Medikamentenabhängigkeit: Gemeinsam ha
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Medikamentenabhängigkeit: Gemeinsam ha
Sabine Bätzing Bundesministerium für Gesundheit, 11055 Berlin Drogenbeauftragte der Bundesregierung Mitglied des Deutschen Bundestages HAUSANSCHRIFT POSTANSCHRIFT TEL FAX E-MAIL Friedrichstraße 108, 10117 Berlin 11055 Berlin +49 (0)30 18 441-1452 +49 (0)30 18 441-4960 [email protected] Berlin, 23. April 2007 Grußwort der Drogenbeauftragten der Bundesregierung Sabine Bätzing, MdB zum Fachtag „Medikamentenabhängigkeit: Gemeinsam handeln!“ am 23. April 2007 in Berlin „Gesellschaftlicher Wandel und seine Auswirkungen – politische Strategien“ Seite 2 von 7 Sehr geehrte Damen und Herren, über die Einladung zum heutigen Fachtag habe ich mich aus mehreren Gründen sehr gefreut. Zum einen, weil mir das Thema Medikamentenabhängigkeit seit Beginn meiner Amtszeit als Drogenbeauftragte wirklich wichtig ist. Zum anderen, weil ich gleich von drei Veranstaltern eingeladen wurde. Das kommt auch nicht jeden Tag vor. Die Veranstalter haben damit das Motto des heutigen Fachtags - gemein-sam handeln! - vorbildlich eingelöst. Und das gemeinsame Veranstalter-Trio ist mit dem Bundesverband der Betrieblichen Krankenkassen, der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung dem Thema entsprechend sehr gut besetzt. Wir alle kennen die Bedeutung von Vorbildern beispielsweise in der Prävention – man lebt das Tun nach, nicht das Reden. Ich hoffe, dass Sie sich beim heutigen Fachtag in den Round Tables und in Zukunft von diesem vorbildlichen Tun anstecken lassen. Am Ende meines Beitrags werde ich noch einmal auf das Gemeinsam Handeln! zurückkommen. Meine Damen und Herren, ich wurde gebeten, einleitend einige Worte zum gesellschaftlichen Wandel und seinen Auswirkungen sowie zu den daraus folgenden politischen Stra-tegien zu sagen. Um den – nicht nur in Berlin und Brandenburg - berühmten ehemaligen Apotheker und späteren Schriftsteller Theodor Fontane zu zitieren: „Das ist ein weites Feld!“ Ihr Einverständnis voraussetzend, habe ich dieses weite Feld etwas be-grenzt. Verzichten werde ich beispielsweise auf detaillierte Ausführungen zum demographischen Wandel sowie auf Erörterungen zu den Konsequenzen der Leistungsgesellschaft aus ethischer Sicht. Lassen Sie mich den gesellschaftlichen Wandel sehr eng auf das Thema Medikamentenabhängigkeit beziehen und zwei Punkte herausgreifen: Erstens: Wir wissen, dass unsere Gesellschaft immer älter wird. Wir wissen auch, dass Medikamentenabhängigkeit sehr häufig bei älteren Personen vorkommt. Zweitens: Uns allen ist bekannt, dass immer weniger junge Menschen für immer mehr ältere Menschen Sorge tragen müssen. Die jüngeren Menschen in unserer Gesellschaft stehen unter einem enor-men Leistungsdruck. Wundern wir uns, dass bei dieser Perspektive immer mehr Kinder und Jugendliche schon sehr früh leistungsfördernde Medikamente einnehmen? Die Verantwortlichen aus der Medizin, Pharmazie, der Suchthilfe und bei den betroffenen Leistungsträgern beschäftigen sich schon länger damit, welche politische Strategien sich anbieten, um den Medikamentenmiss-brauch und die Medikamentenabhängigkeit als Begleiterscheinungen die-ser Entwicklungen zu verhindern oder zumindest zu minimieren. Seite 3 von 7 Zu den einzelnen Ideen, Maßnahmen und Aktivitäten als Ausdruck von politischen Strategien komme ich später. Ich möchte Ihnen davor einige konkrete Beispiele zum Medikamentenmissbrauch nennen, um anschließend auf eine besondere Schwierigkeit für Lösungen zu diesem Problem aufmerksam zu machen. Vielleicht haben Sie die folgende Zeitungsmeldung auch gelesen: "Robbie Williams, der ehemalige Take That Star, hat am Dienstag nach 21 Tagen die Meadows Klinik im US Staat Arizona verlassen, in der er sich wegen seiner Medikamentensucht behandeln ließ. Der Star will sich in Los Angeles weiterbehandeln lassen." Wenn es sich um Stars handelt, dann tritt das Thema Medikamentenabhängigkeit wenigstens kurz aus dem Schatten ins Licht der öffentlichen Wahrnehmung. Das gilt auch für den spektakulären Fall eines brasilianischen Supermo-dels, das vor den Augen der ganzen Welt auf dem Laufsteg zusammen-brach. Grund dafür war die Magersucht verbunden mit einem hohen Missbrauch von Anorektika. Oder der als „Rippers Death“ bekannt gewordene Fall aus den USA, bei dem sich ein 15jähriger in einem Chatroom vor laufender Webcam mit Tab-letten vergiftete und starb. Er wurde von einigen der Chatroom-Teilnehmer angefeuert noch mehr Tabletten zu nehmen, während seine Mutter ahnungslos im Nebenraum an der Nähmaschine saß. In die Medien schaffen es auch Freizeitsportler, die sich mit Dopingmitteln wie Anabolika die Gesundheit fast unheilbar ruiniert haben. Das sind die spektakulären, die Aufsehen erregenden Fälle. Gemessen an den quantitativen Verhältnissen des Medikamentenmiss-brauchs und der -abhängigkeit handelt es sich um Ausnahmen. Denn in der Regel ist die Medikamentenabhängigkeit eine so genannte "stille Sucht". Es ist mein Anliegen als Drogenbeauftragte der Bundesregierung, dieser stillen Sucht mehr Gehör zu verschaffen. Denn weltweit steigt nicht nur die Abhängigkeit, sondern bereits der missbräuchliche Konsum von Arzneimitteln an. Anfang März hatte ich im Rahmen der 50. Sitzung der Commission on Nar-cotic Drugs (CND) in Wien ein Gespräch mit Dr. Philipp Emafo, dem Präsi-denten der Internationalen Suchtstoffkontrollkommission, dem INCB. Herr Emafo stellt in seinem aktuellen INCB-Report 2006 fest, dass es vie-len Abhängigen gar nicht bewusst ist, dass der Missbrauch von Arzneien gefährlicher sein kann als der Missbrauch anderer Rauschmittel. Offenkundig besteht hier nach wie vor ein erhebliches Aufklärungsdefizit. Der INCB warnt auch eindringlich vor der zunehmenden Zahl gefälschter Arzneimittel. Herr Emafo betonte, dass dies derzeit vor allem ein Problem in Afrika sei. Dort sind bis zu 50 Prozent der Medikamente gefälscht. Seite 4 von 7 Bei meinem Gespräch vor einem Monat mit dem Vizepräsidenten des Bundeskriminalamts, Herrn Falk, in Wiesbaden wurde mir bestätigt, dass die-ses Problem zwar in wesentlich geringerem Umfang, aber eben doch auch in Deutschland existiert und mit einem anhaltenden Wachstum gerechnet wird. Es handelt sich hierzulande sowohl um den Etikettenschwindel bei abgelaufenen Medikamenten als auch um den Handel und Verkauf von wirkungslosen oder sogar lebensgefährlich gefälschten Arzneimitteln. Wir müssen in diesem Kontext vor allem im Auge behalten, welche Gefah-ren von den Internetapotheken ausgehen können. Der INCB weist darauf hin, dass sich der Vertrieb über diese illegalen We-ge rasant ausgebreitet hat. Auch deswegen wurde bei der 50. Sitzung der CND eine Resolution verabschiedet, die sich mit den Gefahren der Internetapotheken beschäftigt. Und es sicherlich keine „Versehen“, dass die Bekämpfung der Arzneimittelfälschungen beim BKA im gleichen Bereich stattfindet wie die Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität. Lassen Sie mich zurück zu Robbie Williams kommen. Wie bereits erwähnt, ist die Problematik der Medikamentenabhängigkeit gerade nicht auf Stars und natürlich auch nicht auf die USA beschränkt. Auf beiden Seiten des Atlantiks besitzen ungefähr 5% aller verordneten Arzneimittel ein eigenes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial. Es handelt sich dabei vor allem um Medikamente aus dem Bereich der Schlafund Beruhigungsmittel. Herr Professor Schwabe wird gleich etwas zu den Daten und Fakten der Medikamentenverordnung sagen; und damit sicherlich auch einiges zu die-sen Fakten. Nur soviel: Etwa ein Viertel dieser Medikamente werden nicht für eine aku-te Versorgung verwendet, sondern dienen langfristig der Suchterhaltung oder der Linderung von Entzugserscheinungen. Auch wenn die Wirkstoffmengen dieser Arzneimittel seit 1993 um etwa 25% gesunken sind, so reicht diese Menge doch aus, um allein in Deutsch-land etwa 1 Million Abhängige zu versorgen. Rechnet man die Abhängigen von anderen Arzneimitteln dazu, so geht man in Deutschland von 1,4 Millionen aus. Manche sprechen sogar von 1,9 Millionen Medikamentenabhängigen. Zum Vergleich: Die Zahl der Alkoholabhängigen in Deutschland wird auf 1,5 Millionen geschätzt. Schon sehr lange ist bekannt, dass vor allem Frauen und ältere Menschen zur Gruppe der Medikamentenabhängigen gehören. Das wissen nicht nur die Wissenschaftler, das weiß auch die breite Bevölkerung. Ein Hinweis darauf ist der 1966 – also vor über 40 Jahren! – entstandene Song „Mothers Little Helper“ von den Rolling Stones. Die Rolling Stones zeigen darin, wie und warum älter werdende Frauen Beruhigungsmittel missbrauchen. Im Refrain machen sie deutlich, wie die ärztliche Verschreibungskunst bei diesen Frauen an ihre Grenzen stößt. Da heißt es: Doctor please, some more of these Seite 5 von 7 Outside the door, she took four more What a drag it is getting old In den einschlägigen Internetforen wird noch heute darüber diskutiert, ob mit den besungenen “little yellow pills“ Valium oder ein anderes Beruhigungsmittel gemeint war. Sie sind sich auch nicht einig, ob „Mothers Little Helper“ in Großbritannien der Slangausdruck für Valium war oder nicht. Aber alle sind sich darin einig, dass das Thema Medikamentenmissbrauch, das mit diesem Lied angesprochen wurde, keineswegs an Bedeutung ver-loren, sondern vielmehr noch an Aktualität gewonnen hat. Diese Auffassung teile ich. Meine Damen und Herren, wenn ein Problem über so lange Zeit aktuell bleibt, deutet das darauf hin, dass noch keine gute Lösungen gefunden wurden. Eine gründliche Analyse der Situation und der bisher versuchten Lösungen ist also angebracht. Um für mein Engagement als Drogenbeauftragte in diesem Bereich eine fundierte Grundlage für Handlungsmöglichkeiten zu erhalten, habe ich deshalb bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen eine Studie in Auftrag gegeben. Sie wurde im Herbst 2006 veröffentlicht und trägt den etwas sperrigen Titel "Möglichkeiten und Defizite in der Erreichbarkeit ausgewählter Zielgruppen (sozial benachteiligte Frauen und ältere Menschen) durch Maßnahmen und Materialien zur Reduzierung von Medikamentenmissbrauch und – abhän¬gigkeit: Bewertung anhand aktueller Forschungsergebnisse und Beispielen aus der Praxis". Auf der Basis der Analysen und Empfehlungen in dieser knapp 150 Seiten starken Studie versuchen wir, effektive Maßnahmen zur Prävention und Behandlung von Medikamentenabhängigkeit auf den Weg zu bringen. Dabei wollen wir mit allen in Frage kommenden Versorgungsbereichen zusammenzuarbeiten. Ein konkretes Beispiel ist die Kooperation mit der Bundesärztekammer. Die Bundesärztekammer hat ganz aktuell einen Leitfaden erarbeitet mit dem Titel: "Medikamente – schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit." Herr Dr. Kunstmann wird Sie nachher genauer darüber informieren. Wir überlegen gemeinsam mit der Bundesärztekammer, der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sowie der Bundesapothekerkammer wie dieser Leitfaden möglichst effektiv von den Ärzten und mit den Ärzten kooperierenden Berufsgruppen angenommen und umgesetzt werden kann. Am 24. März hatte ich die Gelegenheit, bei der Interpharm vor zahlreichen Apothekern zu sprechen. Ich begrüße das Engagement der Apotheker sehr, denn durch Konzepte wie das Hausapothekenmodell oder die in der Erprobung befindliche Gesundheitskarte üben die Apotheker eine wichtige Kontrollfunktion aus. Das gilt für versehentliche Doppelverordnungen durch gleichzeitig aufgesuchte Ärzte genauso wie für mögliche Wechselwirkungen mehrerer eingenommener Medikamente. Seite 6 von 7 Vielleicht ist die Bedeutung der Apotheker aber besonders im Bereich der Selbstmedikation gegeben. Dort sind die Apotheker häufig beratend tätig. Dieser Bereich macht wissenschaftlichen Quellen zufolge 45% aller Arzneimittel aus. Gerade Kopfschmerzpatienten meiden eine ärztliche Behandlung und las-sen sich in der Apotheke beraten. Von der Erstberatung über Folgegespräche zur Wirkung der empfohlenen Arzneimittel haben die Apotheker eine große Verantwortung hinsichtlich des Medikamentenkonsums bei Kopfschmerzen. Mehrere Untersuchungen haben allerdings deutlich gemacht, dass beim Apothekenpersonal oft Unsicherheit und Bedenken bestehen einen offensichtlichen Missbrauch anzusprechen. Hier könnte eine Gemeinsamkeit von Ärzten und Apothekern bestehen. Ich begrüße deshalb die Fortbildungen zu den Hintergründen von Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit und zu den Möglichkeiten der Bera-tung und Gesprächsführung. Die Fortbildungen zum „Suchtberater in Apotheken“ von Herrn Bastigkeit möchte ich an dieser Stelle besonders hervorheben. Ebenfalls zu begrüßen sind Initiativen wie die von Herrn Dr. Pallenbach, der sich gemeinsam mit Hausärzten erfolgreich dem ambulanten Entzug von Benzodiazepinen bei einem ausgewählten Kreis von Patienten gewid-met hat. Ich gehe davon aus, dass besonders die Kassenvertreter an solchen Initiativen ein hohes Interesse haben. Schließlich haben einige fundierte Studien von Herrn Dr. Weyerer vom In-stitut für seelische Gesundheit in Mannheim gezeigt, wie durch miss-bräuchliche Verwendung von Schmerzmitteln die Sturzgefahr bei älteren Personen steigt. Sie werden zum ambulanten Entzug von Benzodiazepinen später von Herrn Pallenbach selbst mehr erfahren können, wenn Sie am entspre-chenden Round Table teilnehmen. Wir sind in unserem Hause mit Herrn Pallenbach im Gespräch, um auszu-loten, ob solche oder vergleichbare Vorhaben modellhaft gefördert werden können. Auch im Bereich der Suchthilfe entwickeln sich konkrete Projekte. Die Einrichtung Suchthilfe Direkt aus Essen hat zum Bespiel ein Projekt 60plus gestartet. Dabei werden ganz gezielt in zunächst zwei Altersheimen die Patienten aufgesucht und bei Alkohol- und Medikamentenmissbrauch oder – abhängigkeit beraten und behandelt. Die DHS hat letztes Jahr anlässlich ihres Schwerpunkts „Sucht und Alter“ solche Projekte angeregt. Lassen Sie mich abschließend noch den Bogen zum Beginn meiner Ausführungen spannen. Meine bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass es gerade beim Thema Medikamentenabhängigkeit nicht einfach ist, die verschiedenen Professio-nen für gemeinsame Aktivitäten zu gewinnen. Das scheint auch für die Kooperation von Ärzten und Apothekern zu gel-ten. Seite 7 von 7 Vielleicht liegt das an dem Slogan "Bei Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker"? Die Formulierung "… fragen Sie Ihren Arzt und Apotheker" würde dagegen ein Miteinander nahelegen... Ein Mitarbeiter meiner Geschäftsstelle hat mit einem Versprecher das Miteinander von Apothekern und andern Fachkräften auf einen neuen Begriff gebracht: Er sprach - statt von Pharmakologen - von „Pharmakollegen“ ... Nicht zufällige Versprecher, sondern ein systematisches Miteinander von Arzt, Apotheker, Suchthilfe, Kassen, Kassenärztlichen Vereinigungen und weiteren Beteiligten brauchen wir, um wirklich effektive Maßnahmen zur Eindämmung des Medikamentenmissbrauchs –und abhängigkeit auf den Weg bringen zu können. Einige Beispiele habe ich skizziert. Ich bin sicher, dass Sie heute noch weitere Ideen und Möglichkeiten finden werden. Ich danke den Organisatoren dieses Fachtags deshalb noch einmal für das vorbildliche „Gemeinsam Handeln!“ und wünsche allen Teilnehmenden ü-ber das Interesse am Thema hinaus die notwendige Ausdauer, um ge-meinsam mit anderen den Medikamentenmissbrauch und die Medikamen-tenabhängigkeit zu verhindern oder einzudämmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!