“ durchführen könne. Diese Gefahr bestehe, wenn die Sozialdemokratie „mit der KPD die Mehrheit bekommt“345. Ein zusätzliches Argument für die Gleichberechtigung der beiden Kammern lieferte der unmittelbar vor Zusammentritt des Parlamentarischen Rates veröffentlichte Verfassungsentwurf des „Deutschen Volksrates“ in der sowjetischen Zone. Der Entwurf gilt als Vorbild der im Oktober 1949 verabschiedeten 345 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 57, 225 f., 228 f. und 518; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, eingel. und bearb. von Rainer Salzmann, Stuttgart 1981, S. 144 f. 118 DDR-Verfassung und sah eine Länderkammer vor, die jedoch lediglich ein Einspruchsrecht gegen die Gesetzesbeschlüsse der Volkskammer hatte. Dem Abgeordneten Schwalber (CSU) diente dies als weiterer Beweis für die Gefahren, welche sich aus dem „Übergewicht“ der unmittelbar gewählten Kammer für den „Bestand einer wirklichen Demokratie“ ergeben. In der Schlussphase der Grundgesetzberatungen wurde dieser Gesichtspunkt noch einmal geltend gemacht, als Dr. Lehr (CDU) vor einem „Parlamentsabsolutismus nach volksdemokratischem Muster“ warnen zu müssen glaubte346. Die Gegner einer gleichberechtigten zweiten Kammer argumentierten im Sinne der sozialen Mehrheitsdemokratie: Sie waren der Auffassung, der Bundestag sei als „die vom Volk zur Gesetzgebung berufene Kammer“ anzusehen und müsse aus diesem Grunde über die „Superiorität“ beim Zustandekommen der Gesetze verfügen. Diese Position wurde im Parlamentarischen Rat nicht nur von sozialdemokratischer Seite, sondern auch von den Sprechern der Zentrumsfraktion vertreten. Bei Gleichberechtigung beider Kammern rechnete man mit Konfliktsituationen, welche gegebenenfalls die Gesetzgebungsprozess hemmen oder gar zum Erliegen bringen könnten. Die Zentrumsabgeordnete Helene Wessel äußerte im Hauptausschuss, wenn beide Kammern einen übereinstimmenden Beschluss fassen müssten, damit überhaupt Gesetze zustande kommen, schaffe man ein Regierungssystem, dessen Parlamentarismus „von vornherein gefährdet“ sei. Hier wird deutlich, dass die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie im Verlust der Funktionsfähigkeit die eigentliche Gefahr für den Bestand der neu zu errichtenden Demokratie erblickten. Rudolf Katz (SPD) erklärte hierzu vor dem Plenum: „Wenn der Apparat, den wir jetzt aufstellen, nicht funktioniert, wenn die Spielregeln, die wir jetzt schaffen, nicht zu einem guten demokratisch-politischen Erfolg führen, dann wird am Horizont der nächste Diktator auftauchen“. Nach mehrheitsdemokratischer Auffassung sollte die zweite Kammer beim Gesetzgebungsverfahren lediglich ein Einspruchsrecht besitzen347. Neben der Alternative: Gleichberechtigung oder Vetorecht stand die Frage der Zusammensetzung im Mittelpunkt der Diskussion über die Länderkammer. Die Vorschläge hierzu müssen zunächst unabhängig von der Gleichberechtigungsfrage erläutert werden, obwohl sich beide Probleme im Verlauf der Grundgesetzberatungen unlösbar miteinander verbanden. Grundsätzlich standen zwei Möglichkeiten zur Wahl, die bereits auf Herrenchiemsee durchdiskutiert und in den Verfassungsentwurf des Konvents aufgenommen wurden. Als erste Variante schlug der Herrenchiemsee-Entwurf die Einrichtung eines Bundesrates vor, in den die Landesregierungen je nach Größe des Landes ein bis drei Regierungsmitglieder entsenden. Als zweite Variante wird eine Senatslösung entwickelt. Die Senatoren sollten demnach von den Landtagen nach dem Mandatsverhältnis der dort vertretenen Parteien gewählt werden348. Obwohl die Zusammensetzung der zweiten Kammer im zukünftigen Reich Bundesstaat bereits vor dem Zusammentritt des Herrenchiemsee-Konvents auf der Tagesordnung der verfassungspolitischen Diskussion stand, war die Haltung der Parteien hierzu wesentlich unbestimmter als in der Frage der Gleichberechtigung. In der ersten Phase der Grundgesetzberatungen hatten sich die beiden großen Fraktionen des Parlamentarischen Rates noch nicht eindeutig festgelegt, so dass sich hier ein breiter Spielraum für taktische Manöver anbot. Die SPD beschloss bereits im Juli 1947 auf ihrem Nürnberger Parteitag „Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik“, die dem Senatsprinzip folgten. Vorgesehen war ein Reichsrat, dessen Mitglieder von den Landtagen gewählt werden. In dem Entwurf einer „Westdeutschen Satzung“ - verfasst von dem nordrhein-westfälischen Innenminister Walter Menzel und als Grundlage für die sozialdemokratischen Abgeordneten im Parlamentarischen Rat gedacht - stand jedoch neben der Senatslösung auch die Wahl der Ländervertreter durch die Regierungen und damit das Bundesratsprinzip zur Diskussion. Eine zweite Fassung dieses Menzel-Entwurfs, die nur 14 Tage später 346 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 94 und S. 518 347 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 231; PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30. November 1948 348 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 545 und 592 119 veröffentlicht wurde, entschied sich wieder ausschließlich für die Senatslösung. Auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat trat die SPD für das Senatsprinzip ein, bis sie sich aus taktischen Überlegungen, welche im einzelnen noch dargestellt werden, schließlich doch für das Bundesratsprinzip entschied. Die Haltung der CDU/CSU in dieser Frage war uneinheitlich: Die süddeutschen Parteiverbände sprachen sich eindeutig für das Bundesratsprinzip aus. Der Verfassungsentwurf des Ellwanger Kreises schlug dementsprechend einen Bundesrat aus weisungsgebundenen Mitgliedern der Landesregierungen vor. Die CDU-Führung der britischen Zone dagegen strebte eine gemischt zusammengesetzte Kammer an, um neben dem Bundesrats- auch das Senatsprinzip zur Geltung zu bringen. Die von Robert Lehr ausgearbeiteten Verfassungsrichtlinien für den Zonenbeirat sahen eine zweite Kammer vor, welche aus Mitgliedern der Landesregierungen und aus gewählten Senatoren bestehen sollte. Eine dritte Gruppe ihrer Mitglieder war vom Bundes- oder Reichspräsidenten „aus dem Kreise hervorragender und verdienter Männer des kulturellen und öffentlichen Lebens“ zu ernennen349. Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates kamen die Differenzen zwischen nord- und süddeutschen CDU/CSU-Kreisen deutlich zum Ausdruck: Die Abgeordneten Süsterhenn und Schwalber setzten sich im Plenum für einen aus Mitgliedern der Landesregierungen bestehenden Bundesrat ein, während der nordrhein-westfälische CDU-Abgeordnete Lehr für einen „Halbsenat“ plädierte, d. h. für eine zweite Kammer, in der Regierungsmitglieder und indirekt gewählte Senatoren gleichermaßen vertreten sein sollten. Konrad Adenauer lehnte in der CDU/CSU-Fraktion den Bundesrat ab, weil dieser eine Vertretung der Länderbürokratie sei und „gegenüber der Volkskammer kein Gewicht bekommen“ werde. Die zukünftige zweite Kammer sollte indirekt von den Landtagen gewählt werden. Hierbei war nach den Vorstellungen Adenauers ein „gewisser Prozentsatz“ für Länderminister zu reservieren. Die Überlegungen der FDP zur Zusammensetzung der zweiten Kammer entsprachen weitgehend den Vorstellungen der norddeutschen CDU-Kreise. Bereits die für den Zonenbeirat erarbeiteten Verfassungsrichtlinien der FDP in der britischen Zone stimmten mit dem Entwurf Robert Lehrs überein, denn sie sahen ebenfalls eine aus Regierungsvertretern, Senatoren und ernannten Mitgliedern bestehende zweite Kammer vor. Im Parlamentarischen Rat setzte sich Thomas Dehler als Sprecher der FDP-Fraktion für den „Halbsenat“ ein. Er erwartete von dieser gemischten Kammer einen Ausgleich der Nachteile, die seiner Ansicht nach sowohl dem Senats- als auch dem Bundesratsprinzip anhafteten. Die Fraktionen des Zentrums und der Deutschen Partei sprachen sich im Parlamentarischen Rat für das Bundesratsprinzip aus, während die KPD für einen nach Möglichkeit unmittelbar gewählten Senat eintrat350. Insgesamt standen damit bei den Grundgesetzberatungen drei Vorschläge für die Zusammensetzung der zweiten Kammer zur Diskussion, die alle an historische Vorbilder anknüpfen konnten. Der amerikanische Senat bildete das klassische Beispiel für eine bundesstaatliche Kammer, deren Mitglieder zunächst von den Parlamenten der einzelnen Staaten und später von der Bevölkerung unmittelbar gewählt wurden. Das Bundesratsprinzip dagegen gilt als typisches Element der deutschen Verfassungstradition. Es lässt sich bis auf den Norddeutschen Bund und die Reichsverfassung von 1871 zurückverfolgen. In der Nationalversammlung von 1918/19 konnten sich die Bestrebungen zur Neufassung der Länderkammer nicht durchsetzen. Der Reichsrat der Weimarer Verfassung bestand dementsprechend (wie seine Vorgänger) aus instruierten Vertretern der Länderregierungen. Als Vorbild für den „Halbsenat“ schließlich bezeichneten die FDP-Vertreter im Parlamentarischen Rat die Verfassungsüberlegungen von 1848: Damals hatte die Frankfurter Nationalversammlung ein Staatenhaus vorgeschlagen, dessen 349 W. Sörgel: Konsensus und Interessen, Stuttgart 1969, S. 263-293 und S. 297 ff.; R. Ley: Föderalismusdiskussion innerhalb der CDU/CSU...S. 51 und 61 sowie: Zonenbeirat. Deutsches Sekretariat J. Nr. 1280/47 vom 29.8.1947 ( ADL 132 FDP brit. Zone, Staat und Verfassung, Außenpolitik) 350 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 46-69, S. 89-103 und S. 217-248; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S.37 ff. sowie: Zonenbeirat a. a. O. 120 Mitglieder je zur Hälfte von den Regierungen und den Parlamenten der Gliedstaaten gewählt werden sollten351. Die maßgebenden Vertreter der Bundesratslösung argumentierten konstitutionell-demokratisch: Sie sahen im Senat kein ausreichendes Gegengewicht zur Volkskammer, weil der Einfluss zentraler Parteiinstanzen in diesem Fall eine „Gleichschaltung“ beider Kammern herbeiführen könne. Der Abgeordnete Seebohm (DP) befürchtete sogar, aus der Senatslösung könne sich „eine Art Überparlamentarismus“ ergeben. Eine kritische Einstellung gegenüber dem Parteiwesen klingt bei diesen Stellungnahmen deutlich mit. Bereits der Herrenchiemsee-Konvent hatte in seiner Begründung der Bundesratslösung darauf hingewiesen, im Gegensatz zum Senat sei hier „eine höhere Objektivität der zweiten Kammer gegenüber der laufenden Parteipolitik“ gewährleistet. Die Vertreter des Halbsenats versprachen sich von ihrer Lösung ebenfalls, dass sie den Gleichlauf beider Kammern verhindern und den Einfluss der zentralen Parteiführungen neutralisieren werde. Robert Lehr glaubte, mit dieser Form der zweiten Kammer vermeiden zu können, „dass die Regierung in die Hand einer einzelnen Partei gerät“, und wiederholte damit ein Argument, dessen sich Erich Köhler (CDU) zur Begründung der konstitutionellen Demokratiekonzeption bei den hessischen Verfassungsberatungen bedient hatte352. Auf der anderen Seite kam die Senatslösung dem Konzept der sozialen Mehrheitsdemokratie entgegen, weil von den zwar parteimäßig festgelegten, aber nicht an irgendwelche Länderinstanzen gebundenen Senatoren einen geringerer Widerstand gegen die Gesetzgebungstätigkeit der unmittelbar gewählten Legislative erwarteten - insbesondere, wenn diese Gesetzgebung den wirtschaftspolitischen Zielen galt, die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie eng verbunden waren. Rudolf Katz (SPD) forderte deshalb, im Falle der Bundesratslösung müsse das Vetorecht der zweiten Kammer abgeschwächt werden353. Zusammenfassend kann man aber lediglich von einer gewissen Nähe des Senatsprinzips zur sozialen Mehrheitsdemokratie sprechen. Ähnliches gilt für die Verbindung der Bundesrats- oder Halbsenatslösung mit den Ideen der konstitutionellen Demokratieauffassung. Besondere Beachtung verdienen die Vorstellungen der süddeutschen Föderalisten innerhalb der CDU/CSU-Fraktion zur Zweikammerfrage, weil sie im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen dem Bundesratsprinzip größere Bedeutung zumaßen als der Gleichberechtigung der Länderkammer. Sie betrachteten die Landesregierungen und ihre Bürokratien als unverzichtbare Elemente einer Gewaltenteilung im konstitutionell-demokratischen Sinn, als „reale Machtfaktoren“, von denen der Verfassungsgeber auszugehen habe354. b. Der Verlauf der Beratungen Die unterschiedlichen Ausgangspositionen in der Zweikammerfrage erscheinen zunächst verwirrend. Rein zahlenmäßig hatte jedoch der sogenannte Halbsenat die größte Aussicht, vom Parlamentarischen Rat akzeptiert zu werden. Falls sich die gesamte CDU/CSU-Fraktion auf eine teils nach dem Bundesrats-, teils nach dem Senatsprinzip zusammengesetzte Kammer einigte, hätte bei Zustimmung der FDP zur Annahme dieses Vorschlags im Hauptausschuss und im Plenum jeweils nur eine Stimme gefehlt. Da beide Fraktionen außerdem die Gleichberechtigung der zweiten Kammer in der Gesetzgebung anstrebten, wäre ein auf diesem Wege zustande gekommener Halbsenat gleichbedeutend mit einer klaren Entscheidung zugunsten der konstitutionellen Demokratiekonzeption in der wichtigen Zweikammerfrage gewesen. 351 Vgl. den Überblick bei K. Neunreiter: Der Bundesrat zwischen Politik und Verwaltung. Heidelberg 1959, S. 1116; Heuss und Dehler im Plenum: PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 110 f. und 224 352 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 222; PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30. November 1948; Verfassungsausschuss Hessen, 3. Sitzung vom 14. August 1946 sowie PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 540 353 PR-Organisationsausschuß, 13. Sitzung vom 13. Oktober 1948, Stenoprot. S. 52. 354 So Süsterhenn (CDU) in PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 64 121 Bei den Beratungen im Organisationsausschuss zeigte sich bereits, dass insbesondere Robert Lehr (CDU), der gleichzeitig Vorsitzender dieses Ausschusses und persönlich ein Anhänger des Senatsprinzips war, die Verständigung mit der FDP auf der Basis einer gemischt zusammengesetzten Kammer anstrebte355. In der Grundsatzdiskussion des Plenums über die Länderkammer am 21. Oktober 1948 verstärkte sich der Eindruck einer bevorstehenden Koalition zwischen CDU/CSU und FDP in dieser Frage: Lehr erläuterte als Sprecher seiner Fraktion die Vorteile der Kombination von Senats- und Bundesratsprinzip. Er hob dabei hervor, in diesem Gremium komme neben der „Sachkunde der Regierungsvertreter“ auch die Erfahrung des „älteren Staatsmannes“ zum Ausdruck komme. Durch das senatoriale Element werde die von den Gegnern des Bundesrates befürchtete „Herrschaft der Ministerialbürokratie“ neutralisiert. Mit seiner Anregung, die Senatoren aus einer von der jeweiligen Regierung dem Landesparlament vorgelegten Liste wählen zu lassen, kam Lehr den Vertretern des Bundesratsprinzips entgegen. Gleichzeitig schlug er jedoch vor, die Regierungsvertreter in der zweiten Kammer nicht an Weisungen zu binden und frei abstimmen zu lassen - eine Regelung, die den Interessen der süddeutschen Föderalisten zweifellos widersprach. Thomas Dehler schloss sich diesen Ausführungen an und erklärte, die von Lehr vorgetragene Konzeption der zweiten Kammer sei auf die Initiative der FDP-Fraktion zurückzuführen. Als Vorzug des Halbsenats führte er ebenfalls an, man vermeide mit dieser Lösung sowohl die Nachteile des Senats- als auch des Bundesratsprinzips. Neben der Tendenz zur Bürokratisierung erblickte er in der reinen Bundesratslösung einen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip, weil dann in der zweiten Kammer legislative Entscheidungen ausschließlich durch Vertreter der Länderexekutiven getroffen würden. Bei einer reinen Senatslösung schien ihm andererseits die Gefahr zu bestehen, dass sich beide Kammern durch den „gleichen politischen Querschnitt“ auszeichnen und damit ihre Polarität hinfällig werde. Die Absicht, den Vertretern der Länderregierungen ein freies Mandat zuzubilligen, bezeichnete er allerdings als eine Illusion. Diese würden vielmehr zwangsläufig als Exponenten ihrer Regierung auftreten und dem Grundgedanken dieser Verfassungskonstruktion entsprechend auch auftreten müssen. In der gleichen Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates kam zum Ausdruck, dass die Deutsche Partei zwar weiterhin das Bundesratsprinzip vertrat, aber die von CDU und FDP vorgetragene Kompromisslösung keineswegs grundsätzlich ablehnte. Ihr Sprecher meldete lediglich Bedenken gegen das Vorschlagsrecht der Regierungen zur Wahl der Senatoren an, weil auf diesem Wege die Opposition in den Ländern von der Vertretung in der zweiten Kammer des Bundes ausgeschlossen werden könne356. Im Anschluss an diese Grundsatzdiskussion arbeiteten die Befürworter der gemischt zusammengesetzten Kammer eine Reihe von Entwürfen aus, um ihre Vorstellungen zu konkretisieren und in eine verfassungsgemäße Form zu bringen. Alle Vorschläge in dieser Richtung gingen selbstverständlich von der Gleichberechtigung beider Kammern beim Gesetzgebungsverfahren aus, während die Zusammensetzung der Länderkammer teilweise bizarre Formen annahm. Ein FDP-Antrag vom 18. November sah einen aus Regierungsvertretern bestehenden Bundesrat vor. Lediglich bei Gesetzesbeschlüssen sollten Senatoren hinzutreten, die von den Landesparlamenten gewählt wurden. Die CDU/CSU unterbreitete einen Vorschlag, der die Einrichtung zweier Kurien innerhalb der Länderkammer vorsah. Bei der Gesetzgebung waren sowohl die Senats- als auch die Bundesratskurie stimmberechtigt, während zu Verwaltungsentscheidungen nur die Bundesratskurie Stellung nahm. Da von sozialdemokratischer Seite gegen derartige Verfassungskonstruktionen der Vorwurf erhoben wurde, sie ließen die politische Verantwortung für die Gesetzesentscheidungen nicht mehr klar erkennen, schlug Konrad Adenauer im weiteren Verlauf der Diskussion sogar ein Dreikammersystem mit Bundestag, Senat und einem separaten Länderorgan vor. Ein Antrag der Deutschen Partei folgte der gleichen Überlegung: 355 356 PR-Organisationsausschuss, 3. Sitzung vom 21. September 1948, Stenoprot., S. 30 ff. und 40 ff. Vgl. die Diskussion im Plenum, PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 217-248, sowie J. F. Golay: The Founding of the Federal Republic of Germany, Chicago 1958, S. 49 122 Der Bundesrat war erneut aufzugliedern in zwei aus Senatoren und Regierungsvertretern bestehende Kurien, die bei der Gesetzgebung gleichberechtigt, aber getrennt mitzuwirken hatten. Damit sollte die Verantwortlichkeit bei den Abstimmungen der heterogen zusammengesetzten Länderkammer transparent werden357. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie fühlten sich in dieser Situation in die Defensive gedrängt und zur Überprüfung ihrer Ausgangsposition veranlasst. Die sozialdemokratische Fraktion sah ihr vorrangiges Ziel, die dominierende Stellung des unmittelbar gewählten Parlaments, gefährdet. Sie erklärte sich schließlich bereit, gegebenenfalls auf das Senatsprinzip zu verzichten, wenn hierdurch eine gleichberechtigte zweite Kammer verhindert werden konnte. Als sich die SPD mit ihrem Antrag vom 23. November 1948 überraschend für das Bundesratsprinzip aussprach, lagen diesem Positionswechsel eine ganze Reihe taktischer Überlegungen zugrunde: In der CDU/CSU-Fraktion hoffte man mit diesem Schritt ein Abrücken der süddeutschen Föderalisten von der Halbsenatslösung zu bewirken, die den Länderinteressen ja nur zum Teil gerecht wurde. Die maßgebenden sozialdemokratischen Politiker waren über die Differenzen innerhalb der christlich-demokratischen Fraktion recht gut unterrichtet, wie z. B. aus den „Berichten des Genossen Menzel“ hervorgeht358. Sie wussten, dass die eigentlichen Initiatoren der gemischten Kammer aus der britischen Zone kamen und in der Gesamtfraktion gegenüber den Abgeordneten der französischen und amerikanischen Zone zahlenmäßig in der Minderheit waren. Falls es durch diese Kehrtwendung zum Bundesratsprinzip gelang, den bevorstehenden Kompromiss zwischen den Vertretern der konstitutionellen Demokratieauffassung über die gemischte Zusammensetzung der zweiten Kammer doch noch zu verhindern, stand damit gleichzeitig auch ihre Übereinstimmung in der Gleichberechtigungsfrage zur Disposition. Da die FDP-Fraktion die Machtverteilung der konstitutionellen Demokratie nur auf Bundesebene vertrat und an der vertikalen Machtaufteilung zwischen Bund und Ländern weniger interessiert war, schien es zumindest zweifelhaft, ob sie einem in der Gesetzgebung gleichberechtigten Bundesrat zustimmen würde. Vor dem Hintergrund dieser Motive und Befürchtungen kam es zu Kontakten zwischen der sozialdemokratischen Fraktion des Parlamentarischen Rates und Vertretern der süddeutschen Länderinteressen. Bekannt geworden ist das Gespräch zwischen dem SPD-Verfassungsexperten Walter Menzel und dem bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard, von dem Theodor Heuss später sagte, es sei die Geburtsstunde des Bundesrates gewesen. Dieses Gespräch fand am Abend des 26. Oktober 1948 im Bonner Hotel Königshof statt. Neben Ehard und Menzel nahmen der Fraktionsvorsitzende der Unionsfraktion im Parlamentarischen Rat, Anton Pfeiffer (CSU) und Karl Schwend, ein Mitarbeiter Ehards, teil. Das Ergebnis des Gesprächs lautete, dass die SPD bereit war, auf den Senat zu verzichten und für einen Bundesrat zu stimmen. Als Gegenleistung sollte die CSU (und in ihrem Gefolge die Unionsfraktion) die generelle Beschränkung der Bundesratskompetenzen auf ein Vetorecht gegen die Gesetze des Bundestags akzeptieren. Lediglich beim Finanzausgleich und bei der Änderung der Bundeskompetenzen soll Menzel die Gleichberechtigung der Länderkammer zugestanden haben. Dass Ehard bei diesem Gespräch auch die Bundesfinanzverwaltung zugesagt habe, ist nicht zu belegen und wird von Koch und Gelberg bestritten. Letzterer vermutet, hierbei handele es sich um ein „von Adenauer in die Welt gesetztes Gerücht“359. Die Bedeutung des Gesprächs wurde durch die anschließende politische Auseinandersetzung in der CDU/CSU hochgespielt. Dies führte später zur Legendenbildung, an der Ehard und Schwend, aber auch namhafte Historiker ihren Anteil hatten360. Hierbei wird der frühe Zeitpunkt des Treffens übersehen. Die 357 PR-Drucksachen Nr. 296, 297 und 298 sowie Süsterhenn (CDU) im PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30. November 1948; R. Ley: Föderalismusdiskussion...S. 77 ff. 358 Bericht des Genossen Walter Menzel 359 vom 15. Oktober 1948 ( NL C. Schmid, 1162 - AdsD) Heuss im Plenum, PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 523-533; P. J. Kock: Bayerns Weg in die Bundesrepublik, Stuttgart 1983, S. 301; K.-U. Gelberg: Hans Ehard. Die föderalistische Politik des bayerischen Ministerpräsidenten 1946-1954, Düsseldorf 1992, S. 215 360 K.-U. Gelberg a. a. O. ...S. 216 ff. 123 erste Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates hatte noch nicht begonnen, und eine Reihe grundsätzlicher Fragen, wie etwa die Zusammensetzung des Bundesrats, waren noch ungeklärt. Man wird die Absprachen zwischen Menzel und Ehard als situationsbedingte Übereinstimmung zwischen den Prinzipien der sozialen Mehrheitsdemokratie und den Interessen der süddeutschen Landesregierungen interpretieren, die eine eigenständige Variante der konstitutionellen Demokratie vertraten. Taktik und Ressentiment spielten ebenfalls eine Rolle: Ehards Versuch vom 7. Oktober, der Unionsfraktion die Bundesratslösung nahe zu bringen, war unter tatkräftiger Mitwirkung Adenauers gescheitert. Die Fraktion votierte nach Ehards Rede mit 22 zu 1 Stimmen bei 4 Enthaltungen für den gemischt zusammengesetzten Halbsenat. Aus der Sicht Menzels ging es zunächst darum, die im Parlamentarischen Rat drohende Mehrheitsentscheidung für eine gleichberechtigte gemischte zweite Kammer zu durchkreuzen. Während die SPD-Fraktion in den darauf folgenden Wochen an der Bundesratslösung festhielt, fand die entscheidende Debatte in der Unionsfraktion am 25. und 26. November 1948 in Gegenwart der CDU/CSU-Minister-präsidenten statt. Drei Tage vorher hatten die Militärgouverneure dem Parlamentarischen Rat in einem Aide-mémoire ihre Auffassung von einer föderalistischen Verfassung erläutert und hierbei eine zweite Kammer vorgeschlagen, welche die einzelnen Länder repräsentiere und deren Interessen sichere. Mit dem Rückenwind dieser Intervention plädierte der bayerische Ministerpräsident diesmal sehr viel wirkungsvoller für den Bundesrat als Anfang Oktober. Er ging bei seiner Argumentation allerdings von der vollen Gleichberechtigung der Länderkammer aus, obwohl er wusste, dass die anderen Fraktionen diese Bedingung kaum akzeptieren würden. Adenauer bezeichnete den Bundesrat als „nach jeder Richtung ein Unglück“ und behauptete, mit dieser Lösung sei dem föderalistischen Gedanken nicht gedient. Er blieb aber mit seinen Einwänden in der Minderheit: Die CDU/CSU-Fraktion beschloss mit 13 zu 9 Stimmen, für einen dem Bundestag gleichberechtigten Bundesrat einzutreten, in dem die Länder ein nach ihrer Größe gestaffeltes Stimmrecht besitzen sollten361. Als die Zweikammer-Problematik am 30. November 1948 erstmals im Hauptausschuss behandelt wurde, entschied man zunächst nur über die Zusammensetzung. Dies erwies sich im Sinne der sozialen Mehrheitsdemokratie als vorteilhaft, denn sowohl die Vertreter von CDU/CSU und SPD als auch die Sprecher der Deutschen Partei und des Zentrums sprachen sich für das Bundesratsprinzip aus. Für die Freien Demokraten erklärte Theodor Heuss unter Hinweis auf den Positionswechsel der beiden großen Fraktionen ebenfalls seine Zustimmung zum Bundesrat. Er hielt aber den ursprünglichen Antrag der FDP-Fraktion aufrecht, beim Gesetzgebungsverfahren eine Ergänzung des Bundesrates durch indirekt gewählte Senatoren vorzusehen. Lediglich der KPD-Abgeordnete Renner vertrat weiterhin das Senatsprinzip. Die Einrichtung des Bundesrates wurde daher mit einer angesichts der Ausgangspositionen überraschenden Mehrheit von 16 : 1 Stimmen beschlossen. Der weitergehende FDP-Antrag, den Bundesrat durch Senatoren zu ergänzen, wurde mit 18 Stimmen abgelehnt. Erst nach dieser Beschlussfassung kam in derselben Sitzung des Hauptausschusses die Alternative: Gleichberechtigung oder Vetorecht zur Sprache. In dieser Frage gelang es zunächst nicht, einen Ausgleich der unterschiedlichen Auffassungen zu erreichen. Die CDU-Abgeordneten Süsterhenn, Strauß und Lehr traten für die Gleichberechtigung des Bundesrates bei der Verabschiedung von Gesetzen ein und wurden hierin von dem Sprecher der Deutschen Partei unterstützt, während sich die Vertreter der SPD, des Zentrums und der KPD für ein Vetorecht aussprachen. Für die FDP gab der Abgeordnete Max Becker die Erklärung ab, seine Fraktion hätte zwar bei der Senatslösung die volle Gleichberechtigung der zweiten Kammer befürwortet. Nach der Entscheidung für das „reine Bundesratssystem“ sei jedoch die Haltung der Freien Demokraten in der Kompetenzfrage wieder offen. Er beantragte daher, die Beschlussfassung über die entsprechenden Artikel des Abschnitts „Die Gesetzgebung“ auszusetzen, und der Hauptausschuss stimmte dem Antrag zu. Mit dieser Stellungnahme der FDP-Fraktion war jedoch auch die Entscheidung für das Bundesratsprinzip erneut in Frage gestellt, denn der sozialdemokratische Abgeordnete Rudolf Katz hatte bereits vorher 361 Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 64 ff. und S. 191-225 124 angekündigt, falls sich eine Mehrheit zugunsten der Gleichberechtigung abzeichne, werde die SPD möglicherweise einen erneuten Frontwechsel vornehmen und auf das Senatsprinzip zurückkommen. Die enge Verbindung beider Probleme führte schließlich dazu, dass am nächsten Tag mit dem Votum der FDP für das Bundesratsprinzip auch die Entscheidung gegen die prinzipielle Gleichberechtigung beider Kammern fiel. Der Sprecher der Freien Demokraten verwies in dieser Sitzung zwar noch einmal auf die aus seiner Sicht grundsätzlichen Mängel des Bundesrates, fügte aber hinzu, nach Auffassung der FDP-Fraktion sei das „retardierende Element, das in jedem Oberhaus stecken soll . . . genügend gewahrt“. Die CDU/CSU- Fraktion beharrte auf ihrer Forderung nach Gleichberechtigung und erhob die Formulierung: „Ein Bundesgesetz kommt durch übereinstimmenden Mehrheitsbeschluss beider Häuser zustande“ zum Antrag. Der Antrag wurde mit 12 : 9 Stimmen abgelehnt, d. h. mit den Stimmen der SPD, FDP, des Zentrums und der KPD gegen das zustimmende Votum von CDU/CSU und DP362. Diese Entscheidung hat der Parlamentarische Rat auch in den nachfolgenden Lesungen des Grundgesetzes nicht mehr revidiert. Nachdem sich der Hauptausschuss gegen die Gleichberechtigung der zweiten Kammer entschieden hatte, stand allerdings die konkrete Formulierung des Vetorechts für den Bundesrat noch aus. Die Beratung dieses Punktes ist als eine Fortsetzung der Gleichberechtigungsdiskussion zu verstehen, und die Vorschläge hierzu entsprachen ebenfalls den unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen: Die Vertreter der konstitutionellen Demokratie traten für ein starkes Vetorecht der zweiten Kammer ein, wenn sie schon ihre Forderung auf Gleichberechtigung nicht hatten durchsetzen können. Die Befürworter der mehrheitsdemokratischen Konzeption dagegen waren an einer abgeschwächten Form des Vetos interessiert. Der Bundestag als unmittelbar gewähltes Parlament sollte ihrer Ansicht nach bei seiner Gesetzgebung möglichst wenig behindert werden und den Einspruch der Länderkammer leicht zurückweisen können. Auf der einen Seite beantragte daher der CDU-Abgeordnete Dr. Süsterhenn, zur Ablehnung eines Vetos die Dreiviertelmehrheit der Bundestagsmitglieder vorzuschreiben, und wurde hierbei vom Sprecher der Deutschen Partei unterstützt. Außerdem sollte der Bundestag erst nach einer Frist von drei Monaten über den Einspruch des Bundesrates entscheiden, damit die umstrittene Frage in der Öffentlichkeit ausführlich diskutiert werden könne. Auf der anderen Seite schlug der sozialdemokratische Abgeordnete Friedrich. Maier vor, bereits der absoluten Mehrheit des Bundestages das Recht zuzubilligen, einen Einspruch der zweiten Kammer zurückzuweisen. Er folgte damit den beiden Verfassungsentwürfen seines Fraktionskollegen Walter Menzel. Nach den sozialdemokratischen Verfassungsrichtlinien von 1947 war hierzu allerdings schon die einfache Mehrheit des unmittelbar gewählten Parlaments ausreichend363. Der Hauptausschuss übernahm jedoch den Kompromissvorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses, welcher neben der Einigung auf das Bundesratsprinzip auch vorsah, dass der Bundestag das Veto der Länderkammer mit Zweidrittelmehrheit zurückweisen konnte. Menzel berichtete noch im Dezember 1948 an den Parteivorstand der SPD nach Hannover, es sei zwar gelungen, die Befugnisse des Bundesrates im wesentlichen auf ein Vetorecht zu begrenzen. Zur Überwindung dieses Einspruchs benötige man aber leider im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit. Diese Konzession habe Rudof Katz der CDU/CSU beim Bundesratskompromiss „auf seine eigene Verantwortung“ gemacht. Im Parteivorstand der SPD wurde diese Klausel stark kritisiert, weil dies - wie Willi Eichler mit Recht bemerkte - bedeutete, dass SPD und Unionsparteien im Parlament über die Zurückweisung des Einspruchs einer Meinung sein müssten. Der Bundesrat würde auf diese Weise „immer vollberechtigt mitregieren“ 364. 362 PR-Hauptausschuss, 11. und 12. Sitzung vom 30. November und 1. Dezember 1948 363 PR-Hauptausschuß, 12. Sitzung vom 1. Dezember 1948; Text der Entwürfe bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen... S. 264, 274 und 287 364 Menzel an Ollenhauer und Heine 4. 12. 1948 (NL C. Schmid 1162 - AdsD); Sitzung des SPD PV am 29./30. 10. 1948 (PV - Protokolle 1948 - AdsD) 125 Im Zuge des „großen Kompromisses“, der zwischen den Fraktionen zu Beginn des Jahres 1949 ausgehandelt wurde, griff man auch die Veto-Frage wieder auf. Die SPD setzte hier mit Unterstützung der FDP den Verzicht auf die Zweidrittelmehrheit durch. Statt dessen einigte man sich bei den interfraktionellen Besprechungen am 25. Januar 1949 auf das ins Grundgesetz aufgenommene abgestufte Einspruchsrecht: Falls der Bundesrat seine Einwände mit Zweidrittelmehrheit beschloss, so konnte sie der Bundestag ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit seiner Mitglieder zurückweisen. Ein im Bundesrat mit absoluter Mehrheit beschlossenes Veto sollte der Bundestag aber bereits mit der Mehrheit seiner Mitglieder ablehnen können. Diese Regelung stand der mehrheitsdemokratischen Konzeption näher als die ursprünglich vorgesehene Fassung. Der Herrenchiemsee-Konvent hatte sie bereits für die sogenannte abgeschwächte Bundesratslösung vorgesehen. Im Anschluss an diese Einigung formulierte der Fünferausschuss auch zum erstenmal den Gedanken des Vermittlungsausschusses. Dieser sollte bereits vor einem eventuellen Einspruch des Bundesrates in Aktion treten. Die Gründe für seine Aufnahme in den Entwurf sind in der politischen Auseinandersetzung zu suchen. Entscheidend dürfte gewesen sein, dass hiermit auf indirektem Wege eine Verzögerung des Einspruchsverfahrens erreicht wird, wie sie von Adolf Süsterhenn (CDU) und Hans-Christoph Seebohm (DP) im Hauptausschuss vergeblich beantragt wurde. Die Einführung des Vermittlungsausschusses verstärkte den suspensiven Charakter des Bundesratsvetos und kam damit der konstitutionell-demokratischen Zielsetzung entgegen365. Obwohl die unterschiedlichen Demokratievorstellungen bei der Diskussion über die Rolle der zweiten Kammer im Gesetzgebungsverfahren besonders deutlich zum Ausdruck kamen, blieb die Forderung nach Gleichberechtigung nicht auf diesen Bereich beschränkt. Der Herrenchiemsee-Konvent hatte z.B. in seinem Entwurf auch die Wahl des Bundespräsidenten durch ein übereinstimmendes Votum beider Kammern zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlag wurde im Parlamentarischen Rat vor allem von der CDU/CSU-Fraktion aufgegriffen. Dr. Lehr betonte hierzu vor dem Hauptausschuss, er halte die „Vollberechtigung der zweiten Kammer in jeder Beziehung für notwendig“. Der Gleichberechtigungsanspruch bei der Präsidentenwahl scheiterte jedoch bereits in der ersten Lesung des Hauptausschusses, weil er lediglich die Unterstützung der Deutschen Partei fand und dementsprechend mit 11 : 9 Stimmen zugunsten der Wahl durch die Bundesversammlung abgelehnt wurde366. Ähnlich verlief die Diskussion über die Beteiligung der zweiten Kammer an der Regierungsbildung: Der Herrenchiemsee-Konvent empfahl, den Bundesrat als „Legalitätsreserve“ an der Regierungsbildung zu beteiligen. Nach einer bestimmten Frist sollte demnach das Recht zur Regierungsbildung auf die zweite Kammer unter Mitwirkung des Bundespräsidenten übergehen. In der einleitenden Grundsatzdiskussion des Parlamentarischen Rates befürwortete Süsterhenn (CDU) diese Lösung und bezeichnete sie als eine Sicherung für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems. Nach ausführlicher Diskussion in den Ausschüssen entschied sich jedoch der Parlamentarische Rat, die Kompetenz und die Verantwortung für die Regierungsbildung bis auf ein begrenztes Mitwirkungsrecht des Präsidenten ausschließlich dem Bundestag zu übertragen. Bis zur zweiten Lesung im Hauptausschuss (Januar 1949) legten die Fraktionen der CDU/CSU und der Deutschen Partei mehrfach Anträge mit dem Ziel vor, den Ausweg einer Kanzlerwahl durch den Bundesrat offen zu halten, ohne allerdings eine Revision der einmal getroffenen Entscheidung zu erreichen367. Zusammenfassend kann man die Lösung des Zweikammerproblems durch den Parlamentarischen Rat als einen Kompromiss bezeichnen, der den mehrheitsdemokratischen Intentionen weitgehend entsprach. Die 365 PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 301 sowie Bd. 11, S. 61 366 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 594; PR-Hauptausschuss, 10. Sitzung vom 30. November 1948, und die Entstehungsgeschichte von Art. 54 GG in: JöR, N. F. Bd. 1, S. 399 ff. 367 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 60 (Süsterhenn) sowie Bd. 2, S. 550 f. und 597; JöR, N. F. Bd. 1, S. 426 ff. 126 FDP-Fraktion hat am Zustandekommen dieses Kompromisses maßgebenden Anteil gehabt, weil sie sich in der Zweikammerfrage zunehmend den Verfassungsvorstellungen der sozialen Mehrheitsdemokratie annäherte. Vor allem nach der Entscheidung für das reine Bundesratsprinzip kann man hier von einem Positionswechsel sprechen: Als die Formulierung des Vetorechts im Organisationsausschuss erneut zur Sprache kam, schlug Dr. Dehler (FDP) vor, die im Bundestag erforderliche Stimmenzahl zur Überwindung des Vetos der Länderkammer von zwei Dritteln auf die Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl herabzusetzen, obwohl er in der vorangegangenen Diskussion immer für die Gleichberechtigung beider Kammern eingetreten war. Der eigentliche Gewinner beim Pokern um die zweite Kammer war der Sozialdemokrat Walter Menzel. Er brachte das Bauernopfer des Senats, um die Gleichberechtigung der Länderkammer zu verhindern, und konnte sich hierbei auf die Rückendeckung seiner Parteizentrale in Hannover stützen. Auch die SPDFraktion im Parlamentarischen Rat folgte seinem riskanten Manöver, obwohl z.B. Carlo Schmid ursprünglich den Senat favorisierte. Der kritische Punkt in Menzels Taktik war die über lange Zeit festgeschriebene Vorschrift einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag für die Zurückweisung eines Vetos des Bundesrates. Bei einer Parteienkonstellation, die auf den Dualismus zwischen dem Regierungs- und dem Oppositionslager hinauslief, hätte diese Bestimmung den gleichen Bremseffekt für die sozialdemokratischen Ziele haben können, wie die Gleichberechtigung der Länderkammer. In der Schlussphase der Grundgesetzberatungen gelang es Menzel, diese kritische Stelle durch das abgestufte Einspruchsrecht des Bundesrates zu entschärfen368. 2. Zustimmungsgesetze Die positive Bewertung der vom Parlamentarischen Rat gefundenen Lösung des Zweikammerproblems aus der Sicht der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ wird allerdings durch den Verlauf der Beratungen über die Zustimmungsgesetzgebung eingeschränkt: Der Parlamentarische Rat sprach sich zwar grundsätzlich gegen die Gleichberechtigung beider Kammern aus, billigte dem Bundesrat aber gleichzeitig für bestimmte Bereiche der Gesetzgebung ein Zustimmungsrecht zu. Zustimmungsgesetze dürfen nicht mit verfassungsändernden Gesetzen verwechselt werden, zu deren Verabschiedung man allgemein eine Zweidrittelmehrheit beider Kammern für notwendig hielt. In bestimmten Fragen sollte vielmehr trotz des allgemein geltenden Vetorechts die Zustimmung beider Kammern erforderlich sein und damit sozusagen ein Reservat der Gleichberechtigung erhalten bleiben. Die Beratungen zur Zustimmungsgesetzgebung sind deshalb als eine Fortsetzung der Gleichberechtigungsdiskussion anzusehen. Die enge Verbindung zwischen Zustimmungsgesetzgebung und Gleichberechtigungsfrage wird durch den Verlauf der Beratungen bestätigt: Die Einrichtung besonderer Zustimmungsgesetze spielte offenbar bereits in dem Gespräch zwischen Menzel und Ehard vom 26. Oktober 1948 eine Rolle, denn der SPDAbgeordnete Katz schlug am folgenden Tag vor, der Bundesrat solle generell nur ein Vetorecht, in der Frage des Finanzausgleichs jedoch ein volles Zustimmungsrecht erhalten369. Der Allgemeine Redaktionsausschuss legte dementsprechend Ende November einen fünf Punkte umfassenden Katalog der Zustimmungsgesetze vor, der vom Hauptausschuss bei der ersten Lesung des Grundgesetzes auf vier Punkte reduziert wurde. Inhaltlich ging es hierbei um Steuern, die den Ländern zufließen, um den Finanzausgleich zwischen den Ländern sowie um die Errichtung neuer Bundesbehörden und das Weisungsrecht des Bundes gegenüber den Landesbehörden. 368 PR-Organisationsausschuss, 29. Sitzung vom 11. Januar 1949, Stenoprot. S. 18; P. Weber: Carlo Schmid 18961979. Eine Biographie, München 1996, S. 361 ff. sowie zur Gesamtbewertung Menzels: G. Hirscher: Sozialdemokratische Verfassungspolitik und die Entstehung des Bonner Grundgesetzes. Eine biographische Untersuchung zur Bedeutung Walter Menzels, Bochum 1989 369 PR Akten und Protokolle Bd.11, S. 33 127 Bereits bei dieser Gelegenheit gab es erste Versuche, den Bereich der Zustimmungsgesetzgebung über das unmittelbare Länderinteresse hinaus zu erweitern und auf diesem Wege die Polarität beider Kammern im konstitutionell - demokratischen Sinne zumindest teilweise wiederherzustellen. Die Abgeordneten Seebohm (DP) und Süsterhenn (CDU) beantragten im Hauptausschuss vergeblich, die Zustimmungspflicht des Bundesrates auf alle Steuer- und Finanzgesetze (einschließlich der Anleihen) zu erweitern370. Der Katalog des Allgemeinen Redaktionsausschusses wurde aber bis auf redaktionelle Änderungen auch in der zweiten Lesung des Hauptausschusses aufrechterhalten. Bei den interfraktionellen Besprechungen am 25. Januar 1949 schlug die CDU/CSU-Fraktion überraschend die Erweiterung der Zustimmungsgesetzgebung vor. Sie präsentierte einen aus dreizehn Punkten bestehenden Katalog, der so wichtige Materien wie die Überführung in Gemeineigentum, die Energiewirtschaft, die Koordination der Kriminalpolizei sowie die Rechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst umfasste. In den anschließenden Beratungen des Fünferausschusses wurde auch die Zustimmungsgesetzgebung in den „großen Kompromiß“ einbezogen. Die SPD-Fraktion akzeptierte neun Positionen des Katalogs unter der Voraussetzung, dass eine Bundesfinanzverwaltung eingerichtet werde. Außerdem erreichte sie in dieser Situation die bereits erwähnte Streichung der Zweidrittelmehrheit des Bundestages für die Zurückweisung des Bundesratsvetos. John Ford Golay bezeichnet in seiner Darstellung den Bereich der Zustimmungsgesetze mit Recht als eine „elastische Klausel“, die den Kompromiss in anderen wichtigen Fragen erleichtert hat371. Die These vom politischen Zusammenhang zwischen Finanzverwaltung und Zustimmungsgesetzgebung findet im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen ihre Bestätigung: Als die Fraktionen des Parlamentarischen Rats auf die Intervention der Militärgouverneure hin eine zwischen Bund und Ländern geteilte Finanzverwaltung akzeptieren mussten, wurde auch die Ausweitung der Zustimmungsgesetzgebung rückgängig gemacht. Bei den Beratungen zwischen den Fraktionen, die unmittelbar vor der entscheidenden Frankfurter Besprechung mit den Militärgouverneuren am 25. April 1949 stattfanden, reduzierte ein fünfköpfiger Unterausschuss den Umfang der Zustimmungsgesetzgebung auf sechs Bereiche. Hierbei wurde auch die Zustimmungspflicht des Bundesrates zur Überführung von Grundeigentum und Produktionsmitteln in Gemeineigentum „geopfert“ - wie der CDU-Abgeordnete Theophil Kaufmann vor seiner Fraktion formulierte. Der Unterausschuß verzichtete auf einen speziellen Grundgesetzartikel zur Zustimmungsgesetzgebung und beschloss, die Zustimmungspflicht dort in das Grundgesetz aufzunehmen, wo die entsprechende Gesetzesmaterie behandelt wird. Der bayerische Ministerpräsident kommentierte diese Entwicklung mit den Worten, man habe die Zustimmung des Bundesrates auf dem Gebiet der Sozialisierung und Enteignung „jetzt plötzlich zum Fenster hinausgeworfen“372. Die Zustimmungsgesetzgebung wurde damit etwa auf den gleichen Umfang zurückgeführt, den sie zu Beginn der Beratungen hatte, nachdem sie zeitweise die tatsächliche Gleichberechtigung beider Kammern herbeizuführen drohte. So wie die Zustimmung des Bundesrates in der Endfassung des Grundgesetzes formuliert wurde, war sie nach Auffassung des Parlamentarischen Rates eine Garantie der Bundesländer und ein „wirksame(r) Riegel“ gegen die Verletzung ihrer Rechte373. Das Zustimmungsrecht des Bun370 Dieser schließlich zu einem Antrag vereinigte Vorschlag wurde mit den Stimmen der SPD, FDP und des Zentrums gegen das Votum der CDU/CSU und DP mit 11:9 Stimmen abgelehnt ( PR-Hauptausschuß, 12. Sitzung vom 1. Dezember 1948) 371 PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 302 sowie Bd. 11, S. 63 f. und 69; J. F. Golay: The Founding...S. 55 f.; R. Ley: Föderalismusdiskussion...S. 136 ff. 372 PR Akten und Protokolle Bd. 11, S.166 ff. ; Die Unionsparteien 1946-1950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU Deutschlands und der Konferenzen der Landesvorsitzenden, bearb. von Brigitte Kaff, Düsseldorf 1991, S. 489 f. und .S. 523 373 So zum Beispiel der Abg. Dr. Lehr (CDU) in der dritten Lesung des Plenums, PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 128 desrates sollte die Länder lediglich vor einer „Unitarisierung“ durch Verfassungs- und Gebietsänderungen oder durch Eingriffe in ihre Verwaltung und ihre finanziellen Grundlagen bewahren. Für die Aufgabe der Gesetzgebung war nach Ansicht des Verfassungsgebers in erster Linie der Bundestag zuständig. Bei der Schlussabstimmung zum Grundgesetz kommentierte der sozialdemokratische Abg. Dr. Menzel die gefundene Lösung allerdings sehr vorsichtig: Er zeigte sich zwar befriedigt darüber, dass die Länderkammer „jetzt im wesentlichen auf ein reines Veto beschränkt“ sei, fügte jedoch hinzu, durch eine Erweiterung der Zustimmungsgesetzgebung könne sich „auf wichtigen Gebieten eine Hemmung für eine reibungslose Weiterentwicklung“ ergeben. Die sozialdemokratische Fraktion habe sich mit dieser Regelung nur einverstanden erklärt, weil sie „dafür auf anderen Gebieten bessere Lösungen“ verwirklichen konnte374. 3. Die Judikative als Gegenstand der Demokratiediskussion Neben der Diskussion über die Länderkammer geben die Grundgesetzberatungen zum Bereich der Rechtsprechung Aufschluss über die im Parlamentarischen Rat vertretenen Demokratievorstellungen. Im Gegensatz zum Zweikammerproblem wurde allerdings das Thema „dritte Gewalt“ im Plenum des Parlamentarischen Rates kaum zur Sprache gebracht, sondern vorwiegend in den zuständigen Ausschüssen diskutiert. Stellenweise nahm die Beratung dieser Materie den Charakter einer juristischen Fachdiskussion an, was sicher auf die große Zahl ausgebildeter Juristen unter den Abgeordneten zurückzuführen ist (32 von 65). Auch im zuständigen „Ausschuss für Verfassungsgerichtsbarkeit und Rechtspflege“ im Folgenden als Rechtspflegeausschuss bezeichnet - waren mit dem CDU-Abgeordneten. Schröter und dem DP-Abgeordneten Heile lediglich zwei Nichtjuristen vertreten375. Ein weiterer Grund für die Neigung zur Fachdiskussion war fehlende Klarheit über die Organisationsform der oberen Bundesgerichtsbarkeit. Neben dem Verfassungsgerichts stellte man sich ein oberstes Bundesgericht vor, dem die Aufgabe zufallen sollte, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung in ihren verschiedenen Bereichen zu sichern376. Unter diesem Aspekt schien die Berücksichtigung organisatorischer und verfahrensrechtlicher Fragen bei den Beratungen durchaus berechtigt. Die Gewerkschaften zum Beispiel legten Wert auf ein oberstes Arbeits- und Sozialgericht, dessen Einrichtung im Text des Grundgesetzes garantiert werden sollte. Sie richteten bereits frühzeitig eine entsprechende Eingabe an den Parlamentarischen Rat und sicherten sich die Unterstützung der SPD-Fraktion für dieses Anliegen. Wie der Bericht des Abgeordneten Menzel über ein Gespräch zwischen der Fraktionsführung und Gewerkschaftsvertretern zeigt, ging es hierbei keineswegs um eine rein organisatorische Frage. „Sobald die allgemeine Justiz den Grad der Vollkommenheit erreicht haben sollte, den wir erhoffen“, schrieb Menzel, könnten auch „die Arbeitsgerichte wieder in die allgemeine Justiz eingebaut werden“377 . Die nachfolgende Analyse beabsichtigt nun keineswegs, eine umfassende Darstellung der Grundgesetzberatungen zum gesamten Komplex der Rechtsprechung zu geben. Sie wird vielmehr eine Reihe von Fragen herausgreifen, deren Beratung die beiden unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen deutlich hervortreten lässt. In diesem Zusammenhang verdienen drei Einzelprobleme besondere 519 374 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 523 375 Vgl. die Übersicht bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 262 376 Hierzu die Entstehungsgeschichte des Art. 95 GG in JöR, N. F. Bd. 1, S. 690 ff. und die Diskussion im PRHauptausschuss, 24. Sitzung vom 9. Dezember 1949 377 Menzel an Ollenhauer und Heine vom 1. 10. 1948 (NL C. Schmid 1162 - AdsD) sowie die Eingabe des Gewerkschaftsrats der vereinten Zonen an den Präsidenten des Parlamentarischen Rats vom Oktober 1948 (Bestand Schumacher 238 - AdsD) 129 Beachtung: An erster Stelle ist die Frage der personellen Besetzung des Verfassungsgerichts zu nennen, welche bereits bei den Beratungen der Länderverfassungen in den Jahren 1946/47 politische Bedeutung erlangte. Zweitens ging es um die Wahl der Richter im Bund und in den Ländern, während als dritter Punkt die Einführung der Richteranklage Anlass zur Kontroverse zwischen den Fraktionen gab. Die Ausgangspositionen zum Fragenkreis der rechtsprechenden Gewalt lassen sich dabei folgendermaßen charakterisieren: Die verfassungspolitische Zielsetzung der konstitutionellen Demokratie verlangte eine möglichst weitgehende Eigenständigkeit der Rechtspflege, welche sich gleichzeitig im Sinne der politischen Machtaufteilung auswirken sollte. Die Judikative wurde im Rahmen dieser Demokratievorstellung als „dritte Säule“ der neu zu gründenden Demokratie betrachtet und gleichrangig neben Legislative und Exekutive gestellt. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie erkannten die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ebenfalls an. Sie bezweifelten jedoch die demokratische Standfestigkeit dieser Säule und hielten deshalb ihre parlamentarische Kontrolle für notwendig. Diese Kontrolle sollte sich in erster Linie auf die Personalentscheidungen im Justizbereich beziehen. Die Auffassungsunterschiede über die Stellung der Judikative wurden bei der Diskussion über die Besetzung des Verfassungsgerichtshofes deutlich sichtbar. Bereits der Herrenchiemsee-Konvent hat sich mit dieser Frage ausführlich beschäftigt. Die konstitutionell-demokratische Sicht des Problems wurde hier von dem Mitglied der nordrhein-westfälischen Delegation Dr. Berger vertreten. Berger, damals Richter am Obersten Gerichtshof für die Bizone in Köln, setzte sich vor dem Plenum des Konvents dafür ein, dass in den Verfassungsgerichtshof „nur Juristen kommen, die die Rechtsfragen entscheiden und sich nicht mit politischen Erwägungen belasten“. Der Vorsitzende und die Hälfte der Richter am Verfassungsgericht sollten seiner Auffassung nach Berufsrichter sein, die andere Hälfte zumindest die Fähigkeit zum Richteramt besitzen. Die Gegenposition hierzu bezog Carlo Schmid, der für Württemberg-Hohenzollern am Verfassungskonvent teilnahm. Er hielt es für sinnvoll, im Verfassungsgerichtshof auch das „Nichtfachrichterelement“ zur Geltung zu bringen. Gerade auf dem Gebiet der Verfassungsgerichtsbarkeit war nach seinen Worten die Gefahr einer „déformation professionnelle“ gegeben, die sich darin äußern könne, „Dinge für Rechtsfragen zu halten, die in Wirklichkeit politische Fragen sind“. Das Verfassungsgericht habe jedoch bei seinen Entscheidungen neben den juristischen Argumenten auch politische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Schmid führte als Beispiel hierfür das Verbot von Parteien an. Es ging ihm bei seiner Argumentation weniger um die Frage der formalen Qualifikation; er wollte vielmehr sicherstellen, dass „politische Menschen“ nicht aufgrund ihrer fehlenden „fachlichen“ Vorbildung von der Wahl zum Verfassungsrichter ausgeschlossen blieben. Der Herrenchiemsee-Konvent entschied sich schließlich für die Formulierung, mindestens die Hälfte der Verfassungsrichter sei aus dem Kreis der Richter an oberen Bundesgerichten und an den höchsten Gerichtshöfen der Länder zu wählen. Der Vorsitzende sollte außerdem die Befähigung zum Richteramt haben. Die Auswahlmöglichkeit für die Wahl der richterlichen Mitglieder wurde damit auf einen verhältnismäßig kleinen Personenkreis beschränkt378. Im Parlamentarischen Rat wurden die Personalprobleme zunächst durch die Organisationsprobleme der obersten Gerichtsbarkeit überlagert. Im Rechtspflegeausschuss war zunächst die Vorstellung vorherrschend, das oberste Gericht solle mit einem hierfür einzurichtenden Senat auch die Verfassungsstreitigkeiten entscheiden. Vor der ersten Lesung im Hauptausschuss stellte jedoch der mit Zinn (SPD), Strauß (CDU) und Dehler (FDP) besetzte Allgemeine Redaktionsausschuss die Weichen in Richtung eines separaten Bundesverfassungsgerichts. Er legte am 5. Dezember 1948 einen entsprechenden Formulierungsvorschlag vor, der auch Grundregeln zur Wahl und Zusammensetzung des Gerichts enthielt. Im Hauptausschuss setzte sich aber die Auffassung durch, die Details zum Bundesverfassungsgericht dem zukünftigen Gesetzgeber zu überlassen. Er strich auch die Befähigung 378 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 432 f. und 600; H. Laufer: Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess. Studien zum Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1968, S. 35 ff. 130 zum Richteramt als Qualifikationsmerkmal des Präsidenten und der Senatsvorsitzenden. Der Parlamentarische Rat verzichtete damit auf jede zahlenmäßige Festlegung und beschränkte sich auf die allgemeine Vorschrift, das Verfassungsgericht sei mit Bundesrichtern und Beisitzern zu besetzen. Beibehalten wurde lediglich die bereits auf Herrenchiemsee beschlossene Regelung, die 379 Verfassungsrichter jeweils zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat zu wählen . Das Bestreben, Einzelheiten der Verfassungsgerichtsbarkeit dem Gesetzgeber zu übertragen, blieb nicht auf die Personalia beschränkt. Der spätere Artikel 93 des Grundgesetzes führt zwar in vier Punkten Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts auf, verweist aber im Übrigen auf das Grundgesetz und die Bundesgesetzgebung. Auch die Beantwortung der wichtigen Frage, in welchen Fällen den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft zukommt, wurde dem Bundesgesetzgeber überlassen, obwohl der Entwurf des Grundgesetzes hierfür bis zur dritten Lesung des Hauptausschusses eine spezielle Bestimmung enthielt. Die beiden großen Fraktionen erhofften sich vom Aufschub dieser Probleme offenbar Vorteile für die eigene Zielsetzung. Golay hat bereits in seiner Studie hervorgehoben, die Mehrheit des Bundestages verfüge über einen breiten Spielraum bei der Einrichtung des Verfassungsgerichts und könne seine Zusammensetzung festlegen380. Die Kompromisslösung entsprach deshalb durchaus den Intentionen der sozialen Mehrheitsdemokratie, denn sie überließ die Gestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit dem zukünftigen Parlament. Zum kontroversen Bereich der Grundgesetzberatungen über den Abschnitt Rechtsprechung gehört neben der personellen Besetzung des Verfassungsgerichts auch der Wahlmodus für die Bundesrichter. Die entsprechende Diskussion in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rates bezog sich vor allem auf die Einrichtung von Richterwahlausschüssen und zwar sowohl für die Wahl der Richter am geplanten Obersten Bundesgericht als auch an den sogenannten oberen Bundesgerichten, die für das Gebiet der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz- sowie der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit errichtet werden sollten. Diese Form der Richterbestellung war in der bisherigen deutschen Verfassungsentwicklung ohne Vorbild; lediglich die Nachkriegsverfassungen von Hessen und Bremen sahen damals eine vergleichbare Regelung vor381. Da im Parlamentarischen Rat außerdem über eine Rahmenbestimmung zur Anstellung der Richter in den Ländern beraten wurde, welche ebenfalls die Einrichtung von Wahlausschüssen vorsah, bezog sich die Diskussion auf das Personalproblem im gesamten Bereich der Judikative. In dieser Diskussion spielte die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit eine große Rolle: Die mehrheitsdemokratischen Vorstellungen zur Richterwahl beruhten auf der gleichen Zeitgeschichtsinterpretation, die auch als Motivationsgrundlage für das Gesamtkonzept der sozialen Mehrheitsdemokratie anzusehen ist. Die Richterschaft gehörte demnach zu den sozialen Gruppen, welche der Weimarer Republik ablehnend gegenüberstanden und aufgrund dieser Haltung für das Scheitern der Republik mitverantwortlich waren. Ihre Einstellung nach 1933 wurde von mehrheitsdemokratischer Seite als unverhüllte Kapitulation vor den neuen Machthabern angesehen und ebenfalls heftig kritisiert. Die sozialdemokratische Abgeornete Elisabeth Selbert führte im Hauptausschuss zahlreiche Beispiele aus ihrer Anwaltstätigkeit vor 1945 an, die den gnadenlosen Charakter der Rechtsprechung im Dritten Reich dokumentierten. Im Plenum äußerte sich Walter Menzel (SPD) kritisch zur Rolle der Justiz in den Jahren 1918 bis 1945 und forderte Garantien dafür, dass die richterliche Gewalt nicht noch einmal zur „Unterhöhlung des demokratischen Staates“ beitrage382. Diese Gefahr sollte durch die Richterwahlausschüsse abgewendet werden. Sie waren als 379 PR-Hauptausschuss, 23., 37. und 57. Sitzung vom 8.12.48, 13.1.49 und 5.5.49; PR-Drucksache Nr. 343 vom 5.12.1948 sowie die Übersicht im JöR, N.F., Bd. 1, S. 682 ff. 380 J. F. Golay: The Founding... S. 183 f. 381 Art. 127 der hessischen Verfassung vom 1.12.1946 und Art. 136 der bremischen Verfassung vom 21.10.1947. 382 PR-Hauptausschuss, 24. Sitzung vom 9. Dezember 1948 und PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 78 131 personalpolitisches „Sicherheitsventil“ gedacht und sollten nicht nur die sachlichen Qualifikation der Bewerber, sondern auch ihre „demokratischen Zuverlässigkeit“ prüfen. Dieses politische Prüfungs- und Auswahlverfahren stand nach mehrheitsdemokratischer Auffassung nicht im Widerspruch zum Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit; es wurde vielmehr aufgrund der zeitgeschichtlichen Erfahrungen als Voraussetzung für die Wiedereinführung dieser Unabhängigkeit angesehen. Die Forderung Carlo Schmids, man müsse die Unabhängigkeit der Rechtsprechung garantieren und gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass sie nicht „gegen die Demokratie missbraucht werden kann“383, sollte mit Hilfe dieser Einrichtung auf dem Wege der Personalkontrolle verwirklicht werden. Im Mittelpunkt der mehrheitsdemokratischen Vorstellungen zur Richterwahl stand deshalb die Zielsetzung, neben den Vertretern der Exekutive auch Parlamentarier an den Wahlausschüssen zu beteiligen und hiermit dem unmittelbar gewählten Parlament einen maßgebenden Einfluss auf das Personal der dritten Gewalt zu sichern. Die Vertreter der konstitutionellen Demokratiekonzeption waren in diesen Fragen entgegengesetzter Auffassung: Das Verhältnis der Richterschaft zum Dritten Reich und zur Weimarer Republik musste ihrer Ansicht nach wesentlich differenzierter gesehen werden. Gegen eine pauschale Verurteilung der Richterschaft sprach sich im Hauptausschuss vor allem der Thomas Dehler (FDP) aus. Er erklärte, nach seinen persönlichen Erfahrungen habe sich ein großer Teil der Richter im Rahmen des damals Möglichen gegen das nationalsozialistische Unrecht zur Wehr gesetzt. Man könne auch gerechterweise „den deutschen Richter nicht damit belasten, dass die deutsche Politik gefehlt hat“, denn die Richterschaft habe im Dritten Reich unter dem „Zwang des Gesetzes“ gestanden. Dehler wurde in seiner Argumentation von dem CDU-Abgeordneten de Chapeaurouge unterstützt, der hinzufügte, in Hamburg zum Beispiel seien bisher keine „Missstände“ aufgrund der Tatsache aufgetreten, dass Richter früher der NSDAP angehört hätten. Aus dieser Sicht schien die Einrichtung von Richterwahlausschüssen nicht unbedingt erforderlich zu sein. Sie wurde daher auch von den Abgeordneten Dehler und Seebohm (DP) grundsätzlich abgelehnt. Dehler bezeichnete die Ernennung der Richter als Aufgabe der zuständigen Stellen in der Exekutive, d. h. in erster Linie des Justizministers. Bei Einschaltung eines Wahlausschusses bestand seiner Auffassung nach die Gefahr, dass die Wahl der Richter „nach politischen Gesichtspunkten, nicht nach rein fachlichen und charakterlichen Gesichtspunkten“ erfolge. Seebohm erblickte in der Einrichtung von Wahlausschüssen eine „Vermischung der exekutiven und legislativen Gewalten“ und befürwortete ebenfalls die Ernennung durch den Justizminister oder durch das gesamte Kabinett. Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten kam im Parlamentarischen Rat eine Einigung über die Wahl der Bundesrichter durch einen Richterwahlausschuss und über die Besetzung dieses Wahlausschusses zustande. Dieses Ergebnis scheint auf den ersten Blick den Mehrheitsverhältnissen in den Ausschüssen sowie im Plenum zu widersprechen. In diesem Punkt bestand jedoch eine Interessenübereinstimmung zwischen der mehrheitsdemokratischen Zielsetzung und den süddeutschen Länderinteressen, die bereits zum Ausdruck kam, als der Allgemeine Redaktionsausschuss den Gedanken des Wahlausschusses im Dezember 1948 zum erstenmal formulierte: Entscheidend war aus Sicht der Länder, dass die Landesjustizminister in diesem Ausschuss halbparitätisch vertreten sein sollten. Die CDU/CSU-Fraktion schloss sich im weiteren Verlauf der Beratungen diesem Vorschlag an, obwohl z.B. ihr Vertreter im Rechtspflegeausschuss, Paul de Chapeaurouge, in der ersten Lesung des Hauptausschusses noch Bedenken gegen den Wahlausschuss geltend gemacht hatte. Die FDP blieb bei ihrer ablehnenden Haltung und beantragte in der zweiten Lesung des Hauptausschusses die Streichung des entsprechenden Absatzes aus dem Entwurf. Ihr Abgeordneter Max Becker erklärte hierzu, seine Fraktion sei grundsätzlich der Meinung, „dass der Wahlausschuss nicht das gegebene Gremium für die Wahl der Richter ist“. Einen anderen Verlauf nahm die Diskussion über die ursprünglich als Art. 129 a in den Entwürfen 383 Dr. Selbert (SPD) im PR-Hauptausschuss, 24. Sitzung vom 9. 12. 1948; Schmid (SPD) in PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 37 132 vorgesehene Bestimmung, auch den Ländern die Einrichtung von Richterwahlausschüssen vorzuschreiben, die zusammen mit dem Landesjustizminister die Landesrichter auswählen sollten. Neben den bereits erwähnten grundsätzlichen Bedenken gegen die Richterwahl wurden auch föderalistische Einwände geltend gemacht. Im Hauptausschuss scheiterte deshalb der Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses mit der bindenden Vorschrift für die Länder in der Abstimmung mit 12 (CDU/CSU, FDP, DP, Z) gegen 9 Stimmen (SPD, KPD). Die sozialdemokratische Fraktion schlug daraufhin die Umwandlung der bindenden Vorschrift in eine Kann-Bestimmung vor und leitete damit die Beschlussfassung über den späteren Art. 98 Abs. 4 des Grundgesetzes ein384. Die auf Parlamentseinfluss ausgerichtete mehrheitsdemokratische Zielsetzung traf hier auf den Widerstand der konstitutionell-demokratischen Verfassungskonzeption und der Länderinteressen. Auch bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates über die Aufnahme der Richteranklage in das Grundgesetz bestimmte die Problematik der richterlichen Unabhängigkeit den Verlauf der Diskussion. Diese Unabhängigkeit wurde von den Vertretern der sozialen Mehrheitsdemokratie aufgrund der zeitgeschichtlichen Erfahrungen gleichermaßen als Bestandteil der demokratischen Grundordnung und (im Falle des Missbrauchs) als Gefahr für den demokratischen Staat betrachtet. Man war auf dieser Seite der Auffassung, der besonderen Position, die der Richter im Vergleich zum weisungsgebundenen Beamten innehabe, müsse auch eine besondere Verantwortlichkeit entsprechen. Wenn der „Richter als Person“ einerseits in den Genuss bestimmter Schutzbestimmungen komme, erklärte Carlo Schmid vor dem Hauptausschuss, müsse auf der anderen Seite die Bevölkerung vor dem Missbrauch dieser Privilegien geschützt werden. Die Initiative zur Einführung der Richteranklage ging von der sozialdemokratischen Fraktion aus: Nach einem Vorschlag des Abg. Zinn für den Rechtspflegeausschuss konnten sowohl Bundes- als auch Landesrichter ihr Amt durch eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes verlieren, falls keine Gewähr mehr bestand, dass sie ihre Aufgaben „im demokratischen Geiste des Grundgesetzes und des sozialen Verständnisses“ wahrnehmen. Zinn verwies auf das Recht zur Richterabsetzung nach der kanadischen, der südafrikanischen und der australischen Verfassung sowie nach der Verfassung der Vereinigten Staaten. Als unmittelbares Vorbild für den Parlamentarischen Rat sind jedoch die entsprechenden Bestimmungen der vorausgehenden Länderverfassungen anzusehen. Von sozialdemokratischer Seite wurde vor allem auf die hessische Regelung Bezug genommen: Hier kann der Staatsgerichtshof auf Antrag des Landtages (oder des Justizministers im Einvernehmen mit dem Richterwahlausschuss) Richter gegebenenfalls entlassen, wenn sie ihr Amt nicht „im Geiste der Demokratie und des sozialen Verständnisses“ ausüben. Die Verfassung Bremens aus dem Jahre 1947 sieht für die Richteranklage ein vergleichbares Verfahren vor. Mit der Richteranklage sollte nach den Worten des Abg. Zinn (SPD) die Möglichkeit gegeben sein, „unabhängig von einem konkreten und individuellen Verschulden gegenüber dem Richter die Vertrauensfrage zu stellen“. Die sozialdemokratische Abgeordnete Elisabeth Selbert hob diese Überlegungen noch deutlicher hervor. Sie bezeichnete die Einstellung zum demokratischen Staat und zu den Grundrechten als die maßgebenden Kriterien für die Richteranklage und hielt es für sinnvoll, Richter auch dann aus dem Amt zu entlassen, wenn sie „ohne Schuld unfähig sind, in diesem Geist Recht zu sprechen“385. Der mehrheitsdemokratische Charakter dieser Vorschläge kommt in der Zuständigkeit des Verfassungsgerichts zum Ausdruck, auf dessen Zusammensetzung das Parlament einen unmittelbaren Einfluss ausüben sollte. Die Parlamentsmehrheit sollte außerdem das Antragsrecht zur Einleitung des Verfahrens erhalten. 384 PR-Hauptausschuß, 24. Sitzung vom 9. 12. 1948; PR-Drucksache Nr. 343 vom 5. 12. 1948; JöR, N. F. Bd. 1, S. 719 ff. 385 PR-Hauptausschuss, 37. und 38. Sitzung vom 13. Januar 1949, sowie Art. 127 der hessischen Verfassung vom 11.12.1946 und Art. 136 der bremischen Verfassung vom 21.10.1947. 133 Die konstitutionell-demokratische Gegenposition wurde auch in dieser Frage vor allem von der FDP-Fraktion vertreten: Ihre Sprecher im Hauptausschuss, Thomas Dehler und Max Becker, befürworteten zwar die Möglichkeit der Richteranklage. Diese sollte aber nach ihren Vorstellungen nicht vor dem Verfassungsgericht, sondern vor einem obersten Dienststrafgericht erfolgen. Als Begründung führten sie an, in dieser Sache dürfe die Entscheidung nicht einem Gerichtshof übertragen werden, der zum Teil auf „parteipolitischer Grundlage“ zusammengesetzt sei. Dehler befürchtete sogar, Richter könnten „unter den Druck eines politischen Tribunals“ geraten , und sprach dem „politisch akzentuierten Gerichtshof“ die Fähigkeit ab, das Verhalten eines Richters in einem Rechtsverfahren sachgemäß beurteilen zu können. Die Richteranklage vor dem Verfassungsgericht widersprach seiner Ansicht nach den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der richterlichen Unabhängigkeit. Richter, die den Anforderungen ihres Amtes nicht gewachsen sind, sollten sich vor ihresgleichen verantworten. Sie forderten außerdem, dem beschuldigten Richter sei vor dem Disziplinargericht ein vorsätzlicher Verstoß gegen die demokratische Verfassung nachzuweisen; ein „grobfahrlässiges Verhalten“ des Betroffenen rechtfertigte ihrer Ansicht nach keine Amtsenthebung386. Während der Vorschlag, die Richteranklage einem obersten Dienststrafgericht zu übertragen, bei den beiden großen Fraktionen keine Unterstützung fand, löste die Frage des Vorsatzes eine Grundsatzdiskussion aus, in deren Verlauf die unterschiedlichen Auffassungen noch einmal deutlich hervortraten. Die Bedingung des vorsätzlichen Verstoßes widersprach den mehrheitsdemokratischen Intentionen, weil damit statt des Maßstabes der „Demokratietauglichkeit“ das individuelle Verschulden zum Gegenstand des Anklageverfahrens wurde. Die sozialdemokratischen Abgeordneten Schmid, Selbert und Zinn erklärten im Hauptausschuss, mit dieser Präzisierung werde die Richteranklage an strafrechtliche Normen gebunden. Bei einem vorsätzlichen Verstoß gegen die Verfassung liege bereits der nach dem Strafgesetzbuch strafbare Tatbestand der Rechtsbeugung vor, so dass die Aufnahme der Richteranklage ins Grundgesetz weitgehend überflüssig werde. Der Hauptausschuss folgte jedoch dem Vorschlag der FDP und nahm nur das Wort „vorsätzlich“ in den Grundgesetzentwurf auf. Der Beschluss kam mit 11 Stimmen der CDU/CSU, FDP und DP gegen 10 Stimmen der SPD, KPD und des Zentrums zustande387. Eine Einigung zeichnete sich erst im Dezember 1948 im Allgemeinen Redaktionsausschuss ab, wo Walter Strauß (CDU) und Georg August Zinn (SPD) einen Kompromissvorschlag erarbeitete, welcher mit Billigung der SPD-Fraktion in die Endfassung des Art. 98 GG übernommen wurde: Das Bundesverfassungsgericht hat demnach dem beschuldigten Richter einen vorsätzlichen Verstoß gegen die Verfassung nur dann nachzuweisen, wenn es seine Entlassung aus dem Dienst anordnet. Für die Versetzung in den Ruhestand oder in ein nichtrichterliches Amt gilt diese Einschränkung des Tatbestandes nicht. Die Kompromisslösung zur Richteranklage entsprach insofern noch der mehrheitsdemokratischen Zielsetzung, als für die Versetzung oder Pensionierung eines Bundesrichters kein individueller Schuldbeweis vorgeschrieben wird. Die Entfernung aus dem Amt ist weiterhin möglich, und der „besondere Charakter“ des Anklageverfahrens ist damit gewahrt. Die Vorschrift einer Zweidrittelmehrheit im Bundesverfassungsgericht für die Einleitung des Verfahrens trug aber dazu bei, dass die Richteranklage eine theoretische Möglichkeit blieb. Ihre verbindliche Einführung in den Ländern scheiterte aus den gleichen Gründen wie die Wahlvorschriften für Landesrichter. Angesichts des föderalistischen Widerstands einigte man sich auch hier auf eine Kann-Bestimmung (Art. 98 Abs. 5 GG), die es den Ländern freistellt, für die Landesrichter eine entsprechende Regelung zu treffen388. 386 PR-Hauptausschuss, 25. und 37. Sitzung vom 9. 12. 1948 und 13. 1. 1949, sowie H. Laufer: Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess... S. 65 f. 387 PR-Hauptausschuss, 25., 37. und 38. Sitzung vom 9. 12. 1948 und 13. 1. 1949 sowie Art. 88 der Verfassung von Württemberg-Baden vom 28. 11. 1946 388 PR-Hauptausschuss, 25. Sitzung vom 9. 12. 1948; PR Akten und Protokolle Bd. 11, S. 120 und 263 f. 134 Im Unterschied zu den Beratungen über die Zweikammerfrage fand im Bereich der Judikative keine Annäherung zwischen den Fraktionen der SPD und FDP statt. Für die Konstellation im Parlamentarischen Rat zu den Fragen der Richterwahl, der Richteranklage und der Besetzung des Verfassungsgerichts ist vielmehr bezeichnend, dass die konstitutionell-demokratische Konzeption in erster Linie von der FDP vertreten wurde. In der CDU/CSU-Fraktion, deren Haltung nicht immer einheitlich war, gab es Berührungspunkte mit der sozialdemokratischen Zielsetzung. Eine Kooperation kam jedoch nur im Bereich der Bundesgerichtsbarkeit zustande, so dass die mehrheitsdemokratischen Vorstellungen für die Personalia der Landesgerichtsbarkeit ohne Einfluss blieben. Die Diskussionen im Parlamentarischen Rat standen unter dem Eindruck der Situation im Justizwesen nach 1945. Rudolf Katz (SPD) bemerkte hierzu vor dem Hauptausschuss, man habe die „Erbschaft der Übergangszeit“ von 1945 bis 1946 übernehmen müssen. Der Aufbau des Gerichtswesens durch die Besatzungsmächte sei damals - wie sich anhand der erst jetzt den Länderregierungen zugeleiteten Unterlagen herausstelle - ohne die erforderliche Nachprüfung durchgeführt worden389. 4. Umfang und Bedeutung der Grundrechte Die Neuformulierung und Sicherung der Grundrechte nahm in der Demokratiediskussion nach 1945 breiten Raum ein und kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Regimes war man einerseits bestrebt, die zeitlose Bedeutung dieser Rechte und Freiheiten in den Nachkriegsverfassungen erneut zum Ausdruck zu bringen. Auf der anderen Seite schien die unübersichtliche Nachkriegssituation nur ihre vorläufige Formulierung zu gestatten. Im Parlamentarischen Rat stand daher zeitweise für den ersten Artikel des Grundgesetzes die Ergänzung zur Diskussion, die Grundrechte seien „für unser Volk aus unserer Zeit geformt“390. Die zentrale Bedeutung der Grundrechte hat dazu beigetragen, dass sie nach 1945 teils dem Konsensusbereich, teils aber auch dem umstrittenen Bereich der Verfassungsdiskussion zuzurechnen sind. Im Herrenchiemsee-Konvent kamen die Vertreter der unterschiedlichen politischen Richtungen überein, die Grundrechte in die zukünftige Verfassung als Rechtssätze aufzunehmen, welche für den Gesetzgeber, die Verwaltung und die Rechtsprechung gleichermaßen verbindlich sind. Im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen war vor allem der Umfang des Grundrechtskataloges umstritten. Es ging hierbei um die Frage, ob neben den individuellen Freiheitsrechten und den politischen Mitwirkungsrechten auch Bestimmungen über die Wirtschaftsstruktur, die Sozialordnung sowie über kulturelle Fragen Aufnahme in das Grundgesetz finden sollten. Die Frage dieser „Teilhaberechte“ und Staatsziele kann als das eigentlich politische Thema der Grundrechtsdiskussion bezeichnet werden391. Sie löste im Parlamentarischen Rat eine Kontroverse zwischen den Fraktionen aus, welche ihrerseits Rückschlüsse auf das dort vertretene Demokratieverständnis zulässt. Die Grundrechtsdebatte des Parlamentarischen Rates stand unter dem Eindruck der Erfahrungen aus der Zeit der Weimarer Republik. Der Entwurf zur Weimarer Reichsverfassung von Hugo Preuß enthielt zunächst noch keinen Grundrechtsteil, wurde aber auf den Wunsch Friedrich Eberts um die traditionellen Freiheitsrechte ergänzt. Die Vorstellungen des Sozialliberalen Friedrich Naumann, der vor dem Verfassungsausschuss der Nationalversammlung über die Grundrechtsproblematik Bericht erstattete, 389 PR-Hauptausschuss, 24. Sitzung vom 9. 12. 1948. Zum Wiederaufbau der Justiz nach 1945 vgl. K. Loewenstein in: E. Litchfield u.a.: Governing Postwar Germany, Ithaca 1953, S. 236-262 und M. Stolleis: Rechtsordnung und Justizpolitik 1945 -1949. in: N. Horn (Hrsg.): Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für H. Coing, Bd.1, München 1982, S. 383-407 390 PR - Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, S. 5 (v. Mangoldt) 391 Zur Systematik der Grundrechte K. Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1972, S. 119 ff. 135 gingen noch weiter: Naumann beabsichtigte, die Grundsätze des Staatswesens in allgemein verständlicher Form, aber ohne rechtsverbindlichen Charakter in die Verfassung aufzunehmen und auf diese Weise einen „volkspädagogischen Zweck“ zu erfüllen. Die Nationalversammlung beschloss schließlich die Aufnahme eines umfangreichen Abschnitts über die „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“. Hierin fanden nicht nur die klassischen Grundrechte, sondern auch „soziale“ Rechte und Pflichten Berücksichtigung. Dieser Teil der Reichsverfassung von 1919 ließ allerdings die klare Linie vermissen und wurde bereits in der Weimarer Republik wegen seines heterogenen Charakters kritisiert. Die rechtliche Natur seiner Bestimmungen war nicht eindeutig, denn neben subjektiven Rechtsansprüchen enthielt der Verfassungstext Aufträge und Anregungen an den Gesetzgeber sowie Deklamationen allgemeiner Art. Hinzu kam die unsystematische Anordnung des umfangreichen Grundrechtsteils: Unter der Überschrift „Gemeinschaftsleben“ findet man neben dem Versammlungs- und Petitionsrecht auch die Bestimmung, die Jugend sei „gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige und körperliche Verwahrlosung“ zu schützen. Diese Mängel hatten zur Folge, dass die verfassungsrechtliche und politische Bedeutung des Grundrechtskatalogs der Reichsverfassung bis zum Ende der Weimarer Republik umstritten blieb392. Die westdeutschen Länderverfassungen aus den Jahren 1946/47 folgten, was den Umfang des Grundrechtsteils betrifft, weitgehend dem Weimarer Vorbild. Wirtschaftliche und soziale Fragen, das Erziehungswesen sowie die Stellung der Religionsgemeinschaften werden im Verfassungstext ausführlich behandelt. Einige Verfassungen hoben sich vom Weimarer Vorbild allerdings durch eine übersichtlichere Gliederung ihres erweiterten Grundrechtsteils ab. Die Hessische Verfassung vom Dezember 1946 stellt z.B. die Individualrechte an den Anfang, gefolgt von einem Abschnitt über die Grenzen und die Sicherung der Menschenrechte sowie einem dritten mit den sozialen und wirtschaftlichen Rechten. Ein deutlicher Bruch mit der Weimarer Tradition zeichnete sich erst auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee ab: Im zuständigen Unterausschuss des Konvents plädierte neben dem Berichterstatter Hans Nawiasky auch der sozialdemokratische Bevollmächtigte des Landes Schleswig-Holstein, Fritz Baade, dafür, nicht den ganzen Katalog der Weimarer Reichsverfassung zu übernehmen, sondern sich auf die Grundrechte zu beschränken, welche der einzelnen Person zustehen. Dieses Verfahren werde allein durch die Tatsache gerechtfertigt, dass die klassischen Grundrechte heutzutage in einem weit höheren Maße gefährdet seien als zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in das europäische Rechts- und Verfassungssystem. Hermann Brill (SPD) aus Hessen erklärte zur Grundrechtsproblematik, obwohl Dokument I der Londoner Empfehlungen von „civil rights“ spreche, sei man keineswegs an die „Tafel von 1789“ gebunden, sondern könne „darüber zeitgemäß hinausgehen“. Grundrechte aus den „Ordnungsgebieten des gesellschaftlichen Lebens“ sollten jedoch seiner Ansicht nach nicht in die zukünftige Verfassung aufgenommen werden. Auf Vorschlag von Wilhelm Drexelius (Hamburg) beschloss daraufhin der Unterausschuss ohne Widerspruch, bei seinen Beratungen vom Grundrechtsteil der Verfassung Württemberg-Hohenzollerns auszugehen, weil hier die Grundrechte besonders knapp formuliert seien393. Die Verfassung von Württemberg-Hohenzollern vom 20. Mai 1947 unterscheidet sich von den anderen Landesverfassungen der unmittelbaren Nachkriegszeit tatsächlich dadurch, dass sie die „Pflichten und Rechte der Staatsangehörigen“ im dritten Abschnitt getrennt von den „Lebensordnungen“ behandelt, welche erst im Schlussteil berücksichtigt werden394. Der Herrenchiemsee-Konvent beschränkte sich 392 Vgl. W. Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung, München 1946, S. 295 ff.; H. Beyersdorff: Die Staatstheorien in der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung von 1919, Coburg 1928, S. 44 f.; F. K. Fromme: Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, Tübingen 1962, S. 196 und J. F. Golay: The Founding..., S. 171 ff. 393 HCh-Unterausschuss I, 4. Sitzung vom 18. August 1948 394 Verfassung für Württemberg-Hohenzollern vom 20.5.1947, Art. 6-19 und 89-123 136 dementsprechend in seinem Entwurf auf die individuellen Grundrechte und erklärte im darstellenden Teil seines Berichts, es sei nicht notwendig, „neben den grundlegenden Rechten der menschlichen Freiheiten alle irgendwie als Grundrechte bezeichneten Institutionen in einen umfassenden Katalog von Bundesgrundrechten aufzunehmen“. Der Konvent fügte hinzu, dass er eine Reihe institutioneller Garantien, die man in der Regel ebenfalls als Grundrechte bezeichnet, in anderen Abschnitten des Entwurfs berücksichtigt habe. Dies bezog sich insbesondere auf das Verbot von Sondergerichten und rückwirkenden Strafgesetzen, auf die richterliche Unabhängigkeit sowie auf die öffentliche Verhandlungsführung - Materien, die im Abschnitt Rechtspflege des Entwurfes behandelt werden. Die Möglichkeit der Überführung von Bodenschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum stand allerdings von Anfang an im Grundrechtsteil des Herrenchiemsee-Entwurfs, ohne dass man über ihre systematische Einordnung ausführlicher diskutierte. Hermann Brill (SPD) bezeichnete die Sozialisierung neben der Mitbestimmung als „Teilfragen einer demokratischen Gesamtwirtschaftsverfassung“ die man nicht übergehen könne. Seiner Vorstellung nach sollte sie jedoch in den Zuständigkeitskatalog für die Gesetzgebung aufgenommen werden395. In dieser vorbereitenden Phase der Grundgesetzberatungen stand statt der Ausweitung des Grundrechtskatalogs allenfalls die Alternative zur Diskussion, auf die Aufnahme der Grundrechte in die zukünftige Verfassung überhaupt zu verzichten. So enthielt zum Beispiel ein von bayerischen Sachverständigen erarbeiteter Entwurf des Grundgesetzes, der auf Herrenchiemsee als Arbeitsmaterial vorlag, keinen Vorschlag zur Formulierung der Grundrechte. In den Führungsgremien der SPD herrschte damals die gleiche Tendenz vor, denn der etwa gleichzeitig mit dem Herrenchiemsee-Konvent formulierte und vom Verfassungsausschuss des Parteivorstandes genehmigte erste Entwurf Walter Menzels verzichtete auf die Aufnahme von Grundrechten396. Bei der Grundsatzdebatte im Plenum des Parlamentarischen Rates folgten die Redner aber nur zum Teil der vom Herrenchiemsee-Konvent vorgezeichneten Richtung: Die Sprecher der FDP und der SPD setzten sich für eine Beschränkung des Grundrechtskatalogs auf die individuellen Freiheitsrechte ein. Theodor Heuss bezeichnete es als leichtfertig, aus der damaligen Situation heraus Voraussagen über die zukünftige Sozialstruktur zu machen und entsprechende Bestimmungen in der Verfassung zu kodifizieren. Die Grundrechte waren nach seinen Worten als „Misstrauensaktionen gegen den Missbrauch der staatlichen Macht“ zu verstehen. Carlo Schmid sprach sich ebenfalls für einen „recht klaren und wirksamen Katalog von Individual-Grundrechten“ nach dem Vorbild der angelsächsischen Bill of Rights aus. Er legte besonderen Wert auf die unmittelbare rechtliche Wirkung dieser Rechte, damit sie jeder Bürger vor Gericht gegebenenfalls einklagen könne. Die Ausführungen von Adolf Süsterhenn, der als Hauptredner für die CDU sprach, ließen aber die potentiellen Konfliktpunkte deutlich erkennen: Süsterhenn verstand die Grundrechte als vorstaatliche Rechte, die sich aus der Natur des Menschen ergaben. Er verwies auf den damals im Rahmen der Vereinten Nationen formulierten Menschenrechtsentwurf, der jedoch über die juristisch wirksamen Individualrechte hinausgreift. Schließlich hob er das „natürliche Recht“ der Eltern hervor, über die Kindererziehung selbst zu bestimmen. Ein ähnlicher Hinweis auf das sogenannte Elternrecht findet sich auch im Grundsatzreferat des Zentrumsabgeordneten Brockmann. Süsterhenns Argumentation zur Grundrechtsfrage entsprach durchaus der konstitutionell-demokratischen Zielsetzung seines gesamten Referates, denn er verband sie mit einer Warnung vor parlamentarischen Diktaturen, die nach seinen Worten „insbesondere auf religiösem, kirchlichem und schulpolitischem Gebiet die Gewissensfreiheit nicht weniger vergewaltigt haben als Einmanndiktaturen“397. 395 PR Akten und Protokolle Bd.2, S. 75 und 513 396 Vgl. den Text des ersten Menzel-Entwurfs vom 16.8.1948 bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen... S. 267-278 397 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 37-39, 52-56 und 116 137 In den ersten Sitzungen des Ausschusses, der für die Beratung des Grundrechtsteils zuständig war, bestand ein allgemeines Einverständnis über den rechtsverbindlichen Charakter der Grundrechte sowie über die Begrenzung des Katalogs auf die sogenannten klassischen Rechte. Die sozialdemokratischen Abgeordneten Schmid und Zinn befürworteten hier erneut den Verzicht auf „unechten“ Grundrechte. In das Grundgesetz sollten nur jene Rechte Aufnahme finden, erklärten sie, denen „reale Bedeutung“ zukomme. Zinn sagte als Berichterstatter vor dem Ausschuss, jeder Versuch, über die klassischen Grundrechte hinauszugehen, werde ähnlich wie 1918/19 zur Folge haben, dass der Grundrechtsteil schließlich „einen höchst heterogenen Niederschlag verschiedener Parteiprogramme“ darstelle. Gleicher Auffassung war neben dem Ausschussvorsitzenden Hermann von Mangoldt (CDU) auch Theodor Heuss, der sich kritisch mit den weitergehenden Bestimmungen der Landesverfassungen auseinander setzte und zur hessischen Verfassung erklärte: „Man kann in eine Verfassung ganze Parteiprogramme hineinschreiben. Die hessische Verfassung ist wunderbar; sie ist eine Rededisposition für Leute, denen selber nichts einfällt. Auf dem Wege kommen wir nicht weiter“. Der Grundsatzausschuss begann dementsprechend Ende September 1948 mit den Beratungen der Grundrechte unter der Prämisse, dass nur rechtswirksame Rechte aufgenommen werden sollten398. Das Einverständnis der Fraktionen über die Begrenzung des Grundrechtsteils blieb allerdings im weiteren Verlauf der Diskussion nicht bestehen. Während sich bei den bisher behandelten Verfassungsfragen zu Beginn der Grundgesetzberatung jeweils unterschiedliche Positionen gegenüberstanden, die später zu einem Kompromiss verbunden wurden, verlief die Beratung der Grundrechte in umgekehrter Richtung: Auf Herrenchiemsee und bei den Ausschussberatungen des Parlamentarischen Rates bestand ein weitgehender Konsensus über den Umfang des Grundrechtsteils, der später ernsthaft in Frage gestellt und in der Schlussphase schließlich nur mit Mühe aufrechterhalten wurde. Der Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rats ging allerdings bei seinem ersten Formulierungsvorschlag vom 18. Oktober 1948 bereits in einigen Punkten über den Bereich der klassischen Individualrechte hinaus: Im Zusammenhang mit der Vereinigungsfreiheit nahm er beispielsweise die Anerkennung des Streikrechts in den Entwurf auf und formulierte gleichzeitig das negative Koalitionsrecht - das heißt, er bezeichnete alle Abreden und Maßnahmen als nichtig, die darauf abzielen den Beitritt zu Gewerkschaften, Arbeitgeberorganisationen oder entsprechenden Vereinigungen zu erzwingen. Neben dem Eigentumsrecht war im Entwurf des Grundsatzausschusses auch die Überführung von Bodenschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum in der leicht veränderten Fassung von Herrenchiemsee enthalten. Carlo Schmid (SPD) erklärte hierzu, Sozialisierung sei kein „Sonderfall der Individualenteignung“, sondern eine „strukturelle Umwandlung der Wirtschaftsverfassung“, die deshalb nur aufgrund eines Gesetzes vorgenommen werden dürfe. Die beiden Formulierungen lösten jedoch damals keine Kontroverse zwischen den Fraktionen aus, weil man hierin offenbar keinen Widerspruch zu der allgemeinen Absprache über die Begrenzung des Katalogs erblickte. Spätere Auseinandersetzungen kündigten sich an, als die CDU-Abgeordnete Helene Weber die Forderung nach Berücksichtigung des Elternrechts anmeldete. Theodor Heuss entgegnete, hiermit käme man „in Teufels Küche“399. Diese Vorahnung erwies sich Ende November 1948 als berechtigt, als die CDU/CSU-Fraktion ausformulierte Anträge zu den Bereichen Familie und Erziehung sowie zum Schulwesen vorlegte. Im einzelnen bezogen sich diese Anträge (a) auf den verfassungsmäßigen Schutz von Ehe und Familie sowie (b) auf das Elternrecht in seiner erweiterten Form, d. h. einschließlich des Rechts auf „Bestimmung des religiös-weltanschaulichen Charakters der Schule“. Hinzu kam (c) ein gemeinsamer Antrag der CDU/CSU, des Zentrums und der DP, der das Verhältnis von Staat und Kirche sowie die vor 1945 mit den Kirchen geschlossenen Verträge zum Gegenstand hatte. Außerdem stellten die Abgeordneten Seebohm (DP) und Heuss (FDP) noch den Vorschlag zur Diskussion, das Recht zur Errichtung privater 398 PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 3 - 14, 28 - 50 und 62 ff. 399 PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 4 ff. und Bd. 5/I, S. 213 f. und 218 f. 138 Schulen in der Verfassung zu berücksichtigen400. Zur gleichen Zeit beschlossen die beiden Ausschüsse für Zuständigkeits- und Grundsatzfragen, einen Artikel über den öffentlichen Dienst in den Grundgesetzentwurf aufzunehmen, während der Hauptausschuss die Anerkennung des Streikrechts aus dem Entwurf strich. Bei der Sachdiskussion des Parlamentarischen Rates über diese Anträge, die hier nicht im einzelnen verfolgt wird, standen das Elternrecht und die Stellung der Kirchen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. In der Debatte wurde oft mit verkehrten Fronten argumentiert: Die Schulanträge und die Forderung nach Geltung des Reichskonkordats waren zentralistisch, weil sie den Länderkompetenzen in kulturellen Dingen widersprachen. Die Sprecher der SPD und FDP, deren Fraktionen in der Regel eine Erweiterung der Bundeskompetenzen befürworteten, gaben sich föderalistisch und traten für die Kulturhoheit der Länder ein. Bei Annahme dieser Vorschläge, so befürchtete der sozialdemokratische Abgeordnete Ludwig Bergsträsser, würden die Länder in „ihrer eigentlichen Domäne völlig ausgehöhlt“. Hiermit verlasse man die informelle Abrede im Grundsatzausschuss, nur die in Dokument Nr. 1 der Besatzungsmächte genannten persönlichen Grundrechte aufzunehmen401. Zu Beginn der zweiten Lesung des Hauptausschusses fand Mitte Dezember 1948 eine Aussprache über die Weiterführung der Grundgesetzberatungen statt, die zeigte, dass die ursprüngliche Übereinstimmung zwischen den Fraktionen über den Umfang des Grundrechtsteils kaum noch bestand: Der Sprecher der SPD-Fraktion, Walter Menzel, äußerte seine Besorgnis über den Verlauf der Beratungen, weil die anderen Fraktionen neue Forderungen „nachgeschoben“ hätten, die über den Bereich der sogenannten klassischen Grundrechte hinausgehen. Dies habe zum Wiederaufleben der latenten Gegensätze zwischen den politischen Richtungen geführt und die gemeinsame Plattform in Frage gestellt. Menzel bezweifelte, ob der Parlamentarische Rat das Mandat in Anspruch nehmen könne, unter Zeitnot und angesichts einer politisch schwierigen Situation Grundprobleme zu lösen, welche „seit Jahrzehnten ungelöst auf der deutschen Innenpolitik lasten“. Für die FDP wandte sich Theodor Heuss ebenfalls gegen die „ungehemmte Ausweitung“ der Verfassung. Er erinnerte an das seinerzeit getroffene Gentlemans Agreement über die Begrenzung des Grundrechtsteils und fügte hinzu, der Parlamentarische Rat habe nicht die Aufgabe, über „Religionsphilosophie“ oder „Sozialphilosophie“ zu diskutieren, sondern ein funktionierendes Verfassungssystem zu schaffen. Adolf Süsterhenn (CDU) entgegnete, die Meinung darüber, was „echte Grundrechte“ und was Randprobleme seien, hänge vom weltanschaulichen Standpunkt des Betrachters ab402. Eine Interpretation des Beratungsverlaufs wird sich zunächst der CDU/CSU-Fraktion zuwenden, weil die politische Auseinandersetzung über die Berücksichtigung der „Lebensordnungen“ im Grundgesetz durch ihre Initiative ausgelöst wurde. Von großer Bedeutung für die Haltung dieser Fraktion zur Grundrechtsproblematik ist zweifellos der Interesseneinfluss gewesen, den die Kirchen in den umstrittenen Fragen auf den Parlamentarischen Rat ausübten. Sowohl die katholische Kirche, vertreten durch die Fuldaer Bischofskonferenz, als auch der seit 1948 im Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) vereinigte Protestantismus waren zunächst bestrebt, ihre Autonomie und ihre Anerkennung als öffentlich-rechtliche Institution zu sichern. Sie waren außerdem bemüht, die Formulierung der klassischen Grundrechte in ihrem Sinne zu beeinflussen, und vertraten insbesondere die Auffassung, eine bloße Garantie der Bekenntnisfreiheit zur Sicherung ihrer Glaubensinhalte reiche nicht aus. Ihre Eingaben an den Parlamentarischen Rat enthalten neben den bereits erwähnten Forderungen zum Elternrecht, zur Stellung der Kirche im Staat, zum Schutz von Ehe und Familie sowie zu den zwischen 400 PR-Drucksachen Nr. 302 vom 24. 11. 1948 und Nr. 321 vom 24. 11. 1948; PR-Hauptausschuss, 17., 18., 21. und 43. Sitzung vom 3., 4. und 7. Dezember 1948 sowie 18. Januar 1949; PR Akten und Protokolle Bd. 3, S. 588-597 401 Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 119; PR-Hauptausschuss, 21. und 22. Sitzung vom 7./ 8. Dezember 1948 402 PR-Hauptausschuss, 27. Sitzung vom 15. Dezember 1948 139 Staat und Kirche geschlossenen Verträgen in der Regel auch den Wunsch nach Bestimmungen über die „Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens“ und über die Anerkennung des Religionsunterrichts sowie der Sonn- und Feiertage. Werner Sörgel weist in seiner Studie über den Einfluss der Interessen auf den Parlamentarischen Rat nach, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang besteht zwischen den CDU-Anträgen vom 24. November 1948 und einer Eingabe, die der Erzbischof von Köln als Vorsitzender der Bischofskonferenz am 20. November an den Parlamentarischen Rat richtete. Auch die verfassungsmäßige Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche wurde im Grundsatzausschuss von dem CDU-Abgeordneten Süsterhenn erst zur Sprache gebracht, nachdem sowohl von katholischer Seite als auch von den evangelischen Kirchen eine entsprechende Eingabe vorlag. Am 17. Dezember fand auf Initiative Adenauers ein Gespräch der Fraktionsvorsitzenden mit den Vertretern der beiden Kirchen statt, welches allerdings die im Parlamentarischen Rat vertretenen Grundpositionen kaum veränderte403. Der spätere Art. 6 zur Ehe und Familie bereitete den Autoren des Grundgesetzes noch das geringere Kopfzerbrechen, obwohl sie bei seiner Formulierung die Verbesserungsvorschläge des deutschen Sprachvereins zur Hilfe nehmen mussten. Er enthält in der Endfassung unverbindliche Programmsätze mit Ausnahme des dritten Absatzes. Kinder können demnach nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden. Bei den Beratungen gab es allerdings lebhafte Auseinandersetzungen über die rechtliche Stellung des unehelichen Kindes. Dem Hauptausschuss lag ein Antrag der SPD vor, der die Gleichstellung des unehelichen Kindes und seine Verwandtschaft mit seinem leiblichen Vater ins Grundgesetz aufnehmen wollte. Hierzu entwickelte sich ein kontroverser Disput zwischen den „Verfassungsmüttern“: Die beiden SPD-Abgeordneten Friederike Nadig und Elisabeth Selbert unterstützten diesen Antrag; die CDU-Abgeordnete Helene Weber und die Zentrumsabgeordnete Helene Wessel sprachen sich gegen die gleichen Rechte des unehelichen Kindes aus. Der SPD-Antrag wurde schließlich im Hauptausschuss mit knapper Mehrheit abgelehnt. Der Parlamentarische Rat entschied sich statt dessen frühzeitig für die unverbindliche Formulierung, die unehelichen Kinder müssten die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung erhalten wie die ehelichen404. Die Entstehung des späteren Art. 7 des Grundgesetzes war bis zum Schluss der Grundgesetzberatungen von heftigen Auseinandersetzungen begleitet. Im Mittelpunkt der Kontroverse stand der Versuch, in diesem Artikel das sogenannte Elternrecht aufzunehmen, das „natürliche Recht der Eltern“, den „religiösweltanschaulichen Charakter der Schule“ zu bestimmen. Hinter dieser Formulierung, die der CDUAbgeordnete Süsterhenn am 23. November 1948 im Grundsatzausschuss beantragte, stand die Erwartung, die Eltern in weiten Teilen Westdeutschlands würden sich für Konfessionsschulen aussprechen. Süsterhenn bezeichnete das so verstandene Elternrecht als eine fundamentale Frage, die im Unterschied zu anderen Verfassungsproblemen nur geringe Kompromissmöglichkeiten biete. Zur naturrechtlichen Begründung der Initiative diente auch Art. 26 Abs. 3 der von den Vereinten Nationen im Dezember 1948 proklamierten Menschenrechte, wo das natürliche Recht der Eltern formuliert wird, die „Art der Erziehung“ ihrer Kinder zu bestimmen. In der ersten Lesung lehnte der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates das Elternrecht mit 11 zu 10 Stimmen ab, in der zweiten Lesung am 18. Januar 1949 nach ausführlicher Debatte erneut mit 11 zu 9 Stimmen. Die Diskussion war damit aber noch nicht beendet. Ungeachtet der Mehrheitsverhältnisse versuchte die CDU-Abgeordnete Helene Weber noch Anfang Mai 1949 mit drei aufeinanderfolgenden Anträgen zum Ziel zu kommen405. 403 W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 167-200 und 314 ff., wo mehrere Eingaben abgedruckt sind, sowie B. van Schewick: Die Katholische Kirche und die Entstehung der Verfassungen in Westdeutschland 1945-1950, Mainz 1980, S. 96 ff. 404 PR-Hauptausschuss, 21. Sitzung vom 7.12. 1948 und JöR, N.F. Bd. 1...S.92 ff. 405 PR-Hauptausschuß, 21., 43. und 57. Sitzung vom 7.12.1948, 18.1.1949 und 5.5.1949 140 Die ins Grundgesetz schließlich aufgenommenen Absätze des Art. 7 waren weniger umstritten: Die Garantie des Religionsunterrichts geht auf den Elternrechtsantrag Dr. Süsterhenns vom 23. November 1948 zurück und führte zu einer Sonderregelung für Bremen, wo nach der Landesverfassung biblische Geschichte auf „allgemeiner christlicher Grundlage“ unterrichtet wird (Art. 141 GG). Das Recht zur Errichtung privater Schulen kam auf Initiative von Theodor Heuss ins Grundgesetz. Er dachte hierbei allerdings nicht in erster Linie an Schulen in kirchlicher Trägerschaft, sondern berief sich auf die positiven Erfahrungen mit den Waldorf- Schulen in Württemberg406. Bei den zwischen Staat und Kirche geschlossenen Verträgen ging es in erster Linie um das am 20. Juli 1933 zwischen der Regierung Hitler und dem Vatikan abgeschlossene Reichskonkordat. Die Mehrheit des Parlamentarischen Rates war nicht bereit, eine Aussage zur Fortgeltung dieses Konkordats in das Grundgesetz aufzunehmen. Der spätere Art. 123 Abs. 2 des Grundgesetzes hält allerdings fest, dass Staatsverträge aus der Zeit vor 1945, die sich auf die Landesgesetzgebung beziehen, bis zu einer neuen Regelung „unter Vorbehalt“ in Kraft bleiben. Diese Formulierung kam mit dem Kompromiss des Fünferausschusses in den Entwurf und wurde von den Befürwortern als eine de facto Anerkennung der „Weitergeltung des Reichskonkordats“ interpretiert407. Was die Rechte der Kirchen und ihr Verhältnis zum Staat betrifft, übernahm der Parlamentarische Rat nach langer Diskussion die Artikel 136 bis 141 der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz. Der Kompromiss lag hierbei vor allem darin, dass auch Art. 136 entgegen den ursprünglichen Intentionen aufgenommen wurde. Er garantiert sowohl die Freiheit des Bekenntnisses als auch des Nichtbekennens der weltanschaulichen Überzeugung und stellt fest, dass die Rechte der Bürgers unabhängig sind von ihrer Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften. Die Auseinandersetzung im Parlamentarischen Rat um die von beiden Kirchen angestrebten Garantien sind inzwischen recht gut erforscht. Die Untersuchungen schildern den Entscheidungsprozeß in und zwischen den Fraktionen sowie die Wege und Möglichkeiten des kirchlichen Interesseneinflusses auf die Grundgesetzberatungen. So war die CDU/CSU aus föderalistischen Motiven zunächst zurückhaltend gegenüber den kirchlichen Forderungen. In überwiegend katholischen Ländern, wie z.B. in Bayern, fürchtete man, eine Bundesregelung könne nur schlechter ausfallen, als die eigenen Konkordatsvereinbarungen. Erst nach Zustimmung des Münchener Kardinals Faulhaber konnten CDU und Zentrum im Parlamentarischen Rat die Initiative ergreifen. In der Frage des Reichskonkordats war offenbar die Rede des SPD-Abg. Zinn im Hauptausschuss am 20. Januar 1949 entscheidend für den Ausgang der Beratungen. Zinn verband die Ablehnung des Reichskonkordats mit einer scharfen Kritik der Kooperation zwischen der katholischen Kirche und dem Nationalsozialismus. Seine Ausführungen waren so zugespitzt, dass das stenographische Protokoll nachträglich retuschiert wurde. Die Rede Zinns trug aber zum Stimmungswandel in der Unionsfraktion bei und ebnete den Weg zum Kompromiss408. Während die Beratungen zum Grundgesetz in der Öffentlichkeit auf wenig Resonanz stießen, gab es in der Frage des Elternrechts eine veritable Volksinitiative an den Parlamentarischen Rat: Im Dezember 1948 und im Januar 1949 notierte das Sekretariat etwa 500 Eingaben von Elternausschüssen, Pfarreien, Verbänden und Einzelpersonen zugunsten des „Elternrechts“. Offenbar nutzte die Kirchenführung die Gelegenheit, um die Laienorganisation der Katholiken im Sinne einer actio catholica zu konsolidieren. Die nach dem gleichem Muster verfassten Eingaben stießen aber auch auf Gegeninitiativen: Mehr als 50.000 Lehrer sprachen sich dagegen aus, den weltanschaulichen Charakter der Schule im Grundgesetz 406 PR Akten und Protokolle Bd 5/II, S. 817 und PR-Hauptausschuss, 21. und 43. Sitzung vom 7.12.1948 und 18.1.1949 407 408 PR Akten und Protokolle Bd. 11, S. 71 und 76 B. van Schewick: Die Katholische Kirche...S.77 ff. und 104 ff. sowie den ungekürzte Redetext Zinns im NL Menzel R 2 - AdsD festzulegen409. 141 Konrad Adenauer trug in der Endphase der Grundgesetzberatungen zum Kompromiss der Fraktionen bei, indem er die fundamentalistischen Forderungen des katholischen Klerus, die vor allem aus Münster geltend gemacht wurden, ignorierte. Die katholischen Bischöfe mussten mit ihrer „Erklärung von Pützchen“ vom 11. Februar 1949 eingestehen, dass sie die Mehrheitsverhältnisse im Parlamentarischen Rat nicht ausreichend beachtet hatten. Mit den Einwänden der Besatzungsmächte vom 2. März 1949 gegen den Grundgesetzentwurf war allerdings der Kompromiss zwischen den deutschen Parteien wieder in Frage gestellt. Die SPD legte wenige Wochen später einen gekürzten Grundgesetzentwurf vor, der weder die Stellung der Kirchen noch die Bereiche Ehe und Schule berücksichtigte. Dieser Entwurf hatte zwar keine Realisierungschancen, machte aber den beiden Kirchenleitungen den Wert des im Februar 1949 erreichten Kompromisses deutlich410. Der Interesseneinfluss der Beamten und ihrer Organisationen auf die Formulierung des Grundgesetzes war in seiner Intensität mit dem Einfluss der Kirchen durchaus vergleichbar. Der HerrenchiemseeKonvent hatte in seinem Entwurf auf eine Aussage zum öffentlichen Dienst verzichtet, weil man - wie es im Bericht seines Unterausschusses II heißt – „der lebhaften öffentlichen Diskussion über die Vorzüge und Schwächen des Berufsbeamtentums“ nicht vorgreifen wollte. Die Fraktionen des Parlamentarischen Rates konnten sich jedoch dem Einfluss der Beamtenorganisationen nicht entziehen, zumal der Rat selbst zu mehr als 60 Prozent aus Beamten bestand. Die grundsätzliche Übereinstimmung, die Beamten im Grundgesetz zu berücksichtigen, kam bereits Mitte Oktober 1948 im Zuständigkeitsausschuss zum Ausdruck, als der Ausschussvorsitzende Walter Strauß (CDU) und der SPD-Abgeordnete Fritz Hoch den gemeinsamen Formulierungsentwurf eines Artikels zum öffentlichen Dienst vorlegten. Gleichzeitig fand eine Unterredung des FDP-Abgeordneten Hermann Schäfer, der Vizepräsident des Parlamentarischen Rats war, mit drei Vertretern des Beamtenbundes statt. Schäfer sicherte zu, die FDP-Fraktion werde sich für die „Beamtenwünsche“ einsetzen. Die Einzelheiten des Interesseneinflusses bei der Formulierung des späteren Art. 33 GG wurden bereits von Werner Sörgel und vor allem von Udo Wengst ausführlich untersucht und dargestellt411. Im Zusammenhang mit der hier verfolgten Fragestellung ist vor allem der Hinweis wichtig, dass die Absätze 4 und 5 des Art. 33 GG Kompromissformulierungen waren. CDU, FDP und der DP hatten vor, den Begriff des Berufsbeamten in den Text des Grundgesetzes aufzunehmen und dieser Gruppe die „Ausübung öffentlicher Gewalt“ zu übertragen. Die „hergebrachten Grundsätze“ sollten für die Rechtsstellung der Beamten weiterhin maßgebend sein. Die sozialdemokratische Seite (Fritz Hoch) beantrage in der ersten Lesung des Hauptausschusses vergeblich, den Absatz über die „hergebrachten Grundsätze“ zu streichen. Der dreiköpfige Allgemeine Redaktionsausschuss distanzierte sich mit seinem Vorschlag vom 25. Januar 1949 deutlich von der beamtenfreundlichen Fassung des Hauptausschusses. Er verzichtete auf den Begriff „Berufsbeamten“ und ersetzte ihn durch die Umschreibung „Angehörige des öffentlichen Dienstes“. Das Recht des öffentlichen Dienstes war demnach nur noch „unter Berücksichtigung“ der überlieferten Grundsätze zu regeln. Die Motive des mit Zinn (SPD), Dehler (FDP) und v. Brentano (CDU) besetzten Gremiums sind nur teilweise zu rekonstruieren. Aus der schriftlichen Begründung ergibt sich, dass Beamte dort tätig werden sollten, wo der Staat als „Obrigkeit“ in Erscheinung tritt. Zum öffentlichen Dienstrecht gehörte aber nach den Vorstellungen des Redaktionsausschusses auch die Neuregelung der 409 PR-Hauptausschuss, 43. Sitzung vom 18. Januar 1949; PR Akten und Protokolle Bd. 5/II, S. 902 410 B. van Schewick: Die Katholische Kirche...S.122 ff.; W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S.167 ff. 411 U. Wengst: Beamtentum zwischen Reform und Tradition, Düsseldorf 1988, S. 34-48; W. Sörgel: Konsensus und Interessen ... S. 120-133; Niederschrift über eine Verhandlung mit der FDP-Fraktion des Parlamentarischen Rates ... am ... 18.10.1948... (ADL Parl. Rat FDP-Fraktion 1948/49, 2976) 142 Position der Angestellten. Anfang Mai 1949 legte der Allgemeine Redaktionsausschuss nach informellen Besprechungen der Fraktionen schließlich die Kompromissformulierung der Endfassung vor: Nach Absatz 4 des Artikels 33 wurde die Ausübung hoheitlicher Befugnisse den Angehörigen des öffentlichen Dienstes übertragen, die in einem „öffentlich-rechtlichen“ Dienstverhältnis stehen. Die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ kehrten in den Absatz 5 des Artikels zurück, sollten bei einer Neuregelung aber nur noch berücksichtigt werden und keine rechtsverbindliche Richtlinie sein412. Über die Kontinuität der Beamtenschaft bestand zwar im Parlamentarischen Rat ein breiter Konsensus; zum Umfang und zum rechtlichen Status dieses Personenkreises gab es aber divergierende Vorstellungen. Die „Lebensordnung“ des öffentlichen Dienstes wurde vom Parlamentarischen Rat nicht so eindeutig festgelegt, wie man unter dem Eindruck der späteren Gesetzgebung vermuten könnte. Fritz Eberhard, der für die SPD Mitglied des Parlamentarischen Rates war, schrieb 1979 im Rückblick: „Nach dem Text des Grundgesetzes wäre auch ein ganz anderes Bundesbeamtengesetz möglich gewesen“413. Wenn man die Grundgesetzartikel über Schule, Ehe und Familie sowie die Weimarer Kirchenartikel und Art. 33 zum öffentlichen Dienst mit dem Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee vergleicht, wo diese Materien fehlen, ist eine Hinwendung des Parlamentarischen Rates zur Weimarer Reichsverfassung nicht zu leugnen. Die Festlegung des Gesetzgebers auf bestimmte Prinzipien scheiterte jedoch. Das sogenannte Elternrecht wurde abgelehnt. Die Konkordatsfrage blieb weitgehend ausgeklammert und wurde nur im Zusammenhang mit der provisorischen Fortgeltung der Staatsverträge indirekt berücksichtigt. Die Formulierungen in den genannten Grundgesetzartikeln sind entweder unverbindliche Programmsätze oder bestätigen Rechtsverhältnisse, die bei den großen Parteien ohnehin kaum umstritten waren, wie z.B. die Stellung der Kirchen. Die vor allem von Süsterhenn entwickelte konstitutionell-demokratische Motivation der erweiterten Grundrechte konnte sich damit kaum durchsetzen. Andererseits enthalten die betreffenden Artikel auch Ermächtigungen des Gesetzgebers im mehrheitsdemokratischen Sinne: Art. 7 des Grundgesetzes beginnt mit der Feststellung „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“ und stellt im weiteren Text sicher, dass private Schulen den Landesgesetzen unterstehen. Die aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Kirchenartikel enthalten in Art. 137 und 138 ausdrückliche Ermächtigungen für die Landesparlamente. Die beiden letzten Absätze des „Beamtenartikels“ Art. 33 GG stellen in erster Linie einen Auftrag an den Bundesgesetzgeber dar. Nach dem Diskussionsverlauf zum Umfang der Grundrechte bleibt fraglich, welche Gründe die Vertreter der CDU/CSU veranlassten, zu Beginn der Beratungen einer Beschränkung des Grundrechtsteils überhaupt zuzustimmen. Die Erklärung kann aufgrund der Aufzeichnungen nur lauten, dass innerhalb der Fraktion Meinungsverschiedenheiten bestanden, und z.B. der Vorsitzende des Grundsatzausschusses, Hermann von Mangoldt, die Position Adolf Süsterhenns in der Grundrechtsfrage nicht teilte. Diese Differenzen kamen in der CDU/CSU-Fraktion deutlich zum Ausdruck, als sich v. Mangoldt weigerte, im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates für das Elternrecht einzutreten, und dies mit den zu erwartenden Konsequenzen in Schleswig-Holstein begründete. In seinem schriftlichen Bericht über die Grundrechte, welcher für die zweite Lesung des Plenums fertiggestellt wurde, schrieb er, dass die Bestimmungen über Ehe, Familie, das Schulwesen und den Religionsunterricht aus dem „allgemeinen Rahmen“ herausfielen. Als Erklärung für diesen Mangel verwies er auf die Entstehungsgeschichte. Die fraglichen Artikel seien erst bei der Beratung im Hauptausschuss eingefügt worden, der die „Grundsätze für den Aufbau des Grundrechtsteils nicht mehr so scharf vor Augen“ gehabt habe414. Angesichts der von den Unionsparteien, der Deutschen Partei und der Zentrumspartei vorgelegten 412 PR-Hauptausschuß, 22. Sitzung v. 8. Dezember 1948; PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 225 und 505 413 U. Reusch: Deutsches Berufsbeamtentum und britische Besatzung. Planung und Politik 1943 - 1947, Stuttgart 1975, S. 28 414 Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 258 ff. sowie PR-Schriftlicher Bericht. . . S. 6 143 Anträge stellt sich die Frage, ob sich die übrigen Fraktionen des Parlamentarischen Rates verpflichtet fühlten, weiterhin am Gentleman´s Agreement des Grundsatzausschusses festzuhalten. Diese Frage wird auch in den verfassungsgeschichtlichen Untersuchungen gestellt und vor allem hinsichtlich der Haltung der Sozialdemokraten kontrovers diskutiert. Die SPD - so wird in der Literatur kritisiert - hätte allen Grund gehabt, in dieser Situation die sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele der ihr nahestehenden Interessenorganisationen als „Gegenforderung“ zu präsentieren. Hans-Hermann Hartwich bezeichnet die Haltung der sozialdemokratischen Fraktion in der Grundrechtsfrage als „unsicher“ und „unverständlich“. Werner Sörgel spricht sogar von einer „Nicht-Verfassungskonzeption“ der Sozialdemokratie415. In seinem ersten Bericht aus Bonn an den Parteivorstand der SPD in Hannover schrieb Walter Menzel, er habe sich gegen „soziale Grundrechte“ ausgesprochen, weil diese zu langen Debatten und zu Lösungen führen könne, die den sozialdemokratischen Vorstellungen gar nicht entsprächen. Die Gewerkschaften z.B. waren an einer Berücksichtigung der Arbeits- und Wirtschaftsordnung im Grundgesetz lebhaft interessiert und hatten sowohl für die Länderverfassungen in der britischen Zone als auch für das Grundgesetz entsprechende Entwürfe vorbereitet. Es ging ihnen hierbei um die Anerkennung des Streikrechts, der Koalitionsfreiheit und der Arbeitsgerichtsbarkeit sowie um ihre eigene Anerkennung als legitime Interessenvertretung der Arbeitnehmer. Außerdem sollten das Mitbestimmungsrecht, das Schlichtungswesen, Grundsätze zur Unfallverhütung sowie zur Arbeits- und Urlaubsregelung in die Verfassung aufgenommen werden. In einer von Hans Böckler, dem Vorsitzenden des DGB für die Bizone, unterzeichneten Eingabe vom Oktober 1948 wird ein Grundrechtsartikel zum Wert und zum Schutz der Arbeit gefordert, die Beschränkung des Versammlungsrechts unter freiem Himmel abgelehnt, die Anerkennung des Streikrechts sowie die Ablehnung des Rechtsschutzes für Monopole und den Missbrauch des Eigentums gefordert416. Bei mehreren Gesprächen mit Gewerkschaftsvertretern, die während der Grundgesetzberatungen geführt wurden, sprachen sich die SPD-Abgeordneten Schmid, Zinn und Menzel dafür aus, zugunsten eines begrenzten Grundrechtskatalogs auf entsprechende Anträge zu verzichten. Die sozialdemokratischen Vertreter im Grundsatzausschuss deuteten mehrfach an, wenn die von kirchlicher Seite erhobenen Forderungen erfüllt würden, seien auch „andere Rechte“ im Grundgesetz zu berücksichtigen417. Obwohl die Gegenseite ihre Anträge teilweise durchsetzte, hat die SPD-Fraktion ihre Position beibehalten und im weiteren Verlauf der Beratungen ihrerseits keine Anträge zur Aufnahme sozialer und wirtschaftlicher Grundrechtsbestimmungen gestellt. Aus dem Beratungsverlauf ergibt sich daher die Frage, welche Motive die sozialdemokratische Seite zu ihrer interessenneutralen Haltung veranlassten, nachdem andere Fraktionen zum Teil erheblich über den ursprünglichen Konsensus hinausgegangen waren. Zur Beantwortung wird man zunächst noch einmal auf die Grundrechtsproblematik in der Weimarer Republik zurückgreifen müssen: Als sich damals das ursprünglich in der Verfassung nicht vorgesehene richterliche Prüfungsrecht in der Rechtspraxis durchsetzte, trat die Ambivalenz eines erweiterten Grundrechtsteils deutlich hervor: Nach der Verfassungstheorie sollte die ausführliche Behandlung der Lebensordnungen dem Gesetzgeber als Richtlinie und Anreiz für seine politischen Entscheidungen dienen. In der Verfassungspraxis waren jedoch andere Konsequenzen wahrscheinlicher - insbesondere wenn dieser Teil der Verfassung, wie zu erwarten war, aufgrund eines Parteienkompromisses zwischen verschiedenen weltanschaulichen und gesellschaftspolitischen Positionen zustande kam. Die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten einer derartigen Mischung von Programmsätzen konnte zur Folge haben, 415 H.- H. Hartwich: Sozialstaatpostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln/ Opladen 1970, S. 37-41; W. Sörgel: Konsensus und Interessen . . .S. 206 416 Vgl. die Gewerkschaftsvorschläge für sozialrechtliche Bestimmungen im Grundgesetz bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen... S. 231, die Broschüre Zur Verfassungsfrage , hrsg. vom DGB der brit. Zone, Düsseldorf o.J. sowie PR Akten und Protokolle Bd. 5/II, S. 726 ff. und der Bericht Menzels vom 17.9.48 im NL C. Schmid, 1162 - AdsD 417 PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 217 sowie Bd. 5/II, S.637 und 806 f. 144 dass zahlreiche Gesetze der richterlichen Nachprüfung nicht standhielten, weil sie mit dieser oder jener Bestimmung des Katalogs nicht übereinstimmten. Die Ausweitung des Grundrechtsteils hätte in diesem Falle nur dazu beigetragen, den Spielraum der Legislative beträchtlich einzuschränken418. Dieser Umkehreffekt lässt sich am Beispiel der Diskussion über die Aufnahme des Streikrechts in das Grundgesetz nachweisen, die bereits stattfand, bevor die Artikel über Schule, Ehe und Kirchen vorgelegt wurden. Die ursprüngliche Fassung: „Das Streikrecht wird im Rahmen der Gesetze anerkannt“, wurde im weiteren Verlauf der Beratungen immer differenzierter: Der Allgemeine Redaktionsausschuss beschränkte das Streikrecht zunächst auf den von Gewerkschaftsseite erklärten Streik. Bei der erneuten Beschlussfassung im Grundsatzausschuss war dann vom „Recht der gemeinschaftlichen Arbeitseinstellung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ die Rede, dessen Ausübung durch Gesetz geregelt werden sollte. In der ersten Lesung des Hauptausschusses schlug der Abg. Kaufmann (CDU) weitere Ergänzungen vor: Unter Bezugnahme auf den Kapp-Putsch forderte er eine Formulierung, welche den Streik gegen die bestehende Rechtsordnung ausschloss, den Streik gegen eine „bestehende Rechtsunordnung“ jedoch zuließ. Außerdem sollte der Streik von Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes ausdrücklich verboten werden, weil er die staatliche Ordnung aus rein technischen Gründen „auf den Kopf stellen“ könne. In der Diskussion über diese Punkte zeigte sich, dass es kaum möglich war, eine gesetzestechnisch einwandfreie Lösung zu finden. Otto Greve (SPD) erklärte hierzu, man dürfe nicht „irgendwelche Beschränkungen in die Verfassung hineinnehmen, die möglicherweise etwas verbieten, an dem wir selber das allergrößte Interesse haben könnten“. In der darauffolgenden Sitzung des Hauptausschusses beantragte der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Eberhard überraschend die Streichung des Streikrechts aus dem Entwurf. Für diesen Schritt der SPD-Fraktion sind zweifellos die rechtlichen Konsequenzen eines derart spezifizierten Streikrechts ausschlaggebend gewesen. Es war fraglich, ob die zuletzt diskutierten Fassungen noch den Interessen der Gewerkschaften entgegenkamen, denn sie konnten ebenso gut dazu beitragen, ihre Wirkungsmöglichkeiten zu beschränken. Eberhard erklärte, die vorausgehende Aussprache habe gezeigt, dass man in eine „große Kasuistik“ hineinkomme, wenn man in die Bestimmung über das Streikrecht „eine Reihe von Beschränkungen“ aufnehme. Nachdem für die CDU der als Gewerkschaftsvertreter anzusehende Josef Schrage dem Antrag ebenfalls zustimmte, wurde die Streichung des Streikrechts vom Hauptausschuss einstimmig beschlossen419. Ein weiteres Motiv für den Verzicht der sozialdemokratischen Fraktion auf die Erweiterung des Grundrechtskatalogs bildeten taktische und zeitliche Überlegungen, welche sich aus der politischen Konstellation innerhalb und außerhalb des Parlamentarischen Rats ergaben: Die sozialdemokratische Fraktion war von Anfang an bestrebt, die Grundgesetzberatungen in möglichst kurzer Zeit zum Abschluss zu bringen. Eine ausführliche Behandlung der „Lebensordnungen“ konnte jedoch die Arbeit des Parlamentarischen Rats nur verzögern. Bereits in den ersten Sitzungen des Grundsatzausschusses erwähnte Carlo Schmid den Zeitfaktor als Grund für eine Begrenzung des Katalogs. Vor allem in den Fragen der Wirtschaftsordnung werde man lange brauchen, um die vorhandenen Gegensätze in einer „neuen Konzeption“ aufheben zu können. Das gleiche Argument benutzte die SPD-Fraktion gegenüber den Gewerkschaften, um sie zur Zurückstellung ihrer sozial- und arbeitsrechtlichen Forderungen zu bewegen. Nach einem Bericht Walter Menzels haben die Mitglieder des Fraktionsvorstandes bei einem Gespräch mit Gewerkschaftsvertretern am 28. September 1948 auf den Versuch der CDU/CSU hingewiesen, „die Entscheidung bis zum nächsten Frühjahr herauszuzögern“. Die unterschiedliche Zeitplanung der Fraktionen trat zu Beginn der zweiten Lesung des Hauptausschusses noch einmal deutlich hervor: Während die sozialdemokratischen Sprecher Schmid und Menzel eine möglichst schnelle Verabschiedung des Grundgesetzes wünschten und hierin von Theodor Heuss (FDP) 418 Zu entsprechenden Ansätzen in der Weimarer Republik W. Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung...S. 343, und K. Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1968, S. 75-78 419 JöR, N. F. Bd. 1, S. 116 ff. sowie PR-Hauptausschuss, 17. und 18. Sitzung vom 3. und 4. Dezember 1948 145 unterstützt wurden, sprachen sich die Abgeordneten Pfeiffer (CSU), Süsterhenn (CDU) und Seebohm (DP) dafür aus, den weiteren Verlauf der Beratungen nicht zu überstürzen420. Bei dieser Zeitplanung spielte bereits der Gedanke an die erste Bundestagswahl eine große Rolle. Die Sozialdemokraten mussten auch auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlamentarischen Rat Rücksicht nehmen. Die oben geschilderte Diskussion über die rechtliche Gleichstellung des unehelichen Kindes zeigte, wie schwierig es war, Reformvorhaben verbindlich im Grundgesetz zu verankern. Am Schicksal des Streikrechts wurde deutlich, wie leicht derartige Vorhaben „abgebogen“ werden konnten. Anträge zur Aufnahme „sozialer Grundrechte“ wären in der Minderheit geblieben, selbst wenn die Vertreter von KPD und Zentrumspartei zugestimmt hätten. Die SPD-Fraktion hätte mit derartigen Anträgen jedoch ihr Verhältnis zu den fünf stimmberechtigten FDP-Vertretern erheblich strapaziert, deren Unterstützung sie in so wichtigen Fragen wie der Länderkammer, der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, der Finanzverfassung sowie bei der Abwehr des Elternrechts und in der Konkordatsfrage benötigte. Werner Sörgel hat in seiner Studie bezweifelt, dass der provisorische Charakter des Grundgesetzes der maßgebende Grund für den Verzicht der SPD auf die Regelung der Sozial- und Wirtschaftsordnung in der Verfassung zu suchen ist421. Die vor allem von Carlo Schmid vertretene Provisoriumsthese diente jedoch im weiteren Verlauf der Beratungen dazu, gegenüber den Gewerkschaftlern den Verzicht auf „soziale Grundrechte“ zu begründen. Die Sprecher der CDU/CSU bezeichneten das Grundgesetz ebenfalls als eine provisorische Verfassung, deren Geltungsdauer allerdings noch nicht abzusehen sei. Adolf Süsterhenn erklärte im Oktober 1948 zur gleichen Zeit, als die Erweiterung des Grundrechtskatalogs zur Diskussion stand, jedes Provisorium habe die Neigung, sich zum „Definitivum“ zu entwickeln, und es sei bedauerlich, wenn die „ganze zukünftige Entwicklung“ durch die Unzulänglichkeiten eines Provisoriums beeinträchtigt werde422. Die Fraktion der FDP wollte dem Grundgesetz lediglich im geographischen Sinne provisorischen Charakter zubilligen; in struktureller Hinsicht, sagte Theodor Heuss vor dem Plenum, solle man jedoch versuchen, „etwas Stabileres“ fertig zu bringen423. Zusammenfassend kann der weitgehende Verzicht des Parlamentarischen Rates auf die Aufnahme sozialer Rechte und Programmsätze als eine Entscheidung im mehrheitsdemokratischen Sinne bezeichnet werden, weil man auf dieser Seite in der Ausweitung des Grundrechtsteils eine zumindest potentielle Begrenzung des Gesetzgebers erblickte. Die Konzeption der sozialen Mehrheitsdemokratie näherte sich damit in der Grundrechtsfrage den liberalen Vorstellungen, die damals nicht nur in der FDP, sondern anfänglich auch innerhalb der CDU/CSU-Fraktion vertreten wurden. Diese Annäherung hat dazu beigetragen, dass sich auf dem Sektor der Grundrechte eine Koalition zwischen FDP und Sozialdemokratie ergab, welche mit der Zusammenarbeit beider Fraktionen in der Zweikammerfrage vergleichbar ist. Der Gedanke an die wechselnden Koalitionen im Parlamentarischen Rat bestärkte wiederum die SPD-Fraktion in ihrer Zurückhaltung gegenüber einer Ausweitung des Grundrechtskatalogs. Der Fraktionsvorstand erklärte bei Gesprächen mit Gewerkschaftsvertretern, man werde sich die „bisherige Hilfe der FDP bei allen Fragen des Staatsaufbaus verscherzen“, wenn man sich in der Frage des „sozialrechtlichen Kataloges auf die Seite der CDU/CSU drängen“ lasse. Mit dem Blick auf die erste Bundestagswahl fügten die SPD-Politiker hinzu: „Die erste gesetzgebende Versammlung wird wahrscheinlich ganz andere Möglichkeiten auf dem Gebiet der sozialen und arbeitsrechtlichen Gesetzgebung ergeben als die jetzige Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates“424. 420 PR Akten und Protokolle Bd. 5/ I, S. 217; Bericht des Genossen Walter Menzel vom 1.10.1948 AdsD); PR-Hauptausschuß, 27. Sitzung vom 15. Dezember 1948 421 ( NL Menzel R 1 - W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 72. 422 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 189-191, entsprechend Dr. Pfeiffer (CSU) im PR-Hauptausschuss, 27. Sitzung vom 15. Dezember 1948 423 424 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.106 Bericht des Genossen Walter Menzel vom 1. 10. 1948" ( NL Menzel R 1- AdsD) 146 5. Gesetzgebungskompetenzen und politische Ziele Die Darstellung der Diskussion über Grundrechte im Parlamentarischen Rat bleibt unvollständig, wenn sie nicht im Zusammenhang mit den Zuständigkeiten des Bundesgesetzgebers gesehen wird. Die Voraussetzung zum Verständnis dieses Zusammenhangs ist eine Vorentscheidung in der Frage der Bundes- und Landeszuständigkeiten: Im Laufe des Jahres 1948 kamen die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD zu der übereinstimmenden Auffassung, die Zuständigkeiten des Bundesparlaments seien in einer zukünftigen westdeutschen Verfassung zu nennen. Alle nicht im Zuständigkeitskatalog genannten Bereiche sollten dem Landesgesetzgeber zufallen. Die Verfassungsentwürfe der Unionsparteien sprachen sich von Anfang an für diese Lösung aus. Die Formulierung des „Ellwanger Kreises“ vom 13. April 1948: „Die Zuständigkeit des Bundes ist nur gegeben, soweit sie durch Bundesverfassung übertragen ist“, fand auch die Unterstützung der norddeutschen CDU-Verbände. Die sozialdemokratischen Vorstellungen sahen in diesem Punkt zunächst anders aus, denn unter dem Einfluss Walter Menzels forderten die „Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik“ vom März 1947 die „Kompetenz-Kompetenz“ für den Reichstag. Dies bedeutete, das unmittelbar gewählte Parlament sollte selbst entscheiden, welche politischen Fragen es zum Gegenstand seiner Gesetzgebung macht. Diese zentralistische Linie ließ sich angesichts der starken Position der Länder und des Auftrags der Besatzungsmächte, eine föderalistische Verfassung zu schaffen, im Jahre 1948 nicht durchhalten. Bereits der erste Menzel-Entwurf für eine „Westdeutsche Satzung“ vom 16. August 1948 enthält dementsprechend einen Zuständigkeitskatalog für die Bundesgesetzgebung und fügt hinzu: „Die Gesetzgebung auf den übrigen Gebieten steht den Ländern zu“. Menzels zweiter Entwurf vom 2. September folgt diesem Muster und ändert lediglich einige Punkte des Zuständigkeitskatalogs425. Bei dieser Ausgangslage war aus Sicht der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ ein umfangreicher Katalog der Zuständigkeiten des zentralen Parlaments erforderlich, damit die angestrebten Reformvorhaben durch eine entsprechende Bundesgesetzgebung vorangetrieben werden konnten. Breite Gesetzgebungszuständigkeiten sollten außerdem die ohnehin fragwürdigen „Lebensordnungen“ in der Verfassung überflüssig machten. Ein umfangreiche Zuständigkeitskatalog bildete deshalb für die Vertreter der mehrheitsdemokratischen Konzeption die notwendige Ergänzung zu einem Grundrechtsteil, der sich auf einklagbare Individualrechte beschränkte. Bereits auf Herrenchiemsee schlug Hermannn Brill, der sozialdemokratische Vertreter Hessens, vor, auf die Fragen der Sozialisierung und Mitbestimmung im Grundrechtsteil zu verzichten, sie aber statt dessen in den Zuständigkeitskatalog für die Bundesgesetzgebung aufzunehmen. er Verfassungsentwurf des Herrenchiemsee-Konvents folgte dieser Zielsetzung weitgehend, indem er sich einerseits im Grundrechtsteil auf die „wichtigsten Menschen- und Freiheitsrechte“ beschränkte, andererseits in den Artikeln 35 und 36 einen Katalog zur ausschließlichen und zur Vorranggesetzgebung des Bundes aufstellte, der den entsprechenden Artikeln der Weimarer Reichsverfassung an Ausführlichkeit nicht nachstand. In den Zuständigkeitsbestimmungen des Herrenchiemsee-Entwurfs werden die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie eng verbundenen Planungsvorstellungen weitgehend berücksichtigt. Dem Bundesgesetzgeber sollte nach Art. 36 die Vorranggesetzgebung zum Enteignungsrecht, über Kriegsschäden und Wiedergutmachung, zum Arbeitsrecht (einschließlich Arbeitsschutz und „Arbeitslenkung“) sowie für die Fragen des Gemeineigentums und der Gemeinwirtschaft zustehen. Zur Wirtschaftslenkung legte der Konvent allerdings Alternativvorschläge vor: Fassung (a) gab dem Bund die Gesetzgebungskompetenzen hinsichtlich der „Erzeugung, Verteilung und Preisbildung von wirtschaftlichen Gütern und Leistungen“, während Fassung (b) ihn lediglich ermächtigte, „Eingriffe in die Wirtschaft zur Sicherung der Erzeugung und zum Schutze der Verbraucher“ vorzunehmen426. 425 R. Ley: Föderalismusdiskussion. . . S. 62 und 66; G. Hirscher: Sozialdemokratische Verfassungspolitik.. . . S. 82 ff. und S. 142 ff. sowie die Texte bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen. . . S. 263 ff. 426 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 75, 513 und 585-587 sowie Art. 6-11 WRV 147 Die Entwürfe des sozialdemokratischen Verfassungsexperten Walter Menzel zeichnen sich durch die gleiche „Gewichtsverschiebung“ aus: Dem vollständigen Verzicht auf Grundrechte steht hier ebenfalls ein umfangreicher Gesetzgebungskatalog gegenüber. Sein Entwurf für eine „Westdeutschen Satzung“ geht dabei in sozial- und wirtschaftspolitischer Hinsicht weiter als der Vorschlag des HerrenchiemseeKonvents und billigt dem Parlament u. a. die Gesetzgebungskompetenz über Fragen der Industrie, der Landwirtschaft, über die Bewirtschaftung von Gütern und Leistungen sowie über die Steuerhoheit und das Betriebsräterecht zu. Der Finanz- und Lastenausgleich, die Überführung von Naturschätzen und wirtschaftlichen Unternehmungen in Gemeineigentum sowie das Hochschulwesen unterliegen nach diesem Entwurf ebenfalls der Zuständigkeit des Zentralparlaments. Der zweite Menzel-Entwurf vom 2. September 1948 übernimmt vom Herrenchiemsee-Entwurf die Unterscheidung zwischen ausschließlicher und vorrangiger Gesetzgebung, ohne den Umfang der Bundeskompetenzen zu verändern. Die Materien der Wirtschafts- und Sozialordnung sind hier der Vorranggesetzgebung des Bundes zugeordnet427. Diese Linie wurde von den maßgebenden Vertretern der Sozialdemokratie auch im Parlamentarischen Rat weiterverfolgt. Menzel selbst bezeichnete zu Beginn der Beratungen vor dem Plenum die Frage der Zuständigkeitsverteilung auf dem Gebiet der Gesetzgebung und Verwaltung als den „wichtigsten Teil unserer gesamten Arbeit“, und sein Fraktionskollege Zinn regte in den ersten Sitzungen des Ausschusses für Grundsatzfragen an, „gewisse Rechte wirtschafts- und sozialpolitischer Art“ nicht in den Grundrechtsteil, sondern in einen anderen Teil der Verfassung – „etwa in dem Abschnitt über die Gesetzgebung oder die Zuständigkeiten“ aufzunehmen428. Die Akzentverschiebung vom Grundrechtsteil auf die Zuständigkeitsregelung entsprach nicht nur den mehrheitsdemokratischen Verfassungsvorstellungen, sondern auch der deutschen Verfassungstradition, die sich von jeher durch eine expansive Interpretation der zentralen Gesetzgebungskompetenzen auszeichnete. Ausschlaggebend für die zentrale Bedeutung der Zuständigkeitsverteilung aus Sicht der sozialen Mehrheitsdemokratie war jedoch die Einsicht, dass Verfassungsbestimmungen über die Gestaltung der „Lebensordnungen“ - auch wenn man sie noch so zwingend formuliert - in den seltensten Fällen unmittelbar politisch wirksam werden. Für die angestrebten Reformen war jedenfalls der Gesetzgebungsweg unerlässlich. Dies galt insbesondere für geforderten Reformen im Bereich der Wirtschaftsstruktur: Auch nach der Aufnahme entsprechender Verfassungsartikel waren eine große Zahl komplizierter Gesetzesvorlagen zu erarbeiten und zu verabschieden, um zum Beispiel die Veränderung der Eigentumsverhältnisse und die Einrichtung neuer Lenkungsorgane zu verwirklichen. Die Erfahrungen mit der hessischen Sozialisierung waren eindeutig: Obwohl man mit dem Art. 41 der Hessischen Verfassung eine unmittelbar wirksame Überführung in Gemeineigentum beschlossen hatte, benötigte man mehrere Nachfolgegesetze zur Realisierung des Sozialisierungsvorhabens. Als Alternative boten sich hier allenfalls die Praktiken der Zentralverwaltungswirtschaft an. Man hätte etwa bestimmte Industriezweige in Staatseigentum überführen und sie durch die Exekutive in Gestalt des Wirtschaftsministeriums verwalten können. Dieser Weg widersprach jedoch dem Konzept der „Gemeinwirtschaft“ und wurde daher von den Vertretern der sozialen Mehrheitsdemokratie grundsätzlich abgelehnt. Die Reformen musste also nicht allein bei den Verfassungsberatungen, sondern auch im Parlament (und in den vorangehenden Wahlen) ein zweites Mal politisch durchgesetzt werden. Carlo Schmid schildert diesen Zusammenhang in seinen Erinnerungen mit den Worten: „Ist eine Mehrheit für die Veränderung gesellschaftlicher Zustände, dann wird sie entsprechende Gesetze beschließen; ist sie es nicht, dann helfen auch - wie die Geschichte der Weimarer Republik ausweist - noch so progressive soziale Grundrechte im Text der Verfassung nichts; aber vor dem Volk wird die Verfassung unglaubwürdig werden“. Was lag daher näher, als von vornherein auf die programmatische Festlegung in der Verfassung zu verzichten und 427 Vgl. den Text der beiden Entwürfe vom 16. August und 2. September 1948 bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen... S. 267 ff. 428 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.82 sowie Bd. 5/I, S. 37 148 sich statt dessen auf die zukünftigen Entscheidungen der gesetzgebenden Versammlung zu konzentrieren ? Eine derartige „Taktik“ setzte allerdings voraus, dass die entsprechenden Gesetzgebungszuständigkeiten vorhanden waren, und die Mehrheit des unmittelbar gewählten Parlaments nicht über das für eine demokratische Verfassung notwendige Maß hinaus durch „checks and balances“ an ihrer Entfaltung gehindert wurde. Diese Motive kommen bereits in den Ausführungen Fritz Baades (SPD)auf Herrenchiemsee deutlich zum Ausdruck: Baade, der als Repräsentant mehrheitsdemokratischer Verfassungsüberlegungen gelten kann, setzte sich hier im Unterausschuss II ausführlich mit dem Abschnitt „Das Wirtschaftsleben“ der Weimarer Reichsverfassung auseinander. Die SPD habe damals eine „ganz klare verfassungsmäßige Verankerung“ der Sozialisierung gewünscht. Die entsprechenden Artikel der Reichsverfassung waren jedoch seiner Auffassung nach nichts weiter als „entsetzlich lahme Kompromissbestimmungen, die praktisch gar nichts besagen“. In diesen Fehler von Weimar dürfe man nicht zurückfallen, erklärte er und fügte hinzu: „Es genügt für dieses Grundgesetz vollständig, diese Materien in den Zuständigkeitskatalog einzuordnen und die materielle Regelung dann der Gesetzgebung zu überlassen“429. Der enge Zusammenhang zwischen dem Grundrechtsteil und den Zuständigkeitsbestimmungen des Grundgesetzes veranlasste den Parlamentarischen Rat, auch bestimmte Grundrechtsfragen mit dem Blick auf die Gesetzgebungskompetenzen diskutierte. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie wollten vor allem bei der Beratung der Eigentumsartikel verhindern, dass die Grundrechte den Spielraum der Legislative einengten und die Realisierung ihrer wirtschaftspolitischen Ziele verhinderten. Bereits zu Beginn der Bonner Grundgesetzberatungen vertraten die sozialdemokratischen Abgeordneten auf einer Fraktionssitzung nach dem Bericht Walter Menzels die Auffassung, man müsse bei der „Definierung des Eigentums“ darauf achten, dass weder die Sozialisierung noch die Bodenreform erschwert werde430. Auf der anderen Seite bestanden im Parlamentarischen Rat aber auch Bestrebungen, das Eigentum einschließlich des Erbrechts möglichst weitgehend vor dem Zugriff der Legislative zu sichern. Trotz des Verzichts auf „soziale Grundrechte“ entwickelte sich daher aus der engen Verbindung zwischen Grundrechten und Gesetzgebungszuständigkeiten eine Diskussion, welche nicht nur durch unterschiedliche Sozialvorstellungen, sondern auch durch unterschiedliche Demokratieauffassungen geprägt wurde. Diese Diskussion bezog sich vor allem auf die Begriffsbestimmung des Eigentums, auf die Missbrauchsklausel und auf die Fragen der Entschädigung im Falle des Eigentumsentzugs. Die Unterscheidung zwischen Enteignung und Sozialisierung hatte ebenfalls grundsätzliche Bedeutung. Zum Eigentumsbegriff lag dem Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates ein Entwurf seines Redaktionskomitees vor, demzufolge sich der Grundrechtsschutz nur auf das der „persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum“ beziehen sollte. Eine derartige Begrenzung des Eigentumsbegriffs war in der deutschen Verfassungstradition ohne Vorbild und fehlt in den westdeutschen Landesverfassungen der Jahre 1946/47. Auch der Herrenchiemsee-Konvent war mit seiner Formulierung: „Eigentum und Erbrecht werden gewährleistet“ der Weimarer Reichsverfassung gefolgt. Carlo Schmid begründete die engere Eigentumsdefinition in der 8. Sitzung des Grundsatzausschusses mit dem Hinweis, die Funktion des Eigentums in der modernen Gesellschaft müsse unter zwei Aspekten betrachtet werden. Auf der einen Seite gehöre das Eigentum zum persönlichen Lebensbereich des Menschen und sei in dieser Eigenschaft „Substrat ethischen Verhaltens“. Auf der anderen Seite sei Eigentum ein „Faktor der ökonomischen Verfassung eines Landes“. Den qualifizierten Schutz des Grundrechts wollte er nur für das persönliche Eigentum gelten lassen, während die andere Eigentumsform allein unter dem Schutz des Gesetzgebers stehen sollte. Da es aber keine aus der Natur des Manschen 429 C. Schmid: Erinnerungen, Bern usw. 1979, S. 374; HCh-Unterausschuss II: Zuständigkeitsfragen, 4. Sitzung vom 16. August 1948, Stenoprot. S. 125 f. 430 Bericht des Genossen Walter Menzel vom 1. 10. 1948 ( NL Menzel R 1 - AdsD) 149 abzuleitende inhaltliche Bestimmung des Eigentums gebe, sei die Abgrenzung zwischen diesen beiden Formen jeweils von der Legislative vorzunehmen. Carlo Schmid kam deshalb zu der für die soziale Mehrheitsdemokratie typischen Schlussfolgerung: „Was Eigentum ist, was es bedeutet, eigentümliches Recht an einer Sache zu haben, das zu bestimmen ist Sache des Gesetzgebers“. Diese Argumentation stieß im Grundsatzausschuss auf den Widerspruch der CDU/CSU und der FDP. Theodor Heuss - einer der wenigen Nichtjuristen des Ausschusses - machte zunächst rechtliche Bedenken geltend. Er erinnerte daran, dass die Grundrechte unmittelbar geltendes Recht darstellen sollten. Begriffe wie „persönliche Lebenshaltung“ und „eigene Arbeit“ seien aber für eine praktische Anwendung in der Rechtsprechung zu unbestimmt. Er wies außerdem auf die wirtschaftliche Bedeutung des über den Bereich des persönlichen Bedarfs und der eigenen Arbeit hinausgehenden Eigentums hin. So habe zum Beispiel erst das private Sparkapital den Aufbau der württembergischen Industrie ermöglicht. Schließlich sei auch im „spekulativ erworbenen Vermögen“ ein Risikofaktor enthalten. Der CSU-Abgeordnete Gerhard Kroll befürchtete, bei der Einschränkung des Eigentumsschutzes entsprechend dem vorliegenden Entwurf werde eine „Kultur im echten Sinne überhaupt nicht mehr möglich sein“. Die vorgeschlagene Fassung öffne dem Gesetzgeber Tür und Tor für willkürliche Entscheidungen und sogar für eine „Bolschewisierung des geistigen und kulturellen Lebens“. Nach dieser Diskussion wurde der Vorschlag des Redaktionskomitees, nur das der persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum zu gewährleisten, vom Grundsatzausschuss mit Stimmengleichheit (6 : 6) abgelehnt. Der Ausschuss nahm daraufhin die von Kroll und Heuss beantragte Formulierung an: „Das Eigentum wird zugleich mit dem Erbrecht gewährleistet“. Der Zusatz, Inhalt und Schranken des Eigentums werden durch Gesetz bestimmt, blieb jedoch bestehen. Diese Fassung wurde im weiteren Verlauf der Grundgesetzberatungen nicht mehr in Frage gestellt und in die Endfassung des Art. 14 GG übernommen431. Nachdem auf diese Weise der Versuch, den Eigentumsbegriff einzugrenzen, im ersten Anlauf gescheitert war, ergriff die sozialdemokratische Fraktion im November 1948 im Grundsatzausschuss erneut die Initiative und schlug die Aufnahme einer Missbrauchsklausel in den Eigentumsartikel vor. Der Gedanke ging auf eine Anregung der Gewerkschaften zurück, in das Grundgesetz die Bestimmung aufzunehmen, der Missbrauch des Eigentums genieße keinen Rechtsschutz. Der Ausschuss ergänzte den Eigentumsartikel des Entwurfs mit dem Zusatz: „Wer sein Eigentum missbraucht, kann sich auf den Schutz dieser Bestimmungen nicht berufen“. Die Vorstellungen über den Tatbestand des Missbrauchs waren allerdings nicht eindeutig, so dass Carlo Schmid später im Hauptausschuss einräumen musste, ein Bundesgesetz „zur Bekämpfung des Missbrauchs von Eigentum“ sei notwendig432. Erst in der Schlussphase der Beratungen, d. h. nach der Einigung mit den Alliierten über die bis dahin strittigen Punkte des Grundgesetzes, kamen die drei großen Fraktionen im Allgemeinen Redaktionsausschuss überein, die Missbrauchsklausel des Eigentumsartikels fallen zu lassen, weil der Tatbestand bereits in Art. 18 des Grundgesetzes berücksichtigt sei. Diese Begründung war zweifellos ein Irrtum und wurde - wie bereits Golay andeutete - möglicherweise von den Beteiligten bewusst gewählt, um die Kompromisse des vertraulich tagenden Dreiergremiums in den Fraktionen des Parlamentarischen Rats besser durchsetzen zu können. Nach dem Wortlaut des Art. 18 kann das Recht auf Eigentum nämlich nur hinfällig werden, wenn es gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gebraucht wird, und das Verfassungsgericht eine entsprechende Entscheidung fällt. In dieser Form ist die Tragweite der Klausel wesentlich geringer als bei der ursprünglichen Zielsetzung. Der Gesetzgeber hat nach der Endfassung nicht mehr die Möglichkeit einen speziellen Tatbestand des Eigentumsmissbrauchs festzulegen433. 431 PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 197-210 432 PR Akten und Protokolle Bd. 5/II, S. 726-733; PR-Drucksache Nr. 370 vom 13.12.1948 und PR-Hauptausschuss, 44. Sitzung vom 19. Januar 1949 433 PR-Hauptausschuss, 57. Sitzung vom 5. Mai 1949, S. 147 und J. F. Golay: The Founding...S. 192. 150 Aufrechterhalten hat der Parlamentarische Rat jedoch die Ermächtigung des Gesetzgebers, den Inhalt des Eigentumsbegriffs zu bestimmen. Diese Regelung war bereits in abgeschwächter Form im Eigentumsartikel der Weimarer Verfassung enthalten. Inhalt und Schranken des Eigentums sollten sich nach dem Wortlaut des Art. 153 WRV aus den Gesetzen ergeben. Die Bestimmung veranlasste damals Anschütz bei der Kommentierung zu der Feststellung, das Eigentum bilde keine Schranke der Gesetzgebung, sondern finde vielmehr selbst seine Beschränkung in den Vorschriften der gesetzgebenden Gewalt434. Die aktivere Formulierung des Grundgesetzes: „Inhalt und Schranken werden durch Gesetz bestimmt“, war bereits im ersten Entwurf des Grundsatzausschusses vorgesehen und wurde im weiteren Verlauf der Beratungen nicht mehr verändert. Bei späteren Interpretationsversuchen hat man darauf hingewiesen, das Eigentum sei neben dem Recht der freien Berufsausübung das einzige Grundrecht im Grundgesetz, dessen Inhaltsbestimmung ausdrücklich dem Gesetz vorbehalten bleibe. Hiermit sei der Parlamentarische Rat von einer liberalen Eigentumsverfassung abgewichen und habe den Weg für „grundlegende Veränderungen“ offen gelassen435. Im Mittelpunkt der Diskussion um die Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG) stand die Regelung der Entschädigungspflicht. Es ging hierbei insbesondere um die Frage, ob der Begriff der „angemessenen Entschädigung“ in das Grundgesetz Aufnahme finden sollte. Dieser Begriff wurde von der Rechtsprechung entwickelt und besagt, jeder Eigentumseingriff sei mit dem vollen Minderwert zu entschädigen. Nach der Weimarer Reichsverfassung galt zwar grundsätzlich die angemessene Entschädigung, über deren Höhe die ordentlichen Gerichte zu entscheiden hatten. Durch Reichsgesetz konnte jedoch in Ausnahmefällen eine abweichende Regelung und damit eine andere Form der Entschädigung festgelegt werden. Die Vorschrift der angemessenen Entschädigung wurde nach 1945 von den frühen Länderverfassungen und vom Herrenchiemsee-Konvent offenbar unreflektiert übernommen. Eine Ausnahme bildet lediglich Art. 15 der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern mit seinem Wortlaut, für Art und Höhe der Entschädigung sei ein „gerechtes Abwägen der Bedürfnisse der Allgemeinheit gegenüber denen des Betroffenen“ maßgebend436. Grundsätzliche Einwände gegen die verfassungsmäßige Festlegung der „angemessenen Entschädigung“ kamen zunächst von Carlo Schmid. Im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rateserklärte er, das Enteignungsrecht des 19. Jahrhunderts sei davon ausgegangen, dass der Betroffene unabhängig von seiner Vermögenslage und den Interessen der Allgemeinheit einen Rechtsanspruch auf den finanziellen Gegenwert der Sache besitze. Aufgrund dieser Interpretation des Begriffs angemessene Entschädigung habe man kaum die Möglichkeit, „bestimmte strukturelle Änderungen der Wirtschaftsverfassung vorzunehmen“. Auch für den Wiederaufbau der zerstörten Städte zum Beispiel sei diese Regelung nicht ausreichend, weil sie eine Wiederherstellung der „alten Anarchie“ fördere. Er begrüßte daher die Formulierung, bei der Entschädigungsfrage neben den Interessen des Betroffenen auch die Interessen der Allgemeinheit zu berücksichtigen. Dieser Vorschlag entsprach fast wörtlich der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern, an deren Zustandekommen Schmid im Jahre 1947 selbst maßgend beteiligt war437. Bei den Beratungen des Hauptausschusses machte sich zunehmend die Tendenz bemerkbar, den Spielraum in der Entschädigungsfrage einzugrenzen. In der zweiten Lesung schlug der Abg. Dr. Seebohm vor, den Grundsatz der „Vollentschädigung“ in das Grundgesetz aufzunehmen und nur in besonders 434 G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Berlin 1933, S. 706 435 H.- H. Hartwich: Sozialstaatspostulat.... 35 und 40, sowie H. P. Ipsen: Enteignung und Sozialisierung, in: Veröffentl. d. Vereinigung d. Dt. Staatsrechtslehrer, Heft 10, Berlin 1952, S. 85. 436 G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches...S. 718 und Verfassung für Württemberg-Hohenzollern vom 20. Mai 1947. 437 PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 198 sowie P. Weber: Carlo Schmid...S.281 151 dringenden Fällen Ausnahmeregelungen zuzulassen. In der vierten Lesung wiederholte er diesen Antrag unter Verwendung des Begriffs der „angemessenen Entschädigung“. Für beide Vorschläge fand sich keine Mehrheit. Ein vergleichbarer Antrag Dr. Dehlers (FDP) wurde jedoch im Hauptausschuss nur bei Stimmengleichheit abgelehnt. Auch im Plenum des Parlamentarischen Rates fanden beide Vorschläge keine Mehrheit. Das knappe Ergebnis der Abstimmung über den FDP-Antrag (26 : 30) zeigt jedoch, dass die Vorschrift der angemessenen Entschädigung über den Kreis der DP und FDP-Abgeordneten hinaus Unterstützung fand438. Während der Parlamentarische Rat bei der Begriffsbestimmung des Eigentums und hinsichtlich der Missbrauchsklausel im Sinne konstitutionell-demokratischer Auffassungen entschied, setzten sich in der Frage der angemessenen Entschädigung die mehrheitsdemokratischen Vorstellungen durch. Hinzu kam allerdings in der Schlussphase der Beratungen die Bestimmung, dass wegen der Höhe der Entschädigung der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten offen steht. Das Grundgesetz unterscheidet sich hierin deutlich von der Weimarer Reichsverfassung, welche dem Gesetzgeber in Art. 153 ausdrücklich die Möglichkeit einräumte, sowohl die Entschädigung selbst als auch den Rechtsweg in der Entschädigungsfrage auszuschließen. Insgesamt wird man die Entschädigungsregelung durch den Parlamentarischen Rat als einen Kompromiss zwischen den beiden unterschiedlichen Demokratieauffassungen bezeichnen können. Es entspricht aber nicht dem Verlauf der Beratungen, wenn sie in der staatsrechtlichen Literatur als eine Eingrenzung der „Dispositionsbefugnisse des Gesetzgebers“ bezeichnet wird, die über die Judikatur zu Art. 153 der Weimarer Reichsverfassung hinausgeht und die „Position des Eigentums gegenüber dem Gesetzgeber verhärtet“439. Dieser Interpretation sind die Ausführungen des CDU-Abgeordneten Hermann von Mangoldt im Schriftlichen Bericht für das Plenum entgegenzuhalten: Die Vorschrift des Grundgesetzes, Entschädigung sei „unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten“ zu leisten, lässt demnach „freien Spielraum von einer bloß nominellen bis zur vollen Entschädigung“. Dieser Spielraum werde lediglich durch die Gewährleistung des Rechtsweges vor ordentlichen Gerichten begrenzt440. Auf einem anderen Blatt steht allerdings die nachträgliche Auslegung der Entschädigungsklausel aus Art. 14 des Grundgesetzes, welche gleichzeitig auch für die Überführung in Gemeineigentum (Art. 15) Geltung hat. Ohne Berücksichtigung und im Widerspruch zum Diskussionsverlauf des Parlamentarischen Rates wird hier die Entschädigung nach dem Grundgesetz in der Regel mit der „angemessenen Entschädigung“ gleichgesetzt441. Bei den Beratungen zu Art. 15 des Grundgesetzes, der die Überführung in Gemeineigentum behandelt, kommt der Zusammenhang zwischen Grundrechts- und Zuständigkeitsbestimmungen noch deutlicher zum Ausdruck. Bereits auf Herrenchiemsee diskutierte man die Sozialisierungsproblematik vorwiegend im Unterausschuss II, der sich mit Zuständigkeitsfragen befasste. Von mehrheitsdemokratischer Seite wurde hierzu die Auffassung vertreten, wenn man auf „Programmsätze“ verzichte, müssten in den Grundrechtsteil Bestimmungen aufgenommen werden, die ausschließen, „dass durch Berufung auf individuelle Freiheiten notwendige strukturelle Veränderungen nicht Platz greifen können“442. Die ersten Entwürfe zum späteren Art. 15 enthielten dementsprechend kaum mehr als eine Ermächtigung an den Gesetzgeber, welche sowohl vom Herrenchiemsee-Konvent als auch vom Parlamentarischen Rat im Katalog zur konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes erneut aufgegriffen wird. Die spätere Interpretation, der sogenannte Sozialisierungsartikel des Grundgesetzes erscheine als Fremdkörper in einem 438 PR-Hauptausschuss, 44. Sitzung vom 19. Januar 1949 und 57. Sitzung vom 5. Mai 1949; PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.454-456 439 So bereits 1951 H. P. Ipsen: Enteignung und Sozialisierung...S. 79 f. 440 PR - Schriftlicher Bericht... S. 12. 441 Kommentar zum Bonner Grundgesetz ( „Bonner Kommentar“) zu Art. 14, S. 55 (Zweitbearbeitung) 442 Otto Suhr und Carlo Schmid in HCh-Unterauschuss II, 4. Sitzung vom 16.8.1948, Stenoprot. S. 126. 152 vorwiegend gewährleistenden Grundrechtskatalog, lässt sich aus seiner Entstehungsgeschichte erklären. Von seiner politischen Absicht her ist Art. 15 des Grundgesetzes nicht als Programmsatz, sondern als eine besondere Form der Begrenzung des Eigentumsrechts anzusehen. Er war in seiner ursprünglichen Fassung als Reflex der Gesetzgebungszuständigkeiten im Grundrechtsteil konzipiert. Bei seiner Formulierung spielte auch die Überlegung mit, wie die Überführung in Gemeineigentum oder in Gemeinwirtschaft vom normalen Enteignungsverfahren abzugrenzen sei. Im Herrenchiemsee-Konvent machte der Bevollmächtigte Hamburgs, Dr. Drexelius, hierzu den Einwand geltend, Sozialisierung sei kein juristischer, sondern nur ein soziologischer oder nationalökonomischer Begriff. Unter rechtlichen Gesichtspunkten gehe es hierbei im wesentlichen um Fragen der Enteignung, der Gewerbefreiheit, des Gesellschaftsrechts und des Arbeitsrechts. Da diese Materien aber bereits im Grundrechts- oder im Zuständigkeitsteil der zukünftigen Verfassung berücksichtigt würden, schien es ihm überflüssig zu sein, eine „besondere Kategorie der Sozialisierung“ aufzunehmen. Die beiden Sozialdemokraten Carlo Schmid und Fritz Baade hielten dem entgegen, Enteignungsrecht und Sozialisierung müssten voneinander getrennt werden. Zwischen beiden bestehe ein prinzipieller Unterschied, weil es sich im ersten Fall um die „Inanspruchnahme“ individuellen Eigentums in einem konkreten Einzelfall handele, im zweiten Fall jedoch um „strukturelle Wandlungen der Wirtschaft“, denen unter Umständen verbriefte Eigentumsrechte im Wege stehen könnten. Dementsprechend sollte Enteignung durch einen Enteignungsbeschluss der Behörden, Sozialisierung dagegen nur durch Gesetz möglich sein. Adolf Süsterhenn (CDU) befürwortete bei dieser Gelegenheit mit dem Hinweis auf die sowjetische Besatzungszone statt Sozialisierung eine „neutralere Formulierung“ und schlug die Begriffe „Gemeineigentum“ sowie „Gemeinwirtschaft“ vor443. Aus der Diskussion wird ersichtlich, dass die sozialdemokratischen Mitglieder des Konvents an einer Vertiefung der terminologischen Fragen wenig interessiert waren und eine Ermächtigung des Gesetzgebers für ausreichend hielten. Von einer Ausweitung und juristischen Differenzierung der Bestimmungen im Grundrechts- sowie im Zuständigkeitskatalog befürchteten sie offenbar eine Eingrenzung der legislativen Befugnisse in der Sozialisierungsfrage. Im Grundsatz- sowie im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates wiederholte Carlo Schmid (SPD) seine Argumentation von Herrenchiemsee und betonte, mit Sozialisierung sei kein „Sonderfall der Individualenteignung“, sondern eine strukturelle Änderung der Wirtschaftsverfassung gemeint. Man habe daher für dieses Verfahren einen eigenen Artikel vorgesehen und festgelegt, dass Sozialisierungsmaßnahmen nur durch ein besonderes Gesetz vorgenommen werden können444. Seine endgültige Fassung erhielt Art. 15 GG schließlich in der zweiten Lesung des Plenums. Hier wurden zunächst zwei Anträge der DP (Christoph Seebohm) und der FDP (Hermann Höpker-Aschoff) abgelehnt, die eine Streichung des Artikels bzw. die Einführung der „angemessenen Entschädigung“ bezweckten. Aufgrund eines Antrags des CDU-Abgeordneten Heinrich von Brentano legte dann der Parlamentarische Rat auch für Streitfälle in Entschädigungsfragen den Rechtsweg vor ordentlichen Gerichten fest445. Trotz dieser Beschränkung blieb jedoch die Eigenständigkeit des Sozialisierungsartikels gegenüber dem Enteignungsverfahren in der Endfassung des Grundgesetzes erhalten. Der ausschlaggebende Unterschied zwischen Enteignung und Überführung in Gemeineigentum war nach Ansicht des Parlamentarischen Rates nicht die Form des Eigentumsentzugs, sondern seine weitere Verwendung, die in Art. 15 des Grundgesetzes mit den Worten „zum Zwecke der Vergesellschaftung“ umschrieben ist. 443 HCh-Unterausschuss II, 3. Sitzung vom 14.8.1948, Stenoprot. S. 93, und 4. Sitzung vom 16.8.1948, Stenoprot. S. 116-120 444 PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 213 f.; PR-Hauptausschuss, 18. Sitzung vom 14. Dezember 1948. 445 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 456 f. sowie JöR, N. F. Bd. 1, S. 154-159. 153 Wenn im vorangehenden Abschnitt über den Umfang und die Bedeutung der Grundrechte taktische und zeitliche Überlegungen für den Verzicht der sozialdemokratischen Fraktion auf eine Erweiterung des Grundrechtskatalogs angeführt wurden, so tritt hier ein systematischer Gesichtspunkt hinzu, der bisher in der Literatur zu wenig Beachtung fand. Hans-Hermann Hartwich weist zwar in seiner Studie mit Recht darauf hin, die sozialdemokratische Fraktion habe sich bei den Grundgesetzberatungen in erster Linie um ausreichende Kompetenzen für den Bundesgesetzgeber bemüht. Ihr Ziel bestand nach seinen Worten nicht darin, „ein sozialdemokratisches Grundgesetz“ zu schaffen, sondern vielmehr eine Verfassung, die den Sozialdemokraten die Möglichkeit gab, ihr wirtschafts- und sozialpolitisches Programm zu verwirklichen. Da er bei seinen Überlegungen jedoch die politische Wirksamkeit sozialer Grundrechte voraussetzt, gelangt er zu einer kritischen Einschätzung der sozialdemokratischen Position, die ihm „unverständlich“ erscheint und die Verwirklichung des sozialdemokratischen Sozialstaatsmodells nicht gefördert habe. Sein Rückgriff auf die vor dem Parlamentarischen Rat verabschiedeten Länderverfassungen mit ihren zum Teil recht ausführlichen Aussagen über die Sozial- und Wirtschaftsordnung lässt aber die Frage nach der Bedeutung dieser Artikel für die praktische Politik unbeantwortet. Gerade die von ihm als Beispiele für die Wirtschaftslenkung angeführten Bestimmungen der hessischen und bremischen Verfassung sind vom Wortlaut her kaum als Festlegung einer bestimmten Wirtschaftsordnung zu interpretieren und sehen ausdrücklich eine weiterführende gesetzliche Regelung vor446. Werner Sörgel charakterisiert die sozialdemokratische Position in der Grundrechts- und Zuständigkeitsfrage zutreffend, wenn er schreibt, im Vertrauen darauf, „führende politische Kraft“ zu werden, hätten Kurt Schumacher und die Führungsspitze der SPD darauf verzichtet, ihre gesellschaftspolitischen Reformpläne direkt durch die Verfassung abzusichern. Ähnlich wie bei Hartwich bleibt aber auch bei Sörgel die Problematik programmatischer Festlegungen im Verfassungstext unberücksichtigt. Sörgels Kritik richtet sich nicht nur gegen die „Nicht-Verfassungskonzeption“ der Sozialdemokratie, sondern auch gegen die mangelnde Bereitschaft der Gewerkschaften, ihre Forderungen zur Sozialordnung mit Nachdruck zu vertreten. Im Vergleich zu anderen Interessenten hätten sie sich im Umgang mit der verfassunggebenden Gewalt als „blinde Macht“ erwiesen447. Volker Otto setzt in seiner Studie ebenfalls die politische Wirksamkeit „sozialer Grundrechte“ voraus. Als weiterer Grund für den Verzicht auf „soziale Statusrechte“ wird hier der programmatische Wandel in der SPD genannt, welcher schließlich zur Verabschiedung des Godesberger Programms im Jahre 1959 geführt habe. Nach Volker Schockenhoff blieb die „verfassungspolitische Strategie“ der Sozialdemokratie bei den Grundgesetzberatungen. inhaltsleer und ist auf die Provisoriumskonzeption der Partei zurückzuführen448. Diese Interpretationen überschätzen nicht nur die Wirkung von Programmsätzen in Verfassungen, sondern sie unterschätzen auch die gesellschaftspolitische Bedeutung, welche dem Zuständigkeitskatalog für die Bundesgesetzgebung bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen zukommt. Ein aus der Sicht der sozialen Mehrheitsdemokratie durchaus erfolgreicher Beratungsverlauf wird hiermit zur Niederlage umgedeutet. Diese Bewertung steht auch im Widerspruch zu den Ausführungen des Abg. Dr. Menzel unmittelbar vor der Schlussabstimmung über das Grundgesetz: Menzel bezeichnete damals die verfassungsmäßige Verankerung der Begriffe „Gemeineigentum“ und „Gemeinwirtschaft“ - die nicht nur 446 H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat...S. 40 ff., sowie Art. 39 der Landesverfassung Bremen vom 21.10.1947: Der Staat hat die Pflicht, die Wirtschaft zu fördern, eine sinnvolle Lenkung der Erzeugung, der Verarbeitung und des Warenverkehrs durch Gesetze zu schaffen, jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ertrag aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen. Im Rahmen der hierdurch gezogenen Grenzen ist die wirtschaftliche Betätigung frei. Die hessische Verfassung vom 1.12.1946 enthält in Art. 38 eine entsprechende Formulierung. 447 448 W. Sörgel: Konsensus und Interessen... S. 59, 206 und 280 f. W. Sörgel: Konsensus und Interessen...S. 59, 206 und 280 f.; V. Otto: Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, Düsseldorf 1971, S. 88 ff., 205 und 208 sowie V. Schockenhoff: Wirtschaftsverfassung und Grundgesetz...S. 161 f. 154 im sogenannten Sozialisierungsartikel (Art. 15), sondern auch im Katalog zur konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74) stehen - als einen politischen Fortschritt, der die sozialdemokratische Fraktion veranlasst habe, ihre Bedenken gegen andere Bestimmungen des Grundgesetzes zurückzustellen. Die Sozialdemokratie, fügte er hinzu, werde es daher als ihre vornehmste Pflicht betrachten, „alsbald nach dem Zusammentritt des ersten Bundestages durch entsprechende Gesetzentwürfe an dieses große Werk der Sozialisierung heranzugehen“449. Der gesellschaftspolitische Gehalt der Verfassung verlagerte sich hiermit vom Grundrechts- in den Gesetzgebungsteil, wo er allerdings nur potentiell vorhanden sein kann und der Aktivierung durch die Mehrheitsentscheidungen des Parlaments bedarf. Angesichts der Kontroversen über andere Teile des Grundgesetzes erwartet man auch zu den Fragen der Gesetzgebungskompetenzen entsprechende Gegenpositionen. Sie hätten aus konstitutionell - demokratischer Sicht eine strikte Begrenzung der Befugnisse des Bundestages verlangen müssen. In den Protokollen des Parlamentarischen Rates und seiner Ausschüsse lässt sich jedoch diese Gegenposition nicht erkennen. Über den Umfang der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes bestand offenbar zwischen den Fraktionen Übereinstimmung bis auf einige Einzelprobleme. Die Frage nach den Ursachen für diesen Konsensus wird im kommenden Abschnitt untersucht. Die Befürworter von möglichst vielen „checks and balances“ im Grundgesetz sparten offenbar den Bereich der Bundeszuständigkeiten aus und konzentrierten sich statt dessen auf die Länderkammer sowie auf die Kontrollmöglichkeiten der Judikative. 6. Der Parlamentarische Rat und der Umfang der Bundesgesetzgebung Die angedeutete Übereinstimmung zwischen den Parteien, die Zuständigkeit des späteren Bundesgesetzgebers durch einen umfangreichen Katalog in der zukünftigen deutschen oder westdeutschen Verfassung festzulegen, zeichnete sich schon vor Beginn der Grundgesetzberatungen ab. Der bereits erwähnte Ellwanger Entwurf der CDU/CSU-Arbeitsgemeinschaft vom April 1948 wird als ein föderalistischer Vorschlag der süddeutschen Landesverbände bewertet; er enthält aber einen 22 Punkte umfassenden Katalog für die ausschließliche und die konkurrierende Bundesgesetzgebung. In der Begründung heißt es hierzu: „Was den Katalog der durch die Bundesgesetzgebung zu regelnden Materien anbelangt, so sind die Verfasser davon ausgegangen, dass man das Rad der Geschichte nicht hinter das Jahr 1933 zurückdrehen kann“. Für die Überlegungen der FDP bildete die Weimarer Reichsverfassung ebenfalls den Orientierungspunkt. Der von Johannes Siemann für den Zonenbeirat der britischen Zone erarbeitete Vorschlag bezeichnete im August 1947 die Weimarer Reichverfassung als eine brauchbare Grundlage für die „Abgrenzung der Gesetzgebungsmacht des Reiches“. Die sozialdemokratischen Entwürfe hatten eine zentralistischere Tendenz: So ordnete z. B. der erste Menzel-Entwurf vom August 1948 den Finanz- und Lastenausgleich sowie das Arbeitsrecht und die Steuerhoheit der Gesetzgebung des Bundes zu. Die Hochschulen, Theater und Büchereien sollten ebenfalls der Bundesgesetzgebung unterstehen450. Auf Herrenchiemsee wurde die Frage der Gesetzgebungskompetenzen im Unterausschuss II beraten. Hier kam man überein, die aufwendige Unterscheidung der Weimarer Reichsverfassung zwischen ausschließlicher Gesetzgebung, Grundsatzgesetzgebung, konkurrierender Gesetzgebung und Bedarfsgesetzgebung zu vereinfachen. Der Bund sollte in Zukunft über eine ausschließliche und über eine konkurrierende Gesetzgebung verfügen. Da der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen die Länder „verdrängen“ konnte, nannte der Unterausschuss diesen Bereich zu Recht „Vorranggesetzgebung“ und führte hierzu 38 Sachgebiete auf451. 449 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 528 f. 450 W. Sörgel: Konsensus und Interessen ... S. 267 f. und 303 f.; Zonenbeirat. Deutsches Sekretariat J. Nr. 1317/47 (ADL 132 FDP-brit. Zone, Staat und Verfassung, Außenpolitik) 451 HCh-Unterausschuss II, 4. Sitzung vom 16.8.1948, Stenoprot. S. 114 sowie PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 155 Bei den Beratungen über das Recht zur Steuergesetzgebung waren allerdings die unterschiedlichen Auffassungen der Konventsmitglieder nicht zu übersehen. Dr. Baade erklärte vor dem Plenum, mit den Finanzfragen nehme man „vielleicht das heißeste Eisen... in die Hand“. Umstritten war, ob die Länder im wichtigen Bereich der Einkommens- und Vermögenssteuer die Höhe der Abgaben selbständig bestimmen sollten. Der Verfassungskonvent fand hierzu eine Kompromissformulierung, die dem Bund die Gesetzgebung zubilligte, den Ländern jedoch die Bestimmung der Steuersätze und der Freigrenzen innerhalb eines durch Bundesgesetz festgelegten Rahmens überließ. Eine unterschiedliche Besteuerung in den einzelnen Ländern war demnach durchaus möglich452. Zur Konstruktion der Vorranggesetzgebung gehörte auch die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen das Bundesparlament von seinem Vorrang Gebrauch machen und an Stelle der Landesparlamente Gesetze verabschieden könne. Der Konvent machte sich die Sache leicht und formulierte ohne Diskussion im Art. 34 seines Entwurfs: „Der Bund soll nur das regeln, was einheitlich geregelt werden muss“. Im Parlamentarischen Rat verstärkten die Vorschläge einflussreicher Interessengruppen die ohnehin vorhandenen Zentralisierungstendenzen in der Gesetzgebung. Die radikalste Stellungnahme wurde am 4. Oktober 1948 von der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern der Bizone verabschiedet und offenbar nur der CDU/CSU-Fraktion des Parlamentarischen Rates zugeleitet. Das „gesamte Wirtschafts- und Arbeitsrecht“ sollte demnach in die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes fallen. Das gleiche wurde für die gesamte Steuergesetzgebung gefordert. Eigene Hebesätze, Steuersätze oder Freigrenzen der Länder auf Einkommen und Vermögen sollten ausdrücklich verboten werden. In Fragen der Verwaltung billigte die Eingabe der Industrie- und Handelskammern den Ländern größere Rechte zu. Ihr Kernsatz lautete jedoch: „So dringend notwenig es ist, jede Entwicklung zu einem zentralen Machtstaat zu verhindern, so sehr muss zur Vermeidung einer Zersplitterung und Unübersichtlichkeit der Wirtschaft die Einheitlichkeit des Rechtes gefordert werden“. Die von Hans Böckler unterzeichnete Eingabe des DGB vom 12. Oktober war zumindest im Wortlaut gemäßigter. Sie forderte die Zuständigkeit des Bundes für die Finanz- und Steuergesetzgebung sowie die Arbeitsgerichtsbarkeit. Ein separates Besteuerungs- oder Bemessungsrecht der Länder bei der Einkommenssteuer wurde von den Gewerkschaften abgelehnt: „Unterschiedliche Steuerabzüge bei Löhnen und Gehältern, und damit verschiedene Nettolöhne in denselben Industriezweigen sind nicht tragbar für die Arbeitnehmer“ hieß es in der Eingabe. Wenige Tage später fand ein Gespräch zwischen dem FDP-Abgeordneten im Parlamentarischen Rat, Dr. Schäfer, weiteren FDP-Politikern und Vertretern des Deutschen Beamten Bundes statt. An erster Stelle wurde von den Beamtenvertretern die Forderung erhoben, das Beamtenrecht in die Vorranggesetzgebung des Bundes aufzunehmen. Die Arbeitsgemeinschaft der Jagdverbände hatte bereits am 27. Oktober 1948 eine einheitliche Bundesgesetzgebung für das Jagdrecht gefordert, da die Auflösung der Rechtseinheit nicht tragbar sei. Dem Verband der Automobilindustrie genügte die Vorranggesetzgebung des Bundes für den Straßenverkehr nicht; das gesamte Verkehrswesen müsse vielmehr der ausschließlichen Bundesgesetzgebung zugeordnet werden. Mit einiger Verspätung, aber erfolgreich, machte auch die Wissenschaft ihre Interessen geltend: Die Professoren Heisenberg, Regener, Rein und Zennek forderten in einer Eingabe vom 15. Dezember 1948, „alle Gesetzgebung, die sich auf wissenschaftliche Forschung bezieht“ müsse Sache des Bundes sein453. 246 ff., 527 und 585 f. 452 453 PR Akten und Protokolle Bd. 2, S. 535 f. und 608 Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat ... S. 60 ff.; PR Akten und Protokolle Bd. 5/I, S. 475; Niederschrift über eine Verhandlung mit der FDP-Fraktion des Parlamentarischen Rates ... am ...18.10.1948 ( ADL Parl. Rat FDPFraktion 1948/49, 2976) sowie PR-Hauptausschuss, 30. Sitzung vom 6. 1. 1949 156 Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes wurden im Parlamentarischen Rat vom Ausschuss für Zuständigkeitsabgrenzungen (Zuständigkeitsausschuss) beraten. Eine Ausnahme bildete die wichtige Bundesgesetzgebung zu den Steuern. Sie war Sache des Finanzausschusses und findet sich deshalb in der Endfassung des Grundgesetzes als Art. 105 GG unter „Finanzwesen“. Die Ausgangslage der Beratungen im Zuständigkeitsausschuss war die gleiche wie auf Herrenchiemsee: der Katalog der Bundesgesetzgebung musste möglichst vollständig sein, da eine Ergänzung später nur durch Verfassungsänderungen möglich war. Als Ergebnis seiner Beratungen erweiterte der Zuständigkeitsausschuss die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes gegenüber dem Herrenchiemsee-Entwurf von sieben auf elf Punkte, während die Liste zur Vorranggesetzgebung von 38 Gebieten auf zunächst 21 reduziert wurde. Diese Begrenzung des Umfangs bedeutete allerdings keine Einschränkung der Bundeskompetenzen, sondern ist in erster Linie auf die Zusammenfassung der Chiemseer Formulierungen zurückzuführen. Unterschiedliche Wirtschaftsauffassungen wurden im Verlauf der Diskussion über die einzelnen Punkte der Zuständigkeitsregelung nur gelegentlich sichtbar. Bei der Beratung zu Ziffer 16 des Katalogs der konkurrierenden Gesetzgebung (Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung) kam es zu Meinungsverschiedenheiten, ob die wirtschaftlichen Machtpositionen selbst oder nur ihr Missbrauch Gegenstand einer einschränkenden Gesetzgebung sein sollten. Auf der einen Seite forderte Walter Strauß (CDU), bereits das Entstehen derartiger Machtpositionen zu verhindern. Dieser Vorschlag entsprach dem „machtverteilenden Prinzip“, für dessen Verwirklichung sich damals sowohl neoliberale Autoren als auch Vertreter der katholischen Soziallehre einsetzten. Auf der anderen Seite erklärte der sozialdemokratische Abgeordnete Friedrich Wagner, man dürfe „den aus technischen Gründen notwendigen Großproduktionsapparat“ nicht unmöglich machen. Verhindert werden müsse lediglich, dass die wirtschaftlichen Machtpositionen zu politischen Zwecken missbraucht werden. Diese Argumentation beruhte auf den Geschichtsinterpretationen und Wirtschaftsauffassungen, die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie in enger Verbindung standen. Die Aufnahme des Enteignungsrechts in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes löste gleich zu Beginn der Beratungen des Zuständigkeitsausschusses eine lebhafte Diskussion aus: Die sozialdemokratischen Ausschussmitglieder Wagner, Hoch und Reuter hatten vor, dem Bund die Regelung des gesamten Enteignungsrechts zu ermöglichen. Sie begründeten dies mit dem Wiederaufbau der zerstörten Städte und den hierbei notwendigen Eingriffen in den Grundbesitz. Der CDU-Abgeordnete Walter Strauß wollte zunächst auf ein Enteignungsrecht des Bundes überhaupt verzichten. Nach ausführlicher Beratung einigte man sich schließlich auf den Kompromiss, dem Bund die konkurrierende Gesetzgebung zur Enteignung dort einzuräumen, wo er auch die Gesetzgebungskompetenz in der Sache besitzt, d. h. also nicht im Bereich der Landesgesetzgebung454. Dass der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die auswärtigen Angelegenheiten haben sollte, war seit dem Herrenchiemsee-Konvent unumstritten. Der Vorschlag des CDU-Abgeordneten Walter Strauß, diese Gesetzgebungskompetenz auch auf den „Schutz des Bundes nach außen“ auszudehnen, führte innerhalb und außerhalb des Parlamentarischen Rates zu einer kontroversen Diskussion, weil er im Sinne eines deutschen Verteidigungsbeitrages verstanden werden konnte. Die Frage wurde bei der ersten Lesung des Grundgesetzes im Hauptausschuss entschieden: Auf Antrag des SPD-Abgeordneten Katz lehnte der Hauptausschuss Mitte November 1948 den Zusatz „Sicherung des Bundes“ mit 13 gegen 5 Stimmen ab455. Bei den übrigen Ziffern der Gesetzgebungskataloge gab es keine Differenzen zwischen den Fraktionen des Parlamentarischen Rates. Dies gilt vor allem für die Bundeszuständigkeit, das „Recht der Wirtschaft“ zu regeln. In der achten Sitzung des Zuständigkeitsausschusses vom 6. Oktober 1948 bestand zwischen 454 455 PR Akten und Protokolle Bd.3, S. 54-68, 410 f., 511-513; JöR, N.F. Bd.1, S.479 ff. Bericht des Genossen Walter Menzel vom 8. Oktober 1948 ( NL C. Schmid 1162 - AdsD); PR Akten und Protokolle Bd. 11, S. 23 sowie Bd. 3, S. 597 ff.; PR-Hauptausschuss, 6. Sitzung v. 19.11.48, S.78 157 Walter Strauß (CDU) und dem Sozialdemokraten Fritz Hoch bereits Übereinstimmung, den Begriff Wirtschaftsrecht einzufügen und ihn im umfassenden Sinne zu verstehen, damit zukünftige Entwicklungen nicht „verbaut“ würden. Nach übereinstimmender Auffassung des Ausschusses sollte der Bund mit Ausnahme der Landwirtschaft für alle Fragen zuständig sein, die „auf dem Gebiet der Wirtschaft überhaupt rechtlich zu regeln sind“. Die Gestaltung der Wirtschaftsverfassung war dabei ausdrücklich eingeschlossen. Obwohl beim „großen Kompromiss“ des Fünferausschusses vom Februar 1949 fünf Punkte aus dem Katalog der Vorranggesetzgebung ausgegliedert und als Rahmenvorschriften zusammengefasst wurden, blieb der Katalog des späteren Art. 74 GG mit seinen 23 Punkten der umfangreichste Grundgesetzartikel überhaupt. Die Gestaltungsaufgabe des Bundesparlaments setzte sich bei den Grundgesetzberatungen vor allem auf dem Gebiet der Steuergesetzgebung durch. Hier hatte der Herrenchiemsee-Konvent den Ländern mit den Steuersätzen und Freigrenzen noch einen erheblichen Spielraum gelassen. Der Finanzausschuss des Parlamentarischen Rates hörte in seinen ersten Sitzungen zahlreiche Sachverständige, die in der Frage des Länderzuschlags zur Einkommens- und Vermögenssteuer keine einheitliche Meinung vertraten. Die Zölle, die Verkehrs- und Verbrauchssteuern sollten nach Auffassung der Sachverständigen bundeseinheitlich festgesetzt werden. Die bayerische Initiative, die Gesetzgebung zur Biersteuer den Ländern zu überlassen, wurde von ihnen zurückgewiesen, weil sie u. a. eine Grenzkontrolle innerhalb des Bundesgebiets erforderlich mache. Der Finanzausschuss kam in seinem ersten Vorschlag bereits zu einer Lösung für die Steuergesetzgebung, die weitaus zentralistischer war als die von den Sachverständigen vertretenen Auffassungen. Der Bund sollte demnach die ausschließliche Gesetzgebung über Zölle und Monopole besitzen sowie die konkurrierende Gesetzgebung über a) die Verbrauchs- und Verkehrssteuern mit Ausnahme der Grunderwerbssteuer und anderer lokaler Steuern, b) die Einkommens- und Körperschaftssteuer, Vermögens- und Erbschaftssteuer sowie c) die Realsteuern mit Ausnahme der Hebesätze. Dieser Vorschlag wurde mit acht Stimmen bei zwei Enthaltungen am 6. Oktober 1948 angenommen und mit kleineren Änderungen als Art. 105 in die Endfassung des Grundgesetzes aufgenommen. Auf der Plenarsitzung des Parlamentarischen Rates am 21. Oktober 1948 kamen die unterschiedlichen Auffassungen zu Finanz- und Steuerfragendeutlich zum Ausdruck: Dass die SPD die gesamte Steuergesetzgebung dem zentralen Parlament zuschreiben wollte, war nicht überraschend. Ihr Verfassungsexperte Walter Menzel hatte sich bereits zu Beginn des Parlamentarischen Rates von den Ergebnissen des Herrenchiemsee-Konvents distanziert und „erhebliche Bedenken“ gegen ein Zuschlagsrecht der Länder zur Einkommenssteuer geäußert. Sein Fraktionskollege Otto Greve argumentierte, man befinde sich in der gleichen Situation wie 1919/20 und solle deshalb wieder auf die Erzberger´sche Finanzreform zurückkommen. Der wichtigste Beitrag zur Finanzdebatte kam von dem FDP-Finanzexperten Höpker-Aschoff. Er sprach sich bei der Steuergesetzgebung und bei anderen Fragen des Finanzwesens eindeutig für eine dominierende Position des Bundes aus. Einen Einfluss der einzelnen Länder auf die Höhe der Einkommens- und Vermögenssteuer lehnte er ab, weil „Standortverschiebungen“ in der Wirtschaft zu befürchten seien. Selbst bei der Biersteuer sei eine einheitliche Gesetzgebung genauso notwendig wie bei allen anderen Verbrauchssteuern. In seinem später vorgelegten schriftlichen Bericht über das Finanzwesen schrieb Höpker-Aschoff, Finanzpolitik sei heutzutage gleichzeitig als Sozial-, Wirtschafts- und Währungspolitik anzusehen. Der Staat habe die Möglichkeit, durch Kredite den Ablauf der Konjunkturen zu bestimmen und mit den entsprechenden Mitteln die Kaufkraft des Geldes zu beeinflussen. Alle diese Aufgaben könnten jedoch für ein einheitliches Wirtschaftsgebiet nur vom „zentralen Gesetzgeber“ wahrgenommen werden. Er bezog sich in seinen Ausführungen ausdrücklich auf die Arbeiten des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John M. Keynes. Bemerkenswert sind auch Höpker-Aschoffs Argumente an die Adresse der Besatzungsmächte: Diese hätten durch ihre gleichlautende Steuergesetzgebung für die drei Westzonen selbst zugegeben, dass eine einheitliche Gesetzgebung notwendig sei. Die doppelte Einkommenssteuer des Bundes und der Länder nach amerikanischem Muster könne man für Deutschland angesichts der „Verarmung“ nicht akzeptieren. Offenbar ahnte er aus dieser Richtung Unangenehmes. 158 Wider alle Erwartungen schloss sich auch der Vertreter der CDU/CSU im Finanzausschuß, Paul Binder, der Argumentation von Höpker-Aschoff und Otto Greve an und erklärte, da alle Fragen der Wirtschaft unter den damaligen Verhältnissen nur einheitlich geregelt werden könnten, müsse die Finanzgesetzgebung „beim Reich bleiben“. Voraussetzung für die Zustimmung der CDU/CSU sei allerdings, in der Frage der zweiten Kammer werde eine Lösung gefunden werde, welche die Rechte der Länder sichere. Aus den Aufzeichnungen der Fraktionssitzungen geht hervor, dass Binder keinen Alleingang unternahm, sondern in Übereinstimmung mit seinen Kollegen argumentierte. Der Vorsitzende der Unionsfraktion, Anton Pfeiffer, hatte bereits am 29. September 1948 festgestellt: „Es besteht wohl Einmütigkeit darüber, dass die Gesetzgebung beim Bund liegen soll, wobei ein großer Teil der Fraktion den Wunsch hat, dass die Länderorgane mitzuwirken haben“456. Die Motive für die umfangreichen Bundeskompetenzen in der Steuergesetzgebung waren demnach die gleichen, welche den Parlamentarischen Rat zur Formulierung der ausführlichen Kataloge für die allgemeinen Bundesgesetzgebung veranlassten. Die entsprechenden Überlegungen in der CDU/CSUFraktion lassen sich anhand der Ausführungen von Walter Strauß nachzeichnen: Er sagte bereits Ende September 1948 im Zuständigkeitsausschuss, seine Fraktion sei der Auffassung, „dass dem Bund entsprechend der Struktur des modernen Lebens in der Gesetzgebung sehr weitgehende Zuständigkeiten zu geben sind“. In der Grundsatzdebatte des Hauptausschusses über die Gesetzgebung erklärte er, bei den „Notverhältnissen unseres Landes“ dürfe man dem Bund keine unzureichende Kompetenzen zuweisen. Seine Fraktion habe dies „insbesondere bei den Finanzen“ berücksichtigt, und er fügte hinzu: „Auch solche Mitglieder, die ursprünglich mit anderen Ansichten an die Arbeit herangegangen sind, haben sich von dem Schwergewicht der vorgetragenen Tatsachen und von den Ausführungen der Sachverständigen überzeugen lassen“. Diese Zustimmung zu umfangreichen Gesetzgebungskompetenzen bedeutete allerdings eine Änderung der konstitutionell-demokratischen Position, wie sie 1946/47 entwickelt wurde. Man rückte von der Forderung nach einer generellen Begrenzung der Staatstätigkeit sowie vom Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern (vertikale Gewaltenteilung) ab. Der bevorstehende wirtschaftliche Wiederaufbau und die sozialen Probleme der Nachkriegssituation haben offenbar die CDU/CSU veranlasst, sich in diesem Punkt der mehrheitsdemokratischen Position anzunähern. Dieses Zugeständnis wurde jedoch an die Bedingung geknüpft, dass die Länder über den Bundesrat an der Willensbildung des Bundes entsprechend stärker beteiligt werden. Der politische Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichsozialen Krisensituation der Nachkriegszeit, den Aufgaben einer zukünftigen westdeutschen Regierung und den Rechten der „zweiten Kammer“ tritt hier deutlich zutage457. Die Zustimmung der FDP-Fraktion zu den weitgehenden Gesetzgebungskompetenzen des Bundes kommt weniger überraschend, weil in ihrer verfassungspolitischen Zielsetzung die vertikale Machtaufteilung zwischen Bund und Ländern keine vergleichbare Rolle spielte. Auch in der FDP wurden die Gestaltungsfunktionen des modernen Staates zunehmend anerkannt. Im Parlamentarischen Rat bestand deshalb in diesen Fragen eine weitgehende Übereinstimmung mit der sozialdemokratischen Zielsetzung. Sie kam bereits in den Ausführungen von Theodor Heuss vor dem Plenum zum Ausdruck: Heuss sprach sich hier zwar gegen eine verfassungsmäßige Festlegung der „sozialwirtschaftlichen Ordnung“ aus, fügte aber hinzu: „Wir begnügen uns, in diesen Dingen die Bundeskompetenz auszusprechen“. In den Fragen der Finanzverfassung vertrat der FDP-Abgeordnete Hermann Höpker-Aschoff, dessen Sachkompetenz von allen Fraktionen anerkannt wurde, im Grunde mehrheitsdemokratische Verfassungsvorstellungen. Die Erklärungen Walter Menzels zu Beginn der Grundgesetzberatungen zeigen, dass die 456 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 249-267; PR-Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes. . . . S.55; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S.44 457 PR Akten und Protokolle Bd. 3, S.43; PR-Hauptausschuss, 11. Sitzung vom 30.11.48 159 sozialdemokratische Fraktion diesen Einfluss der Zeitumstände auf die Haltung der anderen Fraktionen in ihr taktisches Kalkül einbezog. Menzel sagte, die Verfassungsdiskussion im Zonenbeirat der britischen Zone habe erwiesen, dass man sich über die Zuständigkeitsverteilung auf dem Gebiet der Gesetzgebung und Verwaltung sehr schnell einigen könne, wenn man erst einmal an die konkrete Beratung der einzelnen Punkte herangehe und dabei „von allem Theoretisch-Politischen, von allen Ismen“ absehe. Im Zonenbeirat sei man damals nach Abschluss der Debatte erstaunt gewesen, mit welcher Einmütigkeit eine „Fülle von Sachgebieten“ dem Reich zugestanden und den Ländern entzogen wurden. Die Ergebnisse von Herrenchiemsee bestätigten seiner Ansicht nach die Richtigkeit dieser Erfahrung, denn auch dort habe man für nicht weniger als 45 „zum Teil recht umfangreiche Gebiete“ die Zuständigkeit des Bundes ausgesprochen458. Die Bestimmungen des Grundgesetzes zur Gesetzgebung einschließlich der Steuergesetzgebung wären demnach reibungslos verabschiedet worden, wenn sich nicht die drei Besatzungsmächte das Zustimmungsrecht vorbehalten hätten. Während die Militärgouverneure z. B. bei der Finanzverwaltung und beim Wahlrecht aufgrund der Differenzen im deutschen Lager mit ihren Interventionsversuchen auf Erfolg hoffen konnten, stand ihnen jedoch in der Frage der Gesetzgebungskompetenzen aufgrund des Konsensus zwischen den Parteien eine geschlossene Bastion gegenüber. Dies zeigte sich, als die deutschalliierten Verhandlungen im Frühjahr 1949 in ihr entscheidendes Stadium traten: Das am 2. März 1949 überreichte Memorandum der drei Besatzungsmächte zum Grundgesetzentwurf befasste sich überwiegend mit der konkurrierenden Gesetzgebung, die im deutschen Text noch als Vorranggesetzgebung bezeichnet wurde. Die Besatzungsmächte machten Änderungsvorschläge zu dem vom Hauptausschuss beschlossenen Katalog geltend. Sie strichen z. B. die Bundeskompetenz für das Presserecht sowie das Lichtspielwesen und verschoben die „Staatszugehörigkeit in Bund und Ländern“ von der ausschließlichen in die konkurrierende Gesetzgebung. Außerdem lösten sie den Artikel über Rahmenvorschriften des Bundes auf und ordneten diese Gebiete der konkurrierenden Gesetzgebung zu. Der britische Militärgouverneur Robertson „vergaß“ bei der Erläuterung der Änderungsvorschläge allerdings zu erwähnen, dass hiermit auch die Rahmenvorschriften des Bundes über die Rechtsverhältnisse des öffentlichen Dienstes in den Ländern gestrichen wurden. Dies stieß auf energischen Widerspruch der deutschen Delegation. Dr. Menzel (SPD) entgegnete, die Berücksichtigung der „hergebrachten Grundsätze“ des Berufsbeamtentums im späteren Art. 33 des Grundgesetzes sei nur akzeptabel, wenn der Gesetzgeber diese Grundsätze näher bestimmen dürfe. Man könne allenfalls beide Artikel streichen459. Der weitaus wichtigere Einwand der drei Besatzungsmächte bezog sich auf die Definition der Vorranggesetzgebung. In der ihnen vom Parlamentarischen Rat vorgelegten Fassung hieß es nur, die Länder behalten auf den genannten Gebieten ihr Gesetzgebungsrecht, solange der Bundesgesetzgeber nicht tätig wird. Außerdem solle der Bund durch Vorranggesetzgebung nur regeln, was einheitlich geregelt werden müsse. Diese Formulierungen waren den Militärgouverneuren viel zu unbestimmt. Sie schlugen statt dessen einen Text vor, der die Vorranggesetzgebung des Bundes in eine Vorranggesetzgebung der Länder verwandelte. Der Bundesgesetzgeber sollte auf den genannten Gebieten nur tätig werden, wenn (a) ein einzelnes Land nicht in der Lage sei, wirksame Gesetze zu erlassen, oder (b) eine entsprechende Landesgesetzgebung die Rechte oder Interessen anderer Länder beeinträchtige. In beiden Fällen sollte außerdem die Bedingung hinzutreten, dass in der betreffenden Frage die Interessen mehrerer Länder „offenbar, unmittelbar und im ganzen“ berührt werden. Der französische Text verlangte sogar, alle Länder (l´ensemble des Etats) müssten betroffen sein460. Der Parlamentarische Rat entschloss sich nach mehrfachen Verhandlungen mit den alliierten Verbindungsoffizieren in der Frage der Vorranggesetzgebung zu einer Reihe von Änderungen, ohne 458 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 83 459 PR Akten und Protokolle, Bd. 8, S. 120 ff. und 156 460 Texte und Übergabe-Erklärung in PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 120 ff. 160 allerdings - wie sich herausstellen sollte - die Kompetenzen des Bundesgesetzgebers gegenüber der ursprünglichen Fassung wesentlich zu beeinträchtigen. Nach Beratungen im Allgemeinen Redaktionsausschuss und in interfraktionellen Besprechungen wurde zunächst das Wort „Vorranggesetzgebung“ durch die neutralere Bezeichnung „konkurrierende Gesetzgebung“ ersetzt. Der Gesetzgebungskatalog blieb bis auf einige Umformulierungen sowie die Streichung von Presse und Film unverändert. Zur Regelung des öffentlichen Dienstes in den Ländern konnte der Bund nach wie vor Rahmenvorschriften erlassen. Zu der von den Militärgouverneuren energisch vorgetragenen Forderung, die Voraussetzungen der Vorranggesetzgebung seien exakt zu bestimmen, musste man sich allerdings etwas neues einfallen lassen. Bei den interfraktionellen Gesprächen des Siebenerausschusses einigten sich die Vertreter der Fraktionen auf drei Bedingungen für die inzwischen als konkurrierende Gesetzgebung bezeichneten Zuständigkeiten, die man den Besatzungsmächten in Form eines separaten Artikels anbot: Der Bund sollte demnach zur Gesetzgebung nur berechtigt sein, wenn ein „Bedürfnis“ nach einer bundeseinheitlichen Regelung bestand. Dieser Fall war nach dem Wortlaut des Vorschlages gegeben, wenn 1. die Materie durch Landesgesetzgebung nicht wirksam geregelt werden kann, 2. ein Landesgesetz in der betreffenden Angelegenheit die Interessen anderer Länder oder der „Gesamtheit“ berührt oder 3. die Rechts- und Wirtschaftseinheit eine Regelung durch den Bundesgesetzgeber erforderlich macht461. Die beiden erstgenannten Bedingungen entsprachen weitgehend den Vorschlägen der Militärgouverneure. Die dritte Bedingung für ein Tätigwerden des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung kam jedoch auf Initiative des Parlamentarischen Rates hinzu. Der Grundsatz der Rechts- und Wirtschaftseinheit hat einen so breiten Interpretationsspielraum, dass man mit seiner Hilfe die alliierten Auflagen weitgehend umgehen und die Vorranggesetzgebung des Bundes in ihrer ursprünglichen Form wiederherstellen konnte. Die Fraktionen des Parlamentarischen Rates gingen hierbei von der unausgesprochenen Voraussetzung aus, der Bundesgesetzgeber selbst (und nicht etwa das Verfassungsgericht) habe zu entscheiden, ob die Bedingungen für eine einheitliche Regelung vorliegen. Die Militärgouverneure und ihre Mitarbeiter waren jedoch keineswegs ahnungslos. General Clay erklärte bei der entscheidenden Besprechung in Frankfurt am 25. April 1949, man sei unzufrieden mit der unter 3. vorgeschlagenen Formulierung. In ihr fehle der Nachweis, dass eine Landesgesetzgebung wirklich nicht ausreiche. Zumindest müsse den einzelnen Ländern die Klagemöglichkeit vor den Bundesverfassungsgericht garantiert werden. Noch so geschickte Erläuterungen von Carlo Schmid konnten den Argwohn der Militärgouverneure nicht beseitigen. Clay bestand mit Unterstützung seines britischen Kollegen Robertson auf „clarification“ der konkurrierenden Gesetzgebung. Die Delegation des Parlamentarischen Rates bat daraufhin um eine Verhandlungspause für interne Beratungen. Anschließend schlugen die deutschen Politiker vor, in den Punkt 3. des späteren Artikels 72 GG zusätzlich die „Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ aufzunehmen. Die Militärgouverneure willigten schließlich ein, obwohl hiermit die Gesetzgebungsmöglichkeiten des Bundes noch erweitert wurden. Der Abgeordnete Walter Strauß (CDU) erklärte später zur Entstehungsgeschichte von Art. 72, man habe diese Bestimmung während der letzten Besprechung mit den Militärgouverneuren „im kleinen Kreise“ formuliert und sei sich einig gewesen, „dass das Verfassungsgericht lediglich den Missbrauch des Ermessens des Bundesgesetzgebers prüfen könne, nicht aber die Bedürfnisfrage als eine Ermessensfrage, zu deren Entscheidung ausschließlich der Bundestag und der Bundesrat berufen sind.“. Alle diese Überlegungen hätten unter dem Eindruck gestanden: „Hier wird uns von den Besatzungsmächten etwas aufgezwungen, das wir höherer Gesichtspunkte wegen irgendwie ertragen, dem wir aber jede für uns unangenehme Wendung soweit wie möglich nehmen müssen“. In ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 machten die Militärgouverneure erneut ihren Vorbehalt gegenüber der konkurrierenden Gesetzgebung geltend. Sie erklärten, in Zukunft den Passus des Art. 72 über die Rechts- und Wirtschaftseinheit im Sinne einer englischen Formulierung 461 PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 457 sowie Menzel (SPD) vor der Königsteiner Ministerpräsidentenkonferenz am 24.3.1949 (AVBD 5/ 1, S. 300 f.) 161 auslegen zu wollen, die den Wortlaut hatte: „because the maintenance of legal or economic unity demands it in order to promote the economic interests of the Federation or to ensure reasonable equality of economic opportunity to all persons“. Dieser Vorbehalt hätte nach Konstituierung der Bundesrepublik durch ein Veto der Alliierten Hohen Kommission wirksam werden können. Ein derartiger Einspruch wurde jedoch in den folgenden Monaten nicht geltend gemacht, und im Jahre 1951 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, dass die Frage des Bedarfs für eine einheitliche Regelung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung nicht justitiabel und allein vom Bundestag zu entscheiden sei462. Der Verlauf dieser Diskussion ist als Beispiel dafür anzusehen, wie gering die Einflussmöglichkeiten der drei Westalliierten auf die Beratungen des Parlamentarischen Rates waren, wenn in der betreffenden Sache auf deutscher Seite Übereinstimmung bestand. 7. Verwaltung und Finanzen Umstrittener als die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes war die Aufteilung der Verwaltungskompetenzen zwischen Bund und Ländern. Die auf den ersten Blick trockene Materie ist bei der Darstellung der Diskussionen im Parlamentarischen Rat unter zwei Gesichtspunkten von Bedeutung: Da sich umfangreiche Gesetzgebungskompetenzen des Bundes angesichts der Nachkriegssituation als unvermeidlich erwiesen, versuchten die Vertreter der konstitutionellen Demokratiekonzeption, durch erweiterte Verwaltungskompetenzen der Länder ein Gegengewicht aufzubauen. Der zweite Aspekt ist die Haltung der Besatzungsmächte: Sie erhoben Einspruch gegen die Verwaltungsregelungen des Grundgesetzentwurfs. In der Frage der Finanzverwaltung kam es daraufhin zu einem heftigen Konflikt zwischen den deutschen Politikern und den Militärgouverneuren. Diese waren bei der Gesetzgebung und bei der Steuerverteilung zu Kompromissen bereit, wollten aber auf eine zwischen Bund und Ländern geteilte Finanzverwaltung nicht verzichten. In ihren Grundsatzreferaten zu Beginn der Grundgesetzberatungen sprachen sich die Abgeordneten Adolf Süsterhenn (CDU) und Josef Schwalber (CSU) bereits dafür aus, den beim Bund konzentrierten Gesetzgebungskompetenzen weitreichende Verwaltungskompetenzen der Länder gegenüberzustellen. Die Länder sollten nach den Worten Süsterhenns im Bundesstaat die Funktion von „Machtfaktoren“ haben und zwar nicht so sehr aufgrund der ihnen verbliebenen Gesetzgebungskompetenzen, sondern als „vorwiegende Träger der Verwaltung“. Schwalber, der dem Plenum über die Probleme der Zuständigkeitsabgrenzung Bericht erstattete, befasste sich eingehender mit den Details: Seine Kritik galt vor allem dem Art. 14 der Weimarer Reichsverfassung. Reichsgesetze waren demnach zwar grundsätzlich von den Landesbehörden auszuführen; Ausnahmen von dieser Regel konnten jedoch nach dem Wortlaut dieses Artikels bereits durch ein einfaches Reichsgesetz erfolgen463. Mit Hilfe dieser Bestimmung hatte man zur Zeit der Weimarer Republik in zunehmendem Maße reichseigene Verwaltungen errichtet und damit eine Entwicklung eingeleitet, die nach der Darstellung Willibalt Apelts im Verhältnis zwischen Reich und Ländern zu weitaus stärkeren Spannungen führte als die Ausweitung der Reichsgesetzgebung. Dies galt insbesondere für die Reichsfinanzverwaltung, die der damalige Finanzminister Erzberger 1919 unter Berufung auf den Art. 14 WRV geschaffen hatte. Schwalber forderte deshalb im Parlamentarischen Rat, Ausnahmen von der allgemeinen Zuständigkeit der Länder für die Ausführung der Bundesgesetze dürften künftig nur noch aufgrund der Verfassung, nicht jedoch durch einfaches Gesetz möglich sein. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass das „föderale Gleichgewicht“ verloren gehe. Die Aushöhlung der Landeszuständigkeiten und das „Abgleiten vom 462 Vgl. die Diskussionsbeiträge von W. Strauß in: Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, Frankfurt a. M. 1950, S.119 und 176; PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 513 und Bd. 8, S. 132 f., 252-256, 275 f. sowie K. Hesse: Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962, S. 15 463 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 46 ff. und 89 ff.; G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches. . . .S. 109 ff.. 162 bundesstaatlichen Prinzip“ sei in diesem Punkt nur durch eine Revision der Weimarer Regelung zu vermeiden. Der Herrenchiemsee-Konvent hatte dieser Forderung bereits Rechnung getragen, als er im Art. 42 seines Entwurfs festlegte, die Ausführung von Bundesgesetzen sei „eigene Angelegenheit“ der Länder, soweit das Grundgesetz nicht anders bestimme. Dieser Satz wurde im bewussten Gegensatz zur Weimarer Verfassung formuliert und als Art. 83 im wesentlichen unverändert in das Grundgesetz übernommen. Er ist gewissermaßen als ein Rückgriff auf die alte Reichsverfassung anzusehen. Die Bismarck´sche Verfassung von 1871 war ebenfalls von der umfassenden Verwaltungszuständigkeit der Länder ausgegangen und hatte mit Art. 4 für den Bereich der Vorranggesetzgebung dem Reich lediglich das Recht der „Beaufsichtigung“ übertragen. Im Parlamentarischen Rat stimmte man grundsätzlich überein, die verwaltungsmäßige Ausführung der Bundesgesetze den Ländern zu übertragen. Umstritten war allerdings zwischen den Fraktionen, in welchem Ausmaß der Bund die Durchführung seiner Gesetze überwachen und das Verwaltungsverfahren mitbestimmen sollte. Von den drei im Grundgesetz vorgesehenen Verwaltungsverfahren für Bundesgesetze stand die Ausführung durch die Länder „als deren eigene Angelegenheit“ im Mittelpunkt der Diskussion. Diese Variante wurde vom Parlamentarischen Rat als Normalfall betrachtet und später in Art. 84 des Grundgesetzes ausführlich geregelt. Vor allem die süddeutschen Föderalisten waren hierbei bemüht, die Verwaltungsautonomie der Länder vor ständigen Eingriffen der Zentrale zu schützen. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie dagegen wollten verhindern, dass die Gesetzgebung des Bundes durch Verwaltungsmängel oder gar durch Obstruktion in ihrer Wirkung beeinträchtigt wurde. Aufgrund dieser Überlegungen beantragte zum Beispiel Walter Menzel (SPD) in der zweiten Lesung des Hauptausschusses, aus der Fassung des Entwurfs: „Die Bundesregierung übt die Aufsicht über die gesetzmäßige Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder aus“, das Wort „gesetzmäßig“ zu streichen, um auf diese Weise das Aufsichtsrecht des Bundes zu erweitern. Vertreter der CDU/CSU widersprachen mit dem Hinweis, falls die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten durchführen, komme nur eine Prüfung der Rechtmäßigkeit in Frage. Schließlich einigte man sich, statt „gesetzmäßig“ die Formulierung „dem geltenden Recht gemäß“ aufzunehmen, welche sich nach Auffassung des Ausschusses nicht nur auf Gesetze, sondern auch auf die vom Bund erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften bezog. Zu diesem Zeitpunkt hatte man jedoch bereits die Bestimmung in den Entwurf des späteren Art. 84 GG aufgenommen, zum Erlass all- gemeiner Verwaltungsvorschriften sei die Zustimmung des Bundesrates erforderlich464. Umstritten war weiterhin, unter welchen Voraussetzungen die Bundesregierung berechtigt sein sollte, über den Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften und über ihr Inspektionsrecht hinaus den Landesbehörden Einzelanweisungen zu erteilen. Ein Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses vom Dezember 1948 billigte der Bundesregierung aufgrund des Grundgesetzes (und nicht erst aufgrund eines Gesetzes) ein generelles Weisungsrecht für wichtige Bereiche der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu465. Die sozialdemokratische Fraktion begründete diesen Vorschlag zunächst mit dem Hinweis auf die Nachkriegssituation und die positiven Erfahrungen mit den Zentralämtern der britischen Zone. Aus den Ausführungen Menzels vor dem Hauptausschuss geht allerdings hervor, dass diesem Weisungsrecht auch im Rahmen einer zukünftigen „Gesamtlenkung, die nichts mit Zwangswirtschaft zu tun hat“, große 464 W. Apelt: Geschichte der Weimarer Verfassung...S. 148 ff.; PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 85 f. und 95 ff. sowie Bd. 2, S. 562 und 587 f.; PR-Hauptausschuss, 35. Sitzung vom 12. Januar 1949. 465 PR-Drucksache Nr. 374 vom 16.12.1948 und PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 274. Diese Regelung bezog sich u.a. auf Fragen des Währungssystems, auf die Angelegenheiten der Flüchtlinge und Vertriebenen, das Wirtschaftsund Arbeitsrecht einschließlich der Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Macht sowie auf die Sicherung der Ernährung. 163 Bedeutung zukommen sollte. Auf dem Ernährungs- und Energiesektor war seiner Auffassung nach ohne dieses Mittel kein planvoller Ausgleich zwischen den Ländern zu erreichen. Von Seiten der CDU/CSU wurde dem Vorschlag des Redaktionsausschusses entgegengehalten, er öffne den Weg zur „Durchführung des Einheitsstaates“ und löse die Eigenverwaltung der Länder auf (Wilhelm Laforet). Nach ausführlichen Besprechungen fand man schließlich eine Lösung, welche unter bestimmten Bedingungen zwar Einzelanweisungen zulässt, ihnen aber deutlich den Charakter einer Ausnahmeregelung verleiht. Sie können nach Art. 84 Abs. 5 des Grundgesetzes nur aufgrund eines Gesetzes erlassen werden, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Trotz dieser Einschränkungen erklärten die Militärgouverneure in ihrem Genehmigungsschreiben zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949, dieser Passus räume dem Bund „sehr weitgehende Befugnisse auf dem Gebiet der Verwaltung“ ein. Die Hohen Kommissare würden daher seine Anwendung sorgfältig beachten, damit auf diesem Wege keine übermäßige Machtkonzentration entstehe466. Die Diskussionen über die unterschiedlichen Wege zur Ausführung der Bundesgesetze bildeten den Hintergrund für die politische Auseinandersetzung in den Fragen der Finanzverwaltung. Die Verwaltung der Finanzen unterscheidet sich in organisatorischer und verfassungstechnischer Hinsicht kaum von der allgemeinen Verwaltungsproblematik. Sie hatte aber bei den Grundgesetzberatungen eine weitaus größere politische Bedeutung. In der Finanzfrage war nämlich das Bestreben, ein Gleichgewicht im Bundesstaat durch weitgehende Verwaltungskompetenzen der Länder zu sichern, besonders ausgeprägt. Eine Analyse der Grundgesetzberatungen in diesem Bereich muss daher neben den vielfältigen Sachargumenten die Frage der Machtverteilung zwischen Bund und Ländern beachten, obwohl dieser Zusammenhang in der politischen Auseinandersetzung nicht immer offen zum Ausdruck kam. Die für den deutschen Föderalismus typische Trennung zwischen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen ist auch für die Finanzverfassung bezeichnend: Nachdem sich der Parlamentarische Rat verhältnismäßig schnell auf weitreichende Befugnisse des Bundes für die Zoll- und Steuergesetzgebung geeinigt hatte, wurde die Verwaltung der Bundessteuern durch die Länder von einem einflussreichen Teil seiner Mitglieder als Gegengewicht zu dieser Machtkonzentration betrachtet. Für die Einrichtung einer Bundesfinanzverwaltung traten im Parlamentarischen Rat vor allem die Fraktionen der SPD und FDP mit Unterstützung des Zentrums ein. Ihr Hauptargument lautete, im Bereich der Finanzen sei eine für das gesamte Bundesgebiet gleichmäßige Verwaltungspraxis unbedingt notwendig. Diese Gleichmäßigkeit könne durch die Landesverwaltungen aber auch dann nicht erreicht werden, wenn eine weitgehende Koordinationsbereitschaft zwischen den Länderregierungen bestehe. Hermann Höpker-Aschoff, der Finanzexperte der FDP-Fraktion, erklärte vor dem Plenum, die Gesetze und Durchführungsverordnungen des Bundes reichten nicht aus, um eine einheitliche Steuerpraxis zu gewährleisten. Sie müssten vielmehr ergänzt werden durch eine große Anzahl von Ausführungsbestimmungen und Einzelanweisungen des Bundesfinanzministers. Außerdem sei für die gleichmäßige Anwendung der Steuergesetze eine Beamtenschaft notwendig, die sich durch „gleichmäßige Schulung, gleichmäßige Laufbahn- Richtlinien, gleichmäßige Fortbildung“ auszeichne. Otto Greve unterstützte als Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion diese Argumentation. Er verwies auf die Bedeutung einer einheitlichen Steuerpraxis für das Lohn- und Preisniveau sowie für die Standortwahl der Betriebe. Nach seinen Worten ergab sich die Forderung nach einem einheitlichen Finanzwesen einschließlich der damit verbundenen Verwaltungspraxis aus der Notwendigkeit gleicher Lebensbedingungen für alle Bewohner des Bundesgebiets. Die Finanzen seine als Objekt der „landsmannschaftlichen Brauchtumspflege“ ungeeignet. Die Befürworter der Bundesfinanzverwaltung konnten sich außerdem bei ihrer Argumentation auf die Verhältnisse in der britischen Besatzungszone berufen. Im Gegensatz zur amerikanischen und 466 Vgl. die Diskussion im PR-Organisationsausschuss, 13. Sitzung vom 13. Oktober 1948; PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 274 sowie die Entstehungsgeschichte von Art. 84 GG in: JöR, N.F. Bd. 1, S. 626 ff. 164 französischen Zone wurde hier nach 1945 die alte Reichsfinanzverwaltung zunächst weitergeführt. Als mit dem 1. April 1948 auch in der britischen Zone die Finanzverwaltung den Ländern übertragen wurde, sah man sich nach der Darstellung Höpker-Aschoffs genötigt, die Finanzleitstelle in Hamburg als Koordinierungsbüro weiterzuführen, um überhaupt eine einheitliche Verwaltungspraxis aufrecht erhalten zu können. Das Vorbild Matthias Erzbergers trug sicher dazu bei, dass sich auch die Zentrumsfraktion im Parlamentarischen Rat uneingeschränkt für eine Finanzverwaltung des Bundes aussprach. Helene Wessel begründete diese Entscheidung vor dem Plenum mit dem Hinweis, man stehe vor der gleichen Notsituation wie 1919. Der bevorstehende Lastenausgleich zum Beispiel verlange eine „gleichmäßige Veranlagung der großen Vermögen“, die nicht den elf Landesverwaltungen vorbehalten bleiben könne467. In den Diskussionen des Hauptausschusses, an denen auch Sachverständige der Landesregierungen teilnahmen, wurden die Einwände gegen eine umfassende Verwaltung der Finanzen durch die Länder weiter präzisiert: Der FDP-Abgeordnete Max Becker äußerte die Befürchtung, finanzkräftige Länder könnten auf dem Verwaltungswege Vorteile gewähren und den Zuzug weiterer Betriebe erreichen. Da die leistungsschwachen Länder zu derartigen Vergünstigungen nicht in der Lage seien, werde sich der Abstand zwischen beiden zwangsläufig vergrößern. Im Parlamentarischen Rat war man allgemein der Auffassung, es dürfe allein aus Kostengründen nur eine Finanzverwaltung geben. Dieser Grundsatz veranlasste die Befürworter der Bundesfinanzverwaltung, für die Landessteuern eine umgekehrte Auftragsverwaltung vorzuschlagen: Die Länder sollten den Bund mit der Verwaltung derjenigen Steuern beauftragen, für die sie das Gesetzgebungsrecht besitzen. Im Verlauf der Beratungen im Plenum und in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rates deuteten beide Seiten Konzessionen an, um schließlich doch noch eine breite Mehrheit für die eigenen Vorstellungen zu erreichen. Auf der einen Seite schlug die Fraktion der FDP vor, die Einführung der Bundesfinanzverwaltung mit der Verfassungsbestimmung zu verbinden, dass die leitenden Beamten der regionalen Dienststellen im Einvernehmen mit der Regierung des betreffenden Landes zu ernennen sind. Außerdem sollten die Richter des Bundesfinanzhofes mit Zustimmung des Bundesrates berufen werden. Andererseits räumten die Befürworter der Landesfinanzverwaltung der Zentrale weitgehende Kontrollund Weisungsrechte ein. Der Bund sollte Richtlinien für die Veranlagung, die Stundung sowie für den Erlass von Steuern aufstellen. Er sollte nach diesen Vorschlägen eine einheitliche Ausbildung der Finanzbeamten vorschreiben und bei der Ernennung der leitenden Beamten in den Landesfinanzverwaltungen ein Mitspracherecht haben. Eine Durchsicht der Protokolle bis zur ersten Lesung des Hauptausschusses hinterlässt den Eindruck, das die in der Debatte vorgetragenen Argumente sich gegenseitig aufheben. Angesichts des von ihnen bereits zugestandenen Bundeseinflusses auf die Durchführung bleibt weitgehend offen, weshalb die Vertreter der Länderinteressen nach wie vor unter keinen Umständen auf die Landesverwaltung der Bundessteuern verzichten wollten. Die gleiche Überlegung gilt in umgekehrter Richtung: Der Vorteil der Bundesfinanzverwaltung schien nicht mehr evident, wenn der Bund in dieser Sache auch gegenüber den Landesverwaltungen über weitgehende Richtlinienkompetenzen verfügen sollte. Verschiedentlich finden sich aber Hinweise, dass für die Haltung der Fraktionen auch unausgesprochene Gründe maßgebend waren. So erwähnte z. B. der CDU-Abgeordnete Paul Binder, es sprächen zwar viele Gesichtspunkte für eine einheitliche Finanzverwaltung, auf der anderen Seite werde damit jedoch „in einem sehr erheblichen Umfang auch eine politische Frage“ angesprochen468. Diese „politische Frage“ konnte - nach dem Verlauf der Beratungen zu urteilen - nur die Frage des Bundeszwanges sein. Falls ein Land die aus der Verfassung und den Reichsgesetzen sich ergebenden 467 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 254 f. , 260 f. und 277 sowie Höpker-Aschoff in: PR- Schriftlicher Bericht. . . . S. 51 ff. 468 PR-Hauptausschuß, 13. und 14. Sitzung vom 1. und 2. Dezember 1948; PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 264 und Bd. 2, S. 608 165 Verpflichtungen nicht erfüllte, stand es nach der Weimarer Verfassung im Ermessen des Reichspräsidenten, „mit Hilfe der bewaffneten Macht“ gegen dieses Land vorzugehen. Bereits damals hat man in der Staatsrechtslehre die Auffassung vertreten, die militärische Intervention sei zwar als das stärkste, nicht jedoch als das einzige Mittel der sogenannten Reichsexekution anzusehen. Auch die Einstellung von Zahlungen, die das Reich dem Lande schuldet, wurde als Zwangsmittel anerkannt. Diese Möglichkeit gewann bei den Verfassungsüberlegungen der Jahre 1947/48 an Bedeutung, weil ein der Reichswehr vergleichbares Instrument nicht zur Verfügung stand. Der Herrenchiemsee-Konvent erklärt dementsprechend in seinem Bericht zum Thema „Bundeszwang“, der Bund sei einstweilen waffenlos und müsse gegebenenfalls auf die Polizeikräfte der Länder zurückgreifen. Der Gedanke des finanziellen Bundeszwanges wurde in der Nachkriegsdiskussion vor allem von dem SPD-Politiker Walter Menzel vertreten. Menzel erklärte bereits bei der Diskussion des Zonenbeirats der britischen Zone über die zukünftige deutsche Verfassung, die Gesetzgebungsbefugnis des Bundesstaates allein genüge nicht, wenn keine wirksamen Machtmittel dahinter ständen. Mit der Finanzhoheit erhalte die Zentrale ein „ausgezeichnetes und wirksames Mittel“ für die Durchsetzung der Bundesexekutive. Hierzu müsse jedoch die Verwaltung der Finanzen in den Händen des Bundes bleiben, weil man nur mit ihrer Hilfe eine „Finanzsperre“ gegen einzelne Länder durchführen könne. Im SPD-Entwurf für ein Grundgesetz vom 2. September 1948, dem sogenannten zweiten Menzel-Entwurf, wird dementsprechend die Einbehaltung der Finanzzuweisungen ausdrücklich als Form des Bundeszwangs erwähnt469. Vor dem Plenum des Parlamentarischen Rates wiederholte Menzel seine Überlegungen: Die Frage der Finanzverwaltung schien ihm von grundsätzlicher Bedeutung für die Architektur des Bundesstaates zu sein. Der Bund könne nicht zusammengehalten werden, indem man die Länder allein durch die Urteile des Verfassungsgerichts zur Bundestreue anhalte. In jeder Föderation der Welt gebe es vielmehr die Klammer des Bundeszwangs und es habe wenig Sinn, ein „Ländergebilde“ aufzubauen, bei dem nicht von vornherein klar sei, wie dieser Bundeszwang notfalls durchgeführt wird. Der völlige oder teilweise Überweisungsstopp sei hierzu das „solideste Mittel“. In einer Fraktionssitzung der sozialdemokratischen Mitglieder des Parlamentarischen Rates vom 30. September wurde diese Auffassung noch einmal bekräftigt: Man war sich einig, dass der Bundeszwang zur Zeit nur auf dem Wege der „Finanzsanktion“ möglich sei470. Obwohl der Zusammenhang zwischen Finanzverwaltung und Bundeszwang in den Ausschüssen des Parlamentarischen Rates hinter die Sachargumente zurücktrat, liegt hier der politisch entscheidende Unterschied zwischen der Bundes- und der Landesverwaltung begründet. Dieser grundsätzliche Unterschied blieb auch bei allen Modifikationen und Kompromissen bestehen, die im Verlauf der Beratungen für beide Lösungsmöglichkeiten diskutiert wurden. In der Aussprache des Plenums über Finanzfragen bezog der Hans-Christoph Seebohm (DP) die Gegenposition zu den Argumenten Menzels: Mit der Einführung einer bundeseigenen Finanzverwaltung habe der Bund die Möglichkeit, „die Länder an die Kette zu legen“. Wer bei seinen Verfassungsüberlegungen vom Gedanken des Bundeszwanges ausgehe, dokumentiere deshalb nur, dass er den bundesstaatlichen Aufbau im Grunde ablehne471. Sowohl der Finanz- als auch der Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates beschlossen gegen die Stimmen der CDU/CSU und der Deutschen partei, für alle Bundessteuern eine Finanzverwaltung des Bundes einzurichten. Unter „Bundessteuern“ verstand man hierbei alle der Bundesgesetzgebung unterliegenden Steuern, auch wenn diese ganz oder teilweise in die Kasse der Länder fließen sollten. Den 469 G. Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches...S. 275; Zonenbeirat der britischen Zone, 17. Plenarsitzung vom 24. November 1947 sowie der Text bei W. Sörgel: Konsensus und Interessen... S. 289. 470 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 87 f.; Schmid 1162 - AdsD) 471 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 272 Bericht des Genossen Walter Menzel vom 1. Oktober 1948" ( NL C. 166 Ländern stand es nach dieser Regelung frei, die Verwaltung der Landessteuern an die Bundesfinanzverwaltung zu übertragen. Der süddeutsche Flügel der CDU/CSU war unschlüssig, ob er im Plenum des Parlamentarischen Rates gegen diese Bundesfinanzverwaltung stimmen sollte. Man war sich bewusst, dass SPD und FDP in diesem Fall vom „großen Kompromiss“ des Fünferausschusses abrücken könnten. Vielleicht hatte man auch Hintergedanken: Adolf Süsterhenn (CDU) wies vor dem Hauptausschuss und in der CDU/CSU-Fraktion mehrfach auf das alliierte Memorandum vom 22. November 1948 hin. Dieses Memorandum enthielt unter d) die ziemlich eindeutige Richtlinie, dass der Bund zwar Rahmengesetze zu Steuern erlassen könne, die er selbst nicht benötige. Das Einziehen (collection) und die Nutzung der Steuern müsse in diesem Fall aber den einzelnen Ländern überlassen bleiben. Für die norddeutschen CDU-Abgeordneten war die Organisation der Finanzverwaltung offenbar keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Konrad Adenauer bezeichnete vor dem Zonenausschuss der CDU Ende Februar 1949 den Streit um die Finanzverwaltung als eine Frage, die außerhalb des Parlamentarischen Rats nur Kopfschütteln hervorrufe. Ihm selbst sei die Sache „ich will nicht sagen schnuppe, aber im großen und ganzen egal“. Als die Diskussion in der gleichen Sitzung erneut auf die Finanzverwaltung kam, erklärte er unwirsch, man wolle offenbar das Grundgesetz wegen der „blöden Finanzverwaltung“ scheitern lassen, und fügte hinzu: „Ich höre seit Monaten von allen Seiten immer nur Finanzverwaltung, Finanzverwaltung, dass einem die ganze Finanzverwaltung bald am Halse heraushängt“472. Mit ihrem Memorandum vom 2. März 1949 legten die Militärgouverneure gegen die vom Hauptausschuss in dritter Lesung beschlossene Bundesfinanzverwaltung ihr Veto ein. Sie schlugen statt dessen eine Neufassung des späteren Art. 108 GG vor, die sich an dem Grundsatz orientierte, dass der Bund nur Steuern einnehmen darf, die er auch selbst benötigt. Landessteuern und gemeinsame Steuern sollten von den Landesbehörden verwaltet werden. Mit ihrem Vorschlag, der Bund solle den für Bundeszwecke bestimmten Teil der Einkommenssteuer selbst verwalten und die Länder den anderen Teil, trieben sie das Prinzip der Aufteilung auf die Spitze. Die Intervention der Besatzungsmächte lief auf eine Aufteilung der Finanzverwaltung hinaus und damit auf eine Lösung, die ursprünglich alle Fraktionen abgelehnt hatten. Aus mehreren Gesprächen von Mitgliedern des Parlamentarischen Rates mit den alliierten Verbindungsoffizieren geht hervor, dass zumindest in der Schlussphase der Grundgesetzberatungen die Möglichkeit des Bundeszwanges auch bei den Besatzungsmächten das entscheidende Motiv für die Ablehnung einer umfassenden Bundesfinanzverwaltung war 473. Im Parlamentarischen Rat kam es daraufhin zu einer Reihe von interfraktionellen Gesprächen. Der Fünferausschuss wurde zum Siebenerausschuss erweitert. Er tagte in wechselnder Besetzung und bestand aus je zwei Vertretern der CDU/CSU (in der Regel die Theophil Kaufmann und Heinrich v. Brentano, aber auch Robert Lehr und Paul Binder) und SPD ( Walter Menzel, Carlo Schmid, bzw. Rudolf Katz und Georg August Zinn) sowie je einem Vertreter der FDP (Hermann Schäfer oder Hermann HöpkerAschoff), der DP (Hans-Christoph Seebohm) und des Zentrums (Johannes Brockmann oder Helene Wessel). Möglicherweise hat dieser Ausschuss den Gegenvorschlag der Besatzungsmächte zur Finanzverwaltung ungenau interpretiert, denn er ging bei seiner Bestandsaufnahme davon aus, die gemeinsamen Steuern (concurrent taxes) sollten nicht nur der Gesetzgebung, sondern auch der Verwaltung des Bundes unterliegen. Man blieb jedenfalls nach der Beratung mit den Finanzexperten der Militärregierung bei der ursprünglichen Position und schlug erneut eine Bundesfinanzverwaltung für alle Steuern vor, die der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes unterstehen. Die Militärgouverneure lehnten erwartungsgemäß ab, und der Parlamentarische Rat musste sich auf eine 472 PR-Hauptausschuss, 41. Sitzung vom 15. 1. 1949; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 377 ff.; Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone. . . S. 809 und 824; W. Renzsch: Finanzverfassung und Finanzausgleich, Bonn 1991, S. 60 ff. sowie JöR N. F., Bd. 1, S. 790-806 473 PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 173 und 237 f. 167 geteilte Finanzverwaltung einstellen, wenn er nicht das Grundgesetz insgesamt scheitern lassen wollte. Nachdem die SPD bei den Beratungen des Finanzausschusses am 7. April ihren Antrag auf Bundesfinanzverwaltung zurückgezogen hatte, legte der Allgemeine Redaktionsausschuss am 2. Mai einen Entwurf zur geteilten Finanzverwaltung vor, der bis auf redaktionelle Änderungen als Art. 108 in die Endfassung des Grundgesetzes aufgenommen wurde474. Insgesamt kann man die Verwaltungszuständigkeiten nach dem Grundgesetz als Gegengewicht zu den ausführlichen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes bezeichnen. Der Parlamentarische Rat kam hier zu Lösungen, die dem konstitutionell-demokratischen Verfassungskonzept entsprechen. Der Bundesrat erhielt ein weitgehendes Mitspracherecht bei der Ausführung der Bundesgesetze, während in der verfassungspolitisch wichtigen Frage der Finanzverwaltung die Besatzungsmächte durch ihre Intervention die Zuständigkeit der Länder für die ihnen allein oder teilweise zukommenden Steuern durchsetzten. Der konstitutionell - demokratische Charakter dieser Verfassungsbestimmungen wird durch die politische Praxis in der Bundesrepublik bestätigt, denn der Bundesrat konnte durch sein Mitspracherecht in Verwaltungsangelegenheiten auch das Gesetzgebungsverfahren selbst beeinflussen. Die Länderkammer hat nach dem Grundgesetz nicht nur eine bürokratische, sondern auch eine politische Funktion. Ihre Aufgabe besteht darin, die Verordnungen oder Gesetze des Bundes auf ihre Durchführbarkeit zu prüfen und hierbei die Verwaltungserfahrung der Länder zur Geltung zu bringen. Diese Form der Kontrolle kommt nach dem deutschen Modell des Bundesstaates den Länderinteressen entgegen. Sie institutionalisiert ihr Mitwirkungsrecht in einem Bereich, der ihnen aufgrund der Verfassung als eigentliches Aufgabengebiet zugewiesen wird. VII. Der Verfassungskompromiss des Grundgesetzes 1. Parteitaktik und Demokratievorstellungen Bei den Verfassungsberatungen in den Ländern standen die beteiligten Politiker vor einer vergleichsweise offenen Situation. Sie konnten noch nicht erkennen, wie das Dach über diesen territorialen Einheiten beschaffen sein würde, deren Existenz zum Teil auf die willkürliche Zonenaufteilung der Besatzungsmächte zurückging. Die verfassungsberatenden Versammlungen sahen sich daher veranlasst, ihre Entwürfe mit dem Blick auf die bald erhoffte Bundes- oder Reichsverfassung zu formulieren. Hierbei spielte auch die Überlegung mit, den späteren Reichsverfassungsgeber in dem einen oder anderen Punkt an die Grundsätze der Landesverfassungen zu binden und seine Entscheidung zu präjudizieren. Die frühen Landesverfassungen der Jahre 1946 und 1947 sollten paradigmatische Bedeutung für zukünftige Bundesverfassung haben. Sie sollten außerdem stellvertretend für die gesamtdeutsche Verfassung den demokratischen Wiederaufbau dokumentieren, der in Westdeutschland trotz Besatzungspolitik und politischer Dezentralisierung stattfand. Für die drängenden Probleme der Wirtschafts- und Ernährungspolitik hatten die Verfassungsberatungen keine Bedeutung, denn die Entscheidungen in diesem Bereich lagen bei den Besatzungsmächten mit ihren weisungsgebundenen deutschen Verwaltungen und später beim Zweizonen-Wirtschaftsrat. Mit der Überreichung der Frankfurter Dokumente stellte sich die Verfassungsfrage für die westdeutschen Politiker sehr viel konkreter: Eine westdeutsche Regierung sollte eingerichtet werden und innerhalb der von den Besatzungsmächten gezogenen Grenzen eigene Verantwortung übernehmen. Eine gesamtdeutsche Lösung schien zu dieser Zeit angesichts der sich zuspitzenden Lage Westberlins ferner denn je. Die deutschen Parteien waren inzwischen auf Verfassungsberatungen besser vorbereitet. Sie 474 PR Akten und Protokolle Bd. 7, S. 524, Bd. 8, S. 210-213 und Bd. 11, S. 111; PR-Hauptausschuss, 55. Sitzung vom 6. 4. 1949 168 hatten Verfassungsausschüsse eingerichtet und Entwürfe formuliert, die auch für eine rein westdeutsche Lösung zu verwenden waren. Hier liegen die Gründe dafür, dass die beiden Konzeptionen der „konstitutionellen Demokratie“ und der „sozialen Mehrheitsdemokratie“ bei den Beratungen zum Grundgesetz noch deutlicher zum Ausdruck kamen als in den Verfassungsdiskussionen der Jahre 1946/47. Andererseits war man im Parlamentarischen Rat bemüht, eine möglichst breite Zustimmung der Fraktionen zum Grundgesetz zu erreichen. Der Parteivorstand der SPD sprach z.B. Ende Oktober 1948 die Erwartung aus, dass die beiden großen Fraktionen in Bonn zu einem „gemeinsamen Beschluss“ kommen. Er verband dies mit der Hoffnung, bis Ende November könnten die Grundgesetzberatungen abgeschlossen werden. Konrad Adenauer begründete die Notwendigkeit des Kompromisses auf andere Weise: Auf einer Tagung der CDU/CSU-Führungsgremien und der Fraktion des Parlamentarischen Rates in Königswinter im Januar 1949 argumentierte er, bei einer Ablehnung des Grundgesetzes könnten möglicherweise „die CDU/CSU und die KPD dagegen sein und alle anderen Parteien dafür“. Dies würde wiederum die „Perspektiven für die erste Wahl zum Bundestag“ sehr ungünstig beeinflussen. Da man die Ablehnung des Grundgesetzes durch die beiden KPD-Abgeordneten voraussetzte, galt diese Überlegung auch für die SPD und die anderen im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteien475. In diesem Zusammenhang war das von den Besatzungsmächten festgelegte Verfahren bei der Ratifizierung des Grundgesetzes zu beachten. Die Vorschrift, dass zwei Drittel der Länder zustimmen müssen, räumte den beiden großen Parteien SPD und CDU/CSU die Möglichkeit ein, im Konfliktfall das Grundgesetz scheitern zu lassen. Der Wunsch nach einem breiten Fundament für die westdeutsche Verfassung kam auch in dem Bemühen zum Ausdruck, die Zustimmung der CSU und Bayerns zum Grundgesetz zu erreichen. In einem Positionspapier der liberalen Landesverbände vom Juni 1948 hieß es bereits, man müsse eine „staatliche Form“ finden, in die sich auch Bayern „freiwillig und ohne Zwang einfügt“. Die entsprechenden Versuche der norddeutschen CDU-Politiker werden in der Studie von Karl-Ulrich Gelberg ausführlich beschrieben. Mit Adenauers „Canossa – Gang“ nach München am 8. November 1948 und der Teilnahme des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard an der bereits erwähnten Königswinterer Tagung der CDU/CSU schien ein positives Votum aus Bayern in Sicht zu sein. Weniger bekannt sind die Bemühungen der sozialdemokratischen Fraktion, die Zustimmung der Bayern zum „großen Kompromiss“ des Fünferausschusses zu erreichen. Bei den Sozialdemokraten engagierte sich vor allem Walter Menzel als „ehrlicher Makler“. Er war bereit, in einzelnen Punkten Konzessionen zu machen unter der Vorraussetzung, dass die Bundesfinanzverwaltung verwirklicht wird476. Bei allen Fraktionen spielte die Außenpolitik des Parlamentarischen Rates eine große Rolle: Seine Mitglieder mussten nicht nur die Situation West - Berlins berücksichtigen, dessen Landverbindungen nach Westen in der gesamten Zeit der Grundgesetzberatungen blockiert waren. Hinzu kamen das Besatzungsstatut, dessen Inhalt man noch nicht kannte, und vor allem der Gedanke an die Genehmigung des Grundgesetzes durch die drei westlichen Besatzungsmächte. Der zuletzt genannte Gesichtspunkt war vor allem für die SPD relevant, denn die Sozialdemokraten vertraten von Anfang an die Linie, die Begleitkommentare der Militärregierungen zu den Beratungen des Parlamentarischen Rates zu ignorieren. Nach ihrer Vorstellung sollten sich die Deutschen zunächst untereinander einigen und den Besatzungsmächten einen festgezurrten Grundgesetzentwurf übergeben, den diese dann wohl oder übel akzeptieren müssten. 475 Kommuniqué zur Vorstandssitzung vom 10./11.12.1948 (PV Protokolle 1948 - AdsD); Die Unionsparteien 1946-1950. Protokolle der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU Deutschlands und der Konferenzen der Landesvorsitzenden, bearb. von B. Kaff, Düsseldorf 1991, .S. 257 476 Rundschreiben von Theodor Heuss und Ernst Mayer vom 20.6.1948 ( ADL NL Dehler N 53-189); K.U. Gelberg: Hans Ehard. Die föderalistische Politik des bayerischen Ministerpräsidenten 1946-1954, Düsseldorf 1992, S.219 ff. und 237 ff.; Menzel an Ollenhauer und Heine vom 5.2.1949 (NL Carlo Schmid 1162 - AdsD). 169 Taktische Überlegungen und politische Manöver im Parlamentarischen Rat bezogen sich in erster Linie auf das Zusammenspiel zwischen den drei Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP. Hierfür war nicht zuletzt die zahlenmäßige Zusammensetzung des Rates maßgebend: Da sowohl SPD als auch CDU/CSU mit 27 stimmberechtigten Abgeordneten vertreten waren, erhielten die fünf Abgeordneten der FDP eine Schlüsselposition. Mit ihrer Unterstützung und einer weiteren Stimme aus den Reihen der kleinen Fraktionen (DP, Zentrum oder KPD) konnte jede der beiden großen Parteien im Plenum sowie im Hauptausschuss die absolute Mehrheit erreichen. Diese rechnerischen Überlegungen haben allerdings für den Verlauf der Verfassungsberatungen nicht die gleiche Bedeutung gehabt, wie in einem normalen Gesetzgebungsparlament. Dr. Schäfer (FDP), der Vizepräsident des Parlamentarischen Rates, erklärte bereits Anfang September 1948 einem britischen Verbindungsoffizier auf dessen besorgte Frage, die FDP-Fraktion werde ihre Position nicht dazu nutzen, knappe Entscheidungen herbeizuführen477. Aus Rücksicht auf eine möglichst breite Mehrheit bei der Schlussabstimmung bildete das Zusammengehen einer der beiden großen Fraktionen mit der FDP in der Regel den Auftakt für einen erneuten Kompromissversuch mit dem gleich starken Konkurrenten. Als Anknüpfungspunkt für taktische Manöver im Parlamentarischen Rat erwiesen sich außerdem die Differenzen zwischen den norddeutschen und den süddeutschen CDU/CSU - Verbänden. Die Auffassungsunterschiede innerhalb der Unionsfraktion betrafen vor allem Verfassungsfragen, die mit der Föderalismusproblematik zusammenhingen. Zu festen und dauerhaften Koalitionsbindungen ist es glücklicherweise im Parlamentarischen Rat nicht gekommen. Sie hätten nur eine Belastung für das Grundgesetz bedeutet, weil hiermit ein größerer Teil der Meinungen und Interessen von der Formulierung ausgeschlossen worden wäre. In einer Reihe wichtiger Verfassungsfragen war die Zusammenarbeit der sozialdemokratischen Fraktion mit den fünf Abgeordneten der FDP ausschlaggebend für die Endfassung des Grundgesetzes. Die Kooperation zwischen diesen beiden politischen Richtungen ist vor allem deswegen überraschend, weil die FDP im Frankfurter Wirtschaftsrat de facto eine Koalition mit der CDU/CSU eingegangen war, während die SPD dort in einer teilweise selbstgewählten Oppositionsrolle verharrte. Die Zusammenarbeit zwischen FDP und SPD schien außerdem den Ausgangspositionen der beiden Parteien zu Beginn der Grundgesetzberatungen zu widersprechen: Die sozialdemokratischen Verfassungsentwürfe wurden seit den „Richtlinien für den Aufbau der deutschen Republik“ aus dem Jahre 1947 von der mehrheitsdemokratischen Zielsetzung bestimmt, dem unmittelbar gewählten Parlament möglichst weitgehende Rechte einzuräumen. Beim Gesetzgebungsverfahren kam dies vor allem in der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern sowie in der starken Stellung des Reichstages (oder der „Versammlung“) gegenüber den anderen Verfassungsorganen zum Ausdruck. Die FDP-Fraktion dagegen vertrat zu Beginn der Grundgesetzberatungen gerade in den Fragen des Parlamentarismus eine Position, die dem mehrheitsdemokratischen Konzept widersprach. Die Ausführungen Dr. Dehlers in der einleitenden Grundsatzdebatte über die Zusammensetzung und die Kompetenzen der Länderkammer waren vom Gedanken der Machtaufteilung bestimmt und folgten damit dem konstitutionell-demokratischen Demokratieverständnis478. Zur Annäherung zwischen den beiden Fraktionen trug vor allem der Diskussionsverlauf in der Zweikammerfrage bei: Als sich herausstellte, dass ein „Halbsenat“ den Länderinteressen in der CDU/CSU-Fraktion nicht weit genug entgegenkam, und schließlich im Hauptausschuss mit Unterstützung der SPD das reine Bundesratsprinzip beschlossen wurde, sahen sich die Freien Demokraten zu einem Positionswechsel veranlasst. Sie votierten zusammen mit den Sozialdemokraten gegen die Gleichberechtigung beider Kammern im Gesetzgebungsverfahren und verzichteten damit in einem wichtigen Punkt auf die Durchsetzung der konstitutionell-demokratischen Verfassungskonzeption. Nach der Aufnahme des Bundesrates in den Entwurf bedeutete jede Kompetenzerweiterung der zweiten Kammer gleichzeitig auch eine Verstärkung des Einflusses der Länderregierungen auf die Bundespolitik. 477 A. M. Birke: Großbritannien und der Parlamentarische Rat (VjZG 42, 1994, S. 313-359) S. 318 478 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 107 f. und S. 224-229 170 Dies veranlasste wiederum die FDP, in den beiden Fragen der Zustimmungsgesetze und des Vetorechts des Bundesrats die sozialdemokratische Position einzunehmen. Die Kooperation zwischen FDP und SPD fand ihre Fortsetzung bei den Beratungen über die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes. Hier schlossen sich die Liberalen den Vorstellungen der SPD an, denen allerdings auch die Unionsfraktion zustimmte. Als ein weiterer Punkt der Übereinstimmung zwischen den beiden Fraktionen ist die Frage der Finanzverfassung zu nennen, denn der FDPFinanzexperte Dr. Höpker-Aschoff war der einflussreichste Vertreter der Bundesfinanzverwaltung im Parlamentarischen Rat. Er entwickelte bereits im Oktober 1948 vor dem Plenum für diesen umstrittenen Bereich des Grundgesetzes eine Gesamtkonzeption, welche die zukünftigen Aufgaben des Bundes in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht berücksichtigte und vom Sprecher der SPD-Fraktion uneingeschränkt unterstützt wurde479. Obwohl die Mehrheit der Unionsfraktion schließlich einer Finanzverwaltung des Bundes zustimmte, kam der Gegensatz zwischen SPD, FDP und Zentrum auf der einen Seite sowie CDU/CSU und DP auf der anderen Seite bei dieser Gelegenheit besonders deutlich zum Ausdruck. Ähnliche Positionen ergaben sich im Verlauf der Beratungen über den Umfang des Grundrechtsteils: Die Fraktionen der SPD und der FDP hielten an der informellen Absprache über die Begrenzung des Katalogs fest, während CDU/ CSU, DP sowie das Zentrum eine Erweiterung in Richtung auf die „Lebensordnungen“ anstrebten. Besonders eng war der Schulterschluss zwischen Sozialdemokraten und Liberalen bei der „Entschärfung“ der Anträge zum sogenannten Elternrecht und zur Fortgeltung des Reichskonkordats. Am Beispiel der Grundrechtsdiskussion zeigte sich allerdings auch die Grenze der Kooperation zwischen den beiden Fraktionen, denn zur Formulierung der Eigentumsbestimmungen (Art. 14 und 15 GG) haben SPD und FDP bis zum Abschluss der Beratungen unterschiedliche Vorstellungen vertreten. Die FDP-Abgeordneten im Grundsatzausschuss sprachen sich zum Beispiel gegen eine Begrenzung des Eigentumsschutzes auf das der „persönlichen Lebenshaltung oder der eigenen Arbeit dienende Eigentum“ aus, wie sie von sozialdemokratischer Seite angestrebt wurde. Die FDP war außerdem bis in die Schlussphase der Beratungen bestrebt, den Begriff der „angemessenen Entschädigung“ gegen das Votum der sozialdemokratischen Fraktion im Grundgesetz zu verankern. Als dies nicht gelang, stimmte die liberale Fraktion bei der zweiten Lesung des Plenums gegen die Art. 14 und 15 des Grundgesetzes. Nach Abschluss der Beratungen bekräftigte die FDP auf ihrem Bremer Parteitag diese Haltung und erklärte, sie werde sich „mit allen Mitteln“ dafür einsetzen, dass der Sozialisierungsartikel des Grundgesetzes in der politischen Praxis nicht zur Anwendung komme480. Als kontrovers zwischen den beiden Fraktionen der FDP und der SPD ist schließlich der gesamte Bereich der Judikative zu bezeichnen: Die Sozialdemokraten waren bestrebt, die personalpolitische Einflussnahme des Parlaments auf die „dritte Gewalt“ verfassungsmäßig festzulegen und hierdurch eine Gewaltenverschränkung von Legislative und Judikative herzustellen. Dieser mehrheitsdemokratischen Zielsetzung trat die FDP-Fraktion mit der Forderung entgegen, das Grundgesetz müsse die Eigenständigkeit der Rechtsprechung sichern und dürfe keine „Politisierung“ der Justiz zulassen. Vor allem in den Fragen der Richterwahl und der Richteranklage bestanden daher unterschiedliche Auffassungen zwischen den beiden Fraktionen. 479 Dr. Höpker-Aschoff (FDP) und Dr. Greve (SPD) im Plenum, PR Akten und Protokolle Bd. 9, S.249263 480 Beschluss Nr. 10 des Bremer Parteitages vom 11./12. Juni 1949. Text bei O. K. Flechtheim (Hrsg.): Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945, Bd. 11, S. 283 f. 171 Insgesamt zeichnet sich die Politik der FDP im Parlamentarischen Rat durch eine Revision des konstitutionell-demokratischen Standpunktes aus: Zunächst vertraten ihre Sprecher die Vorstellung einer auf Gegengewichten und ausgleichenden Einrichtungen beruhenden Demokratieform. Das Gesetz der „Polarität“ wurde von ihnen auch für die moderne Demokratie als lebenswichtig bezeichnet und auf die Ideen Montesquieus zurückgeführt. Ihr Gewaltenteilungsverständnis bezog sich allerdings vorwiegend auf die horizontale Machtaufteilung und schloss die föderalistische Gliederung nicht ein. Da das angestrebte System von „checks and balances“ auf Bundesebene eingerichtet werden sollte, ist die liberale Position im Parlamentarischen Rat insofern als zentralistisch zu bezeichnen. Im Referat Dr. Dehlers auf der siebten Plenarsitzung kommt außerdem der Wunsch zum Ausdruck, hinter die „jakobinische“ Verfassung der Weimarer Demokratie zeitlich zurückzugehen auf die Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Diese verfassungsgeschichtlichen Überlegungen waren mit der deutlichen Absicht verbunden, den Umfang der Gesetzgebungstätigkeit sowie der Staatstätigkeit insgesamt zu begrenzen. Die liberale Fraktion stand dem modernen Leistungs- und Verteilungsstaat ursprünglich skeptisch gegenüber und revidierte erst im weiteren Verlauf der Beratungen ihre Zielvorstellungen. Der Auffassungswandel der FDP in grundlegenden Fragen des Staats- und Demokratieverständnisses ist nicht zu übersehen, wenn man etwa die Ausführungen Dehlers zum Zweikammersystem vom Oktober 1948 mit seiner Begründung des FDP-Antrags zur Einführung des Präsidialsystems vom Februar 1949 vergleicht. An die Stelle des Rückgriffs auf die Großväter der liberalen Verfassungsbewegung aus den Jahren 1848/49 und vorher tritt der Hinweis, der Parlamentarische Rat habe eine Verfassung zu schaffen, „die den Aufgaben unserer Zeit gemäß ist“. Dehler warnte schließlich sogar vor einer Verfassungsschöpfung aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. Das damalige Verfassungsverständnis war nach seinen Worten der „Zeit des Biedermeiers“ angemessen, als auch die „Verhältnisse behaglich“ waren. Die neu zu errichtende Demokratie müsse jedoch den „gewaltigen Aufgaben des 20. Jahrhunderts gewachsen sein“, welche sich aus den wirtschaftlichen Folgen zweier Weltkriege, aus der Flüchtlingsfrage und aus der Zerstörung des gesellschaftlichen „Unterbaus“ ergeben hätten. Theodor Heuss erkannte diesen „Sachzwang“ bereits zu Beginn der Grundgesetzberatungen. Die Verteilung der Kompetenzen im Bundesstaat, erklärte er Anfang September 1948 im Plenum, sei „eigentlich nur eine philologische Spielerei“. Der zuständige Ausschuss werde schnell zu der Einsicht kommen, dass die deutsche Not „der große Zentralisator des deutschen Schicksals“ ist481. Die unterschiedlichen Erklärungen der liberalen Politiker im Parlamentarischen Rat finden allerdings im ambivalenten Staatsverständnis des Neoliberalismus eine Parallele: Der neuliberale Ideenkreis ist nach 1945 grundsätzlich dem Motivationsbereich der konstitutionellen Demokratie zuzurechnen, weil damals für die maßgebenden Theoretiker dieser Richtung die Begrenzung oder Auflösung gesellschaftlicher und staatlicher Machtkonzentration im Vordergrund stand. Ihre programmatischen Erklärungen zeichnen sich dementsprechend durch eine deutliche Zurückhaltung gegenüber den staatlichen Gestaltungs- und Planungsaufgaben aus. Neben dieser „antistaatlichen“ Tendenz vertraten neuliberale Autoren aber auch die Auffassung, die Verwirklichung des Ordo-Gedankens erfordere einen starken Staat, der in der Lage sei, die Bedingungen des wirtschaftlichen Wettbewerbs zu garantieren und gegebenenfalls wiederherzustellen. Die Ambivalenz der neuliberalen Staatsauffassung kommt etwa in den Arbeiten Wilhelm Röpkes zum Ausdruck, der auf der einen Seite eine möglichst weitgehende Dezentralisation der staatlichen Aufgaben und Funktionen fordert, auf der anderen Seite aber vor der „Zersplitterung“ der staatlichen Souveränität und vor der „Anarchie des Pluralismus“ warnen zu müssen glaubte482. Die Fraktion der CDU/CSU näherte sich im Verlauf der Grundgesetzberatungen ebenfalls in einigen 481 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 109 und 224; PR-Hauptausschuss, 49. Sitzung vom 9. Februar 1949 482 W. Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach/ Zürich 1942, S. 148 f., und E. E. Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, Heidelberg 1962, S. 241 ff. 172 Punkten der mehrheitsdemokratischen Verfassungskonzeption. Für die Endfassung des Grundgesetzes ist vor allem ihre Zustimmung zu den erweiterten Gesetzgebungskompetenzen des Bundes von Bedeutung gewesen. Im Bereich der Gesetzgebung verzichtete die CDU/CSU damit auf ein Gleichgewicht zwischen Bund und Ländern, obwohl ihre Sprecher Dr. Süsterhenn und Dr. Schwalber in der Grundsatzdebatte des Plenums auch die Aufteilung der legislativen Befugnisse als Bestandteil der vertikalen Gewaltenteilung bezeichneten. Der umfangreiche Katalog des Grundgesetzes zur konkurrierenden Gesetzgebung, die in Wirklichkeit als Vorranggesetzgebung des Bundes anzusehen ist, widersprach der föderalistischen Variante der konstitutionellen Demokratie mit ihrer Forderung nach einem „doppelten Balancesystem“ (Schwalber) im Bundesstaat483. Für eine Kompetenzaufteilung zugunsten der Länder hat sich der Parlamentarische Rat lediglich in Verwaltungsangelegenheiten ausgesprochen. Auch auf diesem Sektor konnte sich jedoch die CDU/CSU-Fraktion den staatlichen Aufgaben nicht ganz verschließen, denn nach interfraktionellen Beratungen im Fünferausschuss erklärte sich der größte Teil der Fraktion bereit, einer einheitlichen Bundesfinanzverwaltung zuzustimmen484. Der bevorstehende wirtschaftliche Wiederaufbau und die sozialen Probleme der Nachkriegszeit veranlassten die CDU/CSU-Fraktion demnach, ähnlich wie die Liberalen von ihrer ursprünglichen Linie abzuweichen. Unter dem Eindruck der vielfältigen Aufgaben in Gesetzgebung und Verwaltung gewann die Lenkungs- und Gestaltungsfunktion des Staates auch für die Vertreter ursprünglich entgegengesetzter Auffassungen an Bedeutung. Die Sozialdemokraten profitierten im Parlamentarischen Rat davon, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Nachkriegszeit zugunsten ihrer Verfassungskonzeption auswirkten. Bei vielen Interessengruppen (und offenbar auch in der Gesamtbevölkerung) bestand der Wusch nach einheitlichen Regelungen für nahezu alle Lebensbereiche. Das Ziel der sozialdemokratischen Fraktion, umfassende Gesetzgebungskompetenzen für den späteren Bundestag festzulegen, wurde dementsprechend im Parlamentarischen Rat auch von anderen Fraktionen übernommen und gemeinsam gegenüber den Besatzungsmächten durchgesetzt. Ihr zweites Hauptziel, ein „schlanker“ Grundrechtsteil, der die zukünftige Gesetzgebung nicht durch ein „interfraktionelles Parteiprogramm“ (Theodor Heuss) und dessen juristische Auslegung behindert, hat die SPD mit einigen Abstrichen erreicht. Die Anträge zum Elternrecht und zum Konkordat wurden mit den Stimmen der FDP und der Stimme der KPD im Hauptausschuss abgelehnt. Zu den Fragen des Eigentums einschließlich des „Gemeineigentums“ und des öffentlichen Dienstes formulierte der Parlamentarische Rat zwar Gesetzgebungskompetenzen. Die entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes unterliegen jedoch der richterlichen Auslegung. Gleichzeitig wurden die Fragen der Organisation und des Personals der Judikative der zukünftigen Parlamentsmehrheit überwiesen. Eine verbindliche Vorschrift von Richterwahl und Richteranklage für die Landesjustiz war im Parlamentarischen Rat nicht durchzusetzen. Im Bereich der „zweiten Kammer“ und des Föderalismus konnte die SPD ihr Konzept weitgehend verwirklichen. Der Wechsel vom Senats- zum Bundesratsprinzip erwies sich als taktisches Meisterstück, nachdem weitere glückliche Umstände hinzugekommen waren. Letzteres bezieht sich nicht nur auf den Wegfall der Zweidrittel-Vorschrift für die Zurückweisung des Bundesratsvetos. Von größerem Gewicht war die Einschränkung der Zustimmungsgesetzgebung als Ausgleich für die von den Besatzungsmächten oktroyierte geteilte Finanzverwaltung. Die Bundesfinanzverwaltung und die hiermit verbundene Möglichkeit des Bundeszwangs haben rückblickend offenbar doch nicht die entscheidende Bedeutung gehabt, welche ihnen Walter Menzel unter dem Eindruck der Weimarer Republik und der Ernährungsprobleme von 1946/47 zumaß. Da die Kompensation wertvoller war als der Verlust, wirkte offenbar die List der sozialdemokratischen Vernunft durch das Medium der Militärgouverneure. Menzel selbst äußerte in der Abschlussdiskussion des Parlamentarischen Rates allerdings die Befürchtung, die in 483 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 57 f. und S. 94 (Süsterhenn und Schwalber). 484 Vgl. die Abstimmung mit 18 Ja-Stimmen im PR-Hauptausschuss, 50. Sitzung vom 10. Februar 1949. 173 der Endfassung des Grundgesetzes noch enthaltenen Zustimmungsrechte des Bundesrats könnten die „reibungslose Weiterentwicklung“ hemmen485. Wenn man das Grundgesetz mit den zu Beginn des Parlamentarischen Rates erklärten Zielen vergleicht, wird man trotzdem den sozialdemokratischen Verfassungsvorstellungen den größten Anteil zubilligen. Das Grundgesetz entspricht deshalb in seiner vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Fassung weitgehend der sozialen Mehrheitsdemokratie, die in erster Linie von der SPD vertreten wurde. Die umfangreichen Gesetzgebungskompetenzen und der weitgehende Verzicht auf „Lebensordnungen“ im Verfassungstext erweiterten den Spielraum des unmittelbar gewählten Parlaments. Die politischen Entscheidungen seiner Mehrheit konnten den gesamten Bereich des wirtschaftlichen und sozialen Lebens betreffen, wenn man vom Länderreservat der Kulturpolitik einmal absieht. Die Freiheit des einzelnen sollte nach mehrheitsdemokratischer Auffassung nicht nur als Rechtsschutz, sondern auch durch die bewusste Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse gesichert werden. Der sozialen Mehrheitsdemokratie lag damit ein positiver Freiheitsbegriff zugrunde, welcher mit der „positive freedom“ in der englischen politischen Theorie seit John Stuart Mill vergleichbar ist486. Die wirtschafts- und sozialpolitische Programmatik aus dem Motivationsbereich der sozialen Mehrheitsdemokratie fand allerdings keinen Eingang in das Grundgesetz. Die gemeinwirtschaftliche Konzeption hatte, wie im ersten Kapitel ausführlicher erläutert wurde, einen ausgesprochen experimentell-pragmatischen Charakter und unterschied sich aufgrund ihrer Flexibilität bewusst vom Modell der „Staatswirtschaft“. Bereits auf Herrenchiemsee erschien es daher den Vertretern der sozialen Mehrheitsdemokratie fraglich, ob das Wirtschaftssystem überhaupt in sinnvoller Weise verfassungsmäßig festgelegt werden könne. Entsprechende Bestrebungen wären angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlamentarischen Rat auch kaum erfolgreich gewesen. Die unterschiedlichen Auffassungen bei der Formulierung der Eigentumsartikel lassen erkennen, dass dieser Versuch zumindest zwischen den beiden Fraktionen der FDP und der SPD zu starken Spannungen geführt und Rückwirkungen auf ihre Zusammenarbeit in den Fragen des Staatsaufbaus gehabt hätte. Die Problematik der sozialen Mehrheitsdemokratie lag nicht sosehr bei ihren inhaltlichen Zielen. Hier bestand ein breites Band von Lösungsvorschlägen, die von Planungsmodellen bis zur Keynes´schen Wirtschaftspolitik reichten. Kaum diskutiert wurde dagegen die Frage, ob das unmittelbar gewählte Parlament auch die ihm zugedachte zentrale Position im modernen Leistungsstaat wahrnehmen könne. Die soziale Mehrheitsdemokratie versuchte, die Erweiterung der Staatstätigkeit mit der Verstärkung des politischen Gewichts der Volksvertretung zu verbinden, während sich in anderen Staaten bereits abzeichnete, dass der politische Einfluss und die Funktionsfähigkeit des Parlaments gerade durch die Vielfalt der sozialen Aufgaben in Frage gestellt werden. Nach der Darstellung von Andrew Shonfield war zwar in der französischen planification eine weitgehende Mitsprache des Parlaments vorgesehen. Bei den drei ersten Vierjahresplänen seit 1946 wurden die Parlamentarier jedoch übergangen487. Der Machtverlust der Volksvertretung liegt zunächst in ihrer personellen Zusammensetzung begründet: Durch die große Zahl und die Komplexität der wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Einzelprobleme sind die Parlamente sowohl hinsichtlich ihrer Gesetzgebungs- als auch ihrer Kontrollaufgaben überfordert. Hiermit ist häufig ein Mangel an Informationen verbunden, und zwar an Informationen, die nicht bereits unter einem bestimmten Interessengesichtspunkt selektiert sind. Da für wichtige Bereiche der Politik ein sachlich fundierter Gesamtüberblick offenbar nur noch von Experten 485 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 523 486 G. H. Sabine: A History of Political Theory, London 1963, S. 715 und 735 ff. 487 A. Shonfield: Geplanter Kapitalismus. Wirtschaftspolitik in Westeuropa und USA, Köln 1968, S. 165 ff. 174 erstellt werden kann, ist die Delegation parlamentarischer Aufgaben an den jeweils zuständigen Kreis von Fachleuten innerhalb und außerhalb des Parlaments naheliegend. Die hiermit verbundene Bürokratisierungsproblematik wurde aber in der deutschen Diskussion nicht ausreichend berücksichtigt. Hinzu kommt das Spannungsverhältnis zwischen dem Parlamentarismus und den längerfristigen Planungen des Verteilungsstaates. Die Zusammensetzung der Parlamente sowie ihre notwendige Offenheit gegenüber dem Interesseneinfluss neigen dazu, den Erfordernissen „rationaler“ Planung zu widersprechen. Da das Modell der Mehrparteiendemokratie außerdem die Möglichkeit des Regierungswechsels einschließt, muss gegebenenfalls mit einer Änderung oder Neuformulierung der Planungsziele gerechnet werden. Der Parlamentarismus ist dementsprechend seit etwa 1945 in allen westlichen Industriegesellschaften von Tendenzen bedroht, die Maurice Duverger zusammenfassend als „Technodemokratie“ bezeichnet. Kennzeichnend für diese Demokratieform ist nach Duverger, dass das Anwachsen der öffentlichen Aufgaben im ökonomischen und sozialen Bereich nicht dem Parlamentseinfluss, sondern dem Einfluss der Regierung sowie der „neuen Oligarchie“ zugute kommt, die sich aus Verwaltungsfachleuten, Technikern und Wissenschaftlern rekrutiert488. Der Machtverlust des Parlaments ist nur bedingt auf das zunehmende Gewicht der Exekutive gegenüber der Legislative im Sinne des klassischen Gewaltenteilungsschemas zurückzuführen. Das Informations- und Spezialisierungsdefizit der Parlamentarier trifft im parlamentarischen Regierungssystem teilweise auch für die Regierung zu, da die Minister und Staatssekretäre hier in der Regel mit der Führungsgarnitur der Mehrheitsfraktionen identisch sind. Für die Problematik des modernen Parlamentarismus ist daher in erster Linie der Gegensatz zwischen bürokratischem Sachverstand und politischer Verantwortlichkeit ausschlaggebend. Dieser Sachverstand bleibt nicht auf die Staatsbürokratie begrenzt; er steht den Parlamentariern auch auf Seiten der Interessengruppen gegenüber und kann Eingang in das Parlament selbst finden. Karl Mannheim hat diese Entwicklung bereits in den Kriegsjahren mit aller Deutlichkeit gesehen. Aus der Anschauung des britischen Regierungssystems glaubte er damals jedoch die optimistische Folgerung ableiten zu können, die politische Funktion des Parlaments bleibe auch in Zukunft bestehen, weil dem „educated layman“ weiterhin die Aufgaben des Katalysators und des Schiedsrichters zwischen den divergierenden Auffassungen der Fachleute zukomme. Er schlug allerdings die Institutionalisierung eines Expertengremiums vor, das - einem obersten Gerichtshof vergleichbar - über die Vereinbarkeit von Gesetzen und Verordnungen mit der gesetzlich festgelegten Rahmenplanung entscheiden sollte489. Diese Strukturprobleme des modernen Parlamentarismus fanden in der politischen Grundsatzdiskussion nach 1945 kaum Beachtung. Bei den Verfassungsberatungen in Westdeutschland dachte man noch nicht an die Konsequenzen, welche sich aus der Erweiterung der öffentlichen Aufgaben für die Stellung des Parlaments im Verfassungssystem ergeben sollten. Die Vertreter der mehrheitsdemokratischen Konzeption betrachteten die Parlamentsmehrheit und die Regierung als eine Einheit, deren Funktionsfähigkeit allenfalls durch äußere Einflüsse bedroht schien. Das Verhältnis von Parlament und Exekutive wurde in der Nachkriegsdiskussion vorwiegend unter verfassungstechnischen Gesichtspunkten betrachtet. Als Vorlage für die Neuordnung dieses Verhältnisses dienten den Nachkriegspolitikern die Erfahrungen der Weimarer Republik und nicht die Verfassungspraxis der westlichen Demokratien. Der hier deutlich werdende Mangel an Problembewusstsein ist an erster Stelle auf die fehlende parlamentarische Praxis zur Zeit des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zurückzuführen. Während sich andere Parlamente bereits seit der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahren mit der Planung und Lenkung nahezu aller Lebensbereiche befassten, verblieb dem nationalsozialistisch besetzten Reichstag des „Großdeutschen Reiches“ lediglich die Pflicht der gelegentlichen Akklamation zu Hitlers Kriegsplanung. 488 M. Duverger: Demokratie im technischen Zeitalter. Das Janusgesicht des Westens, München 1973, insbes. S. 185 ff. 489 K. Mannheim: Freedom, Power and Democratic Planning, London 1950, S. 112 f. 175 Auch nach 1945 ergab sich in diesem Punkte zunächst keine grundlegende Änderung: Die frühe Einrichtung von Länderparlamenten und der Aufbau von überregionalen Repräsentativorganen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor Konstituierung der Bundesrepublik kein arbeitsfähiges parlamentarisches Regierungssystem in Westdeutschland bestand. Aufgrund der weitreichenden Befugnisse der Militärregierungen sowie der nachgeordneten Behörden waren die deutschen Politiker von der unmittelbaren Verantwortung für den Bereich der Wirtschafts-, Ernährungs- und Sozialpolitik weitgehend ausgeschlossen. Den Nachkriegsparlamentariern fehlte daher die praktische Erfahrung mit den Problemen, die sich aus der Erweiterung der Staatsaufgaben für die Parlamentstätigkeit ergaben. Trotz dieser Einschränkungen hat die mehrheitsdemokratische Konzeption einen maßgebenden Beitrag zur Modernität des Grundgesetzes geleistet. Die Verfassung der Bundesrepublik konnte später durch verhältnismäßig geringe Änderungen im Bereich der Gesetzgebungszuständigkeiten und der Finanzverfassung den sich wandelnden Lebensbedingungen angepasst werden. Eine zusammenfassende Beurteilung des Einflusses der konstitutionellen Demokratie auf das Grundgesetz wird zunächst auf ihre Zielsetzung zurückgreifen, eine allgemeine Begrenzung der öffentlichen Aufgaben und der Staatstätigkeit zu erreichen. Dieser Programmpunkt wurde in den Nachkriegsjahren vor allem von der neuliberalen und christlich-sozialen Publizistik vertreten. Der konstitutionellen Demokratie, wie man sie in den Jahren 1946/47 formulierte, entsprach ein auf wenige Aufgaben beschränkter und gesellschaftspolitisch neutraler Staat. Er sollte als Rahmen dienen für eine weitgehend sich selbst regelnde Gesellschaft, die entweder nach dem Prinzip der liberalistischen Marktordnung oder auf der Grundlage der Lebens- und Leistungsgemeinschaften im Sinne des Subsidiaritätsgedankens strukturiert war. Bei den Verfassungsberatungen in den Ländern spielten diese Vorstellungen noch eine Rolle; spätestens auf Herrenchiemsee zeigte sich jedoch, dass sie die zukünftige Bundesverfassung kaum beeinflussen würden. Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates haben schließlich auch die Vertreter der konstitutionellen Demokratiekonzeption die Idee der begrenzten Staatstätigkeit zugunsten sozialstaatlicher Vorstellungen aufgegeben. Gegen den Freiheitsbegriff des Konstitutionalismus wird häufig der Einwand erhoben, er laufe auf die Abwesenheit von Regierungseinfluss hinaus und vernachlässige die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für die freie Entfaltung des Bürgers. Die konstitutionelle Demokratie kann in diesem Punkt als eine konservative Demokratieform bezeichnet werden, welche in ihrer ursprünglich vertretenen Fassung den Anforderungen des modernen Leistungsstaats nicht entsprach. Diese Kritik wird jedoch durch den Verlauf der Grundgesetzberatungen kaum bestätigt. Die Begrenzung der Staats- und Regierungstätigkeit war im Parlamentarischen Rat nicht mehr das maßgebende Motiv der konstitutionell-demokratischen Konzeption. An erster Stelle stand vielmehr der Gedanke der Machtaufteilung mit Hilfe von „checks and balances“ im Verfassungssystem. Die Vertreter der „konstitutionellen Demokratie“ waren bei den Grundgesetzberatungen bestrebt, trotz ihrer Zustimmung zu umfassenden Staatsaufgaben das machtverteilende Prinzip in der Verfassung zu verankern. Diese Zielsetzung bildet die Grundlage für das Verständnis der Auseinandersetzungen über die Länderkammer und ihre Rechte, über Verwaltungskompetenzen des Bundes sowie über die Besetzung und die Stellung der Gerichte. Montesquieu wurde von den Vertretern der konstitutionellen Demokratieauffassung mehrfach zitiert, aber sehr frei interpretiert. Der Autor des „Esprit des lois“ wollte z. B. die Rechtsprechung an Volksrichter oder Standesrichter übertragen, die nur für einen kurzen Zeitraum ernannt werden. Die konstitutionell-demokratische Argumentation forderte dagegen den beamteten Richter ohne Richterwahl und Richteranklage. Die Judikative war im Rahmen dieser Demokratiekonzeption keineswegs „en quelque façon nul“490. Montesquieu versuchte, die sozialen Kräfte seiner Zeit in sein nach englischem Vorbild errichtetes Verfassungsmodell einzubauen. Er sprach sich deshalb für die Monarchie und für die Einrichtung einer 490 Montesquieu: Esprit des lois, XI, 6. 176 Adelskammer neben der Volkskammer aus. Hieran könnte man die Frage anschließen, ob auch die Vertreter der konstitutionellen Demokratie den Einfluss gesellschaftlicher Faktoren im Grundgesetz absichern wollten. Im Bereich der Judikative beabsichtigten sie offenbar die Restauration einer insgesamt stark kompromittierten Richterschaft. Der FDP - Abgeordnete Dr. Dehler wandte sich nicht nur im Parlamentarischen Rat gegen die Einflussnahme der Parlamente auf Personalentscheidungen in der Justiz, sondern befand sich als Generalstaatsanwalt, Anklagevertreter im Entnazifizierungsverfahren und als Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg seit 1946 in der gleichen Frage im Dauerkonflikt mit der amerikanischen Besatzungsmacht491. Die Diskussion über die Zusammensetzung der Länderkammer hatte ebenfalls einen sozialen Hintergrund. Die Anhänger eines Senats, zu denen anfangs auch Carlo Schmid gehörte, hofften, dass besonders qualifizierte Politiker in diese Kammer gewählt würden. Die Motive der Bundesrats-Anhänger dagegen wurden bei dem bereits erwähnten Besuch Adenauers in München am 8. November 1948 deutlich ausgesprochen: Der bayerische Ministerpräsident Ehard erklärte nach dem Bericht Adenauers, den „Geheimnissen“ der zukünftigen Bundesregierung komme weder der einzelne Senator noch das einzelne Mitglied des Bundesrats auf die Spur. Hierzu sei nur die Länderbürokratie in der Lage492. Die politische Absicht der Befürworter der Bundesratslösung war demnach die Kontrolle des zentralen Regierungsapparats durch die Länderbürokratien. Offenbar hielten sie die „checks and balances“ zwischen Verwaltungen für besonders wirksam. Die Auseinandersetzung im Parlamentarischen Rat über das Vetorecht des Bundesrates und den Umfang der Zustimmungsgesetzgebung deuten in die gleiche Richtung: Die Landesregierungen strebten in erster Linie die Mitwirkung bei Bundesratsentscheidungen an. Durch die Konstruktion des Bundesrates bilden die Länder ein wichtiges Element der horizontalen Gewaltenteilung, d. h. der Gewaltenteilung auf Bundesebene. Eigenständige Landeskompetenzen spielten im Parlamentarischen Rat nur eine untergeordnete Rolle. Nach dem Grundgesetz besteht die vertikale Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern vorwiegend auf dem Verwaltungssektor, denn das Gesetzgebungsrecht der Länder blieb auf drei politisch relevante Bereiche begrenzt: auf kulturelle Angelegenheiten sowie Fragen des Polizei- und Kommunalrechts. Die horizontale Gewaltenteilung auf Bundesebene wurde nach der Verabschiedung des Grundgesetzes weiter ausgebaut: Die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts als Gegengewicht zur Parlamentsmehrheit und zu anderen Staatsorganen kam z.B. im Parlamentarischen Rat kaum zur Sprache: Da alle Fraktionen bis auf die KPD nach den Weimarer Erfahrungen von der Notwendigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit überzeugt waren, richtete sich ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Zusammensetzung des Gerichtshofs und seine Abgrenzung von der obersten Bundesgerichtsbarkeit. Nachdem man sich hierbei auf den Kompromiss geeinigt hatte, die Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit dem zukünftigen Gesetzgeber zu überlassen, bestand im Parlamentarischen Rat kein unmittelbares Interesse mehr daran, die Stellung des Gerichts im Gewaltenteilungssystem in die Grundsatzdiskussion einzubeziehen. Das Bundesverfassungsgericht wurde deshalb erst 1951 durch den ersten Bundestag eingerichtet. Zur personellen Besetzung des Gerichts standen sich bei der Vorbereitung des entsprechenden Gesetzes die gleichen Positionen wie im Parlamentarischen Rat gegenüber: Die Regierungsparteien forderten für alle Mitglieder die Befähigung zum Richteramt, während die sozialdemokratische Opposition der Ansicht war, hierdurch werde der politische Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit in Frage gestellt. Der Sprecher der CDU/CSU im Rechtsausschuss, Dr. Kiesinger, befürwortete die überwiegende Rekrutierung 491 U. Wengst: Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 84-98. 492 Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, eingel. und bearb. von R. Salzmann, Stuttgart 1981, S. 145; K.-U. Gelberg: Hans Ehard...S. 222. 177 der Verfassungsrichter aus der Beamtenschaft, weil damit ein gewisser Schutz vor dem Einfluss von Interessengruppen verbunden sei. Die sozialdemokratische Fraktion erblickte hierin eine „Verbeamtung“ des Bundesverfassungsgerichts mit negativen Folgen. Als die SPD für die „anderen Mitglieder“ des Gerichts eine Wahlperiode vorschlug, welche sich mit derjenigen des Bundestages deckte, kamen die Differenzen noch deutlicher zum Ausdruck: Nach Ansicht der CDU/CSU-Fraktion war bei dieser Regelung die Unabhängigkeit des Gerichts gefährdet, weil sich die nichtrichterlichen Mitglieder als Exponenten des Parlaments betrachten würden. Das Verfassungsgericht könne auf diese Weise zu einem Parlamentsausschuss werden, der die dort herrschenden Mehrheitsverhältnisse reproduziere493. Obwohl die Vertreter der konstitutionell-demokratischen Vorstellungen aus der ersten Bundestagswahl als Sieger hervorgingen, blieb demnach ihr Vorbehalt gegen den „Parlamentsabsolutismus“ bestehen. Der Gegensatz zwischen den Konzeptionen der sozialen Mehrheitsdemokratie und der konstitutionellen Demokratie war auch nach der Verabschiedung des Grundgesetzes noch politisch wirksam. Seit den fünfziger Jahren entwickelte sich das Verfassungsgericht als ein machtvolles Gegengewicht zur Parlamentsmehrheit im konstitutionell - demokratischen Sinne. Heinz Laufer führt in seiner Untersuchung die einflussreiche Position dieser in Deutschland neuartigen Einrichtung auf die allgemeine Entwicklung moderner Verfassungsstaaten sowie auf die historische Vorbelastung der deutschen Demokratie zurück. Die „Massendemokratie“ könne auf diesen „Beständigkeitsfaktor“ nicht verzichten, und mit zunehmender Staatstätigkeit erhalte die richterliche Garantie der Freiheitsrechte erhöhte Bedeutung. In Deutschland würden diese Faktoren außerdem durch den Mangel an demokratischer Tradition und durch die Reaktion auf das nationalsozialistische Herrschaftssystem ergänzt494. 2. Verbundföderalismus Das politische Gewicht des Bundesrates nahm nach der Konstituierung der Bundesrepublik ebenfalls zu. Durch eine Reihe von Grundgesetzänderungen erhielt der Bund zusätzliche Gesetzgebungskompetenzen, die der Parlamentarische Rat noch nicht vorgesehen hatte und zum Teil auch nicht vorhersehen konnte. Die Länder stimmten dieser Zentralisierung der politischen Entscheidungen unter der Bedingung zu, dass entsprechende Gesetze nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen werden. Auf diese Weise erhöhte sich der Anteil der Zustimmungsgesetze auf nahezu 60 %, während in der ersten Legislaturperiode des Bundestages nur ca. 43 % der Gesetze zustimmungspflichtig waren. In der Verfassungspraxis der Bundesrepublik haben die Verwaltungskompetenzen des Bundesrates dazu beigetragen, den Bereich der Zustimmungsgesetze beträchtlich zu erweitern. Als „Einfallstor“ für den zunehmenden Einfluss der zweiten Kammer auf die Gesetzgebung erwies sich vor allem Art. 84 Abs. 1 des Grundgesetzes: Falls demnach ein Bundesgesetz gleichzeitig auch Bestimmungen über seine Ausführung durch die Länder enthält, ist hierzu die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Die Landesregierungen haben sich im Sinne der „Mitverantwortungstheorie“ auf den Standpunkt gestellt, das Zustimmungsrecht der zweiten Kammer beziehe sich immer auf das gesamte Gesetz und nicht etwa nur auf die Bestimmungen über die verwaltungsmäßige Durchführung. Der Bundesrat vertrat dementsprechend auch die Auffassung, dass die Änderung eines zustimmungspflichtigen Gesetzes ebenfalls seiner Zustimmung bedarf. Diese Auffassung wurde 1974 zwar vom Bundesverfassungsgericht 493 Vgl. die Darstellung bei H. Laufer: Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß. Studien zum Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1968..S. 115 f.; D. P. Kommers: Judicial Politics in West Germany, Beverly Hills 1976, S.78-82; D. Gosewinkel: Adolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie 1945-1961, Bonn 1991, S. 181 ff. sowie die Dokumentation: Grundlegung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, bearb. von R. Schiffers, Düsseldorf 1984 494 H. Laufer: Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß...., S. 19 ff. 178 korrigiert. Aufgrund der engen Verbindung von Gesetzgebung und administrativer Durchführung nimmt jedoch der politische Einfluss der Länderkammer zu. Der Bundesrat hat auf diesem Wege praktisch die Gleichberechtigung im Gesetzgebungsverfahren zurückgewonnen und sich zu einer „echten zweiten Kammer“ entwickelt. Er nimmt inzwischen im Verfassungssystem eine Position ein, welche über den Schutz der Länderinteressen weit hinausreicht. Die Verbindung zwischen den zunehmenden Zentralisierungstendenzen und dem Machtzuwachs der Länderkammer erscheint auf den ersten Blick paradox, ist aber aufgrund der oben gegebenen Darstellung bis in den Parlamentarischen Rat hinein zurückzuverfolgen Die Vertreter der konstitutionellen Demokratie haben sich bei den Grundgesetzberatungen immer für die „politische Funktion“ der zweiten Kammer ausgesprochen. Unter Berücksichtigung der im Parlamentarischen Rat vertretenen Demokratiekonzeptionen bedeutet die Erweiterung der Zustimmungsgesetzgebung, ähnlich wie der Aufbau der Verfassungsgerichtsbarkeit, eine Verschiebung des Grundgesetzkompromisses in Richtung konstitutionelle Demokratie. Verstärkt wurden allerdings nur die „checks and balances“ auf Bundesebene, d.h. die sogenannte horizontale Gewaltenteilung. Die Forderung nach der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ hatte zur Folge, dass die politischen Gestaltungsmöglichkeiten auf der Länderebene weiter abnahmen495. Der Kompromiss zwischen den beiden Demokratiekonzeptionen im Parlamentarischen Rat führte damit zu einer Neuauflage des traditionellen deutschen „Verbundföderalismus“. Bei den Grundgesetzberatungen war unbestritten, dass die Länder den größten Teil der Bundesgesetze ausführen, während der Bund für den weitaus größten Teil der Gesetzgebung zuständig ist. Der deutsche Bundesstaat beruhte seit der Reichsgründung Bismarcks auf dieser Arbeitsteilung und auf der hiermit verbundenen Kooperation zwischen Bund (Reich) und Ländern. Die amerikanische Besatzungsmacht und insbesondere Militärgouverneur Clay hatten aber offenbar den eigenen, sogenannten dualen Föderalismus vor Augen. Dieser beruht auf der Trennung von Bundes- und Länderebene, so dass mit der Gesetzgebungszuständigkeit auch die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit der gleichen Ebene zugeordnet ist. Der US-amerikanische Bundesstaat beeinflusste auch die politikwissenschaftliche Modellbildung: Das „föderative Prinzip“ bedeutet nach der Föderalismus-Interpretation von K. C. Wheare eine Methode der Machtverteilung, der zufolge die Zentralinstanz und die Länder in einem jeweils abgegrenzten Bereich gleichgeordnet und voneinander unabhängig bleiben496. Dieses Trennsystem zwischen Bund und Ländern ist jedoch nicht die allein mögliche Form des Föderalismus, denn auch in der Schweiz werden die Bundesgesetze größtenteils von den Kantonen ausgeführt. Die verwaltungsmäßige Durchführung von Bundesgesetzen durch die Länder hat bisher in der Bundesrepublik kaum zu Problemen geführt. Selbst die im Parlamentarischen Rat so heftig umstrittene geteilte Finanzverwaltung mit den Oberfinanzdirektionen als Mittelinstanz funktioniert497. Die Aufteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern nach dem Grundgesetz war schon problematischer, weil der Parlamentarische Rat die wirtschaftliche Entwicklung und das zukünftige Steueraufkommen noch nicht abschätzen konnte. Er legte deshalb nur eine vorläufige Steuerverteilung zwischen Bund und Ländern fest. Die „endgültige Verteilung“ sollte bis Ende 1952 durch ein Gesetz mit Zustimmung des Bundesrats geregelt werden. Beginnend mit dem „ersten Inanspruchnahmegesetz“ von 1951, durch das der Bund einen Teil der Einkommens- und Körperschaftssteuer erhielt, wurden jedoch zahlreiche Verteilungsgesetze verabschiedet, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs endgültig 495 Zum gegenwärtigen Stand H. Laufer / U. Münch: Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1997, S. 129 ff. 496 J. F. Golay: The Founding of the Federal Republic of Germany, Chicago 1958. S. 27 ff. und S. 44; K. C. Wheare: Föderative Regierung, München 1959, S. 10 f., 16, 36 und 40 497 W. Renzsch: Finanzverfassung und Finanzausgleich, Bonn 1991, S.74 179 sind. Hinzu kamen mehrere Änderungen der Steuerverteilung im Grundgesetz (Art. 106 GG). Die Einigung zwischen Bund und Ländern gelang in der Regel erst nach harten Verhandlungen. Walter Menzels „Bundeszwang“ wurde hierbei mehrfach in abgeschwächter Form angewandt: Der erste Bundesfinanzminister Schäffer (CSU) drohte z.B. 1951 mit der Stornierung von Bundeszuschüssen und zog damit die „ärmeren“ Länder auf seine Seite498. Ein weiterer Problembereich des Verbundföderalismus deutscher Prägung ist der Finanzausgleich zwischen den Bundesländern. Der Parlamentarische Rat konnte nicht umhin, einen derartigen Ausgleich vorzusehen, weil dieser angesichts der unterschiedlichen Belastung der Länder mit den Kriegsfolgen des Zweiten Weltkriegs notwendig war. Schleswig-Holstein z.B., das eine besonders große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen hatte, wurde seit Oktober 1948 von den anderen Ländern der Bizone mit monatlichen Krediten in Höhe von 6 bis 13 Millionen DM vor dem finanziellen Zusammenbruch bewahrt. Dem Parlamentarischen Rat gelang es sogar, gegen den Willen der Militärgouverneure eine vergleichsweise zentralistische Variante des Finanzausgleichs zwischen den Ländern durchzusetzen: Der Bund konnte nach der verabschiedeten Fassung von Art. 106, Abs. 4 des Grundgesetzes per Zustimmungsgesetz die den Ländern zufließenden Steuern abweichend vom örtlichen Aufkommen verteilen. Die Besatzungsmächte hatten im Prinzip keine Einwände gegen den Finanzausgleich. Sie befürworteten jedoch eine entsprechende Vereinbarung zwischen den Ländern ohne Mitwirkung des Bundes. Vor allem der amerikanische Militärgouverneur Clay wandte sich dagegen, dass das „federal government may transfer tax revenues from a prosperous state to a poor state“499. Der aus der Not der Nachkriegsjahre geborene Finanzausgleich wurde in den folgenden Jahrzehnten mehr und mehr perfektioniert. Gegenwärtig handelt es sich um drei Ausgleichssysteme (Länderfinanzausgleich, Ergänzungszuweisungen des Bundes, Umsatzsteuerausgleich), die wegen ihrer Kompliziertheit in Parlamenten und Medien kaum noch zu vermitteln sind. Der Ausgleich hebt die Finanzkraft der finanzschwachen Länder auf 95 % des durchschnittlichen Niveaus. Er leistet damit einen maßgebenden Beitrag zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ - wie es im aktuellen Text des Grundgesetzes heißt. Andererseits werden jedoch die Eigenverantwortlichkeit der Länder und den Wettbewerb innerhalb des föderalistischen Systems auf ein Mindestmaß reduziert500. Als wichtigste Ursache für die spezifisch deutsche Form des Verbundföderalismus erweist sich damit die Forderung nach einheitlichen Lebensverhältnissen. Im Parlamentarischen Rat kam dieser Zusammenhang am Beispiel der Steuergesetzgebung besonders deutlich zum Ausdruck. Das vom HerrenchiemseeKonvent vorgesehene Zuschlagsrecht der Länder zur Einkommensteuer wurde, wie geschildert, im Parlamentarischen Rat abgelehnt. Die Besatzungsmächte hatten hierzu andere Vorstellungen. Diese grundsätzlichen Auffassungsunterschiede kamen z.B. in einem Gespräch Carlo Schmids mit dem bei der Militärregierung tätigen amerikanischen Rechtsanwalt David S. Miller deutlich zum Ausdruck, das am 28. Februar 1949 stattfand. Schmid erläuterte seinem amerikanischen Gast den Entwurf des Parlamentarischen Rats zur Finanzverfassung. Miller entgegnete, als Rechtsanwalt in Colorado müsse er Einkommensteuer sowohl an das Land als auch an den Bund zahlen. Weshalb dies in Deutschland nicht möglich sei. Schmid schloss diese Variante, die auch im föderalistischen System der Schweiz praktiziert wird, aus. Eine doppelte Besteuerung sei in Deutschland nicht tragbar501. 498 W. Renzsch a. a. O., S. 79 f. 499 PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 122 f. und 164 f.; J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General Lucius D. Clay. Germany 1945-1949, Vol. II., Bloomington-London 1974, S. 1067. 500 H. Laufer/ U. Münch: Das föderative System...S. 167 ff. 501 Aufzeichnung C. Schmid vom 28. 2. 1949 (NL C. Schmid 1162 - AdsD) 180 Die Forderung nach einheitlicher Besteuerung war aus der Sicht der sozialen Mehrheitsdemokratie ein folgerichtiger Standpunkt. Im Parlamentarischen Rat gab es aber Anzeichen dafür, dass die Finanzexperten der FDP und der CDU/CSU diese Auffassung nur für die Nachkriegssituation gelten lassen wollten. Dr. Höpker-Aschoff (FDP) erklärte bereits in der Aussprache des Plenums über Finanzfragen im Oktober 1948, wenn die Steuerlast aufgrund einer besseren wirtschaftlichen Entwicklung in Zukunft gesenkt werde, hätten die Länder „eine größere Bewegungsfreiheit“. Sie könnten dann Steuerzuschläge für sich oder ihre Gemeinden erheben. Der Finanzexperte der FDP wiederholte diese Auffassung bei Gesprächen mit alliierten Finanzexperten nach der Intervention der Militärgouverneure im März 1949. „Im Augenblick“ sei aber die Einführung eines neuen Steuersystems unmöglich, denn man müsse „aus einem verarmten Volk ... eine Steuerlast von 14 Milliarden“ herausholen. Ähnliche Überlegungen äußerte der Finanzexperte der CDU/CSU, Dr. Paul Binder, vor der Unionsfraktion des Parlamentarischen Rates. Er sprach im September 1948 von den „heutigen überspannten Steuergesetzen“ und meinte, bei „normalen Steuergesetzen“ könne man den Ländern ein Zuschlagsrecht geben. Die CDU/CSU stellte in der zweiten Lesung des Hauptausschusses auch den Antrag, einen Zuschlag der Länder zur Einkommenssteuer im Grundgesetz vorzusehen. Der Vorschlag wurde jedoch mit 11 zu 9 Stimmen abgelehnt. Offenbar fanden die Unionsvertreter nur Unterstützung bei Dr. Seebohm von der Deutschen Partei, während SPD, FDP und das Zentrum gegen das Zuschlagsrecht stimmten502. Obwohl die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik sich bereits in den fünfziger Jahren in einer Weise verbesserte, die man zur Zeit der Grundgesetzberatungen nicht erwarten konnte, wurden die Weichenstellungen des Parlamentarischen Rates beibehalten. Man verzichtete auf eine Begrenzung des Finanzausgleichs und auf ein eigenständiges Besteuerungsrecht der Länder im Bereich der Einkommenund Körperschaftssteuer, obwohl die Länder diese Forderung bereits bei der Steuerreform von 1955 anmeldeten. Entsprechendes gilt für die Gesetzgebung: Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und die Zustimmungspflicht des Bundesrates nahmen seit Gründung der Bundesrepublik zu. Die Zeiten wirtschaftlicher Prosperität wurden nicht genutzt, um die Tendenz zur Vereinheitlichung rückgängig zu machen und die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Länder zu erweitern. Der „Verbundföderalismus“ der Bundesrepublik entwickelte sich auf diese Weise zum „unitarischen Bundesstaat“, den Konrad Hesse im Jahre 1962 wie folgt charakterisierte: Wirtschaft, Technik und Verkehr verlangen in modernen Gesellschaften großräumige Regelungen. Die Entwicklung zum Sozialstaat drängt in die gleiche Richtung und erforderte angesichts der Folgen des Zweiten Weltkrieges die Rechts- und Versorgungsgleichheit im gesamten Bundesgebiet. Hinzu kamen der zunehmende Einfluss des Bundes auf die Verwaltungstätigkeit der Länder und die zunehmende Selbstkoordination der Länder auf Gebieten, wo sie noch Entscheidungsbefugnisse besitzen. Das Hauptargument Hesses lautet, hierbei handele es sich nicht um eine Zentralisierung, sondern um Unitarisierung. Zentralisierung läge vor, wenn die Länder Einfluss und Zuständigkeiten an die Zentralregierung abgeben würden. Dies sei aber nicht der Fall, weil die Landesregierungen über den Bundesrat ein Mitwirkungsrecht besitzen, das seit der Entstehung der Bundesrepublik erheblich erweitert wurde. Der unitarische Bundesstaat zeichnet sich deshalb durch die Teilhabe der Länder, bzw. ihrer Regierungen an der horizontalen Gewaltenteilung aus. Zur Parlamentsmehrheit einschließlich ihrer Regierung, zur Opposition und zur rechtssprechenden Gewalt trete der Bundesrat als eine weitere reale politische Kraft hinzu. Aus diesem Modell lässt sich zunächst ableiten, dass die alte Vorstellung vom Föderalismus als Integrationsprinzip unterschiedlicher territorialer Einheiten zumindest auf nationaler Ebene ihre „geschichtswirksame Kraft“ verloren hat. Außerdem kommt Hesse zu dem Schluss, dass der unitarische Bundesstaat durchaus auch Sozialstaat sein könne. An dieser Stelle wird bereits deutlich, wie weitgehend 502 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 249-277 sowie Bd. 8, S. 169; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat... S. 612; PR-Hauptausschuss, 41. Sitzung vom 15. 1. 1949. 181 die Überlegungen des Parlamentarischen Rates das Modell des unitarischen Bundesstaats vorwegnahmen. Dies gilt auch für Hesses Feststellung, die „realen Kräfte“ im Bundesrat seien die „Landesministerialbürokratien“. Zumindest beim bayerischen Ministerpräsidenten Ehard und in der CSU lässt sich dies als Grund für die Durchsetzung des Bundesrates nachweisen. Der unitarische Bundesstaat geht demnach auf die im Grundgesetz enthaltenen konstitutionell-demokratischen Elemente zurück. Die horizontale Gewaltenteilung wurde allerdings später durch erweiterte Mitspracherechte des Bundesrates und des Bundesverfassungsgerichts verstärkt. Die These Hesses, dass sich unitarischer Bundesstaat und Demokratie „einander ergänzen, bedingen und stützen“ ist allerdings mit einem kleinen Fragezeichen zu versehen. Die Unitarisierung geht zumindest auf Kosten der Länderparlamente. Nach den Worten eines Kritikers des Verbundföderalismus besteht sogar die Gefahr, dass „sich der Demos in Staat, Land oder Gemeinde in einem Netz von Verträgen verfängt, das er selbst fleißig mitgesponnen hat“503. Der Parlamentarische Rat hat zu dieser Entwicklung seinen Teil beigetragen. Er hat aber auch Wege zu einer verstärkten Eigenverantwortlichkeit der Länder aufgezeigt, die man nach Überwindung der Nachkriegskrise hätte gehen können. Unter den Bedingungen des Wirtschaftswunders wurde jedoch die einmal eingeschlagene Richtung nicht geändert. Die gleichwertigen Lebensverhältnisse blieben weiterhin das oberste Ziel der Bundes- sowie der Landespolitik. Zwar werden in jüngster Zeit Stimmen laut, die eine Umkehrung dieses Trends zugunsten größerer Gestaltungsmöglichkeiten der Länder fordern. Ob entsprechende Schritte von der Wählerschaft akzeptiert würden, ist jedoch fraglich. Die Folgeprobleme der deutschen Einigung sowie das vorläufige Ende der Einkommenssteigerungen und der Vollbeschäftigung deuten eher in die entgegengesetzte Richtung. Hesse berücksichtigt auch die Rolle der Parteien im unitarischen Bundesstaat. Da in den Ländern selbst keine wesentlichen politischen Entscheidungen mehr getroffen werden , sind diese für die Parteien vorwiegend unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die Bundespolitik von Interesse . Sie geben der Opposition auf Bundesebene die Chance, in den Ländern Regierungspartei zu sein. Das Problem einer Oppositionsmehrheit im Bundesrat hielt er jedoch nicht für gegeben, da zu dieser Zeit (1962) offenbar „wirksame politische Opposition im Hafen einer Allparteienregierung ihr Ende gefunden“ hatte. Im Parlamentarischen Rat wurde diese Frage aber durchaus diskutiert. Konrad Adenauer lehnte die Einrichtung eines Bundesrats mehrfach mit dem Argument ab, dort drohe eine Mehrheit der SPD. Am 28. Oktober 1948 rechnete er der Unionsfraktion vor, das „gentleman´s agreement“ zwischen dem SPDAbgeordneten Menzel und dem bayerischen Ministerpräsidenten Ehard werde zur Folge haben, dass die SPD in einem Bundesrat über neun von 16 Stimmen verfügt. Einen Monat später erklärte er, auch bei einer abgestuften Stimmenzahl der Länder müsse man mit einer Mehrheit der „sozialdemokratischen Kabinette“ rechnen und fügte hinzu: „Das ist meiner Meinung nach der schwächste Punkt am Ganzen“504. 3. Das Votum für eine pluralistische, soziale und repräsentative Demokratie Als Ausgangspunkt für eine systematische Interpretation des Grundgesetzes und der vom Parlamentarischen Rat festgelegten Demokratieform bieten sich die Beratungen zur Grundrechtsproblematik an. Ihr Verlauf wurde von der ursprünglichen Vereinbarung der drei großen Fraktionen bestimmt, den Umfang des Grundrechtsteils auf rechtswirksame Individualrechte zu begrenzen. Der Parlamentarische Rat hatte allerdings bei seinen Beratungen, wie bereits erwähnt, in einigen Punkten seine ursprüngliche Linie verlassen. Ungeachtet dieser Abweichungen von der ursprünglichen Absicht ist jedoch der Verzicht des Verfassungsgebers auf programmatische Bestimmungen zur Sozial- und 503 K. Hesse: Der unitarische Bundesstaat, Karlsruhe 1962, S. 12-34; G. Kisker: Kooperation im Bundesstaat. Eine Untersuchung zum kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1971, S. 117 504 K. Hesse, a.a.O., S. 13 und 29 f.; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S.93 f. und 189 182 Wirtschaftsordnung nicht zu übersehen. Das Grundgesetz enthält keine Abschnitte, die mit dem fünften Abschnitt im zweiten Teil der Weimarer Reichsverfassung oder mit den entsprechenden Passagen der Länderverfassungen nach 1945 vergleichbar sind. Auch der sogenannte Sozialisierungsartikel des Grundgesetzes (Art. 15), welcher die Überführung in Gemeineigentum und andere Formen der Gemeinwirtschaft zum Gegenstand hat, bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die Entstehungsgeschichte zeigt vielmehr, dass er von seinen Befürwortern nicht als Programmsatz, sondern vielmehr als eine in den Grundrechtsteil vorgezogene Zuständigkeitsermächtigung für den Gesetzgeber verstanden wurde. Er ist damit von der Intention her mit den Gesetzgebungsvorbehalten zu vergleichen, die das Grundgesetz z. B. in Art. 12 für die Freiheit der Berufsausübung und in Art. 14 für die Inhaltsbestimmung des Eigentums ausspricht. Für die Begrenzung des Grundrechtsteils und für den Verzicht des Parlamentarischen Rates auf eine verfassungsmäßige Regelung der Wirtschafts- und Sozialordnung waren - wie die Darstellung im vierten Abschnitt des sechsten Kapitels zeigt - mehrere Gesichtspunkte ausschlaggebend. Auf der einen Seite spielten Koalitionsrücksichten der Fraktionen eine Rolle: Zumindest die Zusammenarbeit zwischen FDP und SPD wäre empfindlich gestört worden, wenn man die wirtschaftspolitischen Grundsatzfragen im Parlamentarischen Rat ausführlich diskutiert hätte. Hinzu kamen taktische und zeitliche Überlegungen, die sich vor allem auf die Verhandlungsführung der sozialdemokratischen Fraktion auswirkten. Die SPD drängte auf einen schnellen Abschluss der Grundgesetzberatungen, weil sie im Falle einer späten Bundestagswahl ihre Wahlchancen geringer einschätzte. Mit diesem Kalkül gewannen die Politik des Zweizonenwirtschaftsrats, wo eine Koalition zwischen CDU/CSU und FDP bestand, sowie die positivere Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung in weiten Kreisen der Bevölkerung ab Jahresbeginn 1949 Einfluss auf die Überlegungen des Parlamentarischen Rates. Nicht zu unterschätzen für den Verlauf der Beratungen zum sozialpolitischen Gehalt des Grundgesetzes sind drittens die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit und aus Hessen, weil sie zeigten, dass die Programmsätze nur durch eine entsprechende Gesetzgebung zu verwirklichen sind. Außerdem können die Bestimmungen eines um die „Lebensordnungen“ erweiterten Grundrechtsteils von der Rechtsprechung sehr unterschiedlich und zum Teil im Widerspruch zu den Intentionen des Verfassungsgebers interpretiert werden. Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn die sogenannten sozialen Grundrechte als Kompromissformulierung zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen in die Verfassung aufgenommen werden. Die nicht abzusehenden rechtlichen Konsequenzen veranlassten zum Beispiel die sozialdemokratische Fraktion, die Streichung des Streikrechts aus dem Grundrechtsteil zu beantragen. Hiermit wird die auf den ersten Blick paradoxe These Hartwichs bestätigt, die beiden großen Fraktionen des Parlamentarischen Rates hätten auf eine verfassungsmäßige Festlegung der Sozial- und Wirtschaftsordnung verzichtet, weil sie diesen Fragen eine besonders große Bedeutung zumaßen505. Als vierte Begründung für die Begrenzung des Grundrechtsteils trat die Argumentation hinzu, man wolle eine provisorische Verfassung schaffen und könne daher keine Festlegung der Sozialordnung vornehmen. Als sich im weiteren Verlauf der Beratungen die Tendenz zur Vollverfassung immer deutlicher abzeichnete, wurde diese Begründung mehr und mehr zum Diskussionsargument, dessen sich vor allem die Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion zur Unterstützung der anderen Motive bedienten. Der Verzicht des Grundgesetzes auf ausführlichere Bestimmungen zur Sozial- und Wirtschaftsordnung bedeutet eine Verstärkung des Parlamentseinflusses im Verfassungssystem. Bei den Beratungen von 1948/49 richteten sich alle Erwartungen, die man nach dem Weimarer Modell in die „sozialen Grundrechte“ gesetzt hatte, auf die Entscheidungen der Legislative. Während die Länderverfassungen noch ausführliche Programmsätze zur Wirtschafts-, Kultur- und Sozialpolitik enthalten, wurde nunmehr der Gesetzgeber zum Alleinbeauftragten für die Gestaltung der Lebensordnungen und war hierbei kaum noch an Festlegungen des Verfassungsgebers gebunden. Diese Entscheidung entspricht dem verfassungspolitischen Konzept der sozialen Mehrheitsdemokratie, das im Parlamentarischen Rat in erster 505 H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln/ Opladen 1970, S. 50. 183 Linie von der sozialdemokratischen Fraktion vertreten wurde. Die übrigen Fraktionen des Parlamentarischen Rates schlossen sich im Verlauf der Beratung dieser Überlegung weitgehend an, obwohl sie andere Vorstellungen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik vertraten. Für die Gesamtinterpretation des Grundgesetzes ergibt sich aus der Beschränkung des Grundrechtsteils die Schlussfolgerung, dass der Verfassungsgeber eine in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht „offene“ Verfassung geschaffen hat. Lediglich die Zentrumsfraktion und die Deutsche Partei brachten ihre abweichende Auffassung zum Ausdruck: Frau Wessel vertrat in der dritten Lesung des Plenums im Namen ihrer Fraktion die Ansicht, auch die „sozialen Grundrechte“ hätten in das Grundgesetz aufgenommen werden müssen. Sie begründete dies mit dem Hinweis auf das Naturrecht und fügte hinzu, der Verzicht auf diese Rechte unterstreiche den vorläufigen Charakter des Grundgesetzes und die Notwendigkeit seiner Ergänzung. Ein Grundgesetz ohne soziale Rechte könne „in keiner Weise den Anspruch auf eine Verfassung“ erheben. Dr. Seebohm vermisste ebenfalls die „notwendigen Bestimmungen über die soziale Ordnung“506. Der Parlamentarische Rat überließ mit seinem Verzicht auf eine ausführlichere Berücksichtigung der Sozial- und Wirtschaftsordnung die Gestaltung dieses Bereichs bewusst dem Prozess der politisch-parlamentarischen Willensbildung. Der offene Charakter der Verfassung kommt im Grundgesetz wesentlich deutlicher zum Ausdruck als etwa in der Weimarer Reichsverfassung mit ihren Inhaltsbestimmungen zur Gesellschaftsordnung, die allerdings in der politischen Praxis wirkungslos blieben. Hartwich spricht daher in seiner Untersuchung mit Recht vom „Offenheitspostulat“ des Grundgesetzes507. Unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft kann „Offenheit“ jedoch nur bedeuten, dass der nach den Regeln der Verfassung ermittelte Wille der Mehrheit über die Ausprägung der Sozialordnung entscheidet. Mit der Akzentverschiebung vom Grundrechts- zum Zuständigkeitsteil hat sich der Parlamentarische Rat bewusst für die pluralistische Demokratie ausgesprochen. An die Stelle des vorgegebenen Gemeinwohls tritt der Konsensus, welcher aus den unterschiedlichen Auffassungen und Interessen bei Wahlen mit Parteienkonkurrenz ermittelt wird. Auch zur pluralistischen Demokratie gehört allerdings ein nicht-kontroverser Bereich von basic agreements, der in erster Linie die individuellen Grundrechte sowie die verfassungsrechtlichen Verfahrensvorschriften umfasst. Die Regeln des nichtumstrittenen Sektors können jedoch nicht so konkret sein, als dass von ihnen die Lösung aktueller politischer Probleme unmittelbar abzuleiten wäre. Die pluralistische Demokratie ist gleichzeitig als empirisch begründete Alternative zur sogenannten „klassischen“ Demokratietheorie zu verstehen, die im kontinentaleuropäischen Denken dominiert und auf die Lehre Rousseaus zurückgeführt wird. Diese Theorie beruht auf der Vorstellung einer homogenen Gesellschaft, deren Übereinstimmung im Zugehörigkeitsgefühl der Mitglieder begründet ist. Die Thesen vom vorgegebenen und alle Bürger einschließenden Gemeinwohl sowie von der Identität zwischen Regierenden und Regierten sind daher als Grundsätze der klassischen Demokratietheorie zu bezeichnen. Aus der Gegenüberstellung dieser beiden Demokratiekonzeptionen ergibt sich, dass ein um die Sozialordnung erweiterter Grundrechtsteil dem Modell der klassischen Demokratie entspricht: Ausführliche Verfassungsbestimmungen über die Lebensordnungen haben die Tendenz, den demokratischen Willensbildungsprozess in diesen Fragen vorwegzunehmen. Die „offene“ Verfassung würde durch derartige Festlegungen zumindest teilweise zugunsten eines vorgegebenen Gemeinwohlverständnisses begrenzt508. 506 PR Akten und Protokolle Bd. 9, S. 557 und 567 507 H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat... S. 50 ff. 508 Vgl. hierzu E. Fraenkel: Deutschland und die westliche Demokratien, Stuttgart 1968, S. 48 - 68; K. Niclauß: Der Parlamentarische Rat und das Sozialstaatspostulat (PVS 15, 1974, S. 33-52) 184 Mit dem Pluralismus wird allerdings ein Begriff zur Kennzeichnung des Demokratiegründungsprozesses nach 1945 eingeführt, der in der wissenschaftlichen Diskussion nicht unumstritten ist. Die Pluralismuskritik „von rechts“ ist im traditionellen deutschen Staatsverständnis begründet. Der Staat verkörpert demnach eine souveräne Instanz, welche den Gruppenkonflikten und dem gesellschaftlichen Wandel entzogen ist. Diese Staatsidee hat den Zusammenbruch der Monarchie überlebt und blieb auch nach 1918 politisch wirksam, obwohl die maßgebende Rolle von Parteien und Interessengruppen im politischen Prozess nicht mehr zu übersehen war. Sie diente Carl Schmitt als Grundlage für seine Kritik am Parteienstaat der Weimarer Republik und führte ihn schließlich zu der Forderung, die pluralistische Willensbildung sei durch die „offene, von Staats wegen ergehende Entscheidung“ abzulösen509. Während die rechte Kritik den Pluralismusgedanken mit Rücksicht auf übergeordnete Einheiten (Staat, Volk, Nation) ablehnt, warf die „linke Kritik“ ihm in den sechziger Jahren eine falsche Darstellung der gesellschaftlichen Situation vor. Aus marxistischer Sicht dient die Pluralismustheorie lediglich dazu, den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen den Produktionsmittelbesitzern und der großen Masse der Bevölkerung zu verschleiern. Eine dritte Variante der Pluralismuskritik erscheint ideologisch weniger festgelegt und kann deshalb mit einer breiteren Zustimmung rechnen. Sie versteht unter Pluralismus nicht die gleichberechtigte und grundrechtlich geschützte Wirkungsmöglichkeit von Gruppen, sondern ein gesellschaftliches Gleichgewichtssystem. Die wichtigsten Interessengruppen der modernen westlichen Industriegesellschaften sind demnach voneinander unabhängig, weil keine Gruppe der anderen ihren Willen aufzwingen kann. Dieses Pluralismusverständnis geht auf Gruppentheorien zurück, wie sie im Anschluss an Arthur Bentley vor allem in den Vereinigten Staaten entwickelt wurden510. Für die Gesamtbeurteilung des Grundgesetzes ist neben dem Grundrechtsteil, dessen Begrenzung die „Offenheit“ der Verfassung zum Ausdruck bringt, der Zuständigkeitsteil von gleich großer Bedeutung. Wie die Beratungen über die verhältnismäßig weit gefassten Kompetenzen des Bundesgesetzgebers zeigen, haben alle Fraktionen des Parlamentarischen Rates die Erweiterung der öffentlichen Aufgaben bewusst anerkannt. Die Autoren des Grundgesetzes sind damit über das Modell des liberalen Rechtsstaates hinausgegangen, der auf der Hypothese einer sich selbst regelnden Gesellschaft beruht und allenfalls bereit ist, zur Korrektur sozialer Notsituationen in den gesellschaftlichen Prozess einzugreifen. Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Nachkriegszeit beeinflussten in diesem Punkt die politischen Vorstellungen aller im Parlamentarischen Rat vertretenen Parteien. Die inhaltliche Bestimmung des Sozialen sollte allerdings nach den Intentionen des Parlamentarischen Rates dem politischen Willensbildungsprozess vorbehalten bleiben, der den unterschiedlichen Interessen und Ideen die Möglichkeit einräumt, auf die Gestaltung der Sozialordnung Einfluss zu nehmen. Zu den beiden Elementen des Pluralismus und des Sozialen kommt als drittes Element der Verzicht des Parlamentarischen Rates auf plebiszitäre Verfahrensweisen hinzu. Im zweiten Abschnitt des fünften Kapitels (oben S....) wurde ausführlich geschildert, weshalb der Parlamentarische Rat auf Volksbegehren und Volksentscheid verzichtete, wenn man von der Änderung der Ländergrenzen einmal absieht. Die Erschwerung der Auflösung des Bundestages geht in die gleiche Richtung und ist im Vergleich zum unbeschränkten Auflösungsrecht des britischen Premiers anti-plebiszitär. Insgesamt kann man deshalb das Grundgesetz als eine Verfassung für eine pluralistische, soziale und repräsentative Demokratie bezeichnen. 509 J. Fijalkowski: Die Wendung zum Führerstaat. Ideologische Komponenten in der politischen Philosophie Carl Schmitts. Köln/ Opladen 1958, S. 87 ff. sowie F. Nuscheler/ W. Steffani (Hrsg.): Pluralismus - Konzeptionen und Kontroversen, München 1972, S. 24 ff. 510 E. Fraenkel - K. Sontheimer - B. Crick: Beiträge zur Theorie und Kritik der pluralistischen Demokratie, Bonn 1970, S. 25 ff.; R. Eisfeld: Der ideologische und soziale Stellenwert der Pluralismustheorie ( PVS 12, 1971, S. 332 - 366) sowie H. Pross: Zum Begriff der pluralistischen Gesellschaft, in: M. Horkheimer (Hrsg.): Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt, 1963, S. 445 185 VIII. Grundgesetzberatungen und Bundestagswahl 1949 1. Parteien und Besatzungsmächte im Vorfeld der Bundestagswahl Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für eine in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht offene Verfassung erfolgte mit dem Blick auf die erste Bundestagswahl. Von dieser Wahlentscheidung erwartete man eine Lösung der politischen Fragen, die sich nicht für eine Aufnahme in den Verfassungstext eigneten oder die man mangels Einigung zurückgestellt hatte. Die bevorstehende Wahl beeinflusste deshalb auch die Zeitplanung der Fraktionen des Parlamentarischen Rates. Vor allem die beiden großen Fraktionen versuchten, den Ablauf der Grundgesetzberatungen so zu gestalten, dass der erste Bundestag unter günstigen Bedingungen für die eigene Partei gewählt wurde. Die Sozialdemokraten forderten von Anfang an einen schnellen Abschluss der Verfassungsberatungen und einen frühen Wahltermin. Der Parteivorstand kritisierte in einer Presseerklärung vom 27. September 1948 den langsamen Fortgang der Bonner Beratungen und äußerte den Verdacht, dass „manche Partei... den daraus resultierenden Wahlen mit einiger Besorgnis entgegensieht“. Gemeint war hiermit die CDU/CSU. Walter Menzel hatte bereits eine gute Woche vorher nach Hannover berichtet, die Union sei an einer Verzögerung der Grundgesetzberatungen interessiert, damit Wahlen erst im Frühjahr 1949 stattfinden, „wenn der Marshallplan seine Auswirkung zeigt“. Auf seiner Sitzung in Speyer Ende Oktober 1948 glaubte der Parteivorstand der SPD noch an einen Abschluss der Beratungen Ende November und an Wahlen in der zweiten Märzhälfte des Jahres 1949511. Bei den sozialdemokratischen Kommentaren zur Taktik der CDU/CSU handelte es sich keineswegs um Unterstellungen: Konrad Adenauer kam z. B. Ende Oktober 1948 vor dem Zonenausschuss seiner Partei zu dem Schluss, es sei „parteipolitisch ... angenehm“, wenn die Wahlen zum westdeutschen Parlament erst im späten Frühjahr stattfänden. Bis dahin könne man hoffen, dass „in der Preisangelegenheit ein Ausgleich gefunden worden ist“ und „die Zeiten wirtschaftlich ruhiger und besser geworden sind“. Die Sozialdemokraten dagegen seien bestrebt, „dass die Wahlen noch bei einer labilen Wirtschaft stattfinden“512. Ein wesentlicher Grund für die unterschiedliche Zeitplanung der beiden großen Fraktionen war demnach die im Kapitel IV beschriebene Krise der Frankfurter Wirtschaftspolitik. Die SPD wollte hiervon bei der ersten Bundestagswahl profitieren; die Union hoffte auf bessere Zeiten. Dementsprechend wurden auch die bereits geschilderten kommunalen Wahlergebnisse bewertet, denn sie waren nach Adenauer „nichts anderes als Vorspiel zu der großen Wahl für den Bundestag“. Adenauer begrüßte zwar den Achtungserfolg der CDU in Schleswig-Holstein, musste aber einräumen, dass die Resultate in Nordrhein511 PV-Protokolle 1948 (AdsD) sowie Menzel an Ollenhauer vom 17.9.1948 (NL C. Schmid 1162 - AdsD) 512 Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 1946-1949, Bonn 1975, S.716 f. 186 Westfalen „nicht so gut ausgefallen“ seien. Im SPD-Parteivorstand dagegen war man mit dem Ergebnis an Rhein und Ruhr zufrieden, weil die Sozialdemokraten in den Städten die Führung übernommen hätten. In West-Berlin rechnete man nach einer Gallup-Umfrage bereits Ende Oktober mit einer SPD-Mehrheit von 60 Prozent513. Ende Januar 1949 deutete sich bei den Beratungen der Unionsfraktion eine Änderung des Zeitplans an, die außenpolitisch begründet wurde: Adenauer erklärte, von amerikanischer Seite habe er erfahren, dass das Interesse am Zustandekommen des Grundgesetzes bei den Westmächten nachlasse. Jakob Kaiser argumentierte als Berliner Vertreter im gleichen Sinne und wies auf die amerikanisch-sowjetische Annäherung hin. Beide kamen zu dem Schluss, man müsse mit dem Grundgesetz „sehr rasch fertig“ werden. Ob bei diesem Sinneswandel auch die günstigere Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, d. h. das Nachlassen der Preissteigerungen eine Rolle spielte, bleibt weitgehend offen. Einen Monat später wurden Adenauers Appelle drängender: Er polemisierte über die langwierigen Beratungen zur „blöden Finanzverwaltung“ und stellte Überlegungen an, ob die CDU/CSU das Grundgesetz gegebenenfalls zusammen mit FDP und DP ohne die Zustimmung der Sozialdemokraten verabschieden sollte. Die Wahl zum Bundestag bezeichnete er vor dem Zonenausschuss seiner Partei als „das entscheidendste Ereignis für uns Deutsche“. Mitte März warnte er vor der Arbeitsgemeinschaft der Unionsparteien erneut vor einer amerikanisch-sowjetischen Verständigung. Aus deutscher Sicht sei diese Verständigung zwar zu begrüßen. Sie werde aber „auf unserem Buckel“ erfolgen, wenn die Deutschen die Chance der westdeutschen Bundesregierung verspielen. Selbst der Blick auf die Landwirtschaft diente ihm zur Begründung eines Wahltermins vor dem 15. Juli 1949, denn wegen der Ernte sei es für die CDU/CSU bis in den September hinein „unmöglich, Wahlen abzuhalten“514. Die Sozialdemokraten rückten zwar nicht offiziell von ihrem Zeitplan ab, waren aber ab Jahresbeginn 1949 in erster Linie an Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes im Sinne der sozialen Mehrheitsdemokratie interessiert. Der im März einsetzende Konflikt mit den Besatzungsmächten ließ das Ziel einer frühen Wahlentscheidung in den Hintergrund treten. Auch nach der Verabschiedung des 513 ebenda, sowie Sitzung des SPD-Parteivorstands am 29. und 30. Oktober 1948 in Speyer (PVProtokolle 1948 - AdsD). 514 Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone...S.802 f., 808 und 824; Die Unionsparteien 1946-1950, Düsseldorf 1991, S. 412 ff. und 470 187 Grundgesetzes drängten die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten (Stock, Kopf, Kaisen) auf der Konferenz von Schlangenbad offenbar nicht auf die Festlegung eines frühen Wahltermins. Kurt Schumacher erklärte am 1./2. Juni 1949 bei der Diskussion über das Wahlgesetz sogar vor dem Parteivorstand: „Die CDU ist am frühen Wahltermin mehr interessiert als wir...“515 . Im Zusammenhang mit der Zeitplanung für die erste Bundestagswahl stellt sich auch die Frage, ob die großen Parteien bereits während der Grundgesetzberatungen Koalitionspläne für die zukünftige Regierung entwickelten. Zwischen der Unionsfraktion und den beiden Vertretern der DP im Parlamentarischen Rat bestanden enge Verbindungen. Dr. Seebohm war mehrfach bei den Sitzungen der Unionsfraktion anwesend und arbeitete auch bei Anträgen mit der CDU/CSU zusammen. Die organisatorische und finanzielle Krise der Zentrumspartei führte im Januar 1949 zu Gesprächen des Parteivorsitzenden Spiecker mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Arnold (CDU) und Adenauer über einen Zusammenschluss beider Parteien. Das Zentrum sollte sich der CDU-Organisation anschließen, aber seinen Namen behalten und Kandidaten für den Bundestag aufstellen können. Außerdem sollte ein Volksentscheid über „religiös-weltanschauliche Fragen“ in das Grundgesetz aufgenommen werden. Die Basis des Zentrums folgte jedoch diesen Fusionsplänen nicht und wählte Spiecker ab. 515 AVBD Bd. 5/1, S. 531f.; Sitzung des SPD-Parteivorstandes am 1./ 2.6.1949 in Hannover (PVProtokolle 1949-AdsD). 188 Die Hauptsorge Adenauers galt den Liberalen. Mit Blick auf die erste Bundestagswahl erklärte er schon im November 1948 vor der Unionsfraktion „Wir kommen nur zum Ziel, wenn wir die FDP vorher gesichert haben für uns“. Die Sozialdemokraten würden wahrscheinlich die Sozialisierung im Wahlkampf als Hauptprogrammpunkt herausstellen. Adenauer strebte damit eine Fortsetzung der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit im Frankfurter Wirtschaftsrat an - und zwar Monate bevor das „Bündnis“ zwischen Ludwig Erhard und der CDU/CSU im Februar 1949 zustande kam. Im März bekräftigte Adenauer diese Koalitionsabsicht bei den internen Beratungen der CDU/CSU über das Wahlrecht. Die Differenzen mit der FDP in „kulturellen Fragen“ könne man ausklammern, da diese nicht in die Kompetenz des Bundes fallen. „Ich sehe, dass einige von Ihnen den Kopf schütteln...“, fügte er hinzu. Im Wahlkampf werde jedoch die Frankfurter Wirtschaftspolitik eine der wichtigsten Fragen sein, und hieraus folge, „dass wir mit der FDP...zusammengehen müssen“. Jakob Kaiser vertrat auf der gleichen Sitzung eine andere Auffassung: Der beste Wahlausgang sei, wenn CDU/CSU und SPD „gleich stark“ und damit „verpflichtet sind, gemeinsam die Verantwortung für die Neuordnung des deutschen Lebens zu tragen“516. Bei den Sozialdemokraten spielten die Koalitionsüberlegungen offenbar eine untergeordnete Rolle. Die Kooperation mit den Liberalen im Parlamentarischen Rat war zwar erfolgreich. Man war sich aber in der SPD-Führung darüber im Klaren, dass hieraus nach der Bundestagwahl wegen der wirtschaftspolitischen Differenzen kaum eine Regierungskoalition entstehen konnte. Für die SPD galt deshalb bis ins Jahr 1949 die Feststellung Kurt Schumachers in seinem Parteitagsreferat von 1948: „Noch immer sucht die Sozialdemokratie nach den bündnisfähigen Partnern“. In der Wahlrechtsfrage entwickelte sich ebenfalls eine enge Zusammenarbeit zwischen SPD und FDP. Die Sozialdemokraten kamen den kleinen Parteien insofern entgegen als sie auf die von ihrem Vorstand beschlossene 5-Prozent-Klausel verzichteten. Ein möglicher Partner für die SPD schien die Zentrumspartei zu sein. Sie hatte im Parlamentarischen Rat in wichtigen Punkten die SPD unterstützt (z. B. in der Finanzverfassung) und bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen vom 17. Oktober 1948 gut abgeschnitten. Schumacher selbst erklärte Anfang Juni 1949 bei der Besprechung des Wahlrechts im Parteivorstand, ein „Zerbrechen des Zentrums an der 5 %Klausel“ sei für die SPD nicht akzeptabel. Von weitaus größerer Bedeutung war jedoch das zukünftige Verhältnis der Sozialdemokraten zur CDU/CSU: Schumacher bezweifelte die Stabilität dieser neuen Gruppierung im deutschen Parteiensystem. Sein Bild von der Union, die in der Praxis „starre Rechtspartei“ und in der Sprache „soziale Mittelpartei“ sei, schloss eine zukünftige Kooperation mit Teilen dieser Partei nicht aus. Ähnlich argumentierte auf dem Parteitag von 1948 auch der Dortmunder Fritz Henßler aufgrund seiner Erfahrungen aus der Sozialisierungsdiskussion in Nordrhein-Westfalen. Walter Menzel begründete diese Vorstellungen bereits im April 1948 ausführlicher mit dem Argument, man könne nicht erwarten, dass Hunderttausende direkt „aus dem bürgerlichen in das sozialistische Fahrwasser“ wechseln. Es werde vielmehr zur Bildung „linker bürgerlicher Parteien“ kommen, und die Aufgabe der SPD bestehe darin, diese Parteien nicht zur „Splitterpartei“ werden zu lassen517. Carlo Schmid sprach im Dezember 1948 die Hoffnung aus, das „Bundesparlament“ werde sich voraussichtlich durch einen stärkeren CDU-Gewerkschaftsflügel auszeichnen, mit dem man „besser manövrieren könne, als heute mit den überwiegend reaktionären Elementen der CDU“. Schmid favorisierte eine Große Koalition oder eine darüber hinausgehende Mehrparteienregierung, weil diese 516 Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, Stuttgart 1981,.S.139 f. und 344 f.; P. Hüttenberger: Nordrhein-Westfalen und die Entstehung seiner Parlamentarischen Demokratie, Siegburg 1973, S. 94-96; Die Unionsparteien 1946-1950...S. 383 f. und 396 517 Vorlage Menzels zur Sitzung des Verfassungspolitischen Ausschusses am 8.4.1948 ( NL Menzel R 5 AdsD); Protokoll SPD-Parteitag 1948, S. 32, 38 und 54 f.; Sitzung des PV am 1./ 2.6.1949 in Hannover (PV-Protokolle 1949 - AdsD) 189 Regierung die deutschen Interessen gegenüber den Besatzungsmächten am wirksamsten vertreten könne. Falls die SPD aus den Wahlen als stärkste Partei hervorging, schien für ihn persönlich das Amt des Bundeskanzlers durchaus in Reichweite zu sein518. Die Polarisierung während des Wahlkampfes machte diese Hoffnungen zunichte. Schumacher attackierte nicht nur die Frankfurter Wirtschaftspolitik sondern vor allem die Katholische Kirche. Die Sozialdemokratie verprellte damit die katholische Arbeitnehmerschaft innerhalb und außerhalb der CDU, deren Unterstützung man für eine Erweiterung der Wählerschaft und für eine Große Koalition gebraucht hätte. Die von Schumacher genannten Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung der SPD waren so weitgehend, dass sie die Bildung des sogenannten Bürgerblocks mehr förderten als verhinderten519. Die Auseinandersetzung mit den Besatzungsmächten über das Grundgesetz ist ein Thema für sich und steht nicht im Mittelpunkt dieser Untersuchung. In der letzten Phase der Grundgesetzberatungen ging es hierbei aber nicht nur um die Interessen und Verfassungsvorstellungen der drei Westmächte. Den mit Deutschland befassten Regierungsstellen in Washington, London und Paris sowie den Mitarbeitern der Militärregierungen vor Ort wurde zunehmend bewusst, dass sich sowohl ihre Interventionen als auch ihr Verzicht auf Einmischung zugunsten bestimmter deutscher Parteien und zum Nachteil anderer auswirken würde. Dies wurde bereits bei der Vorbereitung des alliierten Aide-Memoires vom 22. November 1948 deutlich, welches Adenauer in einem Gespräch mit dem britischen Militärgouverneur Robertson angeregt hatte. Die „Frankfurter Affäre“ vom Dezember 1948 zeigte allen Beteiligten, welche Bedeutung die Vorstellungen der Besatzungsmächte zu Einzelfragen des Grundgesetzes für die Politik der Parteien und Fraktionen im Parlamentarischen Rat hatten: Adenauer bereitete als Präsident des Parlamentarischen Rates eine Unterredung zwischen den drei Militärgouverneuren und einer Delegation des Rates vor. Hierbei sollten die deutschen Vertreter Näheres über das zu erwartende Besatzungsstatut erfahren. Was darüber hinaus besprochen werden sollte, blieb auch in der späteren Kontroverse umstritten. Die Vertreter von SPD und FDP (Menzel, Schmid und Höpker-Aschoff) wollten allenfalls Fragen der Gouverneure an die Mitglieder des Parlamentarischen Rates beantworten, die der Erläuterung des damals vorliegenden Grundgesetzentwurfes dienten. Adenauer dagegen war der Auffassung, man würde die Grundgesetzberatungen erleichtern und beschleunigen, wenn man frühzeitig die Meinung der Besatzungsmächte über kontroverse Fragen in Erfahrung bringe. Unter den vier Fragen, die Adenauer den Militärgouverneuren vorlegte, war die nach der Finanzverfassung die politisch entscheidende. Der Hauptausschuss hatte nämlich am 2. Dezember in erster Lesung die Bundesfinanzverwaltung gegen die Stimmen der CDU/CSU und der DP beschlossen. Der französische Militärgouverneur antwortete hierzu auch im Namen seiner Kollegen, diese Lösung widerspreche dem Aide-Memoire vom 22. November 1948. Koenig bezeichnete nach dem Wortlaut des amerikanischen Protokolls außerdem die Finanzverfassung als „one of the most critical aspects of sound Federal organization“520. Die Rechtfertigung Adenauers in einer Pressekonferenz, er habe von den Gouverneuren keineswegs „eine Entscheidung unserer Differenzen verlangt“, weil er ja die Meinung der Unterlegenen in der Finanzfrage überhaupt nicht erwähnt habe, wirkte ebenso wenig überzeugend wie die Berufung auf angebliche Notizen des DP-Abg. Dr. Seebohm, der zu diesem Zeitpunkt nicht in Bonn war. Kompromittierend für Adenauer sind die kürzlich veröffentlichten Aufzeichnungen über seine Unterredungen mit alliierten Verbindungsoffizieren bei der Vorbereitung der Frankfurter Besprechung. Dem britischen 518 Sitzung des PV am 10. und 11.12.1948 (PV-Protokolle 1948 - AdsD); P. Weber: Carlo Schmid 18961979. Eine Biographie, München 1996, S. 390 ff. 519 K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei, Berlin-Bonn 1982, S. 174-181 520 FRUS 1948, Vol. II, S.649 190 Verbindungsoffizier Chaput de Saintonge nannte er am 7. Dezember Schule, Familie und Bundesrat als Themen, zu denen es für die Militärgouverneure an der Zeit sei „to give a strong direction“. Chaput hatte den Eindruck, die Gouverneure sollten die CDU/CSU-Fraktion aus ihrer unbefriedigenden Position herausmanövrieren, in die sie aufgrund ihrer inneren Differenzen geraten war. Gegenüber dem französischen Verbindungsoffizier Laloy brachte Adenauer am 14. Dezember die „intransigente Haltung“ der SPD in der Finanzfrage zur Sprache. Er habe die Hoffnung auf einen Kompromiß noch nicht aufgegeben, aber die Franzosen müssten in dieser Sache helfen („...mais vous devez nous aider en ce domaine“)521. Das Verhalten Adenauers in dieser Krise des Parlamentarischen Rats wird von seinen Biographen sehr wohlwollend bewertet. Sowohl Schwarz als auch Köhler loben seine angeblich geschickte Verteidigung. Er habe die Vorwürfe „faktenreich und präzise“ sowie „relativ leicht widerlegen“ können. Beide Autoren erwähnen die Finanzverfassung mit keinem Wort. Köhler fällt es schwer, die „Empörung auf Seiten der SPD und FDP nachzuvollziehen“. Die Bewertung des Bearbeiters der einschlägigen Akten ist demgegenüber sehr viel differenzierter522. Da die Affäre zu Jahresbeginn 1949 unter den Fraktionen des Parlamentarischen Rates schnell beigelegt wurde, liegt ihre Bedeutung vor allem in der Aufdeckung des komplizierter werdenden Verhältnisses zwischen dem Parlamentarischen Rat und den drei Besatzungsmächten. Weil wichtige Verfassungsfragen zwischen den Besatzungsmächten genauso kontrovers waren wie zwischen den deutschen Parteien, lag es nahe, nach Verbündeten auf der Gegenseite Ausschau zu halten. Zum Ende der Grundgesetzberatungen spielte hierbei auch der Gedanke an die erste Bundestagswahl eine Rolle. Die Parteien waren um Profilierung in der Öffentlichkeit bemüht, die Besatzungsmächte mussten verhindern, dass „ihre“ Deutschen beim mehrdimensionalen Tauziehen um die Endfassung des Grundgesetzes ins Hintertreffen gerieten. Dies war der politische Hintergrund der Verhandlungen und Manöver, die durch das Memorandum der Militärgouverneure vom 2. März 1949 ausgelöst wurden. Anzeichen sprechen dafür, dass bereits beim Zustandekommen des Memorandums deutsche föderalistische Interessen beteiligt waren. Gelberg und Koch weisen in ihren Arbeiten auf die „Doppelstrategie“ des bayerischen Ministerpräsidenten Ehard hin. Dieser habe den „großen Kompromiss“ der Fraktionen des Parlamentarischen Rates vom 5. Februar 1949 zwar akzeptiert, sich gleichzeitig aber bemüht, die darin enthaltene Bundesfinanzverwaltung durch Intervention der amerikanischen Militärregierung wieder zu Fall zu bringen523. Auf der anderen Seite mussten auch die eher zentralistisch orientierten britischen Experten einräumen, dass der deutsche Kompromiss dem Aide-Mémoire vom 22. November 1948 und der Erklärung der Militärgouverneure beim umstrittenen Treffen mit der Delegation des Parlamentarischen Rates am 16. Dezember widersprach. Falls die Franzosen sich auf diese Richtlinien beriefen, stellte der britische Finanzsachverständige Sir Eric Coates fest, habe man keine Handhabe zur Unterstützung der vom Parlamentarischen Rat beschlossenen Fassung524. Als die drei Militärgouverneure am 16. Februar 1949 zusammentrafen, um über den vom Hauptausschuss in dritter Lesung beschlossenen Grundgesetzentwurf zu beraten, nahmen sie die zu erwartenden Positionen ein: Die Generäle Clay und Koenig bezeichneten die deutschen Vorschläge als unvereinbar mit den Prinzipien, die man dem Parlamentarischen Rat übermittelt habe. Ihr britischer Kollege Robertson 521 PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 57-60 und 76-88. 522 H.-P. Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986, S. 596 f.; H. Köhler: Adenauer. Eine politische Biographie. Berlin 1994, S. 481 f.; M.F. Feldkamp in: PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. XXXV-XXXIX; P. Weber: Carlo Schmid...S. 365 ff. 523 K.-U. Gelberg: Hans Ehard. Die föderalistische Politik des bayerischen Ministerpräsidenten 19461954, Düsseldorf 1992, S.244-248; P. J. Kock: Bayerns Weg in die Bundesrepublik, Stuttgart 1983, S. 310. 524 A. M. Birke: Großbritannien und der Parlamentarische Rat (VjZG 42, 1994, S. 313-359), S.329 191 hielt die Abweichungen nicht für so gravierend, um seiner Regierung eine Ablehnung des Grundgesetzentwurfs zu empfehlen. Clay und Koenig versuchten in den folgenden Wochen die Sozialdemokraten zum Nachgeben zu bewegen, während Robertson auf die hiermit verbundene Gefahr des Scheiterns der Grundgesetzberatungen hinwies. Auf deutscher Seite hatte die CDU/CSU-Fraktion dem Grundgesetzentwurf mit der Bundesfinanzverwaltung offenbar unter der Voraussetzung zugestimmt, diese Variante würde ohnehin am Veto der Besatzungsmächte scheitern. Ihr Abgeordneter Kaufmann, der im Siebenerausschuss eine maßgebende Rolle spielte, schilderte die taktischen Überlegungen seiner Fraktion einige Wochen später vor der CDU/CSU-Arbeitsgemeinschaft. Es sei „ein gefährliches Spiel“ gewesen, die Bundesfinanzverwaltung mitzuvertreten. Man habe aber aufgrund von offiziellen und inoffiziellen Gesprächen davon ausgehen können, dass diese Lösung „mindestens von amerikanischer und französischer Seite“ abgelehnt werde. „Bei dieser Taktik“ - fügte Kaufmann hinzu - kam „das Nein in der Finanzfrage von den Alliierten und nicht von uns...“525. Da die Fraktionen des Parlamentarischen Rates die Korrekturvorschläge des Memorandums vom 2. März in den entscheidenden Punkten nicht akzeptierten, befasste sich die Washingtoner Außenministerkonferenz Anfang April 1949 mit den Grundgesetzberatungen. Die Außenminister beschlossen am 8. April eine „Message“ an die Militärgouverneure, mit der sie die bis dahin geltenden Instruktionen zum Bund-Länder-Verhältnis und zur Finanzverfassung aufgaben. In dieser Situation traten die parteipolitischen und wahltaktischen Motive des amerikanischen Militärgouverneurs Clay deutlich zutage: Er setzte durch, dass diese Botschaft der deutschen Seite vorerst nicht mitgeteilt wurde, weil dieser Schritt die sozialdemokratische Haltung bestätige und der SPD Vorteile bei der anstehenden Bundestagswahl verschaffe. Kurt Schumacher werde auf diese Weise zum „top hero in Germany“. Aus seinen Depeschen nach Washington geht außerdem hervor, dass er die von der SPD angestrebte Finanzverfassung als Voraussetzung zur Sozialisierung betrachtete. Die SPD operiere nahezu wie eine totalitäre Partei; ihr fehle es an der Demokratie, welche sich auf den Lokalstolz gründe. Nachdem sich neben dem amerikanischen Außenminister Acheson auch Frankreichs Außenminister Schuman für die sofortige Weitergabe des Washingtoner Beschlusses aussprachen, entsprach Clay am 22. April 1949 einer entsprechenden Anordnung und ließ die Botschaft durch die Verbindungsoffiziere übergeben526. Clays Weigerung hatte insofern einen gegenteiligen Effekt, als sie erst Kurt Schumacher die Gelegenheit gab, das „Nein“ der SPD zu den alliierten Vorschlägen auf einem kleinen Parteitag wirkungsvoll zu inszenieren. Wenn Clay nach dem Beschluss der Außenminister gehandelt und das Dokument weitergegeben hätte, „before opinion in the Parliamentary Council has crystallized“, wäre die parteipolitische Wirkung des Nachgebens der Besatzungsmächte wesentlich geringer gewesen. Der britische Militärgouverneur Robertson hielt den Obstruktionskurs Clays für unverantwortlich und führte am 14. April ein vertrauliches Gespräch mit Carlo Schmid und Walter Menzel. Er erklärte den beiden Sozialdemokraten, seine Regierung werde sich für ein Nachgeben der Besatzungsmächte einsetzen. Die bereits vorliegende „Botschaft“ wurde nach der Darstellung Menzels bei dieser Gelegenheit nicht erwähnt. Menzel und Schmid haben Schumacher in Gegenwart von Heine und Ollenhauer ausführlich über das Gespräch mit Robertson berichtet. Ihr Ziel war, angesichts des möglichen Nachgebens der Besatzungsmächte dem „Nein“ der SPD ein „bedingtes Ja“ hinzuzufügen. Schumacher hat diesen Gedankengang aber offenbar gar nicht aufgegriffen527. 525 Die Unionsparteien 1946-1950...S.489 f. Anders als bei den Sozialdemokraten blieben diese Kontakte vertraulich. Kaufmann (S. 490): „Ich bitte in diesem Zusammenhang auch darum, dass das nicht in öffentlichen Versammlungen oder in der Presse ausgesprochen wird...“. 526 J. E. Smith (Hrsg.): The Papers of General Lucius D. Clay. Germany 1945-1949, Vol. II, BloomingtonLondon 1974, S.1067, 1077 und 1121-1124. 527 Menzel an Schmid und Menzel an Heine vom 29.7.1949 (Nachlaß Menzel R 46 - AdsD). 192 Die Absicht Robertsons bestand demnach nicht darin, den Widerstand Schumachers zu stärken, sondern die Kompromissbereitschaft Menzels und Schmids. Während Clay schließlich in seinem antisozialdemokratischen Eifer sogar die Verabschiedung des Grundgesetzes ohne SPD für möglich hielt, behielt sein britischer Kollege in dieser hektischen Schlussphase der Beratungen klaren Kopf. Robertson hatte die Ratifizierungsklausel der Londoner Sechsmächtekonferenz immer vor Augen, welche die Zustimmung von zwei Dritteln der Länder zum Grundgesetz verlangte. Er wies Koenig und Clay sowie seine eigene Regierung darauf hin, dass die SPD das Grundgesetz ohne weiteres verhindern könne, indem sie mit ihren Mehrheiten die Ratifizierung in vier Ländern ablehnte. Schumacher hätte kaum gezögert, von Hannover aus ent-sprechende „Empfehlungen“ zu geben528. 2. Wahlverfahren und Wahlentscheidung 1949 Die Diskussion über das Wahlrecht zum ersten Bundestag lässt sich kaum in die Demokratiediskussion der Nachkriegszeit einordnen. Zwar wurden zu dieser Frage anspruchsvolle Beiträge in Zeitschriften und Monographien publiziert. Auch die Diskussion in den Parteien erreichte hohes Niveau - insbesondere wenn man versuchte, die Schlussfolgerungen aus der Weimarer Republik für das zukünftige Wahlrecht zu ziehen. Als jedoch die konkrete Formulierung des Wahlverfahrens für den ersten Bundestag anstand, orientierten sich alle Parteien am optimalen Wahlresultat. Walter Menzel, der im Parlamentarischen Rat bei den Wahlrechtsüberlegungen der SPD eine maßgebende Rolle spielte, schrieb Ende September 1948 an die Parteizentrale in Hannover, das Wahlrecht sei weniger eine Frage der „politischen Erziehung“, sondern eine Frage, „wie ich die politische Macht für die Partei erreichen kann“. In den anderen Parteien dachte man kaum anders: Als im Wahlausschuss der Unionsparteien die Diskussion über das Wahlrecht all zu sehr in die Breite ging, erklärte Konrad Adenauer, man müsse diese Frage „mit dem Rechenstift in der Hand und mit der Landkarte“ bearbeiten, „und sich in theoretischen Erörterungen gar nicht aufhalten“529. Diese realistische Einstellung war auch bei den kleineren Parteien im Parlamentarischen Rat vorherrschend. Dass sich die „Zweckmäßigkeitserwägungen“ bei der Beratung des Wahlrechts im Parlamentarischen Rat in Grenzen hielten, kann man aus den Protokollen kaum ableiten530. Die Wahlrechtsdiskussion blieb trotz dieser eindeutigen Zielsetzung höchst unübersichtlich und lässt sich kaum verkürzt darstellen. Dies ist vor allem auf die ungeklärte Zuständigkeitsfrage zurückzuführen: Die Besatzungsmächte hatten nicht klar zu erkennen gegeben, ob der Parlamentarische Rat oder die Ministerpräsidenten das Wahlgesetz verabschieden sollten. Sie selbst waren, wie bei anderen wichtigen Verfassungsfragen, in dieser Sache uneins. Eine Zeit lang schien sich die Vorstellung des amerikanischen Militärgouverneurs Clay und der Franzosen durchzusetzen, dass man kein einheitliches Wahlrecht zum Bundestag brauche. Die Länder sollten vielmehr nach dem Vorbild der amerikanischen Einzelstaaten selbst entscheiden, wie sie ihre Bundestagsabgeordneten wählen. Zum komplizierten Verlauf der Wahlrechtsdiskussion im und neben dem Parlamentarischen Rat muss deshalb auf Spezialstudien verwiesen werden531. Hier interessieren in erster Linie die Vorstellungen der Parteien und Fraktionen zum Wahlmodus, d. h. zur Alternative zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht sowie zu den zahlreichen Varianten und Kombinationen dieser Wahlverfahren. Bei den Beratungen über diesen Kernbestand der 528 A. M. Birke: Großbritannien und der Parlamentarische Rat ...S.331 und 343. 529 Menzel an Ollenhauer vom 21. 9. 1948 (Bestand Ollenhauer 187 - AdsD); Die Unionsparteien 19461950...S. 382 530 E. Jesse: Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, Düsseldorf 1985, S .96 531 Grundlegend für das Folgende E. H. M. Lange: Wahlrecht und Innenpolitik, Meisenheim a. Gl. 1975 sowie die Einleitung von H. Rosenbach in: PR Akten und Protokolle Bd. 6, S. VII-LIII. 193 Wahlrechtsfrage kommt der Gedanke an die bevorstehende Bundestagwahl und an ein vorteilhaftes Wahlergebnis besonders deutlich zum Ausdruck. Bei den Sozialdemokraten setzte sich frühzeitig das Verhältniswahlrecht durch, obwohl bis in die Beratungen des Parlamentarischen Rates hinein aus dem allein von der SPD regierten Schleswig-Holstein das Mehrheitswahlrecht propagiert wurde. Gegen das Mehrheitswahlrecht wandte sich vor allem der nordrhein-westfälische Innenminister, Dr. Menzel, u. a. weil die SPD in diesem Land bei Kommunalwahlen im Jahre 1946 mit einem Mehrheitswahlrecht plus Reserveliste wenig Erfolg hatte. Menzel begründete seine Auffassung mit der These, ein Mehrheitswahlrecht verzögere „den im Gange befindlichen Zersetzungsprozess“ der CDU. Die SPD müsse jedoch die kleinen bürgerlichen Linksparteien fördern. Nach Vorarbeiten des Verfassungspolitischen Ausschusses legte der SPD-Parteivorstand bereits Ende Mai 1948 auf seiner Tagung in Springe die bis zum Parlamentarischen Rat gültige Linie fest: Die Sozialdemokraten befürworteten die Wahl von Abgeordneten in „Einmann-Wahlkreisen“. Die direkt gewählten Abgeordneten sollten durch weitere aus der Reserveliste ergänzt werden, bis die proportionale Sitzverteilung erreicht sei. Die SPD formulierte damit bereits den Grundgedanken des späteren Bundeswahlgesetzes. Überhangmandate und eine 5 %-Klausel waren ebenfalls im Vorschlag enthalten. Die Vorschrift, dass aus der Reserveliste einer Partei nicht mehr Abgeordnete als die Zahl der erfolgreichen Direktkandidaten hinzukommen dürfen, stellte allerdings eine zusätzliche Begrenzung der Wahlaussichten kleinerer Parteien dar. Die Reserveliste sollte eine Bundesliste sein, und die 5 %-Klausel sollte sich auf die Bundesebene beziehen532. Bei den Liberalen hatte sich der mitgliederstarke FDP-Verband der britischen Besatzungszone schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1947 für ein personalisiertes Verhältniswahlrecht ausgesprochen, das den sozialdemokratischen Vorstellungen nahe kam. Unter den süddeutschen Liberalen gab es allerdings Befürworter des absoluten Mehrheitswahlrechts mit einem zweiten Wahlgang. Diese auch von Theodor Heuss favorisierte Variante war für die FDP durchaus erfolgversprechend, weil sie der Partei bei der Vorbereitung der Stichwahl die Möglichkeit von Wahlbündnissen eröffnete. Ob Thomas Dehler die weitergehende Möglichkeit des relativen Mehrheitswahlrechts nach britischem Muster befürwortete und damit bereit war, „die FDP preiszugeben“, scheint mit den bisher zitierten Quellen noch nicht bewiesen zu sein533. Zu Beginn des Parlamentarischen Rates schlug der FDP-Abgeordnete Dr. Becker vor, die Wahlkreiskandidaten nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht mit einem zweiten Wahlgang zu wählen. Da dieser Gedanke von der CDU/CSU nicht aufgegriffen wurde, favorisierte Becker ab Mitte Oktober 1948 532 Sitzung des PV am 28. und 29. 5. 1948 in Springe sowie Beschluß (SPD-PV Protokolle 1948 - AdsD); E.H.M. Lange: Wahlrecht und Innenpolitik...S.250 ff. 533 So U. Wengst: Thomas Dehler 1897-1967. Eine politische Biographie, München 1996, S. 122 f. Nach dem Protokoll der Landesvorstandssitzung der FDP in Bayern vom 19.11.1948 berief sich Dehler tatsächlich auf das britische Beispiel, während Dr. Linnert an das deutsche Wahlrecht vor 1918 anknüpfte. In einem Brief an Stelzner vom 20.9.1948 sprach Dehler nur von offensichtlichen Nachteilen für die „liberale Mitte“ beim Mehrheitswahlrecht (ADL NL Dehler N1-21 und N1-922). 194 mit der FDP-Fraktion das Verhältniswahlrecht in seiner personalisierten Form. Das absolute Mehrheitswahlrecht mit Stichwahl wurde von der Deutschen Partei vertreten. Aufgrund ihrer regionalen Hochburg in Niedersachsen hatte die Partei mit diesem Wahlrecht durchaus Aussichten auf Mandatsgewinne. Die Zentrumspartei entschied sich frühzeitig für ein Verhältniswahlsystem, das auch von der KPD ohne Einschränkung befürwortet wurde. Die Meinungsbildung in der CDU/CSU zum Wahlrecht verlief komplizierter als bei den anderen Parteien und blieb auch nach Beendigung der Grundgesetzberatungen zweideutig. In der britischen Zone diskutierte die CDU ausführlich über die Wahlrechtsfrage. Hierbei setzten sich die Vertreter des Mehrheitswahlrechts durch. Allerdings wurde nicht genau festgelegt, welche Form des Mehrheitswahlrechts anzustreben sei. Die süddeutschen Landesverbände zeigten an der Wahlrechtsfrage wenig Interesse und hielten am Verhältniswahlrecht fest. Splitterparteien sollten jedoch keine Vertretung in den Parlamenten erhalten, und das Persönlichkeitselement im Wahlrecht sollte verstärkt werden. Dies gilt auch für Bayern: Nach der Niederlage der CSU bei den Kommunalwahlen vom Frühjahr 1948 und den Stimmenverlusten zugunsten der Bayernpartei war ein Mehrheitswahlrecht für die Parteiführung kaum akzeptabel. Andererseits gab es in den Reihen der CDU/CSU einflussreiche Dogmatiker des Mehrheitswahlrechts. Sie hatten in der Regel die Unterstützung der von Dolf Sternberger initiierten „Deutschen Wählergesellschaft“ und nahmen keine Rücksicht auf parteitaktische Überlegungen. Im Parlamentarischen Rat gehörte hierzu der CSU-Abgeordnete Dr. Gerhard Kroll. Er vertrat im Wahlrechtsausschuss mit Nachdruck das relative Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster, bis er schließlich von der Unionsfraktion Anfang Dezember 1948 abgelöst wurde. In der CDU/CSU-Fraktion wirkte bei aller Pragmatik der konstitutionell-demokratische Gedanke von der Aufwertung der Persönlichkeit fort. Mit dem Verhältniswahlrecht dagegen glaubte man den „kollektivistischen“ Tendenzen Vorschub zu leisten. Der Abgeordnete Kaufmann (CDU) zeigte sich als Nachfolger Krolls im Wahlrechtsausschuss zunächst kompromissbereit, so dass eine Einigung der beiden großen Fraktionen erreichbar schien. Dem Plenum des Parlamentarischen Rates lag im Februar 1949 ein Wahlgesetzentwurf vor, der als personalisiertes Verhältniswahlrecht einzuordnen ist. Die Hälfte der 410 Abgeordneten sollte in den Wahlkreisen mit relativer Mehrheit gewählt, die andere Hälfte von den Landes- und einer Bundesliste ergänzt werden - und zwar unter Anrechnung der gewonnenen Direktmandate. Der Entwurf enthielt damit bereits im Kern den Wahlmodus späterer Bundestagswahlen. Eine Sperrklausel für kleinere Parteien fehlte allerdings noch. Diese erste Fassung des Wahlgesetzes wurde am 24. Februar 1949 im Parlamentarischen Rat gegen das Votum der CDU/CSU und der DP angenommen. Die Unionsfraktion hatte wenige Tage vorher im Hauptsausschuss die Einführung des britischen Mehrheitswahlrechts beantragt und war erwartungsgemäß mit 8 zu 13 Stimmen unterlegen. Lange führt die Haltung der CDU/CSU auf wahltaktische Überlegungen zurück und bezweifelt die Ernsthaftigkeit des Antrags auf Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts. Die Unionsfraktion wollte demnach das populäre Prinzip der Persönlichkeitswahl weiterhin vertreten und hoffte außerdem, bei der bevorstehenden Wahl von der verbreiteten Anti-Parteien-Stimmung zu profitieren. Diese Interpretation wird durch die Ausführungen Adenauers vor dem Wahlausschuss der CDU/CSU-Arbeitsgemeinschaft bestätigt. Die Union sollte demnach in einzelnen Ländern das Verhältniswahlrecht zum Bundestag unterstützen, aber „wegen der Wahlparole“, die man „nicht einfach verleugnen“ könne, weiterhin das Mehrheitswahlrecht propagieren. Die Unionsfraktion des Parlamentarischen Rates beschloss, am Mehrheitswahlrecht festzuhalten und sich überstimmen zu lassen. Im Protokoll heißt es hierzu: „Das lässt sich später für die Wahl propagandistisch auswerten“534. 534 E. H. M. Lange: Wahlrecht und Innenpolitik....S. 358; Die Unionsparteien 1946-1950....S. 382; Die CDU/CSU im Parlamentarischen Rat...S. 403 195 Die Auseinandersetzung um das Wahlrecht war damit aber keineswegs beendet, denn die drei Militärgouverneure erhoben gleichzeitig mit ihren Einwänden zum Grundgesetzentwurf vom 2. März 1949 auch Einwände gegen das vom Parlamentarischen Rat beschlossene Wahlrecht. Sie stellten fest, der Parlamentarische Rat sei in dieser Sache nach den Londoner Vereinbarungen nicht zuständig, und schlugen vor, die Ministerpräsidenten sollten die erforderlichen Wahlgesetze „in jedem Landtag“ vorbereiten. Der Parlamentarische Rat wurde von den Militärgouverneuren ermächtigt, die Zahl und die Verteilung der Abgeordneten auf die Länder festzulegen. Das von ihm verabschiedete Wahlgesetz könne auch als Modell (model law) für die Landesgesetzgebung dienen535. Der Anlass für den Einspruch der Besatzungsmächte waren offenbar die föderalistischen Motive der Franzosen und die Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten, während die Briten sich neutral verhielten. Der Hinweis auf die Beschlüsse der Londoner Sechsmächtekonferenz hatte jedenfalls große Bedeutung, weil man wusste, dass die französische Regierung sich von den damaligen Vereinbarungen wieder zurückziehen wollte. Auf deutscher Seite führte die bereits erwähnte Perspektive, jedes Land könne sein eigenes Bundeswahlgesetz festlegen, zu erneuten wahltaktischen Manövern. Die CDU/CSU setzte einen „Arithmetiker-Ausschuss“ ein, der die Erfolgsaussichten bei unterschiedlichen Wahlrechtssystemen ausrechnen sollte, aber selbst in die Kritik geriet, weil er gute Wahlergebnisse der Bayernpartei und des Zentrums voraussetzte. In der Union ging man von der Überlegung aus, dass die SPD die Durchsetzung des Mehrheitswahlrechts in süddeutschen Ländern mit einem entsprechenden Schritt in einigen norddeutschen Ländern beantworten würde, wo sozialdemokratische Mehrheiten zu erwarten waren. Die Ministerpräsidenten befassten sich auf ihrer Konferenz in Königstein am 24. März 1949 ausführlich mit der Wahlrechtsproblematik und spielten den ihnen von den Militärgouverneuren zugeworfenen Ball zurück: Sie sprachen sich für ein einheitliches Wahlgesetz im zukünftigen Bundesgebiet aus und baten den Parlamentarischen Rat, ein solches Wahlgesetz nach erneuten Beratungen mit Zweidrittelmehrheit zu beschließen. Die Besatzungsmächte räumten dem Parlamentarischen Rat schließlich am 14. April die Kompetenz zur Festlegung des Wahlsystems ein. Der Wahlrechtsausschuss des Parlamentarischen Rates machte sich daraufhin erneut an die Arbeit und legte Anfang Mai 1949 einen wenig geänderten Entwurf vor, der auf die von den Besatzungsmächten beanstandete Bundesliste verzichtete. Dieser zweite Wahlgesetzentwurf wurde zwar am 9. Mai 1949 im Hauptausschuss und am folgenden Tag im Plenum angenommen. Eine Zweidrittelmehrheit kam jedoch in beiden Gremien nicht zustande, weil die CDU/CSU am Mehrheitswahlrecht festhielt und offenbar auch die beiden Abgeordneten der DP der Vorlage nicht zustimmten. Die Militärgouverneure nahmen am 28. Mai zu dem vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Wahlgesetz in einem Schreiben an die Ministerpräsidenten Stellung, dessen Text keineswegs eindeutig war. Sie machten konkrete Einwände von untergeordneter Bedeutung geltend. Darüber hinaus sollten die Ministerpräsidenten das Wahlgesetz gegebenenfalls so ändern, dass in ihrem Kreis die Zustimmung einer „erheblichen Mehrheit“ erreicht werde. Ausschlaggebend für die erneuten Einwände war zunächst die Verabschiedung des Wahlgesetzes gegen die Stimmen der CDU/CSU. Neben der fehlenden Zweidrittelmehrheit spielte aber offenbar auch die ab dem 23. Mai 1949 in Paris tagende Außenministerkonferenz der vier Besatzungsmächte eine Rolle. Der amerikanische Außenminister Acheson und die französische Regierung hofften offenbar, dass mit der Beendigung der Blockade WestBerlins doch noch eine Lösung des Deutschlandsproblems unter Beteiligung der Sowjetunion gefunden werden könne. Das Hinausschieben des Wahlrechts bot sich als ein letztes Mittel zur Verzögerung der 535 PR Akten und Protokolle Bd. 8, S. 145 f. 196 Weststaatsgründung an. Die Ministerpräsidenten änderten das Wahlgesetz des Parlamentarischen Rats in zwei wesentlichen Punkten: Sie erhöhten die Zahl der Direktkandidaten von 50 % auf 60 % und führten eine 5 %-Klausel ein. Die Militärgouverneure reduzierten diese 5 %-Hürde, indem sie festlegten, die Sperrklausel dürfe nicht für die Bundesebene gelten, sondern nur für das Abstimmungsergebnis in den einzelnen Ländern. Vertreter der SPD, der FDP und des Zentrums protestierten heftig gegen die Einmischung der Militärgouverneure und Ministerpräsidenten. Die Besatzungsmächte machten dem Streit ein Ende, indem sie am 13. Juni 1949 die Ministerpräsidenten anwiesen („Kraft unserer obersten Gewalt“), das Wahlgesetz in der von ihnen abgeänderten Fassung zu verkünden. Trotz der Intervention der Besatzungsmächte und der Einmischung der Ministerpräsidenten entsprach das Wahlrecht zum ersten Bundestag den Mehrheitsentscheidungen des Parlamentarischen Rates. Der Wahlmodus des personalisierten Verhältniswahlrechts war eine rein deutsche Konstruktion, die bei den Briten und Amerikanern kaum Begeisterung erwecken konnte. Formal war das Wahlgesetz jedoch Besatzungsrecht und ist deshalb der Schattenseite des Demokratiegründungsprozesses zuzuordnen. Der Widerspruch zwischen der Art und Weise seiner Verordnung und dem inzwischen von den Besatzungsmächten gebilligten Grundgesetz war nicht zu übersehen, denn im Art. 137 Abs. 3 GG hieß es, der Parlamentarische Rat habe das Wahlgesetz zum ersten Bundestag zu beschließen. Die Positionen der Parteien in der Wahlrechtsfrage waren kaum deckungsgleich mit ihren Demokratievorstellungen ihren Demokratievorstellungen: Die Sozialdemokraten als Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie befürworteten keineswegs das Mehrheitswahlrecht, obwohl dessen allgemein angenommener mehrheitsbildender Effekt die Aktionsfähigkeit des unmittelbar gewählten Parlaments erhöht hätte. Auch die Vertreter der konstitutionellen Demokratie propagierten das aus ihrer Sicht „falsche“ Wahlverfahren: Wenn das verfassungspolitische Ziel darin bestand, die direkt gewählte Volksvertretung durch eine Zweite Kammer, durch die Judikative oder auch durch die Festlegung von „Lebensordnungen“ in der Verfassung zu bremsen, machte ein mehrheitsbildendes Wahlrecht wenig Sinn. Logischer wäre das Eintreten für ein Verhältniswahlrecht nach Weimarer Muster gewesen um die „Diktatur einer parlamentarischen Mehrheit“ (Süsterhenn) zu verhindern. Der im Juni 1949 einsetzende Wahlkampf eskalierte in einer Konfrontation, bei der es nicht nur um die akuten Probleme der Wirtschaftspolitik, sondern auch um weltanschauliche Fragen ging. Da alle Parteien bestrebt waren, sich von den Besatzungsmächten abzugrenzen, spielte der Vorwurf der Kooperation mit den Militärregierungen ebenfalls eine Rolle. Kurt Schumacher als SPD-Vorsitzender und Konrad Adenauer als Vorsitzender der CDU in der britischen Besatzungszone bildeten die beiden Pole des Schlagabtausches, der sich häufig in der Nähe der Gürtellinie bewegte. Die Unterstützung der CDU/CSU durch Vertreter des katholischen Klerus veranlasste Schumacher zu bitteren Vorwürfen gegen die sogenannten christlichen Parteien, zu denen er auch die DP und das Zentrum rechnete. Seine Warnung, die katholische Kirche könne die Rolle einer fünften Besatzungsmacht einnehmen, verstärkte die kulturkämpferischen Elemente des Unionswahlkampfes. Schumacher verprellte hiermit nicht nur mögliche Koalitionspartner, sondern auch Wähler aus der katholischen Arbeiterschaft. Adenauer behauptete im Wahlkampf, die SPD sei am Ende der Grundgesetzberatungen von britischer Seite vorab über die nachgebende Note der Außenminister informiert worden und habe auf diese Weise mit der britischen Besatzungsmacht kollaboriert. Schumacher konterte mit Vorwürfen gegen die Zusammenarbeit von Unionspolitikern mit der französischen Militärregierung. Während in diesen Vorwürfen jeweils noch ein Körnchen Wahrheit steckte, war die Attacke Adenauers gegen die mangelnde Standhaftigkeit der Sozialdemokraten in der sowjetischen Zone bei der Zwangsvereinigung zur SED ausgesprochen unfair536. 536 H. Köhler: Adenauer...S. 509-518; K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei...S. 174-178; T. Eschenburg u.a.: Jahre der Besatzung 1945-1949, Stuttgart-Wiesbaden 1983, S. 529-536 197 Das gegenseitige „negative campaigning“ schadete offenbar den beiden großen Parteien. Die Sozialdemokraten gerieten beim Austausch der Angriffe und Unterstellungen häufig auf politische Nebengleise. Die zentralen Themen ihres Wahlaufrufs (Lebensstandard, Lastenausgleich, Wirtschaftsordnung, Vollbeschäftigung, Sozialisierung und Bodenreform) traten bei ihrer Agitation vorübergehend in den Hintergrund. Die CDU/CSU verfügte auf diesem Sektor mit Ludwig Erhard über eine unermüdliche Wahlkampflokomotive. Der Frankfurter Wirtschaftsdirektor, den man in der Öffentlichkeit sowohl der Union als auch den Liberalen zuordnete, absolvierte an die 90 Wahlreden. Er war der einzige prominente Redner der CDU, der auch in Bayern auftrat. Er überzeugte allerdings mehr durch seine Persönlichkeit und sein „polemisches Talent“ als durch die Überzeugungskraft seiner Argumente. Gelegentlich gab es in seinen Veranstaltungen auch Proteste und Rücktrittsforderungen537. Wichtiger als die Details des Wahlkampfes ist in diesem Zusammenhang die Frage, welche koalitionspolitischen Vorstellungen die maßgebenden Persönlichkeiten hatten, denn mit einer absoluten Mehrheit war angesichts der vorangehenden Landtagswahlen und des Verhältniswahlrechts kaum zu rechnen. Schumacher stellte bereits zu Beginn des Wahlkampfes zwei weitreichende Bedingungen für eine sozialdemokratische Regierungsbeteiligung auf: Die SPD müsse aus der Wahl „als der kräftigste politische Faktor“ hervorgehen und für die Regierungsbildung unentbehrlich sein. Die Koalitionspartner hätten außerdem das von der SPD vorgelegte Regierungsprogramm zu akzeptieren. Diese auf ein „Alles oder Nichts“ hinauslaufende Position war eigentlich nur sinnvoll, wenn man der Regierungs- und der Oppositionsrolle gleichen Rang zubilligte, was Schumacher in seiner Rede vor dem SPD-Parteitag 1948 auch offen ausgesprochen hatte. Adenauer äußerte sich ebenfalls anerkennend über die Rolle der „konstruktiven Opposition“, ging aber hierbei nach dem Bericht seines Biographen Henning Köhler davon aus, dass die „richtige“ Partei die Regierung übernehme538. Seine Äußerungen vor der Unionsfraktion des Parlamentarischen Rates und vor den Parteigremien lassen klar erkennen, dass er eine Koalition mit der FDP und der DP anstrebte. Für die beiden Hauptkontrahenten im Wahlkampf schied eine Große Koalition oder eine Allparteienregierung aus. Auf beiden Seiten gab es aber auch einflussreiche Befürworter eines Bündnisses der beiden großen Parteien. Bei der CDU/CSU waren dies vor allem die Ministerpräsidenten Arnold (Nordrhein-Westfalen), Altmeier (Rheinland-Pfalz) und Müller (Württemberg-Hohenzollern) sowie die Landesminister Hilpert (Hessen) und Gereke (Niedersachsen). In der SPD befürwortete vor allem Carlo Schmid die Große Koalition, gab diesen Gedanken aber angesichts der zunehmenden Konfrontation bereits vor dem Wahltermin wieder auf. Im Parteivorstand setzten sich nach der Wahl die Berliner Vertreter Schroeder und Suhr, der Bremer Regierende Bürgermeister Kaisen sowie die nordrheinwestfälischen Politiker Görlinger und Henßler für Gespräche mit der CDU ein. 537 V. Hentschel: Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München-Landsberg 1996, S.86 f. 538 K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei...S.177 f.; H. Köhler: Adenauer...S. 516 198 Das Wahlergebnis der ersten Bundestagswahl vom 14. August 1949 konnte weder von CDU/CSU noch von der SPD als Wahlsieg betrachtet werden. Im Vergleich zu den vorausgehenden Landtagswahlen verloren die großen Parteien z.T. erhebliche Wähleranteile. Der Unionsanteil ging um 12,7 % zurück. Die CDU-Verluste waren in Hessen, Hamburg und Bremen besonders hoch. In Bayern sank der CSU-Anteil von 52,9 auf 29,2 %. Lediglich in Rheinland-Pfalz konnte die CDU ihr Ergebnis gegenüber der Landtagswahl von 1947 verbessern. Insgesamt kamen CDU und CSU bei der ersten Bundestagswahl auf 31 % der gültigen Stimmen. Bei der SPD sah die vergleichende Bilanz noch schlechter aus. In SchleswigHolstein, Hessen und Niedersachsen verlor die Partei gegenüber den Landtagswahlen zwischen 14,2 und 10 %. In keinem Bundesland gab es eine positive Bilanz für die Sozialdemokraten. Im Bundesergebnis lagen sie mit 29,2 % knapp hinter den Unionsparteien. Beim Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den beiden Großen spielte das Land Nordrhein-Westfalen eine entscheidende Rolle, denn hier wohnten 27,8 % der Wahlberechtigten. Beide Parteien verloren hier nur 0,6 %. Dies bedeutete aber, dass die CDU ihren Vorsprung vor den Sozialdemokraten im größten Bundesland mit 36,9 % zu 31,4 % verteidigte. Im industriell-katholischen Milieu gewann die SPD nach Falter nur 24,8 %, die CDU/CSU dagegen 40,7 % der Stimmen. Gewinner der Bundestagswahl waren die kleineren Parteien, allen voran die zur FDP zusammengeschlossenen liberalen Landesverbände. Sie verloren zwar in Bremen, Niedersachsen und Hamburg, lagen dafür in Hessen aber mit 28,1 % deutlich vor der CDU und konnten sich in Nordrhein-Westfalen von 5,9 % bei der Landtagswahl auf 8,6 % verbessern. Insgesamt kamen sie im Bundesgebiet auf 11,9 % der gültigen Stimmen. Wahlsieger war auch die Bayernpartei. Sie hatte an Landtagswahlen noch nicht teilgenommen und gewann auf Anhieb 20,9 % der bayerischen Stimmen. Auch die Deutsche Partei konnte sich zu den Gewinnern zählen. Sie hielt ihren Anteil im Stammland Niedersachsen (17,8 %) und war in Bremen, Hamburg sowie Schleswig-Holstein ähnlich erfolgreich, was zu einem Bundesergebnis von 4 % führte. Zu den Verlierern gehörte die Zentrumspartei. Sie blieb auf Nordrhein-Westfalen beschränkt und verlor hier nahezu 1 %. Der eindeutigste Verlierer war die KPD, denn sie musste in allen Bundesländern erhebliche Verluste hinnehmen. Obwohl ihr Stimmenanteil gegenüber den vorausgehenden Landtagswahlen um ca. 40 % sank, blieb sie mit 5,7 % viert stärkste Partei im Bundestag539. Insgesamt kamen zwölf Parteien und zwei unabhängige Abgeordnete in den ersten Bundestag. Das Ergebnis erinnert deshalb an die Reichstage der Weimarer Republik, denn von einer Konzentration der Stimmen auf wenige Parteien konnte man kaum sprechen. 3. Die Klärung offener Fragen Das Resultat der ersten Bundestagswahl bildete die Voraussetzung für die Lösung wichtiger Fragen, die während des Parlamentarischen Rates noch nicht entschieden waren. Dies galt an erster Stelle für die Koalitionsbildung und die Zuordnung der Parteien im Parteiensystem. Das Wahlergebnis vom 14. August 1949 wirkt wegen der zahlreichen kleinen Parteien im Bundestag auf den ersten Blick verwirrend, weil es an die Weimarer Reichstage erinnert, und die beiden großen Parteien mit ihren Stimmanteilen von ca. 30 % kaum zufrieden sein konnten. Ein Blick auf die Mandatsverteilung lässt erkennen, dass es trotz des mäßigen Abschneidens von CDU/CSU und SPD und der vielen kleinen Parteien im Bundestag doch einen Wahlsieger gab: Die inoffizielle Koalition im Frankfurter Zweizonen-Wirtschaftsrat, bestehend aus CDU/CSU, FDP und DP, verfügte im neugewählten Bundestag über insgesamt 208 von 402 Sitzen und damit über eine knappe Mehrheit. Informell war die Frankfurter Koalition insofern, als FDP und DP in der „Bizonen-Regierung“, dem Direktorium, gar nicht vertreten waren - es sei denn, man rechnete den parteilosen Ludwig Erhard 539 W. Hirsch-Weber/ K. Schütz: Wähler und Gewählte. Eine Untersuchung der Bundestagswahlen 1953, Berlin-Frankfurt 1957, S. 163-188; J. W. Falter: Kontinuität und Neubeginn. Die Bundestagswahl 1949 zwischen Weimar und Bonn (PVS 22, 1981, S. 236-263) 199 teilweise den Liberalen zu. Adenauer verfolgte das Ziel, auf der Basis dieser vier Parteien eine Bundesregierung unter seiner Kanzlerschaft zu bilden. Gegenstand seiner zahlreichen Koalitionsgespräche waren hierbei nicht nur die Ministerposten, sondern auch die Ämter des Bundespräsidenten und des Bundesratspräsidenten. Die Sozialdemokraten hatten mit ihren 131 Abgeordneten keine Möglichkeit, eine Koalition unter ihrer Führung zusammenzustellen. Die FDP kam aus wirtschaftspolitischen Gründen als Partner nicht in Frage und wäre auch zur Mehrheitsbildung nicht ausreichend gewesen. Nach dem erfolgreichen Abschneiden der „rechten“ FDP-Verbände in Nordrhein-Westfalen und Hessen war die 52-köpfige FDP-Fraktion des Bundestages von den Sozialdemokraten wesentlich weiter entfernt als die fünf Liberalen im Parlamentarischen Rat. Die KPD (15 Sitze) schied als Koalitionspartner aus, das Zentrum war mit 10 Sitzen zu schwach, und eine Verbindung der Sozialdemokraten mit der DP oder der Bayernpartei zog niemand ernsthaft in Erwägung. Die Große Koalition, gegebenenfalls ergänzt durch weitere Parteien, bildete deshalb die einzige Alternative zur „bürgerlichen“ Koalition Adenauers. Das taktische Vorgehen des ersten Bundeskanzlers und seine Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung wurden mehrfach ausführlich beschrieben540. Unter den Gegnern seiner Koalitionspläne hatten vor allem die Ministerpräsidenten politisches Gewicht. Die Mehrheit von ihnen befürwortete eine Große Koalition. Auf ihrer Konferenz in Koblenz am 25. August sprachen sie sich für die Bildung einer „starken und vom Volk getragenen Bundesregierung“ aus. Mit ihrer Wahl des nordrhein-westfälischen CDURegierungschefs Arnold zum Präsidenten des Bundesrates durchkreuzten sie Adenauers Personalpolitik. Dieser hatte das Präsidium des Bundesrates dem bayerischen Ministerpräsidenten Ehard zugesagt und musste sich nun mit den Kompensationsforderungen der CSU auseinandersetzen. Das größte Hindernis für Adenauers Regierungsbildung waren die Vorbehalte in der CDU/CSU-Fraktion gegen die Wahl von Theodor Heuss zum Bundespräsidenten. In fünf langen Fraktionssitzungen und weiteren Besprechungen führender Unionspolitiker musste der designierte Bundeskanzler sich mit Einwänden gegen Heuss auseinandersetzen, die mit wechselnden Begründungen vorgebracht wurden. Bedenken machten vor allem der hessische Finanzminister Hilpert, der stellvertretende CDU-Vorsitzende in der britischen Zone, Holzapfel, sowie die späteren Minister v. Brentano und Schröder geltend. Der spätere Bundeskanzler Kiesinger erklärte, Heuss sei für ihn „ein liebenswerter Überrest des 19. Jahrhunderts“541. Die Einwände bezogen sich vor allem auf die angebliche mangelnde Kirchentreue des ersten Bundespräsidenten und auf die mit seiner Wahl verbundene Aufwertung der FDP. Die in der Unionsfraktion genannten personellen Alternativen waren jedoch wenig überzeugend. Neben der Wahl eines evangelischen Kirchenvertreters oder gar eines Sozialdemokraten wurde zum Schluss der Diskussion mehrfach der Ernährungsdirektor der Bizone, Schlange-Schöningen, genannt. Er fand aber keine ausreichend Unterstützung in der Fraktion, obwohl er seine Bereitschaft zur Kandidatur erklärte. Auf Seiten der SPD gab es nur bei den Ministerpräsidenten ernsthafte Versuche, Adenauers Koalitionspläne zu verhindern. Die Parteiführung nannte am Tag nach der Wahl die Besetzung des Wirtschaftsministeriums als Bedingung für eine Regierungsbeteiligung und unterstützte damit indirekt die Befürworter der kleinen Koalition in den Unionsparteien. Die von Schumacher verfasste Stellungnahme des Parteivorstands sagte bereits am Tag nach der Wahl die Bildung eines Bürgerblocks voraus und erklärte „große Massen des Volkes“ hätten „gegen ihre ureigensten wirtschaftlichen und sozialen Interessen gewählt“. Die erste Sitzung des SPD-Parteivorstandes nach der Bundestagswahl fand erst am 540 H. Köhler: Adenauer....S.518-552; H.-P. Schwarz: Adenauer. Der Aufstieg...S. 619-638; K. Niclauß: Kanzlerdemokratie. Bonner Regierungspraxis von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, Stuttgart 1988, S. 22-25 541 Auftakt zur Ära Adenauer. Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung 1949, bearb. von U. Wengst, Düsseldorf 1985, S. 255 und passim 200 29./30. August 1949 in Bad Dürkheim statt. Henßler aus Dortmund, die Berliner Vertreterin Louise Schröder und der Bremer Regierungschef Kaisen befürworteten Koalitionsgespräche mit der CDU/CSU, konnten sich aber gegen Schumacher, Ollenhauer, Schmid und Schoettle nicht durchsetzen. Der SPDParteivorstand formulierte auf dieser Sitzung sein Oppositionsprogramm, die „Dürkheimer 16 Punkte“, bevor die CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 1. September erstmals zusammentrat. Schumacher war auch nicht davon abzubringen, sich als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten aufstellen zu lassen. Mit dieser „Kampfkandidatur“ sicherte er die in der Union bis zuletzt umstrittene Wahl von Heuss und damit den wichtigsten Eckstein in Adenauers Koalitionsgebäude. Die Aufstellung eines sozialdemokratischen Kompromisskandidaten oder gar das Votum für einen CDU-Politiker hätte Adenauer in große Schwierigkeiten gebracht542. Obwohl die Sozialdemokraten bereits frühzeitig die Oppositionsrolle übernahmen, blieb die Bildung der ersten Regierung Adenauer bis zuletzt unsicher. Dies zeigte sich auch am Tag der Kanzlerwahl: Adenauer erhielt am 15. September 1949 202 Stimmen und blieb damit um 6 Stimmen hinter seiner Koalitionsmehrheit zurück. Da zwei FDP-Abgeordnete abwesend waren, und ein zustimmendes Votum möglicherweise aus der Bayernpartei kam, haben offenbar fünf Abgeordnete der zukünftigen Regierungsparteien gegen Adenauer gestimmt. Die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie hatten sich bei den Grundgesetzberatungen weitgehend durchgesetzt, die Wahlen nicht gewonnen und bei der Regierungsbildung verloren. Dies galt zumindest für die Sozialdemokraten und für die Zentrumspartei, soweit diese dem mehrheitsdemokratischen Konzept folgte. Die Liberalen zogen das glücklichste Los: Sie hatten im Parlamentarischen Rat an der Seite der SPD für ausreichende Bundeskompetenzen und für eine in weltanschaulicher Hinsicht offene Verfassung gegen die Unionsparteien gefochten und waren jetzt der unentbehrliche Koalitionspartner Adenauers. Den Sozialdemokraten mussten Grundgesetz und Regierungssystem wie ein nach eigenen Wünschen konstruiertes Gebäude erscheinen, das von einem fremden Käufer erstanden und nach dessen Vorstellungen genutzt wird. Der Grund dafür, dass die Ziele der sozialen Mehrheitsdemokratie nur in der Verfassung, aber nicht in der anschließenden inhaltlichen politischen Gestaltung verwirklicht wurde, lag in Fehleinschätzungen, die nicht zuletzt dem Parteivorsitzenden Schumacher anzulasten sind. Die polemisch vorgetragene These, die CDU/CSU sei ein heterogenes Gebilde, war durchaus zutreffend. Die hieraus seit dem Frankfurter Wirtschaftsrat abgeleitete Taktik der Oppositionsrolle und der klaren Fronten führte jedoch zur Konsolidierung des politischen Gegners auf Kosten der Unionskreise, die der SPD in der wirtschaftspolitischen Programmatik nahe standen. Der Erfolg der sozialdemokratischen Fraktion im Parlamentarischen Rat ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sie sich diesem Konzept der klaren Fronten entzog und die Differenzen innerhalb der CDU/CSU durch Kooperation in unterschiedliche Richtungen ausnutzte. Die CDU/CSU hatte bei den Grundgesetzberatungen mehrere Niederlagen hinnehmen müssen, bei den Wahlen kaum mehr als einen Achtungserfolg erreicht und bei der Regierungsbildung die Führungsrolle übernommen. Zusammen mit der FDP konnte sie die Modernität des Grundgesetzes für einen wirtschaftspolitischen Erfolgkurs nutzen, der aber weder so marktwirtschaftlich noch so sozial war, wie Ludwig Erhard ihn propagierte. Während die Regierung Adenauer das mehrheitsdemokratische Instrumentarium des Grundgesetzes anwandte, und z.B. die konkurrierende Gesetzgebung nahezu vollständig als Bundesgesetzgebung in Anspruch nahm, verstärkten sich allerdings auch die konstitutionell-demokratischen Gegengewichte. Hinsichtlich des Bundesrats war Adenauer nach der aus seiner Sicht missglückten Wahl des Bundesratspräsidenten vorgewarnt. Er versuchte mit Erfolg, die Koalitionsbildung in den Ländern im Sinne des Bonner Vorbilds zu beeinflussen. Bis 1953 blieb die Zusammensetzung des Bundesrates jedoch ein Unsicherheitsfaktor. Im Jahre 1952 ließ z. B. der FDP-Ministerpräsident von Baden-Württemberg, 542 K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei...S.188 ff.; W. Albrecht (Hrsg.): Kurt Schumacher. Reden Schriften - Korrespondenzen 1945-1952, Berlin-Bonn 1985, S. 681 ff. 201 Reinhold Maier, die Verträge zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft entgegen dem Mehrheitsvotum seiner sozialliberalen Landesregierung passieren. Gleichzeitig nahm die Zahl der Zustimmungsgesetze, bei denen die Länderkammer ein absolutes Vetorecht hat, ständig zu. Die mit der sozialen Mehrheitsdemokratie verbundenen Reformziele hatten nach der Wahl- und Koalitionsentscheidung vom August/September 1949 keine Aussicht auf Verwirklichung. Zum Bereich des öffentlichen Dienstes legte die Bundesregierung bereits im Oktober 1949 ein vorläufiges Bundespersonalgesetz vor, das eine kaum veränderte Version des Deutschen Beamtengesetzes von 1937 darstellte. Anfang März 1950 wurde dieses Gesetz mit den Stimmen der Regierungskoalition, der Bayernpartei und der Deutschen Rechtspartei angenommen, während SPD und KPD gegen die Vorlage stimmten. Die Alliierte Hohe Kommission erhob zwar Einspruch gegen das Gesetz. Die Besatzungsmächte nahmen diesen Einspruch jedoch nach geringfügigen Veränderungen zurück und suspendierten ihr eigenes Beamtengesetz Nr. 15, das sie seinerzeit für die Bizone erlassen hatten. Der öffentliche Dienst wurde damit nicht nur „unter Berücksichtigung“ der hergebrachten Grundsätze geregelt, wie die Kompromissformulierung des Parlamentarischen Rates lautete, sondern im Sinne einer vollständigen Restauration. Ähnlich verliefen die Beratungen über den Personenkreis, der zum Zeitpunkt der Kapitulation des deutschen Reiches im öffentlichen Dienst stand, aber bisher keine entsprechende Stelle erhalten hatte (Art. 131 GG). Bei der Vorbereitung des entsprechenden Gesetzes wurden die aufgrund der Entnazifizierung entlassenen Beamten auf geschickte Weise mit den echten Sozialfällen (Heimatvertriebene, Beamte aufgelöster Dienststellen, Berufssoldaten) vermischt. Die „entnazifizierten 131er“ (C. Garner) entgingen damit der öffentlichen Aufmerksamkeit. Die großzügige Wiedereingliederungsregelung kam schließlich allen „verdrängten“ Beamten zugute und wurde mit den Stimmen der Opposition angenommen543. Die Frage der Überführung von Industrien in Gemeineigentum war nach Bildung der ersten Bundesregierung nur noch theoretisch offen. Entsprechende Forderungen wurden zwar beim Gründungskongress des DGB vom 12. bis 14. Oktober 1949 verabschiedet. Die Bonner Koalition dachte jedoch nicht daran, auf diesem Gebiet die Initiative zu ergreifen. Die Alliierte Hohe Kommission erließ zunächst ein neues Gesetz (Gesetz Nr. 27 vom 16. Mai 1950), das die Aufgliederung der Eisen- und Stahlindustrie vorantrieb. In einer hieran anschließenden Verordnung wurden die Direktoren der alten Konzerne zu Liquidatoren bestellt. Die Eigentumsfrage blieb jedoch weiterhin offen und wurde auch in Art. 83 des Vertrages über die EGKS vom 18. April 1951 ausdrücklich ausgeklammert. Im April 1951 beschloss jedoch die Hohe Kommission, die Aufgliederung der Montanbetriebe mit einem Aktienumtausch zu verbinden, der die Altbesitzer auch zu Besitzern der neuen Betriebe machte. Der britische Vertreter legte hiergegen ein Veto ein, wurde jedoch von seinen amerikanischen und französischen Kollegen überstimmt. Die Besatzungsmächte waren offenbar der Auffassung, da eine deutsche Sozialisierungsinitiative nicht zu erwarten sei, hätten sie ihre Zusage, die Deutschen selbst könnten über die Eigentumsregelung entscheiden, inzwischen erfüllt. Hartwich kommt in seiner Studie zu dem Resultat: „Die alten Verhältnisse wurden wiederhergestellt, nachdem durch die besatzungsrechtlichen Eingriffe vorübergehend eine zumindest offene Situation geschaffen worden war“544. 543 U. Wengst: Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948-1953, Düsseldorf 1988, S. 108 ff. und S. 152 ff.; C. Garner: Der öffentliche Dienst in den fünfziger Jahren...in: A. Schildt/ A. Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 759790 544 H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, Köln-Opladen 1970, S. 189 f; E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung 1945-1952, Frankfurt 1970, S. 176-187; B. Ruhm von Oppen (Hrsg.): Documents on Germany under Occupation 1945-1954, London 1955, S. 490 f. und 513 ff. sowie K. Pritzkoleit: Die neuen Herren. Die Mächtigen in Staat und Wirtschaft, Wien u.a. 1955, S. 353 f. 202 In der Frage der betrieblichen Mitbestimmung drohte ein ähnliches Scheitern der Reformbestrebungen wie bei der Eigentumsstruktur. Die Gewerkschaften gingen zunächst davon aus, die Mitbestimmung der Eisen- und Stahlindustrie auf alle Großbetriebe ausdehnen zu können. Die Intentionen der Unternehmer, die sich inzwischen im BDI und in der BDA reorganisiert hatten, liefen in die entgegengesetzte Richtung. Hier bezweifelte man, ob die mit Unterstützung der britischen Besatzungsmacht zu Beginn des Jahres 1947 durchgesetzte Form der Mitbestimmung mit der deutschen Rechtsordnung und mit dem Ziel des wirtschaftlichen Wiederaufbaus zu vereinbaren sei. Ludwig Erhard, der Wirtschaftsminister der ersten Bundesregierung, vertrat die gleiche Position wie die Unternehmerseite und erklärte bereits im Dezember 1949, die Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie widerspreche der sozialen Marktwirtschaft. Sein Ministerium bereitete einen Gesetzentwurf für ein Betriebsverfassungsgesetz vor, das von der paritätischen Mitbestimmung weit entfernt war. Die IG Metall hielt daraufhin Ende November 1950 in den Betrieben eine Urabstimmung zur Streikbereitschaft ab, bei der sich 96 % der Metallarbeiter für eine Arbeitsniederlegung zur Verteidigung ihrer Mitbestimmungsrechte bereiterklärten. Im Januar beschloss außerdem die IG Bergbau eine Urabstimmung über einen eventuellen Streik zur Neueinführung der paritätischen Mitbestimmung in der Kohleindustrie. Nahezu 93 % der Beschäftigten unterstützten dieses Ziel. In dieser Situation schaltete sich Adenauer ein und leitete Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften über das Mitbestimmungsproblem in der Montanindustrie ein. Der Bundeskanzler brauchte die Unterstützung der Gewerkschaften für den Abschluss des Schuman-Plans (EGKS). Außerdem bestand Anfang 1951 ein Engpass in der Kohleversorgung, und Adenauer wollte einen Streik angesichts der Konsequenzen für die Stahl- und Stromerzeugung auf jeden Fall vermeiden. Der „neutrale“ elfte Mann im Aufsichtsrat war bei den Gesprächen besonders umstritten. Schließlich fand man für den gesamten Montanbereich eine Lösung, die der seit 1947 bestehenden Regel in der Eisen- und Stahlindustrie entsprach: Der elfköpfige Aufsichtsrat wurde paritätisch besetzt, über das elfte Mitglied mussten sich beide Seiten einigen, und die Gewerkschaften behielten ihren Arbeitsdirektor im Vorstand. Die Verhandlungen über das Betriebsverfassungsgesetz für die Betriebe außerhalb des Montan-Bereichs zogen sich bis in das Jahr 1952 hin und verliefen für die Gewerkschaften weniger günstig. Offenbar hatten sie den richtigen Zeitpunkt verpasst, um mit glaubhaften Streikdrohungen ihre Ziele durchsetzen zu können. Im Mittelpunkt ihrer Agitation stand die Kritik am Entwurf der Bundesregierung; ein Alternativentwurf der Gewerkschaften lag jedoch nicht vor. In dieser Frage setzte sich die parlamentarische Mehrheit durch. Der Regierungsentwurf des Betriebsverfassungsgesetzes wurde am 19. Juli 1952 von der Koalition gegen die Stimmen von SPD und KPD verabschiedet. Einige CDUAbgeordnete des Gewerkschaftsflügels enthielten sich der Stimme. Die Arbeitnehmervertreter erhielten nur ein Drittel der Sitze im Vorstand und keinen Vertreter im Aufsichtsrat. Das Mitwirkungsrecht der Betriebsräte blieb auf Personalentscheidungen, Betriebsschließungen und Änderungen des Betriebszieles beschränkt. Diese sicher nicht zu unterschätzenden Möglichkeiten wurden von Gewerkschaftsseite damals als Niederlage empfunden545 Die im Zusammenhang mit der Politik des Frankfurter Wirtschaftsrats bereits erwähnte Frage des Lastenausgleichs blieb auch nach Gründung der Bundesrepublik aktuell. Ein Soforthilfegesetz trat im August 1949 im Bereich der Bizone und ein Jahr später auch in der französischen Zone in Kraft. Flüchtlinge, Kriegsgeschädigte, Währungsgeschädigte und politisch Verfolgte erhielten auf diesem Wege erste Hilfen zum Lebensunterhalt, für Arbeitsplatzbeschaffung und Wohnungsbau. Voraussetzung für den eigentlichen Lastenausgleich war die Feststellung der erlittenen Schäden nach dem sogenannten Feststellungsgesetz, das jedoch erst im April 1952 verabschiedet wurde. Etwa 11 Millionen Menschen 545 E. Schmidt: Die verhinderte Neuordnung...S.204-220; M. Schneider: Demokratisierungskonsens zwischen Unternehmen und Gewerkschaften? Zur Debatte um Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung, in: A. Schildt/ A. Sywottek (Hrsg.): Modernisierung im Wiederaufbau...S. 207-222 203 hatten durch Krieg, Vertreibung oder Verfolgung Vermögensschäden erlitten, insgesamt in Höhe von 89 Milliarden Reichsmark. Hinz kamen Verluste von 100 Milliarden Reichsmark durch die Währungsreform, von denen aber nur 25,8 Milliarden zur Entschädigung anerkannt wurden. Auf der anderen Seite bestanden hohe Vermögenswerte, die den Krieg und die Nachkriegssituation ohne Schaden überstanden hatten. Das Bruttoanlagevermögen lag zum Zeitpunkt des Soforthilfegesetzes trotz Zerstörungen und Demontagen höher als vor dem Zweiten Weltkrieg. Angesichts dieser Situation boten sich zwei Lastenausgleichsstrategien an: Auf der einen Seite befürworteten die Vertreter der sozialen Mehrheitsdemokratie einen Lastenausgleich, der gleichzeitig ein Vermögensausgleich sein und mehr soziale Gerechtigkeit herstellen sollte. Die von der Regierungskoalition entwickelte Gegenposition wollte Eingriffe in die bestehende Vermögenssubstanz vermeiden und argumentierte, wie Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung, man dürfe den Wiederaufbau der Wirtschaft nicht gefährden. Lastenausgleich war aus dieser Sicht vorwiegend als Beihilfe zur Neueingliederung gedacht. Die im Mai 1952 getroffene gesetzliche Regelung war ein Kompromiss zwischen beiden Konzeptionen, lief aber in der praktischen Durchführung, die bis zum Jahresende 1978 andauerte, auf die Beihilfe-Konzeption hinaus. Die Gesamtsumme der Leistungen des Lastenausgleichs erreichte bis 1979 113,9 Milliarden DM und war damit die bisher „größte Vermögensabgabe der Geschichte“. Der Eingriff schien radikal, weil 50 % des am Stichtag der Währungsreform vorhandenen Vermögens in Anspruch genommen wurden. In Wirklichkeit erfolgte die Berechnung nach dem Einheitswert, der in der Regel unter dem Verkehrswert der Vermögen lag, und es gab zahlreiche Ausnahmeregelungen. Die Abgaben für den Lastenausgleich wurden bis zum Jahr 1978 gestreckt und waren steuerlich abzugsfähig. Durch die steigenden Gewinne und Vermögenserträge sowie eine gewisse Geldentwertung wurden die Belastungen im Laufe der Jahre erheblich reduziert. Auch die Leistungen des Lastenausgleichs verteilten sich dementsprechend auf einen längeren Zeitraum. In den ersten Jahren wurden fast ausschließlich Unterstützungszahlungen geleistet. Die Hauptentschädigung mit dem Ausgleich des Vermögensverlusts folgte erst ab 1959 und ging deshalb, wie Abelshauser feststellt, häufig schon an die Erben der Betroffenen. Für die Empfänger handelte es sich insgesamt um eine sozialpolitische Maßnahme, für die Zahler der Ausgleichsleistungen um eine zunächst geringe, später nur noch marginale Sondersteuer. Ein Vermögensausgleich wurde nicht erreicht und war nach den Intentionen der Bundestagsmehrheit auch nicht beabsichtigt546. Während die inhaltlichen Entscheidungen den Motiven der konstitutionellen Demokratie entsprachen, ebnete die von der sozialen Mehrheitsdemokratie geprägte Struktur des Grundgesetzes den Weg zum wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik. Das „Wirtschaftswunder“ und der mit ihm verbundene Ausbau des Sozialstaates beruhten auf einer Reihe von direkten oder indirekten staatlichen Lenkungsmaßnahmen, die ohne die entsprechenden Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen nicht möglich gewesen wären. Das Investitionshilfegesetz vom Januar 1952 liefert ein anschauliches Beispiel für die Bedeutung von Planungsentscheidungen beim wirtschaftlichen Wiederaufbau: In der westdeutschen Grundstoffindustrie und bei der Infrastruktur zeichnete sich im Laufe des Jahres 1950 eine Investitionslücke ab, die das Wirtschaftswachstum zu blockieren drohten. Sie wurde vor allem von den reglementierten Preisen für Grundstoffe, Energie und Transporte verursacht, die private Investoren in diesem Sektor zur Zurückhaltung veranlassten. Eine Freigabe der Preise war jedoch nicht opportun, weil Preise und Löhne ohnehin anstiegen. Die Unternehmerverbände boten in dieser Situation eine Selbsthilfeaktion von 1 Milliarde DM zugunsten der Eisen- und Stahlindustrie, des Kohlebergbaus, der 546 W. Abelshauser: Die langen fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949-1966, Düsseldorf 1987, S. 33 f., 35 f. und S. 81; W. A. Boelcke: Die Kosten von Hitlers Krieg, Paderborn 1985, S. 205-207; H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo...S. 190-192; C. Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, Bonn 1982, S. 240 ff. und 493 ff. 204 Elektrizitätserzeugung, der öffentlichen Versorgungsbetriebe und der Bundesbahn an. Diese Investitionen sollten durch eine Abgabe der anderen Industrien finanziert werden. Um dieser Lösung Nachdruck zu verleihen, war dann doch ein entsprechendes Bundesgesetz notwendig, das am 10. Januar 1952 in Kraft trat. Das Einziehen der Gelder wurde vom Finanzamt besorgt, die Zuteilung von einem Ausschuss der Industrie, und die Verwaltung der Mittel erfolgte durch die Industriekreditbank547. Abelshauser bezeichnet das Investitionshilfegesetz als die „Stunde der Verbände“, weil diese sich anboten, die notwendigen Lenkungs- und Planungsmaßnahmen auf privatwirtschaftlicher Ebene durchzuführen. Die „freie“ Marktwirtschaft habe sich damit zur „kooperativen“ Marktwirtschaft weiterentwickelt. Nach der vergleichenden Untersuchung von Andrew Shonfield haben die Banken im deutschen Wirtschaftssystem die Aufgabe von „Präfekten“ übernommen. Sie koordinieren die privaten Investitionen und verteilen die staatlichen Beihilfen zur Wirtschaftsförderung. Die mehr oder weniger freiwillige Anleihe zur Investitionslenkung war nach Shonfield auch kein „vereinzeltes Stoßtruppunternehmen“ gegen die marktwirtschaftlichen Prinzipien. Als ein weiteres wichtiges Lenkungsinstrument bot sich die Verteilung der Gegenwertmittel aus den Marshallplangeldern an. Die für diesen Zweck eigens gegründete Kreditanstalt für Wiederaufbau vergab verbilligte Kredite an förderungswürdige Unternehmen und orientierte sich hierbei ganz bewusst nicht nur an der Rentabilität, sondern an langfristigen volkswirtschaftlichen Überlegungen. Im Jahre 1950 belief sich diese „Manövriermasse“ der Investitionsplanung auf 9 % der westdeutschen Bruttoinvestitionen. Da die entsprechenden Kredite durch Privatbanken vermittelt wurden, arbeiteten auch in diesem Falle staatliche und private Investoren Hand in Hand. Shonfield vergleicht die Rolle der Kreditanstalt mit der Funktion der halbstaatlichen Bank Crédit National im Rahmen der französischen Wirtschaftsplanung nach 1945548. Eine dritte und bis in die Gegenwart übliche Form der Investitionslenkung waren steuerliche Vorteile. Durch eine Vielzahl von Steuervergünstigungen wurde die Selbstfinanzierung von Unternehmen gefördert. Es gab erweiterte Abschreibungsmöglichkeiten und Steuerfreiheit für investierte Gewinne. Eine besondere Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang die Förderung des Wohnungsbaus, für den auch direkte öffentliche Investitionen bereitgestellt wurden549. Auf diese Weise leistete das mehrheitsdemokratische Element im Grundgesetz einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Die Voraussetzungen des Wirtschaftswunders lagen nicht nur in der privaten Initiative, sondern auch in den umfassenden Zuständigkeiten des Bundes bei der Wirtschafts-, Sozial- und Steuergesetzgebung. Die Bundesrepublik war nach dem Urteil von Abelshauser in den 50er Jahren besser als andere Länder für moderne Wirtschaftslenkung und langfristige Planung gerüstet. Dieser Vergleich bezieht sich insbesondere auf Frankreich, wo Planung seit dem Monnet-Plan von 1946 zum offiziellen Regierungsprogramm gehörte. Die mehrheitsdemokratische Praxis stand allerdings in einem deutlichen Widerspruch zur konstitutionell-demokratischen Begründung der Wirtschaftspolitik: Die Bundesregierung, und vor allem der Wirtschaftsminister, schrieben die Erfolge der privaten Initiative und der neuliberalen Ordnungspolitik zu. Die Realitäten der staatlichen Wirtschaftstätigkeit und der Selbstkoordination in den einflussreichen Verbänden blieben dagegen „confidential“. Andrew Shonfield kommt mit dem Blick auf die Bonner Wirtschaftspolitik der 50er Jahre zu dem Schluss, selten habe sich ein Ministerium so lautstark zu den Vorzügen des wirtschaftlichen Liberalismus sowie der Marktwirtschaft bekannt und gleichzeitig so energisch dafür eingesetzt, „die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung zu bestimmen und die Ziele auszuwählen“550. 547 V. Hentschel: Ludwi Erhard...S. 148 und 154 ff.; H. C. Wallich: Triebkräfte des deutschen Wiederaufstiegs, Frankfurt a.M. 1955, S. 167 f. 548 A. Shonfield: Geplanter Kapitalismus. Wirtschaftspolitik in Westeuropa und USA, Köln 1968, S. 326333; W. Abelshauser: Die langen fünfziger Jahre...S. 21ff. 549 H. C. Wallich: Triebkräfte...S. 151 ff. und 163 ff. 550 A. Shonfield: Geplanter Kapitalismus...S. 325 205 Quellen und Literatur I. Unveröffentlichtes Material 1. Bibliothek des Deutschen Bundestages: Zonenbeirat der britischen Zone: Stenografische Protokolle der Plenarsitzungen 1946-1948 Verfassungskonvent von Herrenchiemsee: Stenographische Protokolle der Plenarsitzungen; Stenographische Protokolle über die Sitzungen der Unterausschüsse I - III (Grundsatzfragen, Zuständigkeitsfragen und Organisationsfragen); zitiert: HChParlamentarischer Rat: Drucksachen Bd. 1-9; Stenographische Protokolle der Ausschüsse für Organisationsfragen (Organisationsausschuss) sowie für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege (Rechtspflegeausschuss); zitiert: PR2. Bundesarchiv, Koblenz: Nachlass Heuss 3. Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) - Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn: Bestand Schumacher; Bestand Ollenhauer; Nachlass Menzel; Nachlass C. Schmid; Nachlass Hoch; Parteivorstand SPD, Protokolle 1948 und 1949 4. Archiv des Deutschen Liberalismus (ADL) - Friedrich-Naumann-Stiftung, Gummersbach: Nachlass Dehler; 132 FDP-britische Zone, Staat und Verfassung, Außenpolitik; Mitteilungen der FDP im Parlamentarischen Rat D2-2282 5. Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus (BAH), Bad Honnef-Rhöndorf: Nachlass Adenauer 09.01 - 09.03 und 09.09 6. Amerikahaus München: Surveys Section, Intelligence Branch Β Information Control Division, OMGUS - USFET Reports No.1 ff. II. Veröffentlichte Quellen Adenauer. Briefe 1947-1949, bearb. von Hans Peter Mensing, o.O., o.J.. Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Bundesarchiv und Institut für Zeitgeschichte: Band 4 (Januar-Dezember 1948), bearb. von C. Weisz, H.-D. Kreikamp u. B. Steger, Band 5 (Januar - September 1949), bearb. Von H.-D. Kreikamp, München 1989 ( zitiert: AVBD). Albrecht, Willy (Hrsg.): Kurt Schumacher. Reden - Schriften - Korrespondenzen 1945-1952, Berlin - Bonn 1985. 206 Auftakt zur Ära Adenauer. 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KPD LDP M.A. Abgeordneter Absatz Archiv des Deutschen Liberalismus Archiv der sozialen Demokratie Anmerkung American Political Science Review Aus Politik und Zeitgeschichte Artikel Auflage Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Badische Christlich-Soziale Volkspartei Band Bundesverband der Deutschen Industrie Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bremer Demokratische Volkspartei Belgien, Niederlande, Luxemburg Bayernpartei Christlich-Demokratische Union Christlich-Demokratische Partei Christlich-Soziale Union Deutsche Demokratische Republik Deutscher Gewerkschaftsbund das heißt Deutsche Konservative Partei Deutschnationale Volkspartei Deutsche Partei Demokratische Volkspartei, Deutsche Volkspartei (Weimarer Republik) Deutsche Rechtspartei Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Evangelische Kirche in Deutschland et cetera Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Demokratische Partei Foreign Relations of the United States Grundgesetz Herrenchiemsee-Konvent Herausgeber Industrie-Gewerkschaft Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes (Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, N. F. Bd. 1), Tübingen 1951 juristische Dissertation Kommunistische Partei Deutschlands Liberal-Demokratische Partei (Hessen) Magister Artium 216 NG NL NLP Nr. NS NSDAP o. J. OMGUS o. O. ÖTV PR PVS RM SJZ sog. SP SPD SPD PV SSW stenogr. TVA u.a. UK US USFET VjZG Vol. WAV WRV Z z. B. ZParl Notgemeinschaft Nachlass Niedersächsische Landespartei Nummer nationalsozialistisch Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei ohne Jahresangabe Office of Military Government of the United States ohne Ortsangabe Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr Parlamentarischer Rat Politische Vierteljahresschrift Reichsmark Süddeutsche Juristenzeitung sogenannt Sozialdemokratische Partei (Baden) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Parteivorstand der SPD Südschleswigscher Wählerverband stenografisch Tennessee-Valley-Authority unter anderem United Kingdom United States US - Forces European Theater Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Volume Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung Weimarer Reichsverfassung Deutsche Zentrumspartei zum Beispiel Zeitschrift für Parlamentsfragen