Benjamin Britten als Liedkomponist

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Benjamin Britten als Liedkomponist
Benjamin Britten als
Liedkomponist
Hanae Kato
Klavier-Vokalbegleitung
Wissenschaftliche Masterarbeit
an der Kunstuniversität Graz
Betreuer: Ao.Univ.Prof. Mag.phil.
Dr.phil. Harald Haslmayr
Kurzzusammenfassung
Die Arbeit thematisiert Benjamin Brittens Leben und künstlerischen Werk und widmet sich dabei
insbesondere seinem Liedschaffen. Neben einem umfangreichen und detaillierten biografischen
Teil, der Britten innerhalb der damaligen gesellschaftlichen und künstlerischen Umstände zu
verorten sucht, betrachtet die Autorin drei von Brittens Liederzyklen aus unterschiedlichen
Schaffensperioden, wobei jeweils ein repräsentatives Stück einer genauen musikalischen Analyse
unterzogen wird. Die Arbeit vereint damit unterschiedliche musikwissenschaftliche Zugänge, um
ein möglichst umfassendes Bild von Benjamin Britten Schaffen zeichnen zu können.
Abstract
This thesis seeks to adress the live and creative work of Benjamin Britten, giving special attention
to his vocal oeuvre. Besides a comprehensive and detailed biographic section which tries to locate
Britten's role within society and art at that time, the author examines three of Britten's song cycles,
each of them from a different period, with always one song being analysed in detail. Within the
thesis, several musicological approaches are combined to give an extensive picture of Britten's
work.
2
Inhaltsverzeichnis
Vorwort …........................................................................................................................................ S. 1
Einleitung ….....................................................................................................................................S. 2
1 Biografie …................................................................................................................................... S. 4
1.1 Frühe Kindheit ….......................................................................................................... S. 4
1.2 Eine entscheidende Begegnung …................................................................................ S. 7
1.3 Studium in London …................................................................................................... S. 9
1.4 Karriere als Komponist …............................................................................................. S. 11
1.5 Aufenthalt in Amerika …...............................................................................................S. 15
1.6 Zurück in Suffolk, England …...................................................................................... S. 19
1.7 Peter Grimes …............................................................................................................ S. 21
1.8 Das Aldeburgh-Festival ............................................................................................... S. 24
1.9 Britten als Opernkomponist …..................................................................................... S. 26
1.10 Erfolg und seine Freundeskreis ….............................................................................. S. 30
1.11 Brittens letzte Oper: Death in Venice…........................................................................S. 34
2 Britten als Vokalkomponist ….......................................................................................................S. 38
2.1 Einflüsse …................................................................................................................... S. 38
2.2 Werke …........................................................................................................................ S. 40
2.3 Peter Pears …................................................................................................................ S. 42
3. Betrachtung ausgewählter Liederzyklen …................................................................................. S. 45
3.1 Begründung der Liedauswahl …................................................................................ S. 45
3.2 On this Island …............................................................................................................S. 46
3.2.1 W. H. Auden …............................................................................................. S. 46
3.2.2 Entstehungsgeschichte ….............................................................................. S. 49
3.2.3 Analyse …..................................................................................................... S. 50
3.3 Winter Words …............................................................................................................. S. 53
3.3.1 Thomas Hardy …...........................................................................................S. 53
3.3.2 Entstehungsgeschichte ….............................................................................. S. 54
3.3.3 Analyse …......................................................................................................S. 56
3.4 Songs and Proverbs of William Blake ….......................................................................S. 60
3.4.1 William Blake …........................................................................................... S. 60
3.4.2 Entstehungsgeschiche …............................................................................... S. 62
3.4.3 Analyse …......................................................................................................S. 65
Zusammenfassung …....................................................................................................................... S. 74
Quellenverzeichnis …...................................................................................................................... S. 75
Anhang …........................................................................................................................................ S. 78
3
Vorwort
Ziel der vorliegenden wissenschaftlichen Masterarbeit ist es, Benjamin Brittens Bedeutung und
seine individuellen Qualitäten als Vokalkomponist aufzuzeigen und sein Werk damit einem größeren
Personenkreis näherzubringen. Obwohl Britten im angloamerikanischen Raum von Anfang an als
einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts anerkannt wurde, führt sein Schaffen in
Mitteleuropa noch immer ein Schattendasein. Die Autorin selbst wurde an die Musik Brittens durch
ihren Lehrer Prof. Julius Drake herangeführt. Sein Unterricht, sein Klavierspiel und seine
Persönlichkeit hat sie tief beeindruckt und stark geprägt, darum ist diese Arbeit auch ihm gewidmet.
Wenn auch die Instrumentalmusik Brittens in Kontinentaleuropa noch auf ihre Entdeckung wartet,
haben seine Opern und Lieder schon längst einen Fixplatz im klassischen Konzertbetrieb
eingenommen. Dennoch gibt es kaum deutschsprachige Literatur zur Person Britten, geschweige
denn zu seinem musikalischen Werk. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass in diesem Text
zum größten Teil auf englischsprachige Literatur verwiesen wird. Häufig kommen darin ehemalige
Weggefährten Brittens zu Wort, deren persönliche Schilderungen hier zitiert werden, um dem/der
Leser/in ein plastisches Bild der damaligen Zeit und Umstände zu geben. Diesem
musiksoziologischen Ansatz ist der sehr ausführliche biografische Teil am Beginn geschuldet, dieser
wird jedoch durch eine musikhistorische Einordnung im zweiten Teil sowie durch detaillierte
musikalische Analysen im dritten Teil ergänzt.
Der Text kann interessierten Musikerinnen und Musikern dabei helfen, einen besseren Zugang zu
Benjamin Brittens Vokalmusik zu finden. Die Autorin wünscht sich, dass der/die Leser/in zur
weiterführenden selbstständigen Beschäftigung angeregt wird, im Lesen wie auch im Hören und
Spielen.
4
Einleitung
Der Text ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil umfasst eine detaillierte und umfangreiche
Darstellung der Biografie Benjamin Brittens, von seiner frühen Kindheit bis zu seinen letzten
Lebensjahren. Neben der privaten Lebensgeschichte wird insbesondere auch der berufliche und
musikalische Werdegang nachgezeichnet. Dies soll dazu dienen, Brittens Musik aus den
verschiedenen Schaffensperioden in einen entsprechenden historischen, gesellschaftlichen und
persönlichen Kontext stellen zu können, und bietet somit die Grundlage für die übrigen zwei Teile,
von denen der nächste Brittens Rolle als Vokalkomponist untersucht.
Zunächst werden die musikalischen und literarischen Einflüsse auf Brittens Liedschaffen
aufgezeigt, mit einem besonderen Fokus auf die Rolle Henry Purcells. Auf eine vollständige
Auflistung der von Britten komponierten Lieder folgt schließlich eine kurze Darstellung der
Beziehung zwischen Britten und dem Sänger Peter Pears, sowohl im Beruflichen als auch im
Privaten. Diese ist im biografischen Teil bereits angeklungen, soll aber nun noch etwas konkretisiert
werden.
Es handelt sich gewissermaßen um die Vorbereitung für den dritten, analytischen Teil, in welchem
drei unterschiedliche Liederzyklen Brittens (On this Island, Winter Words und Songs and Proverbs
of William Blake) besprochen werden, die in verschiedenen Schaffensperioden entstanden sind. Die
ersten beiden Zyklen wurden explizit für Peter Pears komponiert; im dritten, dem großen Sänger
Dietrich Fischer-Diskau gewidmeten Zyklus Songs and Proverbs of William Blake war Pears für die
Textauswahl und -zusammenstellung verantwortlich.
Jede Darstellung folgt dabei demselben Schema: Zuerst wird der jeweilige Dichter der Textvorlage
vorgestellt, dann wird die Entstehungsgeschichte erläutert und ein knapper Überblick über den
gesamten Zyklus gegeben. Anschließend wird ein bestimmtes Stück exemplarisch ausgewählt und
Text und Musik einer detaillierten poetischen bzw. musikalischen Analyse unterzogen. Neben
innertextlichen und innermusikalischen Strukturen soll vor allem das Verhältnis zwischen Text und
Musik untersucht werden, um als Ergebnis Brittens jeweiligen kompositorischen Ansatz der
Textvertonung erfassen zu können.
5
1 Biografie
1.1 Frühe Kindheit
„my life as child was coloured by the fierce storms that
sometimes drove ships on to our coast and
ate away whole stretches of the neighbouring cliffs.“1
Benjamin Britten wurde als viertes und jüngstes Kind des
Zahnarztes Robert Victor und dessen Ehefrau Edith Rhoda
Britten am 22. November 1913 in Lowestoft, gelegen in
der ostenglischen Grafschaft Suffolk in England, geboren.
Der 22. November ist der Tag der heiligen Cäcilie, der
römische Märtyrerin, die seit dem 15. Jahrhundert als
Patronin für alle Musiker verehrt wird.
Abb. 1: Britten am Schoß seiner Mutter
Drei Monate nach seiner Geburt kämpfte der kleine Benjamin Britten mit einer Lungenentzündung
und hohem Fieber. Die Familie bangte um sein Leben. Er überlebte die Krankheit, aber es blieb eine
Herzschwäche, die ihm in späteren Jahren zum Verhängnis wird. Er konnte nicht gut einschlafen,
deswegen musste seine Mutter Edith für ihn singen. Es war die erste Musik, die er hörte. Nach der
Aussage seines Kindheitsfreundes Basil Reeve und auch seiner Schwester Beth war die Mutter eine
Amateursängerin mit einer Mezzosopran-Stimme.2
Seine Mutter hatte einen starken Charakter und großen Ehrgeiz bezüglich ihres Sohnes. Mit fünf
Jahren begann Britten mit dem Klavierspiel, außerdem entstanden erste Kompositionen unter
mütterlicher Anleitung. Viele Jahren später, als seine Oper Peter Grimes in Europa aufgeführt
wurde, erzählte er in einer Radiosendung über seinen ersten Kompositionsversuch:
„I remember the first time I tried, the result looked rather like the Forth Bridge... hundreds of dots
all over the page connected by long lines all joined together in beautiful curves. I am afraid it was
the pattern on the paper which I was interested in and when I asked my mother to play it, her look
of horror upset me considerably. My next efforts were much more conscious of sound. I had started
playing the piano and wrote elaborate tone poems usually lasting about twenty seconds, inspired by
1
2
Paul Kildea, Britten on Music, New York 2003, S. 50.
Vgl. David Matthews, Britten, London 2003, S. 3.
6
terrific events in my home life such as the departure of my father for (a day in) London, the
appearance in my life of a new girl friend, or even a wreck at sea. My later efforts luckily got away
from these (purely) emotional inspirations.“ 3
Obwohl sein Vater selbst kein Instrument spielte, förderte dieser die Hausmusik in der Familie. Um
schädliche Einflüsse zu vermeiden, verbot er Radio und Grammophon. Er war jedoch skeptisch,
was eine mögliche musikalische Laufbahn seines Sohnes betraf. Der schon erwähnte Freund Basil
Reeve, der selbst ein guter Pianist war, erinnerte sich: „Er konnte nicht sich vorstellen, dass Ben
musikalisch einmal irgendwas erreichen würde ..., dass überhaupt jemand hieraus eine Existenz
gründen könne ...,
Er war ein ziemlich strenger Mensch ..., gleichwohl eine gutgesinnte
Persönlichkeit.“4
Im Jahr 1921 schickte Edith Britten ihren Sohn zur
ortsansässigen Klavierlehrerin Ethel Astle, die auch an der
privaten Vorbereitungsschule für die Public School tätig war.
Er machte in kürzester Zeit enorme spielerische Fortschritte,
konnte nun seine Mutter am Klavier begleiten oder vierhändig
mit dem Organisten der St.-Johns-Kirche spielen.5
Zum neunten Geburtstag schenkte ihm sein Onkel Willie ein
Buch: A Dictionary of Musical Term von Stainer und Barrett,
daraufhin entwickelten sich seine Kompositionsversuche noch
weiter.6 Seine erste richtige Komposition war ein Kreis von
zwölf Liedern für Mezzosopran- und Alt-Stimme. Darin
Abb. 2: Britten mit sieben Jahren
am Klavier.
enthalten sind u. a. O that I had neér been married und
Beware!. Beware! nach Longfellow handelt von einem
undurchschaubaren und unberechenbaren Mädchen, vor dem man sich hüten muss:
I know a maiden fair to see,
Take care!
She can both false and friendly be,
Beware! Beware!
Trust her not,
She is fooling thee!
3
4
5
6
Imogen Holst, Britten (Great Composers), London 1966, S. 1.
Norbert Abels, Benjamin Britten, Hamburg 2008, S. 14.
Vgl. ebenda, S. 19.
Vgl. Matthews, Britten, S. 5.
7
She has two eyes, so soft and brown,
Take care!
She gives a side-glance and looks down,
Beware! Beware!
Trust her not,
She is fooling thee!
Abb. 3: Manuskript von Beware! von Benjamin Britten.
8
1.2 Eine entscheidende Begegnung
Im Jahr 1923 begann er auch Bratsche bei Audrey Alston zu lernen, die eine Freundin von Edith
Britten war. Im Triennial-Festival in Norwich im Oktober 1924 spielte Audrey Alston in einem
Streichquartett und nahm Britten mit zum Festival. Neben vielen anderen Stücken wurde auch
Frank Bridges Orchestersuite The Sea gespielt.7 Brittens Eindruck: „I was knocked sideways.“ 8
Dieses Erlebnis war entscheidend für Brittens weitere Laufbahn als Komponist.
Beim nächsten Triennial-Festival im Jahr 1927 war Britten wieder anwesend. Diesmal wurde das
von Frank Bridge für Orchester komponierte Tongemälde Enter Spring uraufgeführt, das von der
Kritik verrissen wurde, Britten aber stark interessierte. Da Bridge bei Mrs. Alston wohnte, wurde er
ihm dort nach dem Konzert vorgestellt. Bridge ließ sich am nächsten Tag Brittens Kompositionen
zeigen und erkannte sofort das Potenzial. Gegen seine Gewohnheit entschloss er sich dazu, ihn als
Schüler anzunehmen. Er empfahl ihm auch, Klavierstunden bei seinem Freund Harold Samuel zu
nehmen, der am Royal College of Music unterrichtete. Brittens wohl wichtigster Abschnitt seiner
musikalischen Lehrzeit begann.9
Frank Bridge (1879-1941) begann als englischer Romantiker
wie seine Zeitgenossen Vaughan Williams (1872-1958) und
Gustav Holst (1874-1934). The Sea (1910) ist ein gutes
Beispiel für seinen frühen Stil. In den folgenden Jahren
entwickelte
er
fortschrittliche
seine
Richtung
musikalische
und
Sprache
verarbeitete
in
dabei
eine
die
harmonischen Innovationen von Debussy, Ravel und Skriabin,
später auch von Schönberg, Berg und Bartók. In der Mitte der
Abb. 4: Frank Bridge
1920er Jahre war wahrscheinlich kein englischer Komponist so
interessiert an den kontinentalen Entwicklungen wie Bridge und
Brittens modernistische Tendenzen in seiner Zeit als Teenager geht größtenteils auf den Einfluss
von Bridge zurück.10 Neben dem bereits erwähnten Enter Spring befinden sich unter seinen reifen
und bedeutenden Werken das Stück Oration (1930) für Cello und Orchester – ein leidenschaftlicher
Protest gegen den ersten Weltkrieg von Seiten der Opfer – sowie das dritte und vierte
Streichquartett. Bridge war auch ein guter Bratschist und erfahrener Dirigent.11
In den Schulferien fuhr Britten zur Familie Bridge nach Eastbourne oder London. Britten erinnerte
7
8
9
10
11
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 22.
Sunday Telegraph, Britten looking back, London 17. 11. 1963, S. 9, zitiert in Kildea, Britten on Music, S. 250.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 22.
Vgl. Matthews, Britten, S. 8.
Vgl. ebenda.
9
sich später an seine Stunden und erzählte:
„I remember one that started at half past ten, and at tea-time Mrs. Bridge came in and said, 'Really,
you must give him a break.' Often I used to end these marathons in tears; not that he was beastly to
me, but the concentrated strain was too much for me.“12
Bridges Methode war: „to play every passage slowly on the piano and say, 'Now listen to this – is
this what you want?' ... And he really taught me to take as much trouble as I possibly could over
every passage, over every progression, over every line.“13
Die Kompositionsstunden bei Bridge zeigten bald viele Ergebnisse. Obwohl Beethoven und Brahms
die musikalische Götter seiner Teenager-Zeit waren, lernte der vierzehnjährige Britten, von seinem
Lehrer ermutigt, allmählich moderne Komponisten seiner Zeit kennen und versuchte sich in
fortgeschritteneren musikalischen Wendungen. Zwischen April 1926 und dem Zeitpunkt, als er
Bridge traf, komponierte er folgende Werke: Five Poems, Suite fantastique für Klavier und
Orchester, eine Symphonie für Riesenorchester mit acht Waldhörnern und Oboe d'amore,
Variationen mit dem Titel Chaos and Cosmos. Zwei weitere Orchesterstücke, komponiert in den
ersten Monaten des Jahres 1928, zeigen deutlich die Einflüsse von Bridges orchestraler
Kompositionstechnik.14 Bridge brachte ihm auch Arnold Schönbergs Zwölftontechnik bei.
Außerdem besuchten sie einmal gemeinsam ein Konzert mit der Londoner Erstaufführung von
Stravinskys Symphony of Psalms im Jahr 1931. Bridge meinte, dass es ein Meisterwerk sei. 15
Die Stunden bei Bridge endeten erst, als
Britten 1930 an das Royal College of Music
in London ging. Bridge und seine Ehefrau
hatten kein Kind, deswegen war Britten für
ihn wie ein Sohn. Britten und Bridge führten
eine
tief
verbundene,
liebevolle
Freundschaft bis zu Bridges Tod im Jahr
1941.16
Abb. 5: Hiawatha Coleridge-Taylor, seine Frau Kathleen Markwell,
Benjamin Britten, Ethel Bridge and Frank Bridge, 12. August 1935.
12
13
14
15
16
Kildea, Britten on Music, S. 250.
Donald Mitchell und Philipp Reed, Letters from a Life: The selected Letters and Diaries of Benjamin Britten,
London, 1991, S. 101.
Vgl. Matthews, Britten, S. 11.
Michael Oliver, Benjamin Britten, London, 1996, S. 23.
Vgl. Matthews, Britten, S. 9.
10
1.3 Studium in London
„I am thinking much about modernism in art.
Debating whether Impressionism, Expressionism, Classicism, etc. are right.
I have half decided on Schönberg. I adore Picasso´s pictures.“17
Im Mai 1930 bot das Royal College of Music in London ein musikalisches Stipendium an und
Britten bewarb sich dafür. Er sendete eine Mappe mit aktuellen Werken von ihm, inklusive zweier
Vokalwerke, die später veröffentlicht wurden: ein Lied The Birds, Text von Hilaire Belloc, und
Wealden Trio für Frauenstimme, Text von Ford Madox. Einige Wochen später wurde er gebeten, für
die Aufnahmeprüfung nach London zu kommen.18 Die schriftliche Prüfung fand er nicht schwer,
bei der mündlichen Prüfung waren Vaughan Williams, John Ireland und Sydney Waddington
(Theorie-Lehrer) anwesend. Einer der drei Professoren sagte zu Brittens Mutter: „What is an
English public-school boy doing writing music of this kind?“ 19 Britten schaffte die Prüfung und
erhielt ein Vollstipendium. Für den Anfang fand er ein winziges Zimmer in London, das er mit
seiner Schwester Beth gelegentlich teilte. Im Zimmer stand auch ein rot gestrichenes Klavier,
endlich konnte er ohne Unterbrechung arbeiten.20
Sein Lehrer war John Ireland, ein damals 50-jähriger sehr bekannter Komponist in England, der
politisch der extremen Linken nahestand. Britten besuchte einmal dessen Haus und war erstaunt,
dass Ireland dort wie ein Bohème lebte. 21 Er erzählte seiner Schwester Beth, dass er manchmal sehr
betrunken oder skrupellos war. Die Musik dieses „stöhnenden Elend“ – so Brittens jugendlicher
Freund Wulff Scherchen22 – wirkte auf Britten verstaubt spätromantisch. Ein neuer Wind schien
darin nicht zu wehen.
Er fand das Royal College nicht besonders anregend. „The attitude of most of the RCM students
was amateurish and folksy“ 23,,schrieb er 1959. Im RCM wollte er gern mehr zeitgenössische Musik
kennenlernen, aber es schien, als ob es dort wenige Gelegenheiten dazu gab. Als er in der
Bibliothek eine Partitur von Schönbergs Pierrot Lunaire suchte, fand er heraus, dass diese
überhaupt nicht im Katalog war. Danach meldete er es als empfehlenswertes Buch, aber es wurde
abgelehnt. (Er selbst hatte natürlich schon seine Partitur zu Hause.) Stattdessen begegnete er dort
17
18
19
20
21
22
23
Aus Brittens unveröffentlichem Tagebuch, April 1930, zitiert in Matthews, Britten, S. 13.
Vgl. Matthews, Britten, S. 16.
Holst, Britten, S. 23.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 28.
Vgl. Matthews, Britten, S. 18.
Abels, Benjamin Britten, S. 29.
High Fidelity Magazin, Dezember 1959, zitiert in Matthews, Britten, S. 17.
11
der Musik Purcells, in dem er einen Geistesverwandten erkannte.24
Seine wichtigste Entdeckung in der damaligen Zeit war Gustav Mahler, der ihn sein Leben lang
begleiten sollte. Ein weiterer Anknüpfungspunkt war Franz Schubert: In beiden Komponisten spürte
er wahrscheinlich Visionen der Kindheit, die man mithilfe der Musik zurückgewinnen konnte.25
1931 gewann er den Ernest-Farrar-Preis für Komposition, welcher an den in der Somme-Schlacht
gefallenen Komponisten und Kriegsgegner erinnern sollte. Brittens eigene politischen Ansichten
wurden immer mehr von pazifistischen Ideen geprägt.26
Im Jahr 1933 kam die öffentliche Aufführung von Brittens Sinfonietta, op. 1 im Mercury-Theater in
London zustande. Der Londoner Daily Telegraph schrieb am 1. Februar: „Benjamin Britten... kann
so provokant sein wie sonst nur die ausländischen Vertreter des Catch-as-catch-canKompositionsstils.“27 Ein Jahr zuvor wurden im selben Theater seine Three Two-part Songs
aufgeführt. Britten meinte später über die damalige Kritik:
„The only written criticism of this performance damned them entirely – as being obvious copies of
Walton´s three facade Songs... It is easy to imagine the damping effect of this first notice on a
younger composer. I was furious and dismayed because I could see there was not a word of truth in
it. I was also considerably discouraged. No friendliness – no word of encouragement – no
perception. Was this the critical treatment which one would expect all one´s life? A gloomy outlook.
I decided to avoid reading critics from that day onwards.“28
Die Simple Symphony, op. 4 entstand auch im gleichen Jahr, kurz vor Weihnachten. Ende des
Jahres absolvierte er seine Klavierabschlussprüfung. Er wusste, dass das Virtuosentum mit seiner
Zukunft nichts zu tun haben würde. „How I´m going to make my pennies Heaven only knows.“ 29
Britten hatte recht, weil er nie ein professioneller Solist wurde, trotzdem gab er 1938 seinen ersten
Klavierabend. Er war auch immer ein toller Begleiter auf hohem Niveau. Die vielversprechenden
musikalischen Erfolge wurden überschattet von der Angst um den sich verschlechternden
Gesundheitszustand seines Vaters.30
Während des letzten Studienjahres im RAC erhielt er ein kleines Reisestipendium. Britten wünschte
sich nach Wien zu gehen, um eine Stunde bei Alban Berg zu nehmen, der ihn tief beeindruckte.
Frank Bridge war auch dafür. Die Widerstände seitens des RAC und seiner Eltern waren jedoch zu
24
25
26
27
28
29
30
Vgl. Holst, Britten, S. 24.
Vgl. Matthews, Britten, S. 20.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 29.
Ebenda, S. 31.
Opera 3/3, März 1952, zitiert in Kildea, Britten on Music, New Yourk, 2003, S.115
Aus Brittens unveröffentlichtem Tagebuch, Dezember 1930, zitiert in Matthews, Britten, S. 19.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 33.
12
groß und so musste er seinen Plan aufgeben:
„There was at the time an almost moral prejudice against serial music... I think also that there was
some confusion in my parents minds – thinking that 'not a good influence' meant morally, not
musically. They had been shown in my later school days.”31
Statt nach Wien ging er nach Italien. Dort erhielt er ein Telegramm von seiner Mutter, die ihn über
den bedrohlichen gesundheitlichen Zustand des Vaters informierte. Er packte schnell seine Sachen
und kehrte zurück, es war jedoch leider schon zu spät. Als Britten das Telegramm in der Hand hielt,
war der Vater bereits verstorben.32 Für die Beerdigung wählte er die Musik aus, u. a. das von ihm
komponierte und dem Vater gewidmete Vokalwerk A Boy was born.33
In seinen späteren Werke verwendete er gelegentlich die Zwölftontechnik Schönbergs – in Turn of
the Screw, A Midsummer Night´s Dream, Cantata Academica, Owen Wingrave und Death in Venice
– aber die Zwölftontechnik ist immer in die Tonalität eingebettet. 34 Von der Vokalmusik A Boy Was
Born, 1933 komponiert, kann man sagen, dass sie denkbar weit von Bergs und Schönbergs
Expressionismus ist. Er suchte und fand eine frische Beziehung zum traditionellen englischen
Choral. Damals war er auch noch praktizierender Katholik, deswegen hatte der von Britten selbst
verfasste Text eine ehrliche religiöse Bedeutung.35 Die auf Brittens Talent aufmerksam gewordene
BBC nahm dieses Stück für eine Radiosendung auf.
Nach dem Tod des Vaters war er gezwungen eine Arbeit zu finden. „When I was nineteen I had to
set about earning my living. I was determined to do it through composition: it was the only thing I
cared about and I was sure it was possible.“36
1.4 Karriere als Komponist
Anfang des Jahres 1934 war Britten gerade erst 20 Jahre alt und hatte schon seine formelle
Ausbildung beendet. Er zog zurück in seine Heimat Lowestoft. Er war sicher, seinen
Lebensunterhalt als Komponist zu verdienen, aber in dieser Zeit gab es sehr wenige englische
Komponisten, die nur von der Komposition leben konnten. Vaughan Williams hatte ein zusätzliches
privates Einkommen und William Walton konnte einige Jahre lang nur durch die Unterstützung
31
32
33
34
35
36
Sunday Telegraph, Britten looking back, London 17. 11. 1963, S. 9, zitiert in Kildea, Britten on Music, S. 252.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 34.
Vgl. ebenda.
Vgl. Matthews, Britten, S. 27.
Vgl. ebenda.
Holst, Britten, S. 26.
13
seitens der Familie Sitwell seine Zeit der Musik widmen. 37 Im Oktober 1934 unternahm Britten
gemeinsam mit seiner Mutter eine Reise nach Basel, Salzburg und Wien – es wurde durch das Geld
aus seinem Reisestipendium finanziert. Alban Berg war gerade nicht anwesend, er konnte ihn daher
nicht treffen. Stattdessen ergab sich eine Freundschaft mit dem Dirigenten Erwin Stein, der damals
Redakteur bei der Universal Edition war und 10 Jahre später Brittens persönlicher Redakteur bei
Boosey & Hawks und ein treuer Begleiter werden sollte. Stein war ein Schüler von Schönberg und
ein Anhänger Mahlers; sie hatten also vieles gemeinsam.38
Nach der Reise kehrte er wieder nach London zurück, um dort zu leben. Da fand er einen Ausweg
aus seinen Geldsorgen: Aufgrund einer Empfehlung der BBC wurde ihm von der General Post
Office´s Film Unit angeboten, für den Dokumentarfilm The King´s Stamp die Musik zu schreiben.
Britten akzeptierte das Angebot und verstand sofort, worum es ging.
„I had to write scores for not more than six or seven players, and to make those instrument make all
the effects that each film demanded. I also had to be ingenious and try to imitate the studio
unloading in a dock. We had pails of water which we slopped everywhere, drain-pipes with coal
slipping down them, whistles, and every kind of paraphernalia we could think of.“39
Er schrieb Musik für mehr als 25 Filme innerhalb von
eineinhalb Jahren, meistens für Dokumentarfilme, aber
auch für Science-Fiction-Filme. Für GPO Film Unit
wurden die Partituren meistens von einer Gruppe
junger Künstler und Intellektueller verfasst, unter der
Aufsicht
des
Dokumentarfilm-Produzenten
John
Grierson. Einige Mitglieder dieser Gruppe waren
politisch links.40 Am 5. Juli 1935 hatte Britten einen
Termin, um mit einem Lehrer an der Downs School über Abb. 6: Benjamin Britten mit W. H. Auden
künftige Filmprojekte zu sprechen. Dieser Lehrer war Wystan Hugh Auden, ein in England längst
bekannter Dichter, fast sieben Jahre älter als Britten und ehemaliger Schüler der Greham-Schule,
die auch Britten besuchte. Er war ein bekennender Homosexueller und ein Nonkonformist. 41 „He is
a very startling personality – but absolutely sincere and very brilliant. He has a very wide
knowledge, not only of course of literature, but of every branch of art, and especially of politics;
this last in the direction that I can't help feeling every serious person, and artists especially, must
37
38
39
40
41
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 46.
Vgl. Matthews, Britten, S. 30.
Holst, Britten, S. 26.
Vgl. Matthews, Britten, S. 31.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 37.
14
have. Strong opposition in every direction to Facism, which of course restricts all freedom of
thought.”42
Britten erschien sehr jung für Auden, aber er erkannte allmählich seine außergewöhnliche
Musikalität und nahm ihn in seine Gruppe von Künstlern auf. Auden, Stephen Spender und Cecil
Day Lewis waren Dichter, Christopher Isherwood war Schriftsteller, Coldstream war ein Maler und
Britten war nun der Komponist.43
Die künstlerische Zusammenarbeit zwischen Britten und Auden begann 1935 und dauerte bis zum
Beginn der fünfziger Jahre an. Es entstanden dabei eine Oper, vier Filme, drei Theaterstücke, Musik
für den Rundfunk und eine Reihe von Liedvertonungen, zum Beispiel Our Hunting Fathers, On
this Island, Cabaret Songs, Ballad of Heroes und Hymn of St. Cecilia. Auden beeinflusste Britten
sowohl persönlich als auch künstlerisch.44
Einmal nahm Auden Britten zum Westminster Theater mit, um gemeinsam das Stück The Dance of
Death und The Dog Beneath the Skin anzusehen und ihm dabei die weiteren Mitglieder der Gruppe
vorzustellen: Isherwood und seine Freunde von der Theatergruppe, Direktor Rupert Doone und sein
Partner, den Designer Robert Medley. Alle waren homosexuell oder bisexuell. Es ist möglich, dass
Britten durch die Freundschaft mit Auden sich seiner Homosexualität erst richtig bewusst wurde.45
Im Jahr 1936 kam eine Anfrage vom Norwich Festival: Der Organisator bat Britten, ein Stück für
Solo-Stimme und Orchester zu schreiben. Er komponierte daraufhin Our Hunting Fathers über
einen Text von Auden. Es handelt vom Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Britten dirigierte
selbst das London Philharmonic Orchester. Das Publikum war sehr höflich, aber es war deutlich
verunsichert. Sogar Frank Bridge war skeptisch. Brittens Mutter sagte zu ihrer Freundin: „Oh, I do
hope Ben will write something that somebody will like.“46
Im gleichen Jahr flog er für die Aufführung seiner Suite für Violine und Klavier, op. 6 nach
Barcelona, wo ein Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik stattfand. Dort
verbrachte er einen Tag mit zwei neuen Freunden, die auch an dem Festival teilnahmen, nämlich der
Komponist Lennox Berkeley und dessen Freund Peter Burra, ein angehender Schriftsteller. Burra
war ein alter College-Freund von Peter Pears, von dem noch die Rede sein wird.47
In Oktober zog Britten mit seiner Schwester in die neue Wohnung in der Finchley Road in London
42
43
44
45
46
47
Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 378.
Vgl. Matthews, Britten, S. 32.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 38.
Vgl. Matthews, Britten, S. 33.
Humphrey Carpenter, Benjamin Britten: A Biography, London 1992, S. 88.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 42.
15
um. Dort war auch ein Zimmer, das für den Besuch seiner Mutter verwendet werden konnte. Zu
Neujahr wurden Britten und Beth krank, beide wurden Opfer einer furchtbaren Grippewelle. Britten
erholte sich bald, aber die Mutter kam, um die arme Beth zu pflegen, die mit hohem Fieber im Bett
lag. Dabei wurde sie jedoch selbst krank, sie holte sich eine Lungenentzündung. Während Beth sich
erholte und schließlich gesund wurde, verschlimmerte sich der Zustand der Mutter. Am 31. Januar
1937 erlitt sie einen starken Herzanfall und starb. 48 „It is a terrible feeling, this loneliness, and the
very happy & beautiful memories I have of Mum don't make it any easier – tho' perhaps they
should, but then I expect there is something wrong about my philosophy of life. Anyhow I'm
blessed with a grand family, and things like this bring one very close together.”49
Dann geschah ein weiteres Unglück. Peter Burra, den Britten in Barcelona kennengelernt hatte,
starb am 27. April beim Absturz einer kleinen Privatmaschine. Er fuhr nach Bucklebury zur
Beerdigung. Am Tag darauf traf er sich mit Burras Freund Peter Pears, dem er einige Wochen davor
bei einer Lunch-Party begegnet war. Er bat Britten, ihm beim Ordnen des Nachlasses zu helfen.
Durch diesen tragischen Zwischenfall miteinander verbunden, entwickelte sich langsam eine
Beziehung. 50
Als Britten seine Mutter verlor, war er
erst 23. Es ist verständlich, dass sich
seine Freundschaft zu Pears besonders
nach dem Tod der Eltern festigte. Pears
schützte ihn oft vor der öffentlichen
Meinung und vor Kritikern, und er nahm
seine Angst vor der Gesellschaft. Pears
hatte
angeblich
eine
sehr
ähnliche
Stimme wie Brittens Mutter,51 wodurch
Abb. 7: Benjamin Britten und Peter Pears
sich Britten bei ihm geborgen fühlte. Im
Vergleich zur Selbstsicherheit Pears in Bezug auf dessen Homosexualität hatte Britten eine
Abneigung gegenüber einer sexuellen Beziehung gezeigt. Er bewegte sich zwar in homosexuellen
Kreisen, aber in den 1930er Jahren war Homosexualität in England noch illegal und konnte mit
langjähriger Haft bestraft werden. (Trotz einer Forderung zur Entkriminalisierung im WolfendenReport 1957 wurde das Gesetz bis zum Jahr 1967 nicht geändert.) Britten selbst hatte auch einmal
ein Gespräch mit der Polizei wegen seiner Homosexualität. Es ist in unserer liberalen Zeit kaum
48
49
50
51
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 43.
Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 476.
Vgl. Matthews, Britten, S. 41.
Graham Johnson, Britten, Voice and Piano, London, 2003, S. 11.
16
vorstellbar, wie Britten damals wegen seines Schuldbewusstseins litt.52
Trotz seines schwierigen Privatlebens hatte er weiter Erfolg als Komponist. Im August 1937 gab es
eine Aufführung von Variation on a Thema of Frank Bridge für Streichorchester bei den Salzburger
Festspielen. Diese Chance bekam er durch den Dirigenten Boyed Nell; Britten akzeptierte sein
Angebot sofort und schrieb dieses 25-minütige Stück in einem Monat. Es war sehr erfolgreich und
wurde in den darauffolgenden zwei Jahren mehr als fünfzig Mal in Europa und Amerika gespielt.53
In dieser Zeit kaufte Britten ein Haus in Snape bei Aldeburgh, weil sein Familienhaus in Lowestoft
nach dem Tod der Eltern verkauft worden war. Er lud viele Freunde dorthin ein und begründete
viele musikalische Kooperationen. Einer von diesen Freunden, der amerikanische Komponist Aaron
Copland, besuchte ihn dort im Jahr 1938. Er beschrieb diesen Aufenthalt später:
„I can still recall the week-end I spent there and the excitement of exchanging ideas with a newfound composer friend, Benjamin Britten, then aged twenty-four. ... I had with me the proofs of my
school opera, The Second Hurricane, composed for young people of fourteen to seventeen. It had
been performed the previous year by a group of talented students at a lower East Side settlement
school in New York. It didn't take much persuasion to get me to play it from start to finish, singing
all the parts of the principals and chorus in the usual composer fashion. Britten seemed pleased.
Less than a year after this visit, he was on his way to North America. Perhaps our meeting in Snape
had some part in his decision to try his luck abroad.”54
1.5 Aufenthalt in Amerika
Am 19. Februar 1936 entsandte Hitler einen Sonderbotschafter nach London, um den ersten
Einmarsch der Nazis ins Rheinland zu rechtfertigen. Die europäische Sicherheit war in Gefahr und
Britten ahnte auch, was mit England passieren würde. Es gab mehrere Gründe dafür, warum er
damals überhaupt geplant hat, nach Amerika zu gehen: Frank Bridge hatte mehr Erfolg in Amerika
als in seinem Heimatland; Pears war schon zweimal mit seiner Sängergruppe dort; Auden und
Isherwood waren wegen der politischen Situation, die in Europa gravierend schien, bereits nach
New York umgezogen. Britten fühlte sich unruhig, wie er später erzählte: „Many of us young
people at that time felt that Europa was more or less finished.” 55
Britten und Pears gingen am 29. April 1939 an Bord des Schiffs Austonia. Frank Bridge nahm
52
53
54
55
Vgl. Matthews, Britten, S. 42.
Vgl. Holst, Britten, S. 27.
Ebenda, S. 28
Oliver, Benjamin Britten, S. 71.
17
Abschied von beiden und er schenkte ihnen seine eigene italienische Bratsche – eine echte Giussani
– mit dem Gruß „bon voyage“, aber auch „bon retour“. 56 Er sollte seinen Schüler nicht mehr
wiedersehen, denn zwei Jahre später starb er im Alter von 62.
Am 10. Mai kamen sie in Montreal an. Nach einem einmonatigen Aufenthalt in Kanada besuchten
sie kurz Grand Rapids, Michigan, das auf dem Weg nach New York lag. In der Zwischenzeit hatte
sich die Beziehung zwischen Britten und Pears geändert, denn sie wurden ein Liebespaar. An
diesem Moment schrieb er jedoch einen Brief an Wulf Scherchen: „It is awful how much you mean
to me...“. Wahrscheinlich verhielt es sich zu diesem Zeitpunkt so: Wulf war seine Muse und Pears
war seine Realität.57
In New York trafen Britten und Pears Aaron Copland. Sie verbrachten den Rest des Sommers in
Woodstock, NY, und mieteten ein Studio in der Nähe von Coplands Haus. Britten schrieb dort Les
Illuminations, Young Apollo (Wulf Scherchen gewidmet) sowie das Violin-Concert op. 15 für den
spanischen Geiger Antonil Brosa. 58
Im August wechselten Britten und Pears wieder den Wohnort, nämlich nach Amityville in Long
Island zu Elisabeth Mayer. Pears lernte sie während seines letzten Besuchs in Amerika kennen.
Mayer war nach dem Aufstieg der Nazis zusammen mit ihrer Familie aus Deutschland emmigriert.
Sie lud Britten und Pears ein, bei ihr zu wohnen, und zwar so lange, wie sie wollten. 59 Britten
schrieb an Anid Slater über Frau Mayer:
“She is one of those grand people who have been essential through the ages for the production of
art; really sympathetic and enthusiastic, with instinctive good taste (in all the arts) and a great friend
of thousands of those poor fish-artists. She is never happy unless she has them all round her - ... I
think she's one of the few really good people in the world - and I find her essential in these times
when one has rather lost faith in human nature.”60
Pears plante, am Ende des Sommers nach England zurückzukehren, und reservierte auch schon
einen Platz in der Queen Mary. Britten versuchte Pears zu überzeigen, noch in Amerika zu bleiben,
– eine weise Voraussicht, denn der Weltkrieg begann bereits am 3. September. 61 Die britischen
Behören empfahlen Britten, angesichts der Kriegssituation in den USA zu bleiben, 62 und die neue
Karriere in Amerika sah vielversprechend aus. Er hielte noch den Kontakt mit der BBC (viele
56
57
58
59
60
61
62
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 74.
Vgl. Matthews, Britten, S. 53.
Ebenda, S.51
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 77.
Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 724.
Vgl. Matthews, Britten, S. 56.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 78.
18
europäische Erstaufführungen der während seiner Zeit in den USA komponierten Werke gingen von
ihr aus) und dem Verlag Boosey and Hawkes, der gerade ein neues Büro in New York hatte. Die
amerikanische Erstaufführung von Variation on a Thema of Frank Bridge in New York wurde
positiv aufgenommen, genauso das Klavierkonzert in Chicago. Die Erstaufführung des ViolinConcert op. 15 fand am März 1941 in New York unter der Leitung von John Barbirolli statt.
Den Winter 1939/1940 verbrachten Britten und Pears in bei Auden in Brooklyn, New York. Sein
Haus war gewissermaßen eine Künstlerkolonie. Dort trafen sich auch viele Anhänger der
amerikanischen Linken. Britten empfand das Haus als ein einziges geistiges und künstlerisches
Zentrum, wie er es in diesem Land noch nicht angetroffen hatte. 63 Er komponierte dort die
Michelangelo-Sonette, op. 22, die Peter Pears gewidmet sind. Dazu komponierten Britten und
Auden gemeinsam eine Operette für Kinder mit dem Titel Paul Bunyan. Grundlage der Handlung
ist eine amerikanische Sage über einen riesenhaften Holzfäller. Die Musik ist von Purcells King
Authur beeinflusst, aber auch von balinesischer Gamelan-Musik – vermittelt durch Colin McPhee,
den Britten in Amityville kennengelernt hatte. 64 Das Stück wurde im Mai 1941 an der ColumbiaUniversität New York uraufgeführt und es erhielt mehrheitlich negative Reaktionen. Auden und
Britten waren der Meinung, dass es bearbeitet werden musste. Britten verlor jedoch das Vertrauen in
dieses Stück und zog es zurück. Erst in den letzten Jahren seines Lebens fand er zu ihm zurück und
unterzog es einer Revision.65
Im Jahr 1940 begann er eine Symphonie schreiben, nachdem von der japanischen Regierung zur
2600-Jahre-Feier der Tenno-Dynastie (direkt übersetzt „Himmelskind“, entspricht dem euroäischen
Kaiser) ein europäisches Musikwerk in Auftrag gegeben wurde. Für diesen Anlass durfte er eine
beliebige Form wählen. Er entschied sich für eine Symphonia da Requiem, mit christlicher
Assoziation und zum Gedenken an seine Eltern. Es ist schon schwer zu glauben, dass er sich
vorstellen konnte, dass dieses Stück für den Auftrag geeignet sei. Es war auch eine klare Reaktion
auf den Krieg, der damals in Europa beherrschte,66 und wurde von der japanischen Kommission als
gezielte Provokation und offenkundige Beleidigung aufgefasst. (Britten erhielt jedoch ein Honorar
und verwendete dieses für ein Auto.)67 Das Stück wurde bald darauf in New York unter der Leitung
von Barbirolli aufgeführt.
Während Britten sich in den USA aufhielt, erzählte die deutsche Kriegsmarine im Seekrieg gegen
Großbritannien mehrere Siege. Britten schrieb an seine Geschwister in England, denn er hatte
63
64
65
66
67
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 60.
Vgl. ebenda S. 56.
Vgl. Matthews, Britten, S. 56.
Vgl. ebenda S. 58.
Vgl. ebenda S. 58.
19
Angst um ihr Leben. Er versuchte auch, seine Schwester Beth und deren Familie nach Amerika zu
holen. Andererseits begann ihn das Heimweh zu plagen. Auden besaß damals schon die
amerikanische Staatsbürgerschaft und es gab eine Zeit, wo auch Britten darüber nachdachte. Aber er
wusste, dass es für ihn unmöglich sein würde, als Emigrant dort zu leben, wo er keine Wurzeln
hatte. Er wurde auch depressiv, denn er konnte es nicht aushalten, dass er während der Kriegszeit
nirgendwohin zu gehören schien. Diese gespannte stressige Situation machte ihn auch physisch
krank, mehrere Monate lang konnte er viele Arbeiten nicht erledigen und er hörte schließlich auf zu
komponieren.68 Er hatte einige gute Freunde, die ihm helfen konnten. Sie sagten ihm, dass er nicht
alleine sei, und auch andere Künstler krank werden wegen der Angst und Unentschlossenheit. Ein
Dichter und Schriftsteller William Plomer meinte: „Disease is a kind of protest of the individual
against his environment, and when this protest is against not only the way that his life but the way
that the world is ordered, then the disease is deep-seated indeed.”69
Während er im Juli 1941 sich in Kalifornien aufhielt, fand der zufällig eine Kopie der wöchentlich
von der BBC herausgegeben Zeitschrift The Listener und las darin einen Artikel von E. M. Forsters
über den britischen Dichter George Crabbe. Da stand:
„To talk about Crabbe is to talk about England. He never left our shores... He did not go to London
much, but lived in villages and small country towns. He was born at Aldeburgh, on the coast of
Suffolk. It is a break little place, not beautiful. It huddles round a flint-towered church and sprawls
down to the North Sea – and what a wallop the sea makes as it pounds at the shingle! Nearby is a
quay at the side of an estuary, and here the scenery becomes melancholy and flat; expanses of mud,
saltish commons, the marsh-birds crying. Crabbe heard that sound and saw that melancholy, and
they got into his verse.” 70
Britten beschloss daraufhin, so bald wie möglich nach England zurückzukehren. Diese
Entscheidung tat ihm gut und fing er wieder an zu komponieren. Pears fand eine Crabbes-Ausgabe
in einer antiquarischen Buchhandlung und Britten las darin ein Gedicht namens The Borough, das
von der Geschichte des Aldeburgher Fischers Peter Grimes handelt. 71 Er schrieb augenblicklich an
Frau Mayer: „Very excited – maybe an opera one day...!“72
68
69
70
71
72
Vgl. Holst, Britten, S. 32.
Ebenda.
Ebenda.
Vgl. Matthews, Britten, S. 64.
Oliver, Benjamin Britten, S. 90.
20
1.6 Zurück in Suffolk, England
Da es im Jahr 1942 aufgrund des eskalierenden Seekrieges schwer war, den Atlantik zu überqueren,
warteten Pears und Britten noch einige Monate, bis es möglich wurde. Am 16. März begleitete Frau
Mayer die beiden zum New Yorker Hafen, wo die Axel Johnson hielt. Es handelte sich um einen
kleinen Frachter am Ende eines Kriegsschiffes; vier Wochen lang sollten sie darin bleiben, mit der
ständigen Angst vor Angriffen. Britten jedoch komponierte an Bord fast pausenlos. Er arbeitete an
Hymn to St Cecilia, dessen Text Auden für ihn verfasst hatte.73 Außerdem hatte er bereits die Musik
für seine zukünftige erste Oper Peter Grimes im Ohr.
Trotz der Sehnsucht nach seinem Zuhause fühlte sich Britten nicht willkommen, als sie am 17. April
1942 in Liverpool ankamen. In einem Brief an Frau Mayer beschrieb er die Situation in England
während der Kriegszeit als „drab shabiness 74“ und er klagte über das arme musikalische Leben in
London. Im Mai musste Britten vors Gericht, um sich für seine Wehrdienstverweigerung zu
rechtfertigen. Er schrieb eine Erklärung dafür:
„Since I believe that there is in every man the spirit of God, I cannot destroy, and feel it my duty to
avoid helping to destroy as far as I am able, human life, however strongly I may disapprove of the
individual's actions or thoughts. The whole of my life has been devoted to acts of creation (being by
profession a composer) and I cannot take part in acts of destruction. Moreover, I feel that the fascist
attitude to life can only be overcome by passive resistance. If Hitler were in power here or this
country had any similar form of government, I should feel it my duty to obstruct this regime in
every non-violent way possible, and by complete non-cooperation. I believe sincerely that I can
help my fellow human beings best by continuing the work I am most qualified to do by the nature
of my gifts and training, i.e. the creation or propagation of music.”75
Auch aufgrund seiner Bekanntheit wurden Britten und Pears als konzessionslose Pazifisten
akzeptiert. Als Ersatz für den Armeedienst beauftragte The Arts Council of Great Britain sie beide,
ohne Gage für Konzerte zur Verfügung zu stehen. Er sollte für diejenigen Leute spielen, die unter
dem Druck des Krieges besonders zu leiden hatten.76 Britten und Pears reisten viel umher und gaben
Konzerte in Kirchen, in kleinen Dorfsälen oder in Gefängnissen. Sie erlebten auch die ständigen
Bombenalarme, die Stromausfälle und die Flucht in U-Bahn-Schächte oder Warenhauskeller.
In den vergangenen drei Jahren war aufgrund von Brittens Flucht in die USA in der englischen
Presse einige Feindseligkeit ihm gegenüber entstanden, diese löste sich nun aber in Luft auf und
73
74
75
76
Vgl. Holst, Britten, S. 33.
Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 1037.
Matthews, Britten, S. 69.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 64.
21
Britten und Pears fühlten sich endlich zu Hause. Als sie im September 1942 gemeinsam die
Michelangelo Sonnets in der Wigmore Hall präsentierten, waren Publikum und Kritiker sowohl von
Brittens Musik als auch von der neuen, glänzenden und kraftvollen Stimme Pears' beeindruckt.77 Sie
wiederholten das gleiche Programm im Oktober in der National Gallery und wollten es gleich
darauf aufnehmen. So entstand die erste Aufnahme für Decca. Sie wurden bald eine den
meistgeliebten Duo-Partnerschaften, deren Präsentation der berühmten Lieder-Zyklen wie Die
Winterreise oder Die schöne Müllerin von Schubert oder Schumanns Dichterliebe einstimmig
positive Anerkennung fand. Britten schrieb weitere Werke, darunter Volkslied-Arrangements, für
die Konzerte mit Pears. Im Jahr 1942 wurde die Sinfonia da Requiem als europäische
Erstaufführung beim Promenade Concert gespielt und warmherzig aufgenommen. Dazu wurde
Hymn to Saint Cecilias in der BBC gesendet. Britten schrieb an Frau Mayer:
„I am a bit worried by my excessive local success at the moment - the reviews that the Sonnets, St
Cecilia, the Carols and now the Quartet have had, and also the fact that Les Illuminations is now a
public draw! It is all a little embarrassing, and I hope it doesn't mean there's too much superficial
charm about my pieces. I think too much success is as bad as too little...” 78
Nach der Heimkehr stellte sich die Frage, wo sie wohnen sollten. In Brittens Haus in Snape wohnte
seine Schwester Beth. Dort war man keinen Luftangriffen ausgesetzt und es war der ideale Ort, ihre
zwei Kinder zu erziehen. (Ihr Mann war wegen des Militärdiensts nicht bei ihr.) Britten und Pears
wohnten für kurze Zeit bei Pears' Eltern oder bei Freunden in London und sie fanden mehr als zehn
Monaten lang keine eigene Wohnung.79 Britten besuchte in den Jahren 1943/44 jedoch immer
wieder sein Haus in Snape, denn dort war immer eine friedliche Stimmung, so dass er in Ruhe
komponieren konnte. Britten genoss die Natur, machte ausgedehnte Spaziergänge über Wiesen und
Sumpf und plante dabei seine Oper Peter Grimes.
1.7 Peter Grimes
Am Beginn des Jahres 1944 war Britten endlich bereit, seine Komposition Peter Grimes zu
beginnen. Kurz nach der Heimkehr bat er den Autor Montagu Slater, das Libretto zu verfassen, und
dieser willigte ein. Britten hatte ursprünglich Christopher Isherwood gefragt, aber dieser hatte die
Idee abgelehnt. Er wandte sich deswegen nicht an Auden, weil er um dessen Beschäftigung mit
einem Weihnachtsoratorium wusste.80
77
78
79
80
Vgl. Matthews, Britten, S. 68.
Oliver, Benjamin Britten, S.118.
Vgl. ebenda, S. 96.
Vgl. Matthews, Britten, S. 75.
22
Britten und Pears planten eine Oper mit traditionell dramatischem Schema. Slater, der politisch
links stand, legte in seinem Libretto die Betonung auf den Konflikt zwischen Grimes und der
unterdrückerischen Dorfgesellschaft und beschrieb Grimes damit als Opfer des gesellschaftlichen
Vorurteils. Britten und Pears, die Pazifisten waren (wie sie öffentlich erklärten) und als ein
homosexuelles Paar lebten (was sie aus guten Gründen privat hielten), sahen Grimes als ihren
eigenen Schatten, als typischen Vertreter eines Außenseiters. „It is getting more and more an opera
about the community“81, schrieb Britten an Frau Mayer.
Die Oper Peter Grimes kam am 7. Juni 1945, ein Monat nach dem Ende des Krieges in Europa, im
Sadler´s Wells Theatre zur Uraufführung. Das Royal Opera House in Convent Garden wurde
während des Kriegs als Tanz-Saal verwendet und das Sadler´s Wells Theatre war eigentlich seit der
Bombardierung im Jahre 1940 geschlossen. Einige Ensemblemitglieder von Sadler´s Wells
versuchten jedoch, unter der Leitung von Joan Cross trotz der Kriegszustand weiterzuarbeiten. Sie
reisten mit einer kleinen Besetzung an Sängern, Spielern und Technikern durch verschiedene
Kleinstädte. Peter Pears hatte dort bis zum Jahr 1943 mitgearbeitet und als das Ensemble davon
hörte, dass Britten gerade mit einer neuen Oper beschäftigt war, entschieden sie mit enormem Mut,
diese in London zu produzieren.82
Die Proben für Peter Grimes fanden unter schwierigen Bedingungen statt. Die Leute von Sadler's
Wells waren ständig auf Tournee (sie gaben acht Aufführungen in einer Woche), dazu standen
wichtige Sänger dem Stück und dessen Komponisten ablehnend gegenüber, nur der Tenor (Peter
Pears) und der Produzent (Eric Crozier) sprachen sich vehement dafür aus. Einige schlugen vor, für
die Wiedereröffnung des Theaters ein anderes Stück, nämlich aus eines dem Repertoire,
auszuwählen. Einige Sänger protestierten gegen das Management und die „Kakophonie“, die nur
Zeit und Geldverschwendung wäre.83 Britten befürchtete eine rebellische Reaktion, die sich fatal auf
Aufführung seiner Oper auswirken würde. Nach der Generalprobe war er überzeugt, dass es eine
Katastrophe würde.84
Das Gegenteil traf ein und die Uraufführung wurde ein voller Triumph. Als der Vorhang fiel,
wussten alle Publikum im Publikum, dass sie gerade ein Meisterwerk gehört hatten und dass sich
nie zuvor etwas Vergleichbares in der Musik Englands nach Purcell ereignet hatte. Sie erhoben sich
von ihren Plätzen und schrien vor Begeisterung.85 Mehr als hundert Briefe trafen bei Brittens
Zuhause in Snape ein. Einige Wochen später schrieb er an seinen Freund:
81
82
83
84
85
Mitchell und Reed , Letters from a Life, S. 1037.
Vgl. Holst, Britten, S. 38.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 107.
Vgl. ebenda.
Vgl. Holst, Britten, S. 39.
23
„I am so glad that the opera came up to your
expectations. I must confess that I am very
pleased with the way that it seems to 'come over
the footlights', and also with the way the audience
takes it, and what is perhaps more, returns night
after one than either Sadler's Wells or me. Perhaps
it is an omen for English Opera in the future.
Anyhow, I hope that many composers will take
the plunge, and I hope also that they'll find, as I
did, the water not quite so icy as expected!”86
Obwohl diese Oper in englischer Sprache verfasst Abb. 8: Peter Pears in seiner Rolle als Peter Grimes,
ist, ist ihre Art stark vom kontinentaleuropäischen
Sadler’s Wells 1945.
Stil beeinflusst. Die Struktur ist wie bei Verdi: Sie ist aufgeteilt in Arien, Ensembles und Chöre,
aber diese mithilfe des Dialogs gebaute Teilung klingt sehr natürlich. Die fünf orchestralen
Zwischenspiele (die Four Sea Interludes und Passacaglia wurde ihrer Beliebtheit wegen bald
getrennt veröffentlicht und in Folge oft als ein einzelne Stücke aufgeführt) haben etwas mit Bergs
Oper Wozzeck und Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk gemeinsam – zwei Werke, die
Britten sehr bewunderte.87
Peter Grimes stoß nicht nur in England auf Begeisterung. In den folgenden drei Jahren wurde die
Oper auf Italienisch, Deutsch, Schwedisch, Dänisch, Flämisch, Tschechisch und Ungarisch
übersetzt. Sie wurde in 20 Städten aufgeführt, darunter Mailand, Berlin, Budapest, New York, Los
Angeles und Sydney. Im August 1946 fand in dem von Serge Koussevitzky veranstalten
Tanglewood-Festival eine amerikanische Erstaufführung dieser Oper statt. Am Pult stand ein junger
Mann, den Britten sechs Jahren zuvor in Audens Kommune in New York kennengelernt hatte:
Leonard Bernstein. Der angereiste Auden beurteilte das Werk als „schrecklich“, 88 beim Publikum
kam diese Oper jedoch hervorragend an.
Zwei Monate später veranstaltete Britten mit Yehudi Menuhin eine Tournee durch Deutschland. Ziel
der Fahrt waren die Lager der sogenannten DPs („displaced persons“), die von den Westalliierten
und den Sowjets eingerichtet worden waren. Mit „displaced persons“ bezeichneten die Alliierten
diejenigen Menschen, sich aufgrund des Kriegs außerhalb ihres Heimatstaates aufhielten und ohne
Hilfe nicht zurückkehren oder in ein anderes Land emigrieren konnten. Darunter waren Frauen,
86
87
88
Holst, Britten, S. 39.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 109.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 70.
24
Männer, Kinder und Jugendliche, die unbeschreibliche Qualen als Zwangsarbeiter, Häftlinge und
Versuchspersonen erlitten hatten. Menuhin gab bereits während des Krieges zugunsten des Roten
Kreuzes mehr als fünfhundert Konzerte an allen möglichen Schauplätzen. Britten und Menuhin
spielten gemeinsam in Lagern, in Siedlungen, in Kasernen, Klöstern und Schulen. Britten würde
diese Reisen nie vergessen. Pears erzählte Jahre nach dessen Tod, dass sein Freund erst gegen Ende
seines Lebens über den Schock zu sprechen begann, den diese dunkle Tournee bei ihm ausgelöst
hatte, und darüber, dass alles, was er danach geschrieben hat, dadurch geprägt worden sei. 89 Gleich
nachdem Britten nach England zurückgekommen war, arbeitete er an einem seiner düstersten
Werke, den Holy Sonnets of John Donne, op. 35 für Tenor und Klavier, dessen leidenschaftliches
Gedicht den triumphierend siegenden Tod besingt. Die fiebrige Stimmung dieses Werkes trug
sicherlich dazu bei, dass er während der Komposition krank wurde.90
Einige der Ensemblemitglieder, die in Peter Grimes zusammengearbeitet hatten, beschlossen eine
neue englische Operngruppe zu gründen, um mit einem kammermusikalischen Opernprojekt auf
Tournee zu gehen. Im Jahr 1947 schrieb Britten dafür eine neue Oper, Albert Herring, in welcher er
eine französische Komödie in die Gegend von Ost-Suffolk versetzte. Es handelt sich um eine
Ensemble-Oper, mit Giuseppe Verdis Oper Falstaff als großem Vorbild.
Nach der Uraufführung dieser Oper gab er sein Haus in Snape auf und zog nach Aldeburgh um, und
zwar in die Crabbe-Street Nr. 4, nicht weit entfernt vom Jubiläums-Saal der Albert HerringAufführung und der Versammlungshalle der Peter Grimes-Auffühunrg entfernte. Die Stadt
Aldeburgh war kein Urlaubsort, sondern eine Fischerstadt, am Strand lagen Fischerhütten und
Boote. Brittens Arbeitszimmer hatte einen direkten Ausblick auf das Meer: Bei hoher Flut schien es,
als ob diese ins Zimmer käme. Hier war nun sein Zuhause für die nächsten zehn Jahre.
1.8 Das Aldeburgh-Festival
Im August im Jahr 1947 reiste Britten mit den Mitgliedern einer englischen Operngruppe, die
gerade Albert Herring in mehren Opernhäuser spielten, durch Europa. Eines Tages schlug Peter
Pears plötzlich vor: „Why not make our own Festival? A modest Festival, with a few concerts given
by friends? Why not have an 'Aldeburgh Festival'?“ 91 Sie diskutierten darüber und kurz darauf
begannen sie schon mit der Planung. Sie erhielten die Erlaubnis der Stadt, Konzerte in der
Gemeindekirche und in der Taufkapelle zu veranstalten. Einige Besitzer größerer Häuser stellten
89
90
91
Vgl. ebenda, S. 68.
Vgl. Matthews, Britten, S. 84.
Holst, Britten, S. 43.
25
Zimmer für Ausstellungen zur Verfügung, andere wiederum boten Unterkunftsmöglichkeiten für die
Sänger und Spieler an.
In dem total ausverkauften Konzert in der Gemeindekirche in Aldeburgh erklang am 5. Juni 1948
zur Eröffnung des ersten Aldeburgh-Festivals Brittens St-Nicolas-Kantate. Dieses Auftragswerk für
eine Schule klang dramatisch wie eine Oper und war das perfekte Eröffnungsstück. Beim zweiten
Festival in Jahr 1949 wurde Brittens neue Oper für Kinder, The Little Sweep bzw. Let´s make an
Opera aufgeführt. Diese hat eine Suffolk-Geschichte, die im Nachbardorf Iken spielt, zum Inhalt.
Die Uraufführung fand im Jubilee-Saal statt und wurde von Norman Del Mar dirigiert. Die
zwischen acht- bis vierzehnjährigen Kinder, die eine bedeutende Rolle in der Oper spielten, waren
die Söhne, Töchter und Neffen des Festivalvorsitzenden. Die Idee von Peter Pears, „concerts given
by friends“, erwies sich als optimal. Die Künstlerliste wurde beeindruckend lang und die Kleinstadt
wurde zum Reiseziel der bedeutendsten Solisten der Musikwelt. Dort gelangten viele Werke junger
Komponisten zur Uraufführung: Michael Tippett, William Walton, Lennox Berkeley, Robert
Gerhard, Priaulx Rainer und Hans Werner Henze. Dazu kamen Vorträge von E. M. Forster, William
Plomer, Edith Sitwell, Kenneth Clark, Francis Poulenc und Aaron Copland.
Das ursprünglich bescheidene Festival wuchs immer weiter. Eine der schwersten Aufgaben war,
eine sichere finanzielle Unterstützung zu finden. Brittens verwandte die meiste Zeit auf praktische
Fragen: „Can we do without a third trumpet and a second bassoon?” 92 usw. Die Planung für das
Festival nahm elf Monate in einem Jahr in Anspruch. Besucher des Aldeburgh-Festivals fragten sich
zum Teil, wie Britten sich überhaupt Zeit für die Organisation des Festivals finden können, wo er
doch schon als Komponist so sehr beschäftigt schien. Britten selbst meinte, er sei unglücklich, wenn
ein Tag ohne Komponieren zu Ende geht. Wenn nicht gerade Konzerte oder andere Arbeit Priorität
hatten, stand Britten immer um sieben Uhr am Morgen auf und saß bald darauf am Schreibtisch.
Bis zum Mittag komponierte er und dann hörte er auf zu arbeiten – es sei denn, es war kurz vor
einer Abgabefrist. Bis zum Abendessen machte er einen langen Spaziergang, fuhr sein Auto durch
die Suffolk-Landschaft, spielte Tennis, schwamm oder beobachtete die Vögel. Musikalische
Gedanken, die ihm dazwischen einfielen, schrieb er am nächsten Morgen auf. Viele seiner Freunde
erzählten auch, dass Britten wirklich glücklich war, wenn er komponierte. 93 Er nahm seinen
Freundeskreis und seine Umgebung sehr wichtig, denn nur so konnte er Musik für die passenden
Leuten (wie die English Opera Group) am passenden Ort schreiben. Mit dem Aldeburgh-Festival
versuchte Britten wahrscheinlich, so etwas wie eine große Familie zu gründen.
Im Oktober 1962 wurde Britten als „Honorary Freeman of the Ancient Borough of Aldeburgh“
92
93
Ebenda, S. 48.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 120.
26
geehrt. Hier ein Auszug aus seiner Dankesrede:
„In the arts, at least, – it is so often the wrong person who gets them, or for the wrong reason. It is
the dull, the respectable, the one who kow-tows, who sucks up, the members of that favourite name
today – the Establishment. You know what I mean (conveniently forgetting for the moment
honoured names like Sir Peter Paul Rubens, Lord Tennyson, Chevalier Gluck) – think of Schubert,
unwanted; Mozart, a pauper's grave; Van Gogh mad like Blake; Wilfred Owen killed at the age of
25 – how far honours were from these great names and hundreds like them. The trouble really is
that the people who hand out honours usually knows so little about the artists. They take a famous
name, and that's that. Why is it then that I am unexpectedly proud and touched this evening? (…) I
am proud because this honour comes from people who knows me – many of whom have known me
for quite a long time too, (...) because you really do know me, and accept me as one of yourselves,
as a useful part of the Borough – and this is, I think, the highest possible compliment for an artist. I
believe, you see, that an artist should be part of his community, should work for it, with it, and be
used by it. (…) And here I think I can blow Aldeburgh's own small trumpet. It is a considerable
achievement, in this small Borough in England, that we run year after year, a first-class Festival of
the Arts, and we make a huge success of it. And when we say 'we' I mean 'we'. The Festival
couldn't be work of just one, two or three people, or a board or a council – it must be corporate
effort of a whole town!! And, if I may say so, what a nice town it is!”94
Aldeburgh blieb bis zu Brittens Tod dessen Lebensmittelpunkt. Hier entstand der bei weitem größte
Teil des kompositorischen Werkes.
1.9 Britten als Opernkomponist
Nach der Konzertreise durch Nordamerika mit Pears im Herbst und Winter 1949 beginnt Britten
langsam mit der Komposition einer neuen Oper. William Plomer, der seit seinem Vortrag im
Aldeburgh-Festival mit Britten befreundet war, schlug dafür Herman Melvilles Novelle Billy Budd
vor.95 Britten bat den berühmten Romancier E. M. Forster das Libretto zu verfassen, zusammen mit
dem Ko-Librettisten Eric Crozier. Diese Oper besteht aus vier Akten ohne Liebesszene und kommt
gänzliche ohne Frauenstimmen aus. Die Handlung spielt auf einem britischen Kriegsschiff während
des englisch-französischen Seekrieges. Es gibt keine andere Oper Brittens, die einen größeren
Orchesterapparat verlangt, die große Besetzung an Blech- und Holzblasinstrumenten und deren
vielfältige Kombinationsmöglichkeiten sorgen für einen einzigartigen Klang. Diese Oper wurde am
94
95
Kildea, Britten on Music, S. 217.
Vgl. Matthews, Britten, S. 102.
27
ersten Dezember 1951 im Royal Opera House Covent Garden uraufgeführt, dirigierte vom Britten
selbst. Die Aufführung wurde von der BBC übertragen und präsentierte den jungen amerikanischen
Bariton Theodor Uppman, der die Rolle des Billy leidenschaftlich verkörperte. Britten war stolz auf
dieses Werk und glücklich, dass er zusammen mit seinen engsten Freunden daran arbeiten konnte, 96
er stieß jedoch auf geteilte Meinungen seitens der Kritiker.
Am 28. Juli 1951 wurde er ein Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Lowstoft. Er bekam die
Gelegenheit, sein künstlerisches Glaubensbekenntnis zu erzählen:
„It is not a bad thing for an artist to try to serve all sorts of different people, to have to work to
order. Any artist worth his salt has ideas knocking about in his head, and an invitation to write
something can often direct these ideas into a concrete form and shape”. Und weiter:“Artists are
artists because they have an extra sensitivity – a skin less, perhaps, than other people; and the great
ones have an uncomfortable habit of being right about many things, long before their time... So
when you hear of an artist saying or doing something strange or unpopular, think of that extra
sensitivity, that skin less; consider a moment whether he may not after all be seeing a little more
clearly than ourselves, whether he is really as irresponsible as he seems, before you condemn him...
It is a proud privilege to be a creative artist, but it can also be painful.”97
Brittens Sensibilität war außergewöhnlich, jegliche Kritik unterhöhlte sein Selbstvertrauen. Einige
Jahre später war er, nachdem er eine übellaunige Bemerkung über „sein“ Festival zufällig
mitbekommen hatte, einige Wochen nicht in der Lage zu komponieren. Damals hatte auch er große
Angst vor dem stetigen Leistungsdruck, der auf ihm lastete. Er konnte beispielsweise
achtundvierzig Stunden vor einem Konzert keine richtige Mahlzeit vertragen. 98 Seine Umgebung in
Aldeburgh entstand durch die liebevolle Beteiligung seiner Freunde, die über seine instabile
seelische Verfassung Bescheid wussten. Sie beschlossen, ihm eine ungestörte Arbeit zu ermöglichen
und ihn vor jedem Schock zu bewahren, der seiner Kreativität schaden könnte.
Das Jahr 1952 war ein entscheidendes und kritisches Jahr in Brittens Leben. Neun Jahre nach seiner
Rückkehr aus Amerika hatte er Triumph nach Triumph und er wurde damals schon als einer der
wichtigsten noch lebenden britischen Komponisten erkannt (William Vaughan war damals 80 Jahre
alt). Während eines Ski-Urlaubs in Österreich im März 1952 diskutierten Britten, Pears, Georg und
Marion Harewood über den Plan, eine große nationale Oper zur Krönung der Königin Elisabeth II
zu komponieren. Plomer akzeptierte die Bitte, das Libretto zu verfassen. Britten beschloss, um die
Mitarbeit von Imogen Holst (die Tochter von Gustav Holst und Assistentin des Aldeburgh-Festivals
96
97
98
Vgl. Matthews, Britten, S. 106.
Michael Kennedy, The Dent Master Musicians: Britten, London, 1981, S. 58.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 146.
28
von 1952 bis 1964) zu bitten. Der Premiere dieser Oper Gloriana war am 8. Juni 1953 im Royal
Opera House. Nach dem letzten Wort der Oper herrschte flauer Applaus im Saal. Womöglich war
dieser auch deshalb so gedämpft, weil so viele Hände behandschuht waren. 99 Das Publikum hatte
wahrscheinlich ein Stück in der Art von Merrie England erwartet, das tiefes Philistertum zur
Gründungszeit Englands zeigte und nichts mit moderner Musik zu tun hatte. Gloriana fiel bald aus
dem Repertoire und wurde in den nächsten 12 Jahren nicht wieder aufgeführt. Sie ist auch die
einzige Oper, von der zu Brittens Lebzeiten keine Aufnahme gemacht wurde.100
Zunächst plante er wieder eine neue Oper, The Turn of the Screw. Britten begegnete diesem Werk
schon 1932 in Form eines Radio-Hörspiels: „a wonderful impressive but terribly eerie play”. 101 Das
Werk basiert auf einer Erzählung von Henry James (1898), die aus der Perspektive der Erzieherin
der zwei Waisenkinder Flora und Miles ein dämonisches Szenario entfaltet. Die Librettistin
Myfanwy Pipper, die Britten dieses Werk vorgeschlagen hatte, betonte später noch Brittens
ungeheures Interesse an der Wirkung einer genuin bösen Erwachsenenwelt auf die kindliche
Unschuld: „Der wichtige Punkt für Britten war, dass der Teufel sowohl im Leben als auch im
Bewusstsein dazu fähig ist, den Verlust der Unschuld zu verursachen.“ 102 Britten begann erst im
Februar 1954 mit der Komposition. Dabei schrieb er mit der linken Hand, als Reaktion auf einen
kürzlich erlittenen scharfen Bursitis-Anfall in der rechten Schulter. Er arbeitete sehr schnell und in
kurzer Zeit, denn bereits im September 1954 wurde diese Oper im Teatro la Fenice in Venedig
uraufgeführt, dirigiert von Britten selbst. Im Gegensatz zur vorhergehenden Oper Gloriana wurde
The Turn of the Screw ein voller Erfolg. Die Produktion durch die English Opera Group wurde
sofort darauf in London aufgeführt, danach folgte eine nationale Tournee sowie ein Gastspiel in
Holland. Seit 1960 ist diese Oper eine der wichtigsten internationalen Repertoire-Opern.
Britten komponierte in diesen zehn Jahren insgesamt acht Opern, the Spring Symphony, Saint
Nikolas und mehr als zwölf kleine Stücke. Er war erschöpft und er brauchte eine Pause. Er schrieb
einen Brief an seine Schwester Barbara während der Weihnachten: „Yes, we will have a holiday
next year – no more years like this in a hurry.“103
Nach dem Aldeburgh-Festival im Jahr 1955 gingen Britten und Pears vier Monate lang auf
Weltreise. Es war zwar eine Art von Urlaub, aber sie gaben unterwegs auch einige Konzerte. Sie
hatten während der Reise einige enge Freunden wie Prinz Ludwig von Hesses und dessen Frau
Prinzessin Margaret dabei. Beide waren großzügige Unterstützer für das Aldeburgh-Festival. Unter
99
100
101
102
103
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 102.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 150.
Aus Brittens Tagebüchern von 1928-1938, zitiert in Matthews, Britten, S. 114.
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 104.
Brief von Benjamin Britten an Barbara Britten, datiert auf den 26.12.1954, zitiert in Matthews, Britten, S. 118.
29
einem Pseudonym besorgte die Prinzessin die deutsche Übersetzung mehrerer Werke Brittens,
inklusive The Turn of the Screw104. Auf der Reise besuchten sie zusammen Österreich, Jugoslawien,
Türkei, Singapur, Indonesien, Japan, Hongkong, Thailand, Bali, Indien und Ceylon. Britten war
besonderes begeistert von der Gamelan-Musik aus Bali: „After a week of hectic concerts in Java we
came on here – the island, where musical sounds are as much part of the atmosphere as the palm
trees, the spicy smells, and the charming beautiful people. The music is fantastically rich –
melodically, rhythmically, texture (such orchestration!) and above all formally... At last I´m
beginning to catch on to the technique, but it´s about as complicated as Schoenberg.” 105 Nach zwölf
wunderschönen Tagen in Bali besuchten sie Tokio. Dort gab er einige Konzerte zusammen mit
Pears und er dirigierte die Symphonia da Requiem, die er vor fünfzehn Jahren komponiert hatte. Sie
hörten in Japan Nō-Theater, diese Erfahrung sollte er Jahre später in einer Komposition verarbeiten.
Die gesamte Reise gab ihm viel Inspiration zukünftige Stücke. Nach der Ankunft in England
komponierte er ein Ballett, das von Gamelan-Musik beeinflusste Stück The Prince of the Pagodas.
Es stieß bei Publikum und Kritik nicht gerade auf Begeisterung, aber Brittens setzte seine Versuche
in der kompositorischen Verarbeitung der Gamelan-Musik weiter fort.
Im Jahr 1957 arbeitete Britten an zwei Stücken für das Aldeburgh-Festival: Songs from the Chinese
für Sopran und Gitarre sowie die Kinderoper Noye´s Fludde. Im Sommer und Herbst dirigierte er
einige Aufführungen der English Opera Group, darunter The Turn of the Screw in Stratford, Ontario,
und beim Berlin-Festival. Das Werk Songs from Chinese, übersetzt von Arthur Waley, war das letzte
Werk, dass Britten im Crag House komponiert hatte. 106 In November verließen sie das Haus in der
Crabbe Street und zogen ins Red House ein, denn sie waren zu berühmt geworden, um weiterhin im
Crag House bleiben zu können. Britten schrieb an seine Schwester: „Passer-by would peer over the
fence and, when they made the fence high, peered through the holes. There was no privacy.”107
Nach den Songs from the Chinese begann er sofort mit der Kinderoper Noye´s Fludde, deren Genre
Britten mehr oder weniger selbst erfand. Wie bei der Oper Saint Nicolaus kombinierte Britten
geschickt Amateur- und Profi-InstrumentalistInnen und SängerInnen. In dieser Oper jedoch wirken
tatsächlich Kinder in zahlreicher Form als SängerInnen und InstrumentalistInnen mit. Britten sagte
in einem Interview: „... I like writing for children and I like the sounds they make when they sing.
So I wrote something in which children played a major part and I'm glad that it sparked off,
certainly in England, a new way of thinking about music for children...” 108
104
105
106
107
108
Vgl. Kennedy, Britten, S. 67.
Holst, Britten, S. 58.
Vgl. Kennedy, Britten, S. 68.
Matthews, Britten, S. 122.
Kildea, Britten on Music, S. 306.
30
Im Herbst 1959 begann Britten eine neue Oper. Sie war zwar kein Auftragswerk, jedoch war sie zur
Feier der lange fälligen Renovierung der Jubilee Hall in Aldeburgh bestimmt. Es gab nicht
genügend Zeit für ein gänzlich neues Libretto, deshalb entschied sich Britten dafür, A Midsummer
Night´s Dream von Shakespeare zu adaptieren – ein Stück, das er immer geliebt hatte. In den
zwanzig Jahren seit dem Stück Nocturne aus dem Liederzyklus On this Island kam er immer wieder
zum Bild der Nacht und des Traums zurück. Die Oper A Midsummer Night´s Dream handelt von
Erotik und der Dämonologie des Sexus. Zum Entstehungsprozess sagte Britten:
„Writing an opera is very different from writing individual songs, opera, of course, includes songs,
but has many other musical forms and a whole dramatic shape as well. In my experience, the shape
comes first. With A Midsummer Night's Dream, as with other operas, I first had a general musical
conception of the whole work in my mind. I conceived the work without any one note being
defined. I could have described the music, but not played a note.”109
Die Geschwindigkeit, mit der Britten komponierte, war bemerkenswert, besonders weil er damals
krank war: „This Winter I became quite ill, but had to work. A lot of the third act was written when
I was not at all well with flu. I didn't enjoy it. I find that one´s inclination, whether one wants to
work or not, does not in the least affect the quality of the work done.“110
Diese Oper wurde am 11. Juni 1960 in der Jubilee Hall von der English Opera Group uraufgeführt,
wiederum dirigiert von Britten selbst.
1.10 Erfolg und Freundeskreis
Kurz nach dem Erfolg von A Midsummer Night´s Dream kam es zu einer wichtigen Begegnung in
Brittens Leben. Im September 1960 besuchte er die Royal Festival Hall, um die Erstaufführung von
Schostakowitschs erster Cello-Sonate, dem Solisten Mstislaw Rostropovich gewidmet, zu hören.
Schostakowitsch, den Britten sehr bewunderte, lud ihn in seine Loge ein. 111 (Sie respektierten sich
gegenseitig und trafen sich später noch öfter.) Nach dem Konzert stellte Schostakowitsch den
Cellisten vor. Rostropovich fragte Britten sofort, ob dieser für ihn ein Stück komponieren wolle. „I
´ll come to your hotel to discuss it tomorrow morning.“, antwortete Britten. 112 Die zwei Männer
besaßen einen völlig anderen Charakter: Britten, der Engländer, war sehr scheu und distanziert,
Rostropovich, der Russe, hingegen war sehr offen mit seiner Zuneigung und Bewunderung. Sie
109
110
111
112
Christopher Palmer, The Britten Companion, London, 1984, S. 178.
Kennedy, Britten, S. 71.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 169.
M. Rostropovich, Three Friends in: The Observer, 27.11.1977, zitiert in Kennedy, Britten, S. 72,
31
kommunizierten auf Deutsch, dem sogenannten „Aldeburgh-Deutsch“. Im Hotel sagte Britten zu,
eine Cello-Sonate zu schreiben. Diese wurde im Januar 1961 fertiggestellt und er lud Rostropovich
zum Aldeburgh-Festival ein, um dort die Uraufführung zu spielen. Rostropovich schrieb später über
die erste Probe: „After four or five very large whiskies drinking we finally sat down and played
through the sonata. We played like pigs, but we were so happy.” 113 Die Uraufführung fand am 7. Juli
1961 in der Jubilee Hall statt und ab dem Punkt engagierte sich Rostropovich leidenschaftlich für
das Festival. Seine Frau Galina Vishnevskaya, die eine führende Sängerin am Moskauer BolschoiTheater war, besuchte Britten im Red House und wurde teil des Freundeskreise. Britten
komponierte später für sie einen Liederzyklus, The Poet´s Echo, über Texte von Puschkin.
Zur Zeit der Uraufführung der Cello-Sonate mit
Rostropovich begann Britten mit einem Chorwerk.
Anlass war die Rekonstruktion der mittelalterlichen
St.-Michael-Kathedrale in der mittelenglischen Stadt
Conventry,
die
Bombardements
im
Jahr
1940
von
deutschen
völlig zerstört wurde. Als eine
Zueignung für diese neu gebaute Kathedrale wurde ein
Festival mit verschiedenen Auftragswerken für den
Frühling 1962 geplant. Britten wurde gebeten, ein
Chorwerk dafür zu schreiben – das berühmte War
Requiem. „The best music to listen to in a great Gothic
church is the polyphony which was written for it, and
was calculated for its resonance,” erzählte Britten,
„This was my approach in the War Requiem – I
Abb. 9: Britten und Rostropovich.
calculated it for a big reverberant acoustic, and that is
where it sounds best.” 114
Britten war ein Pazifist. Dieses Chorwerk zeigt genau seine Position und Gedanken als Künstler. Es
ist vier Freunden gewidmet, drei davon waren im zweiten Weltkrieg gefallen, und der letzte starb
1959 durch Selbstmord. Die Texte stammen von Wilfred Owen, der mit nur 25 Jahren im ersten
Weltkrieg gefallen war. Als Vorwort zur Partitur wählte Britten Worte von Wilfred Owen, die genau
das wiedergeben, was Britten ausdrücken wollte: „My subject is war, and the pity of war. The
poetry is in the pity. Yet these elegies are to this generation in no sense consolatory. They may be to
the next. All a poet can do today is warn. This is why the true poets must be truthful.” Am 30. Mai
113
114
Ebenda, S. 73.
Kennedy, Britten, S. 73.
32
1962 wurde Brittens Trauer- und Klagewerk War Requiem in der Kathedrale uraufgeführt. Britten
wünschte sich für die Uraufführung Solisten aus drei verschiedene Nationen: England (Peter Pears),
Deutschland (Dietrich Fischer-Dieskau) und Russland (Galina Vischnevskaya), aber Vischnevskaya
bekam aufgrund der damaligen Regierung Probleme mit ihrem Visum und sie wurde kurzfristig
durch die Engländerin Heather Harper ersetzt.
Die Uraufführung erzielt eine ungeheure Wirkung. Fischer-Dieskau erinnert sich an ihre dichte
Atmosphäre, „dass ich zum Schluss innerlich völlig aufgelöst war und nicht wusste, wo mein
Gesicht verstecken.“115 Dresden, Hiroschima und Guernica wurden in den Klang eingeschlossen. Es
wurde ein international anerkanntes Stück und Britten erreichte mit dem War Requiem seinen
künstlerischen Höhepunkt. Von der Aufnahme, die Britten sieben Monate nach der Uraufführung
selbst dirigierte, wurden nur im ersten Jahr mehr als 200.000 Stück verkauft.
Britten wünschte sich, sein neues Werk, Cello-Symphonie op. 68, rechtzeitig zu beenden, damit er
es im Festival British Music in Moscow 1963 gemeinsam mit Rostropovich präsentieren könne,
aber wegen seiner Krankheit wurde es verschoben. Schließlich schaffte er es, im März 1964 selbst
das Moskauer Philharmonische Orchester zu dirigieren. Schostakowitsch und Khatchaturian waren
im Publikum und die Symphonie wurde enthusiastisch rezipiert. Bei diesem Besuch hatte er auch
die Gelegenheit, das War Requiem zu hören, gespielt von Studenten des Leningrad
Konservatoriums.116
Am Tag der St. Cäcilia 1963 wurde ein Buch, Tribute to Benjamin Britten on his Fiftieth Birthday,
veröffentlicht. Zwischen den zahlreichen Beiträge von verschiedenen Freunden gab es einen Brief
von Rostropovich: „Every day your music is played is a holiday for music in general... When you
and I are no longer here, millions of ordinary people will still be celebrating your birthdays – your
125th, 150th, 200th birthdays. I foresee these jubilees and congratulate you in advance – you and your
music.”117 Es gab ein feierliches Konzert in der Royal Festival Hall am 22. November mit der
Aufführung seiner Oper Gloriana. Einige Leuten waren skeptisch, das ein lebender Komponist so
viel Erfolg haben sollte. Britten sprach einige Tagen vor seinem Geburtstag in der Zeitung Sunday:
„People sometimes seem to think that with a number of works now lying behind, one must be
bursting with confidence. It is not so at all. I haven´t yet achieved the simplicity I should like to in
my music, and am enormously aware that I haven´t yet come up to the technical standards Bridge
set me.“118
115
116
117
118
Dietrich Fischer-Dieskau, Nachklang – Ansichten und Erinnerungen, Stuttgart 1988, S. 218 ff.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 183.
Holst, Britten, S. 69.
Ebenda, S. 71.
33
Zu diesem Zeitpunkt kam das Projekt, das er seit acht Jahren im Kopf hatte. Im Jahr 1955, bevor
Britten nach Osten verreiste, fragte er William Plomer, was es dort zu sehen gäbe. Da bekam Britten
die Empfehlung, ein Nō-Theaterstück zu sehen. Britten sah sich tatsächlich ein Stück an, und zwar
Sumidagawa in Tokio im Februar 1956. Die Geschichte handelt von eine Mutter, die durch die
Suche nach ihrem Sohn, der von Sklavenhändler entführt worden ist, wahnsinnig geworden ist.
Britten war davon entgegen seiner Erwartung sehr begeistert:
„... a totally new 'operatic' experience. There was no conductor – the instrumentalists sat on the
stage as did the chorus, and the chief characters made their entrance down a long ramp. The
lightning was strictly non-theatrical. The cast was all-male, the one female character wearing an
exquisite mask which made no attempt to hide the male jowl beneath it... The memory of this play
has seldom left my mind in the years since... Was it not possible to use just such a story... with an
English background?”119
Britten fragte Plomer, ob dieser den Stoff von Sumidagawa in ein Libretto für eine Oper umarbeiten
könne: „... the idea of making it a Christian work... I can´t write Japanese music, but we might get a
very strong atmosphere if we set it in pre-conquest East Anglia.“
120
Plomer akzeptierte diese Idee
und es entstand eine Kirchenparabel, Curlew River. Die Uraufführung fand während des AldeburghFestivals 1964 in der Norman Church Orford statt. Die Musik ist stark vom Gagaku, der
traditionellen japanischen Hofmusik, beeinflusst.
Rund um das Jahr 1960 war die Zeit, wo die serielle Musik in der zeitgenössischen klassischen
Szene eine der Hauptströmungen war. Britten verwendete zwar auch Techniken seiner
avantgardistischen Zeitgenossen, aber im Großen und Ganzen wurde Brittens Musik eher als
konservativ bezeichnet. Im Juli 1964 wurde Britten als erster Künstler mit dem Aspen Award in the
Humanities (Colorado, USA) ausgezeichnet. Mehr als hundert Künstler, Wissenschaftler,
Schriftsteller, Dichter, Philosophen und Politiker wurden dafür nominiert. 121 Britten wurde im
Begründungsschreiben für die Nominierung wie folgt beschrieben: „a brilliant composer,
performer, and interpreter through music of human feelings, moods, and thoughts who has truly
inspired man to understand, clarify and appreciate more fully his own nature, purpose and
destiny”122. Britten reiste nach Aspen, um am 31. Juli den Preis entgegenzunehmen. In seiner
Dankesrede sprach er über einige Aspekte seines kompositorischen Schaffens:
„I certainly write music for human beings – directly and deliberately. I consider their voices, the
119
120
121
122
Kennedy, Britten, S. 80.
Matthews, Britten, S.134.
Vgl. ebenda, S. 83.
Kildea, Britten on Music, S. 255.
34
range, the power, the subtlety, and the colour potentialities of them. I consider the instruments they
play – their most expressive and suitable individual sonorities... I also take note of the human
circumstances of music, of its environment and convention; for instance, I try to write dramatically
effective music for the theatre – I certainly don't think opera is better for not being effective on the
stage (some people think that effectiveness must be superficial). And then the best music to listen to
in a great Gothic church is the polyphony which was written for it, and was calculated for its
resonance... I believe, you see, in occasional music... almost every piece I have ever written has
been composed with a certain occasion on mind, and usually for definite performers, and certainly
always human ones... I can find nothing wrong... with offering to my fellow-men music which may
inspire them or comfort them, which may touch them or certain them, even educate them – directly
and with intention. On the contrary, it is the composer's duty, as a member of society, to speak to or
for his fellow human beings...”123
Kurz danach entschied Britten auf ärztlicher Empfehlung ein Jahr Urlaub von Konzerten und vom
Dirigieren zu nehmen. Er flog mit Pears nach Indien, wo er leidenschaftlich Vögel beobachten
konnte. Er unterbrach jedoch nicht die kompositorische Arbeit. Dort schuf er die Gemini Variation
für zwei 13-jährige ungarische Zwillinge. Im April 1965 stellte er einen neuen Liederzyklus fertig,
Songs and Proverbs of William Blake. Die Textauswahl besorgte Britten zusammen mit Pears. Der
Zyklus ist Dietrich Fischer-Dieskau gewidmet, dieser und Britten präsentierten das Werk
gemeinsam am 24. Juni 1965 im Aldeburgh-Festival.
1.11 Brittens letzte Oper: Death in Venice
In keinem Jahr war Britten so beschäftigt wie 1967. Er gab ein Orchesterkonzert in England,
Konzerte in Europa, Aufführungen mit der Englisch Opera Group in Kanada und eine lange
Tournee durch Südamerika. Dazwischen komponierte er energisch. Außerdem plante er, eine alte
Mälzerei in Snape zu einem neuen Konzertsaal für das Aldeburgh-Festival umzubauen. Es dauerte
mehr als ein Jahr und im Juni 1967 wurde der Saal fertiggestellt. Am 2. Juni kamen die Königin und
Prinz Philip fürs Mittagsessen zum Red House, danach eröffnete die Königin die Feier für den
neuen Maltings-Saal. Britten dirigierte das englische Kammerorchester mit Chor, die seine neue
Bearbeitung der Nationalhymne und seine neue Ouvertüre, The Building of the House, spielten. Er
sagte später darüber: „a true example of occasional music, inspired by the excitement and the
haste!“124
123
124
Kildea, Britten on Music, S. 72.
Holst, Britten, S. 78.
35
Während der legendären Tournee in Südamerika war er schon bereit, mit der Komposition seines
nächsten Werkes, The Prodigal Son, zu beginnen, aber im März wurde er krank. Anfangs dachte er,
es sei eine Grippe, aber es wurde schlimmer. Im Krankenhaus wurde schließlich eine
Herzentzündung diagnostiziert. Gegen alle ärztlichen Anweisungen bracht er die Schostakowitsch
gewidmete Parabel für das Aldeburgh-Festival 1968 zu Ende. Danach entstand ein Auftragsstück
für die 50-Jahre-Feier des Save the Children Fund, The Children´s Crusade, für Kinderstimme und
Schlagzeug nach einem Text von den Brüdern Grimm. Britten nahm dieses Stück als Grundlage für
seinen letzte Liederzyklus für Pears, Who are these Children. Dessen Text schildert das den Kindern
angetane Unrecht in Vietnam-Krieg: „Der Tod kam aus der Luft am lichten Nachmittag“.
Britten arbeitete zwischen den Jahren 1969 und 1970 an einer Oper, das von der BBC für eine
Fernsehsendung in Auftrag gegebene Stück Owen Wingrave. Gleich wie The Turn of the Screw statt
die Textvorlage von Henry James. Britten begann mit diesem Werk während eines für ihn
traumatischen Ereignisses: Der neue Maltings-Konzertsaal war aufgrund eines unbeabsichtigten
Feuers in der ersten Nacht des Festivals 1969 abgebrannt. Das Festival wurde trotzdem
weitergeführt: Die für den Maltings-Saal geplante Aufführung fand stattdessen in der BlythburghKirche statt. Britten beschloss, dass der Saal wieder bis zum nächsten Festival rekonstruiert werden
sollte.125 (Tatsächlich dauerte es zwei Jahre.) Britten sagte während des Festival-Meetings: „We
must forgive each other over and over again all the time.“
126
Aber diese unerwartete Belastung war
nicht gerade positiv für seine Gesundheit. Im Jahr 1970 kaufte sich Britten ein kleines Landhaus in
Mittel-Suffolk, um dort ungestört arbeiten zu können, weil ein amerikanischer Jagdbomber während
der Arbeit über sein Haus geflogen war. Er hatte auch ein kleines Studio im Garten, ähnlich wie
Mahlers Komponierhäuschen.
Mit der Fernsehaufzeichnung von Owen
Wingrave war Britten nicht glücklich.
Zwischen ihm und dem Fernsehteam kam
es
zu
Spannungen
aufgrund
der
Wiederaufnahme von mehreren Szenen.
Er war in der Zeit bei schlechter
Gesundheit und der Aufnahmeprozess war
für ihn lästig und anstrengend.127 Diese
Abb. 10: Britten und Pears in Venedig, 1957.
Oper erreichte mehr Zuschauer als seine
bisherigen Opern, trotzdem wollte er das
125
126
127
Vgl. Matthews, Britten, S. 144.
Holst, Britten, S. 83.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 198.
36
Medium Fernsehen nicht mehr nutzen. Kurz bevor die Aufnahme begann, erzählte er Myfanwy
Piper, dass er schon ein Thema für seine nächste Oper gefunden hatte, und er wünschte sich, dass
sie das Libretto dazu verfassen möge. Ihre erste Reaktion war „unmöglich“. Kurz danach erzählte
Pears dem Maler Sydney Nolan: „Ben is writing an evil opera, and it´s killing him.“ 128 Der Tod in
Venedig ist eine Novelle von Thomas Mann, die 1911 entstanden ist. Die Hauptfigur Gustav von
Aschenbach ist ein berühmter deutscher Schriftsteller, der sehr auf Zucht und Vernunft bedacht ist.
Während einer Erholungsreise in der Adria packt ihn der Wunsch, für ein paar Tage Venedig zu
besuchen, wo er dem Anblick eines polnischen Knaben namens Tadzio erliegt, den er für den
Inbegriff des Schönen hält. Der Knabe aber steht als Allegorie der Schönheit zugleich auch für den
Tod.
Die Komposition seiner neuen Oper Death in Venice nahm Britten vom Dezember 1971 bis zum
März 1973 in Anspruch. Im Jahr 1972 wohnte er im Schloss Wolfsgarten mit der verwitweten
Prinzessin Margaret von Hessen. Er ging für das Aldeburgh-Festival kurz zurück nach England, wo
er The Turn of the Screw und Schumanns Szene aus Goethes Faust dirigierte. Dies wurde sein
letztes Mal beim Aldeburgh-Festival, weil im August 1972 wieder ein Problem in seinem Herz
gefunden worden war. Es war ernst und eine Operation schien nötig. Britten arbeitete zu viel und er
fühlte sich immer sehr erschöpft. Die Ärzte erlaubten ihm, zuerst die Oper fertigzustellen, damit
man danach die Operation durchführen könne.129 Ende März 1973, kurz nach dem Besuch der
Geburtstagsfeier von Prinzessin Margaret, ging Britten nach London um einen Spezialisten
aufzusuchen. In Mai hatte er seine Herzoperation, aber diese konnte ihm überhaupt nicht helfen.
Die Koordination seiner rechten Hand wurde für ihn schwierig. Rita Thomson, die sich um ihn im
Krankenhaus gekümmert hatte, begleitete ihn nach Hause nach Suffolk. Schließlich verließ sie die
Krankenhaus und wurde Brittens Vollzeithelferin. Rita wurde für ihn wie eine Mutter und ihr ging
es ähnlich.130
Am 16. Juni wurde Death in Venice in dem nach dem Brand wieder neu instandgesetzten MaltingsSaal ohne die Anwesenheit des schwerkranken Komponisten uraufgeführt. Nach der Vollendung
dieser Oper meinte Britten, diese sei die Erzählung des eigenen Lebens: „I wanted passionately to
finish this piece. It is probably Peter´s last major operatic part, and it was an opera I had been
thinking about for very long time.“ 131 Nachdem Britten die Uraufführung verpasst hatte, wurde eine
Sondervorstellung für ihn im September in Maltings gespielt. Kurze Zeit später kam der Bericht
über den Tod von Wiliam Plomer und W. H. Auden. Britten trauerte um seinen alten Freund, den er
128
129
130
131
Ebenda.
Vgl. Holst, Britten, S. 84.
Vgl. Matthews, Britten, S. 148.
Holst, Britten, S. 85.
37
seit 1953 nicht mehr getroffen hatte.132
Im November hatte er seinen sechzigsten Geburtstag, der von der BBC ausführlich gefeiert wurde.
Britten war aber immer noch krank. Er hoffte, dass er wieder gesund werden würde, jedoch
bemerkte er selbst, dass er nicht mehr dirigieren oder Klavier spielen konnte. Das war für ihn ein
enormer Schock und er dachte sogar, dass es besser gewesen wäre, wenn er die letzte Operation
nicht überlebt hätte. Obwohl er noch schwach war und nur eine Stunde pro Tag arbeiten konnte,
fing er im Sommer 1974 wieder mit dem Komponieren an – vierzehn Monate nach seiner
Operation.133
„For a time, I couldn´t compose because I had no confidence in my powers of selection. I was
worried, too, about my ideas. Then I suddenly got my confidence back, and now that I can write
again I have the feeling of being of some use once more.“134
In Oktober 1974 begann er mit dem letzten großen Orchesterwerk, die Suite on Englisch Folk Tunes
mit dem Untertitel A Time There Was... – eine Referenz auf das letzte Lied in Winter Words. Es ist
Percy Grainger gewidmet. Im gleichen Jahr entdeckte er eine neue Leidenschaft für T. S. Eliot, die
zur Komposition des Canticle V, “The Death of Saint Narcissus“ führte.
1975 erreichte seine neue Schaffenskraft ihren Höhepunkt. Er schrieb Sacred and Profane für
Stimme ohne Begleitung, A Birthday Hansel für Tenor und Harfe, eine Kantate mit dem Namen
Phaedra und das während seines letzten Besuchs in Venedig fertiggestellte dritte Streichquartett.
Das opernhafte Phaedra komponierte er für Janet Baker, die in Lucretia auf der Bühne und während
der von Britten dirigierten Aufnahme sang. In den Selbstvorwürfen der Phaedra hat Britten selbst
eine Nähe zum Protagonisten Aschenbach aus Der Tod in Venedig festgestellt.
Das letztes Jahr in seinem Leben war 1976. Seine Gesundheit hatte sich verschlechtert, aber er
arbeitete weiter. Er schrieb eine kleine Gebrauchsmusik, Welcome Ode, für die Kinder in Suffolk
sowie Lachrymosa für Streichorchester. Im Februar wurde seine erste europäische Aufführung des
Paul Bunyan (erste Fassung in 1941), den er vor zwei Jahren revidiert hatte, im Radio gesendet. Die
optimistische jugendliche Energie dieses zusammen mit Auden geschaffenen Werks überwältigte
ihn.135 Das Aldeburgh-Festival dieses Jahres konnte er noch an einigen Aufführungen besuchen.
Dort erlebte er, wie sein neues Werk Phaendra die Zuhörer begeisterte.136 Während des Festivals
ernannte die Königin den sterbenskranken Britten noch zum Lord mit dem offiziellen Titel „Baron
132
133
134
135
136
Vgl. Matthews, Britten, S. 149.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 205.
Holst, Britten, S. 85.
Vgl. Matthews, Britten, S. 150.
Vgl. Holst, Britten, S. 86.
38
Britten of Aldeburgh in the Country of Suffolk“.
Im November kam das Amadeus-Quartett zum Red House, um für einige Tage das dritte
Streichquartett zu proben. In dieser Zeit konzentrierte sich Britten auf seine Arbeit an der Kantate
Praise We Great Men, deren Text Edith Sitwells zum 300. Geburtstag Henry Purcells verfasst hatte.
Vor dem Meeting für das Konzert mit Colin Matthews bemerkte er, dass er nicht mehr arbeiten
konnte.137 Der aufgrund eines Konzertes nach Los Angeles und Toronto verreiste Pears bekam ein
alarmierendes Telegramm von Rita Thomson. Er kehrte sofort zurück und fand den vom Tode
gezeichneten Freund.
Am 22. November organisierte Rita Thomson
eine Geburtstagsparty zu seinem 63. Geburtstag
und lud einige Freunde dorthin ein. Imogen
Holst, Mary Potter, Prinzessin Margaret von
Hessen und Brittens Schwester Barbara und
Beth, jeder kam allein in sein Zimmer, um
Abschied zu nehmen.138 Einige Tage später kam
auch Rostropovich. Britten überreichte ihm ein
unfertiges Stück, Praise We Great Men.
Abb. 11: Britten am Klavier.
Am frühen Morgen des vierten Dezember starb Britten. Drei Tagen später wurde er am Friedhof der
Aldeburgh-Kirche begraben. In der Kirche sang ein Chor Hymn to the Virgin, welches Britten in
seiner Schulzeit komponiert hatte. Der Grabstein unterscheidet sich nicht sehr von denen der
Nachbargräbern und er ruht friedlich neben seinem Partner Peter Pears, der im Jahr 1986 starb.
137
138
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 210.
Vgl. Matthews, Britten, S. 155.
39
2. Britten als Vokalkomponist
2.1 Einflüsse
Lieder nehmen in Brittens Schaffen einen beträchtlichen Raum ein. Sie begleiteten seinen
kompositorischen Weg vom Anfang bis zum Ende, von den ersten, noch in der frühen Jugendzeit
geschriebenen Liedern bis kurz vor seinem Tod. Er hatte sich immer ein ursprüngliches Verhältnis
zur menschlichen Stimme und damit auch zu einer natürlichen, kantablen Melodik erhalten. Britten
suchte ständig nach Texten in alten und neuen Anthologien, seine nicht selten sonderbaren und
exotischen literarischen Fundstücke, auch seine unermüdliche Leseleidenschaft sind ein Erbe aus
der frühen Jugend.139 Mit Dichtern wie W. H. Auden, T. S. Eliot, Wilfred Owen oder Edith Sitwell
erschienen in Brittens Gedichtvertonungen die Exponenten einer neuen, von aller viktorianischen
und edwardianischen Phraseologie sich befreienden, neuen englischen Lyrikergeneration. Britten
war
in
allen
maßgeblichen
musikalischen
Gattungen
kompositorisch tätig und hat der englischen Musik ihre seit der
Zeit des Barock verlorene Geltung zurückgewonnen. Er war den
Bildungseinflüssen der Vergangenheit sowie der Gegenwart
gegenüber
offen
und
der
heimatlichen
Tradition
der
elisabethanischen Musik und deren Nachfolger Henry Purcell
besonders verbunden.140 Anlässlich Purcells 250. Todestages
komponierte Britten ein Werk mit didaktischem Zug für Kinder:
The Young Person´s Guide to the Orchestra wurde am 15.
Abb. 12: Henry Purcell
Oktober 1946 in Liverpool uraufgeführt und ist ein Meisterwerk
der kompositorischen Ableitungstechnik. Es basiert auf dem
Rondo aus der Abdelazer-Suite von Henry Purcell und trägt den entsprechenden Untertitel
Variations and Fugue on a Theme of Purcell.
Henry Purcell lebte und wirkte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In London genoss er als
Organist und Komponist zu seinen Lebzeiten hohes Ansehen. Sein Ruhm speiste sich vor allem aus
seinen Werken für die Bühne. Die Oper Dido and Aeneas sowie die fünf sogenannten „SemiOpern“, Mischformen aus Schauspiel und Oper, die während seiner fünf letzten Lebensjahre
entstanden, bilden einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der englischsprachigen
dramatischen Musik. Dazu kommt Bühnenmusik für mehr als vierzig Schauspiele. Die englischen
Theatermacher schätzten Purcells Kompositionen, weil er, so das Vorwort zum Orpheus
139
140
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 75.
Vgl. Werner Oehlmann, Reclams Liedführer, Stuttgart 1973, S. 879.
40
Britannicus, einem zweibändigen Sammelwerk mit »Songs« aus den Theatermusiken, „eine
besondere Begabung dafür hatte, die Kraft der englischen Worte auszudrücken, womit er die
Gefühle aller Zuhörer erregte.“ 1692 schrieb Purcell das berühmte Music for a while für das
Schauspiel Ödipus. Es untermalt die Beschwörungsszene, in der König Laios auferstehen soll; die
Musik wird zur Bezwingerin der Furien. Drei Jahre später entstand für die Tragödie Pausanias die
Serenade Sweeter than roses. Britten bearbeitete, wie viele andere, auch dieses Stück seines großen
Vorgängers. Er erzählte einmal:
„In practically every one of our concerts, given the length of three continents over the last twenty
years, Peter Pears and I have included a group of Purcell's songs. Although they were not included
for chauvinistic reasons, it has been nice to find that foreign audiences accept these English songs
alongside those of their own great classic song-writers... And not only in foreign places; in England
too – where, to our shame, the music of Purcell is still shockingly unknown. It is unknown because
so much of it is unobtainable in print, and so much of what is available is in realizations which are
frankly dull and out of date. Because all Purcell's solo songs, secular and sacred, as well as his
many big scenas, have to be realized. We have these wonderful vocal parts, and fine strong basses,
but nothing in between (even the figures for the harmony are often missing). If the tradition of
improvisation from a figured bass were not lost, this would not be so serious, but to most people
now, until worked-out edition is available, these cold, unfilled-in lines mean nothing, and the
incredible beauty and vitality, and infinite variety of these hundreds of songs go undiscovered...”141
Purcells Technik der Verbindung von Poesie und Musik ist eine Kunst, der Brittens Liedschaffen
viel verdankt. In einer zeitgenössischen Ausgabe von Musik der Zeit wird Letzteres wie folgt
charakterisiert: „Man denkt an seine ungestümen Rhythmen, seine gewagten misstönenden
Akkordverbindungen, seine ausladenden Melodiebildungen ohne mechanische Wiederholungen
ohrenfälliger Phrasierungen, insbesondere auch an seine Liebe zum Virtuosen, zum opernhaften und
zur bewussten Anwendung wirklich klingender Brillianz.“142
141
142
On the Realizing the Continuo in Purcell´s Songs, zitiert in Kildea, Britten on Music, S. 166.
Benjamin Britten, in: Musik der Zeit. 7, Bonn 1954, S. 36, zitiert in Abels, Benjamin Britten, S. 75.
41
2.2 Werkliste
Es folgt nun eine vollständige Liste der von Britten verfassten Lieder 143:
(BH = Boosey&Hawkes; FM = Faber Music)
1922-3
Beware! Text von H. W. Longfellow. (FM)
1928-31
Tit for Tat. Überarbeitet in 1968.
1929
The Birds. Mittlere Stimme, Text von H. Belloc; überarbeitet in 1934. (BH)
1935-36
When you´re feeling like expressing your affection. Hohe Stimme, Text von Auden;
UA: Blythburgh, Holy Trinity Church, 15. Juni 1992.
1936
Two Ballads. Zwei Stimmen; 1. Mother Comfort (M. Slater), 2. Underneath the
adject
willow (Auden); UA: London, 31. Dezember 1936. (BH)
On this Island, op. 11. Hohe Stimme; Text von Auden; (1. Let the florid music
praise! 2. Now the leaves are falling fast 3. Seascape 4. Nocturne 5. As it is, plenty);
UA: London (BBC Rundfunk) 19. November 1937. (BH)
Fish in the unruffled lakes. Hohe Stimme; Text von Auden; UA: London (BBC
Rundfunk) 22. November 1985.
Night covers up the rigid land. Hohe Stimme; Text von Auden; UA: London,
22. November 1985.
The sun shines down on the ships at sea. Hohe Stimme; Text von Auden.
Not even summer yet. Hohe Stimme; Text von Peter Burra; UA: 1937.
1937-9
Four Cabaret Songs. Alt Stimme; Text von Auden; 1. Tell me the truth about love,
2. Funeral Blues, 3. Johnny, 4. Calypso. (FM)
1938
The Red Cockatoo. Hohe Stimme; Text von Po-Chu-i, übersetzt von A. Waley;
UA: Snape, Maltings, 17. Juni 1991.
1940
Seven Sonnets of Michelangelo, op. 22. Tenor; Text auf Italienisch von
Michelangelo (Sonnete Nr. XVI, XXXI, XXX, LV, XXXVIII, XXXII und XXIV);
UA: privat in den USA 1940, öffentlich in London am 23. September 1942. (BH)
1942
Wild with passion and if Thou wilt ease. Hohe Stimme; Text von T. L. Boddes;
UA: Blythburgh, Holy Trinity Church, 15. Juni 1992.
1945
Three Arias from Peter Grimes. Text von M. Slater; 1. Peter´s Dreams (Tenor),
2. Embroidery Aria (Sopran). 3. Church Scene (Sopran). (BH)
The Holy Sonnets of John Donne, op. 35. Hohe Stimme; 1. O my blacke Soule,
143
Vgl. Kennedy, Britten, S. 300.
42
2. Batter my heart, 3. O might those sighes and teares, 4. Oh, to vex me, 5. What if
this present, 6. Since she whom I loved, 7. At the round erarth´s imagined corners,
8. Thou hast made me, 9. Death, be not proud;
UA: London, 22. November 1945. (BH)
1946
Three Arias from The Rape of Lucretia. Text von R. Duncan; 1. Flower Song (Alt),
2. The Ride (Tenor), 3. Slumber Song (Mezzo). (BH)
1947
Canticle I, My Beloved is Mine, op. 40. Hohe Stimme; Text von F. Quarles;
UA: London, 1. November 1947 (BH)
A Charm of Lullabies, op. 41. Mezzo-Sopran; 1. A Cradle Song, 2. The Highland
Balou, 3. Sephestia´s Lullaby, 4. A Charm, 5. The Nurse´s Song; UA: The Hague,
3. Januar 1948; (BH). (Verworfene Lieder: Somnus the humble god und Come, little
Babe.)
1952
Canticle II, Abraham and Isaac, op. 51. Alto oder Countertenor und Tenor; Text von
Chester Miracle Play; UA: Nottingham, 21. Januar 1952. (BH)
1953
Winter Words, op. 52. Text von Thomas Hardy. Hohe Stimme; 1. At day-close in
November, 2. Midnight on the Great Western, 3. Wagtail and Baby, 4. The little
old Table, 5. The choirmaster´s burial, 6. Proud songsters, 7. At the railway station,
8. Before life and after; UA: 8. Oktober 1953. (BH)
Verworfene Lieder: The hildren and Sir Nameless und If it´s ever Spring again.
UA: London (BBC Rundfunk) 23. April 1985.
1954
Canticle III, Still falls the rain – The raids, 1940, Night and Dawn, op. 55.
Tenor und Horn (mit Klavier); Text von E. Sitwell;
UA: London, 28. Januar 1955. (BH)
1958
Sechs Hölderlin-Fragmente, op. 61. Text auf Deutsch von Friedrich Hölderlin;
1. Menschenbeifall, 2. Die Heimat, 3. Sokrates und Alcibiades, 4. Die Jugend,
5. Hälfte des Lebens, 6. Die Linien des Lebens;
UA: (Rundfunk) 14. November 1958. (BH)
1959/1960
Um Mitternacht. Text von Goethe;
UA: Blythburgh, Holy Trinity Church, 15. Juni 1992.
1965
Songs and Proverbs of William Blake, op. 74. Bariton; Text von William Blake,
ausgewählt von P. Pears; Proverb I – London – Proverb II – The chimney-sweeper –
Proverb III – A Poison Tree – Proverb VI – The Tyger – Proverb V – The Fly –
Proverb VI – Ah, Sunflower! – Proverb VII – Every Night and Every Morn;
UA: Aldeburgh, 24. Juni 1965. (FM)
The Poet´s Echo, op. 76. Hohe Stimme; Text auf Russisch von A. Pushkin, englische
43
Version von P. Pears; 1. Echo, 2. My heart..., 3. Angel, 4. The Nightingale and the
Rose, 5. Epigram, 6. Lines written during a sleepless night;
UA: Moskau, 2. Dezember 1965. (FM)
1968
Tit for Tat. Gedichte von Walter de la Mare; 1928-31 komponiert, 1968 überarbeitet;
1. A Song of Enchantment (1929), 2. Autumn (1931), 3. Silver (1928), 4. Vigil
(1930), 5. Tit for Tat (1928); UA: Aldeburgh, 23. Juni 1969. (FM)
1969
Who Are these Children?, op. 84. Tenor; Texte von von William Soutar; 1. A Riddle,
2. A Laddie´s Sang, 3. Nightmare, 4. Black Day, 5. Bed-time, 6. Slaughter,
7. A Riddle (The Child you were), 10. Supper, 11. The Children, 12. The Auld Aik;
UA: Cardiff, 7. März 1971.
Verworfene Lieder: 1. Dawtie´s devotion, 2. Tradition, 3. The Gully.
1971
Canticle IV, Journey of the Magi, op. 86. Countertenor, Tenor und Bariton; Text von
T. S. Eliot; UA: Snape, 26. Juni 1971. (FM)
1975
Four Burns Songs (Nr. 3,4,5 and 6 von A Birthday Hansel), op. 92.
1. Afton Water, 2. Wee Willie Gray, 3. The Winter, 4. My Hoggie; Klavierbegleitung
arrangiert von C. Matthews. (FM)
44
2.3 Peter Pears
Der britische Tenor Peter Pears wurde am 22. Juni 1910 in Farnham geboren. Seine Familie war
wohlhabender als die Brittens, aber im Unterschied zu jenem verbrachte er viel Zeit entfernt von
seinen Eltern. Der Vater stammte aus einer Offiziersfamilie und war als hoher Militärbeamter in
Afrika, Südamerika und Indien tätig. Aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit konnte er seinen Sohn
erst nach 20 Jahren kennenlernen. Er besaß darum –
wie auch Britten – eine starke Mutterbindung.144 Im
Jahr 1934 wurde er von der Schwester seines
Freundes Peter Burra ermutigt, noch einmal die
Aufnahmeprüfung für das Royal College of Music zu
versuchen, weil er es beim ersten Mal nicht geschafft
hatte. Diesmal gelang es ihm und er gewann darüber
hinaus auch ein Stipendium. Er verließ aber bald das
College und begann danach seine Laufbahn im Chor
Abb. 13: Britten und Pears gemeinsam am Klavier
der BBC.145 Damals war seine Stimme noch eher
klein und er war sich selbst auch nicht sicher, ob er Tenor oder Bariton sei. Sein Leben als Sänger
war damals noch nicht gefestigt und teilweise dilettantisch. Wenn er nicht Britten begegnet wäre,
hätte er sich wahrscheinlich nicht zu einem so außergewöhnlichen Sänger entwickelt. 146 Die meisten
Vokalwerke Brittens sind explizit für Peter Pears geschrieben, d. h. mit besonderer Rücksicht auf
praktische Ausführbarkeit und gesangliche Wirkung. Pears hatte angeblich eine sehr ähnliche
Stimme wie Brittens Mutter,147 wodurch sich Britten bei ihm geborgen fühlte. Seine sensible,
leidenschaftliche und intelligente Art des Singens war genau das, was Britten wollte. 148 Es ist ein
seltener, aber umso glücklicherer Umstand, dass ein Komponist einen Sänger findet, mit dem er
kontinuierlich Dinge ausprobieren und arbeiten kann. Pears und Britten arbeiteten 35 Jahre lang
zusammen.
Britten und Pears gaben gemeinsam zahlreiche Konzerte, für die Britten manchmal Volkslieder
arrangierte, teils als Auflockerung des Programms, teils auch als Zugaben. Seine einzigartigen und
farbenfrohen Arrangements hauchen diesen traditionellen Liedern neues Leben ein und gehen weit
über die einfachen Harmonien diverser Ausgaben (z. B. die von Cecil Sharp) hinaus. Seine ersten
Arrangements stammen von Ende 1941, als er in Amerika lebte und voll Heimweh nach England
war.
144
145
146
147
148
Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 44.
Vgl. Matthews, Britten, S. 42.
Vgl. ebenda.
Johnson, Britten, Voice and Piano, S.11.
Vgl. Holst, Britten, S. 30.
45
Pears schützte den sensiblen Britten lebenslang vor Kritikern und der Gesellschaft. Brittens Brief
am 3. April 1966 beweist dessen intimes Vertrauen zu Pears:
„I am sorry I have been such a drag on you these last years... It may not seem like it to you, but
what you think or feel is really the most important thing in my life. It is an unbelievable thing to be
spending my life with you; I can´t think what the Gods were doing to allow it to happen! You have
been so wonderful to me, given so much of your life, such wonderful experiences, knowledge and
wisdom which I never could have approached without you. And above all – your love, which I
never have felt so strongly as in the lowest moments, physically and spiritually, of that old op.
What's all this gush in aid of – only, really to say sorry for having mucked up your Easter plans, and
to make quite sure that you realise that I love you!”149
Als Brittens Rückzug aufgrund seiner Krankheit offensichtlich wurde, begann sich die Beziehung
zwischen den beiden doch ein wenig zu ändern. Die schottische Krankenschwester Rita Thomson
nahm jetzt die Mutterrolle ein und Pears fand einen anderen, jüngeren Freund. Trotz dieser Situation
blieben sie als Freunde zusammen.
Am 4. Dezember 1976 starb Britten in den Armen von Pears, welcher später über diesen
Augenblick geschrieben hat: „He was certainly not afraid of dying. There was no struggle to keep
alive... his greatest feeling was sadness and sorrow at the thought of leaving... his friends and his
responsibilities.”150 Pears blieb nach Brittens Tod in Red House und setzte seine Konzertreisen mit
Brittens Musik bis zum Jahre 1980 fort, wo er einen Herzanfall bekam. Er starb 1986 und wurde
neben seinem Partner begraben.
149
150
Matthews, Britten, S. 140.
Ebenda, S. 155.
46
3 Betrachtung ausgewählter Liederzyklen
3.1 Begründung der Liedauswahl
Die Autorin hat sich bei der Auswahl der zu betrachtenden Lieder auf drei Liederzyklen beschränkt,
von denen jeweils ein Lied genauer untersucht werden soll. Diese drei Zyklen, nämlich On this
Island, op 11; Winter Words, op 52 und Songs and Proverb of William Blake, op 74, stammen aus
gänzlich verschiedenen Schaffensperioden, mit einem Abstand von jeweils ca. zehn Jahren, und
sind somit geeignet, die Entwicklung Brittens als Liedkomponist exemplarisch aufzuzeigen.
Brittens Verständnis und Liebe gegenüber der Poesie wurde schon früh offenkundig, denn die
Vokalkomposition nahm bereits in seiner Jugend einen breiten Raum ein. Seine Werke zeigen
deutlich, dass er tief in die Gedichte hineinlas, sie gänzlich zu durchdringen versuchte, um
anschließend die bestmögliche musikalische Umsetzung zu erreichen. Seine Lieder verhalten sich
meiner persönlichen Meinung nach sehr treu gegenüber den Gedichttexten. Teilweise kann man nur
durchs Hören, ohne den Text zu kennen, den Inhalt erahnen. Er hatte die besondere Gabe, Gedichte
durch die Musik noch lebendiger und bunter zu machen, ohne in eine bloße Illustration zu verfallen.
Mit wachsender Lebenserfahrung traten seine Fähigkeiten als Liedkomponist immer klarer hervor.
Auch in anderer Hinsicht hat die Zeit in den Liedern ihre Spuren hinterlassen: Brittens Schaffen ist
immer auch ein Spiegel der jeweiligen biographischen, aber auch gesellschaftlichen Situation.
Zum Zeitpunkt der Komposition von On this Island Mitte der 30er Jahre war Britten gerade 23
Jahre alt. Dieser Liederzyklus hat einen eher unbeschwerten Charakter; die Lieder wirken frisch,
mutig, neugierig, dazu tritt eine eigentümliche Mischung aus Aggressivität auf der einen und
ironisch-humoristischen Elementen auf der anderen Seite. Er wurde damals durch seinen reizvollen
Freundeskreis sehr inspiriert und motiviert, was sich im großen, durch den ganzen Zyklus gehenden
Schwung ablesen lässt. Die geschickten Szenenwechsel sind ganz natürlich und doch spannend
gebaut und zeigen seine Empfindsamkeit gegenüber der Sprachkunst. Die von Britten selbst
ausgewählten Texte bergen inhaltlich einige Unklarheiten und Geheimnisse, die er aber vielleicht
schon damals auf seine Weise erahnen konnte.
Die Lieder von Winter Words aus dem Jahre 1953 hingegen wirken wie Gemälde, die eine geradezu
farbenreiche optische Imagination ermöglichen. Anhand Brittens Textauswahl kann man sehen, dass
er die Unschuldigen und Hilflosen, also diejenigen, die in der Gesellschaft keine Sicherheit haben
und miserabel behandelt werden, immer besonders wichtig nahm. Brittens Kompositionen sind
geprägt von seiner großen Empfindlichkeit gegenüber den Menschen – seine Freunde nannten ihn
„skinless“ – und vor allem von seiner Liebe zur Gesellschaft. Im Vergleich zu On this Island
47
klingen die Lieder insgesamt reiner, aber auch dunkler und teilweise grotesk.
Songs and Proverb of William Blake entstand 1965, während einer für Britten schwierigen
psychischen Situation. Obwohl die Gedichte schon recht alt waren (und Britten bevorzugt
zeitgenössische, moderne Texte vertonte), beeindruckte deren Inhalt ihn so sehr, dass er sich für
eine Vertonung entschied. Thema ist auch hier wieder die Ungerechtigkeit und Unterdrückung von
Menschen aufgrund des sozialen Standes. Britten selbst durfte nicht öffentlich über seine Sexualität
sprechen, weshalb er das Gefühl der gesellschaftlichen Ausgrenzung sehr gut nachvollziehen
konnte. Auch andere Ereignisse in seiner Biografie trugen zu seiner Haltung bei. Besonders geprägt
hatte ihn die Benefiz-Tournee, die er nach Kriegsende gab. Er litt lange an den furchtbaren
Eindrücken, gleichzeitig wollte er danach immer solidarisch mit den gesellschaftlich Schwachen
bleiben. Die gemeinsam mit Pears zusammengestellten Texte drücken seinen Ärger gegen eine
gnadenlose Gesellschaft aus, ohne jedoch den Glauben an eine bessere Zukunft zu verlieren.
Diese drei Liederzyklen zeigen nicht nur Brittens kompositorische Entwicklung und allgemeinen
Gedanken zur Musik, sondern auch seine persönliche Veränderung als Künstler. Man begibt sich
auf eine weite Reise von der lebensfrohen, überschwänglichen Jugendzeit über den späteren inneren
Verzweiflungsschrei bis hin zur wiedererlangten, entschlossenen Hoffnung.
3.2.
On this Island
3.2.1 W. H. Auden
„O dear white children casual as birds,
Playing among the ruined languages,
... come down and startle
Composing mortals with immortal fire.”
(Zitat aus Audens Gedicht, Britten gewidmet)151
Das Liedschaffen umfasst einen großen Teil von Brittens Gesamtwerk, der darin am häufigsten
vertonte Dichter war Wysten Hugh Auden. Auden war offen homosexuell und Nonkonformist; als
Britten ihn das erste Mal traf, war er gerade mit einer deutschen Frau verheiratet (nämlich Erika
Mann, der Tochter von Thomas Mann), nur um ihr eine britische Staatsangehörigkeit verschaffen
und sie somit vor der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland zu retten.
151
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 97.
48
Auden wurde am 21. Feburar 1907 als Arztsohn in York geboren. Obwohl er zur Zeit des Kriegs
ohne festen Wohnsitz war, besucht er ab 1915 die St. Edmund Schule in Hindhead-Surrey. Im Alter
von 13 Jahren hatte er bereits seine ersten Gedichte verfasst; 1922 entschied er sich endgültig dafür,
Schriftsteller zu werden. Danach besucht er das Christ Church College in Oxford, wo er auch den
Autor Christopher Isherwood kennenlernte.
Auden ist von den großen englischsprachigen Dichtern des
20. Jahrhunderts mit Abstand der vielseitigste. Er war Dichter,
Reiseschriftsteller,
Librettist,
Drehbuchautor,
Kritiker,
Herausgeber, Übersetzer und akademischer Lehrer. Er besaß
schon früh breite Kenntnisse nicht nur der literarischen,
philosophischen und theologischen Tradition, sondern auch
zeitgenössischer Wissenschaftszweige. In dem Band Poems
aus dem Jahre 1930 zeigt sich ein explosives Gemisch aus
wechselnden Sprechweisen und Stilformen. Dieser Band
beeinflusste die damalige zeitgenössische Dichtergeneration,
insbesondere Stephen Spender, Cecil Day und Louis
Abb. 14: W. H. Auden
Macneice. Die zweite Auflage (1933), die ihn berühmt machte,
zeichnet sich durch einen
unverwechselbaren und bis dahin unerhörten Tonfall aus, der als „Audenesque“ in der
Literaturgeschichte eingetragen ist.152 Audens zentrales Thema war die Frage nach dem Zustand des
Individuums in der Massengesellschaft.
Auden zog 1939 nach New York. Von 1941 bis 1942 unterrichtete er an der Universität Michigan
und nahm schließlich 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Seine späteren Gedichte haben
vielleicht nicht die gleiche Stärke und Prägnanz wie die früheren, aber Auden war bis zum Schluss
vielseitig schöpferisch tätig und innovativ in seiner Sprache. Gemeinsam mit Chester Kallman
schrieb er einige Libretti, z. B. für Igor Strawinsky (The Rake´s Progress, 1951) und Hans Werner
Henze (Elegy for Young Lovers, 1959; The Bassarids, 1963).
Auden arbeitete öfter mit dem sieben Jahr jüngeren Britten zusammen, aber Ende des Jahres 1953
kam es zu einem entscheidenden Abbruch der Freundschaft. Britten erhielt einen Brief von Auden,
in welchem dieser eines seiner Stücke kritisierte (wahrscheinlich Brittens Oper Gloriana). Britten
war sehr empfindlich gegenüber jedweder Kritik und konnte damit nicht umgehen. Er zerriss den
Brief in kleine Stücke und schickte ihn zurück.153
Trotz dieser Trennung war klar, dass Britten von Auden stark beeinflusst war. Auden selbst wusste
152
153
Vgl. Rudolf Radler, Kindlers Neues Literatur Lexikon, Band 1, München,1989, S. 842.
Vgl. Matthews, Britten, S. 66.
49
auch genau, welche Fähigkeiten und Persönlichkeit Britten in sich trug. Am 31. Januar 1942 schrieb
er an Britten:
„There is a lot I want to talk to you about, but I must try and say a little of it by letter. I have been
thinking a great deal about you an your work during the past year. As you know I think you are the
white hope of music; for this very reason I am more critical of you than of anybody else, and I think
I know something about dangers that you beset you as a man and as an artist because they are my
own. Goodness and beauty are the results of a perfect balance between Order and Chaos,
Bohemianism and Bourgeois Convention. Bohemian chaos alone ends in a mad jumble of beautiful
scraps; Bourgeois convention alone ends in large unfeeling corpses.
Every artist except the supreme masters has a bias one way or the other... For middle-class
Englishmen like you and me, the danger is of course the second. Your attraction to thin-as-a-board
juveniles, i.e. to the sexless and innocent, is a symptom of this. And I am certain too that it is your
denial and evasion of the demands of disorder that is responsible for your attacks of ill-health, i.e.
sickness is your substitute for Bohemian.
Wherever you go you are and probably always will be surrounded by people who adore you, nurse
you, and praise everything you do, e.g. Elisabeth, Peter (Please show this to P to whom all this is
also addressed). Up to a certain point this is fine for you, but beware. You see, Bengy dear, you are
always tempt to make things too easy for yourself in this way, i.e. to build yourself a warm nest of
love (of course when you get it, you find it a little stifling) by playing the lovable talented little boy.
If you are really to develop to your full stature, you will have, I think, to suffer, and make others
suffer, in ways which are totally strange to you at present, and against every conscious value that
you have; i.e. you will have to be able to say what you never yet have had the right to say – God,
I'm a shit.
This is all expressed very muddle-headedly, but try and not misunderstand it, and believe that it is
only my love and admiration for you that makes me say it...”154
Von 1956 bis 1960 arbeitete Auden in Oxford als Professor für Poesie. Seit dem Jahr 1957
verbrachte Auden die Sommer in Österreich und er starb im September 1973 in Wien. Brittens
Antwort auf die Todesnachricht war, in Donald Mitchell´s Wort, „a storm of tears.”155
154
155
Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 1015.
Vgl. Kennedy, Britten, S. 63.
50
3.2.2 Entstehungsgeschichte und Überblick
Benjamin Brittens frühestes großes Vokalwerk, Our Hunting Fathers op. 8, ein symphonischer
Zyklus für Sopransolo und Orchester nach Texten von Auden aus dem Jahre 1936, ist nicht dem
Bereich des Liedes zuzuordnen. Im Jahre 1938 folgte als Opus 11, wieder nach Gedichten Audens,
der aus fünf Liedern bestehende Zyklus On This Island. (Obwohl es als Zyklus bezeichnet wird,
handelt es sich eher um eine lose Sammlung mehrerer kleiner Lieder.) Britten schrieb ausgehend
von Audens dazu noch die Ballad of Heroes (1939) für Chor und Orchester, die „Operette“ Paul
Bunyan (vollendet 1941) und die Hymn to St Cecilia (1942) für Chor. Darüber hinaus vertonte
Britten während dieser Zeit eine Reihe anderer Gedichte von Auden, die zu seinen Lebzeiten
unveröffentlicht blieben. Audens Ästhetik hatte einen nachhaltigen Einfluss auf Brittens
Liedschaffen. Pears meinte dazu: „Britten´s song-cycles of mixed origin are much more like
Auden's vision of poetry than any other literary person's.”156
On this Island lässt einen Einfluss von Strawinskys Apollon Musagète (1927-1928) erkennen,
worauf Peter Pears beim Mitchell-Keller-Symposium 1952 hingewiesen hat. 157 Audens Worte sind
nicht immer eindeutig verständlich und bei einigen Gedichten scheint es, als ob er nur zu einem
kleinen Kreis von Eingeweihten sprechen würde. Das erste Lied, Let the florid music praise,
beginnt mit opernhafter, barockisierender Emphase, setzt zu einer bravourösen Koloraturpassage an
und mündet schließlich in eine lyrische Melodie in Moll, die deutlich an Brittens großes Vorbild
Purcell angelehnt ist. Das zweite Lied, Now the leaves are falling fast, behandelt einen damals
aktuellen politischen Inhalt. Die laufenden Sechzehntel der Vokallinie und die pochenden Achtel
der Klavierbegleitung vermitteln ein unruhiges Gefühl. Kurz vor dem Ende erklingt ein kühle
Akkordfolge, die darauf verweist, dass man im Traum Frieden findet. Das dritte Stück, Look
Stranger, at this Island now, bringt stürmische Steigerungen mit einer ununterbrochener Begleitung,
die an den Schaum der Meereswellen denken lässt. Das vierte Lied, Nocturne, wirkt mit seiner
konsequenten musikalischen Ökonomie vielleicht am persönlichsten und weist bereits auf die
inspirierte Schlichtheit späterer Werke wie Les Illuminations und die Michelangelo Sonnets hin. Mit
seiner Dreiklangsmelodik und dunklen cis-Moll-Harmonik beschwört es den Klang des 19.
Jahrhunderts herauf. Das Tempo ist Andante, die Phrasen steigen und fallen langsam wie ein großer
Atembogen. Das letzte Lied, As it is plenty, enthält einen ironischen Text, die Musik ist leicht und
tänzerisch,
mit
gezielten
Reizdissonanzen
und
spielerischen
Anklängen
an
die
Unterhaltungsmusik.158
Die Uraufführung durch die Sopranistin Sophie Weiss mit Britten am Klavier fand im November
156
157
158
Mervyn Cooke, The Cambridge Companion to Benjamin Britten, Cambridge 1999, S. X.
Vgl. Kennedy, Britten, S. 133.
Oehlmann, Reclams Liedführer, S. 880.
51
1937 bei einem BBC-Konzert für zeitgenössische Musik statt. Die Partitur erschien im Oktober
1938 bei Boosey & Hawkes.
3.2.3 Beispielanalyse Let the florid music praise!
Hier soll nun das erste Lied des Zyklus, Let the florid music praise!, analysiert werden.
Dieses im Oktober 1937 komponierte Lied weist vielfältige Anklänge an die Barockmusik auf,
insbesondere an Henry Purcell und G. F. Händel. Außerdem hört man eine deutliche Beeinflussung
durch Strawinskys Neoklassizismus, von dem Britten sehr begeistert war, sodass auch dieses Lied
jener Stilrichtung zuzuordnen ist. Britten schrieb paradoxerweise eine barockisierende, prächtige
Klavierbegleitung zu schreiben, die im Gegensatz zum wehmütigen Text über eine verlorene Liebe
steht. (Bei dem Text handelt es sich eigentlich um einen Lobgesang Audens an einen seiner
Liebhaber.)159
Let the florid music praise!
Munter rühme die Musik!
Let the florid music praise,
Munter rühme die Musik
The flute and the trumpet,
– Flöte wie Drommete –
Beauty’s conquest of your face:
Auf deiner Haut der Schönheit Sieg!
In that land of flesh and bone,
Dort, wo im Land aus Fleisch und Bein
Where from citadels on high
Von hoher Zinne nunmehr kühn
Her imperial standards fly,
Im Winter ihre Standarten weh’n,
Let the hot sun Shine on, shine on
Soll die Sonne heiß, Erglühn, erglühn.
O but the unlov’d have had power,
Stets hatten Ungeliebte Macht
The weeping and striking,
Zu kämpfen, sich zu wehren.
Always; time will bring their hour:
Hallt dereinst der Stunde Schlag:
Their secretive children walk
Ziehen ihre Kinder stumm
Through your vigilance of breath
Hin durch eures Atems Wacht
To unpardonable death,
Zu dem nie verziehnen Tod,
And my vows break
Und mein Gelübde bricht
Before his look.
Vor seinem Blick.
Die Einleitung entstand nach einem Rat von F. Bridge. Britten erzählte dazu:
159
Vgl. Johnson, Britten, Voice and Piano, S. 148.
52
„Originally it began with a downward glissando on the piano. Bridge hated that, and said I was
trying to make a side-drum or something non-tonal out of the instrument: on the piano, the gesture
ought to be a musical one. So I rewrote it as the present downward D major arpeggio.“160
Das Lied beginnt in der Tonart D-Dur, welche in der Musikgeschichte oft für feierliche Werke
verwendet worden ist, und trägt die Vortragsbezeichnung „Maestoso – non troppo presto“. Nach
dem bereits erwähnten Arpeggio am Beginn setzt im zweiten Takt der Gesang mit einer
fanfarenartigen, emphatischen Melodie ein, auf eine erneut nach unten stürzenden Arpeggio-Figur
im Klavier folgt. Diese Phrase wird leicht variiert wiederholt, woraufhin hin in T. 9 als Antwort eine
kontrastierende, abwärts gerichtete Linie im Gesang erklingt, die im Klavier von parallel
verschobenen Dur-Dreiklängen begleitet wird. Man beachte den bewussten Querstand in T. 10
zwischen dem B-Dur-Akkord im Klavier und dem Ton h im Gesang. Bis hierhin handelt es sich um
eine Barform mit dem Formschema AAB. In T. 12-16 erscheint eine 2½-taktige Phrase, die
motivisch von A abgeleitet ist. Diese wird daraufhin sequenzierend und variiert wiederholt, wobei
es zu einer überraschenden Wendung nach Fis-Dur kommt. In T.- 17 hören wir ein neues Motiv C in
Form einer fallenden Quart, die im Abstand einer Terz mehrmals nach unten sequenziert wird. Die
Begleitung im Klavier erfolgt in parallelen Dur-Akkorden im Terzabstand (Fis, D, H, G).
Als vorläufiger dynamischer Höhepunkt erschient in T. 20 auf dem Text „Let the hot sun shine“
eine abgewandelte Form des Motivs aus B, und zwar mit kadenzierender Funktion. Auffällig ist die
Harmonisierung des Tones g durch den in diesem Kontext unerwarteten Es-Dur-Akkord, der noch
dazu in einem weit entfernten Verhältnis zum darauffolgenden fis-Moll-Akkord steht. Auf dem
Wort „Shine“ erklingt in der Stimme ein langer Triller, der gemeinsam mit einer erneuten ArpeggioFigur im Klavier in einen langen Koloratur-Teil auf letzten Silbe mündet (T. 22-28), der mit „con
bravura“ überschrieben ist. Hier kommt es zu einem Wechselspiel zwischen den schnellen
Akkordbrechungen in der Stimme und der hüpfende Begleitfigur im Klavier. Strukturell handelt es
sich bei T. 22-25 um eine barockisierende Terzfallsequenz. Britten verwendet hier jedoch eine
subtile Verfremdungstechnik, nämlich die Vermeidung von Terzen in der Klavierbegleitung, sodass
statt Dur-Akkorden nur leere Quint-Akkorde zu hören sind.
In T. 26 erscheint das Quartmotiv aus C, diesmal zweimal real sequenziert. In T. 27 führt die
Singstimme schrittweise in die Höhe, um dann in T. 28 wieder abzusinken. Der Bass wird in diesen
zwei Takten konsequent in Gegenbewegung geführt, wobei sich scharfe Dissonanzen ergeben. Auf
dem dritten Schlag von T. 28 kommt zu einer Art Halbschluss auf der Dominante (eigentlich e-Moll
über den Basston A). Hier hält das Stück kurz inne, um im Takt darauf im ff zur Kadenz anzusetzen.
160
Kildea, Britten on Music, S. 252.
53
In T. 30-33 wird die Arpeggio-Figur über einem langsam steigenden Bass weitergeführt, wobei der
Klaviersatz neben dem diminuendo und poco ritardando auch satztechnisch ausgedünnt wird und
mit dem D-Dur-Sextakkord als Zwischendominante in den zweiten Teil nach g-Moll führt.
Der zweite Teil steht im 6/4-Takt und ist mit „Poco più lento – grazioso e rubato“ überschrieben.
Die wehmütig klagende Melodie erinnert an die Arien von G. F. Händel. Am Ende von T. 35 wird
die Arpeggio-Figur in ihrer Moll-Variante eingewoben. In darauffolgenden zwei Takten erklingen
variierte Abspaltungen in Form von abwärts führenden Skalenausschnitten mit nachschlagendem
Pedalton und in T. 38 eine kurze Seufzermotiv-Kette. T. 36-37 ist eigentlich eine diatonische
Quintfallsequenz in c-Moll (VI7 – II7 – V7 – I7), wobei auch hier Britten das Modell bewusst
verfremdet: Bei VI7 und V7 bringt die Singstimme einen zusätzlichen akkordfremden Ton, bei II7
und I7 fehlt hingegen die Terz (vgl. T. 22-25). In T. 37-40 schreibt Britten eine chromatisch
absteigende Basslinie, als sogenannter Lamento-Bass ein beliebtes Stilmittel des Barock. Der
zweite Akkord in T. 39 ist ein Hybrid aus As-Dur mit großer Septime und einem BDominantseptakkord in dritter Umkehrung; er ist ein Resultat aus dem liegenbleibenden Ton g und
stellt eine subtile harmonische Abweichung dar. Die chromatisch aufsteigende Klavierlinie in T. 41
übernimmt den nachschlagenden Pedalton aus den vorhergehenden Takten und bildet einen
Ausgleich zum zuvor gehörten Lamento-Bass. Stilistisch passt diese Figur eher zur Wiener Klassik
als ins Barock. Der D-Dominantseptakkord mit Quartvorhalt in T. 42 führt uns zurück nach g-Moll;
dabei erklingt wieder die Arpeggio-Figur, von welcher auch das Bassmotiv der nächsten zwei Takte
abgleitet ist. In T. 44 wendet sich das Stück zunächst in Richtung As-Dur. Der Text lautet: „Their
secretive children walk / Through your vigilance of breath“. Hier gleitet die Musik in einen
unerwarteten spätromantischen Chromatizismus ab – besonders zu erwähnen ist die chromatische
Klangverwandlung Es7/G → Ges7 in T. 45-46 bzw. analog dazu Ces7/Es → D7 in T. 47-48. Mit dem
Text „To unpardonable death“ führt die Singstimme in die dunkelste Tiefe (mit dem tiefsten Ton cis
auf dem Wort „death“), während der Ton d in der rechten Hand des Klaviers einsam im Himmel zu
schweben scheint. Im Takt darauf führt eine lange Seufzermotiv-Kette wieder nach unten, wobei die
Töne as und f mit dem darunterliegenden D-Dominantseptakkord kollidieren. Die verminderte Terz
es – cis am Übergang von T. 48 und 49 war schon im Barock Mittel zur Textausdeutung und es ist
kein Zufall, dass dieses Intervall hier in Zusammenhang mit dem Wort „death“ auftritt. Außerdem
steht das cis, als Leitton zum Grundton d, in scharfer Dissonanz zur bereits erklingenden kleinen
Septime c. In T. 50 kommt es zu einer Wiederaufnahme des Beginns mit einer lautenartigen,
arpeggierenden Klavierbegleitung. Das Wort „break“ wird scheinbar unendlich in die Länge
gezogen und die Musik scheint stillzustehen. Nach einer kurzen Zäsur setzt mit dem Text „Before
his look“ über einen Dominantseptakkord mit Quartsextakkord die letzte Phrase ein. Über den
54
Basston d erklingt in der rechten Hand wieder die Arpeggio-Figur, diesmal in g-Moll und – als
bewusste harmonische Abweichung – als fis-Moll und es-Moll.
Nun folgt noch ein 5-taktiges Nachspiel; der Satz ist zweistimmig gehalten, in der rechten Hand
finden sich zum Teil extreme Sprünge (eine immanente Mehrstimmigkeit?), der Abstand zur linken
Hand ist zunächst groß und verringert sich erst gegen Ende hin. Dazwischen erscheint zweimal das
Arpeggio-Motiv als leiterfremder f-Moll-Akkord, wie eine Botschaft aus einer längst vergangenen
Zeit. Das Stück endet schließlich im unisono auf dem Ton g und hinterlässt ein Gefühl der Leere
und Kälte.
Britten bedient sich in Let the florid music praise! althergebrachter Mittel, um eine möglichst klare
musikalische Aussage zu treffen. Die traditionellen Modelle werden jedoch zugunsten des
Ausdrucks gebrochen und verfremdet, sodass Britten in diesem Stück der „seconda prattica“ eines
Monteverdi oder Gesualdo ästhetisch womöglich nähersteht als dem eher intellektuellen
Neoklassizismus Strawinskys, obwohl beide auf ähnliche Techniken zurückgreifen.
3.3 Winter Words
3.3.1 Thomas Hardy
Der englischer Schriftsteller Thomas Hardy wurde am
2. Juni 1840 in Upper Bockhampton geboren. Er war
Sohn eines Baumeisters. Nach einer Architektenlehre
ging er nach London und begann neben seiner Arbeit als
Kirchenrestaurator zu schreiben.
Er verstand sich selbst zeitlebens in erster Linie als
Dichter, obwohl er am Anfang seiner Karriere mit
Romanen und Kurzgeschichten an die Öffentlichkeit trat. Abb. 15: Thomas Hardy.
Erst nach seiner Abkehr von der Prosa, nach seinem letzten Roman Jude the Obscure (1895),
publizierte Hardy bis zu seinem Tod mehrere Gedichtsammlungen. Die Gesamtausgabe seiner
Gedichte zählt insgesamt 947 Texte.161
Seine Gedichte sind in mehrere Hinsicht ideal als
Gesangstext: Sie sind oft kurz, mit einem stabilen Metrum und einer einheitlichen Stimmung.
Hardys Gedichte entstammen meist seinem persönlichen Erfahrungsbereich, sie beschreiben
alltägliche Erlebnisse, Gefühle und Stimmungen, Erinnerungen an vertraute Menschen und
161
Vgl. Radler, Kindlers neues Literatur-Lexikon, S. 292.
55
Situationen, ohne allzu selbst-analytisch oder introspektiv zu sein. Desillusionierende oder
tragikomische Ereignisse vor dem Hintergrund stimmungsvoller Naturschilderungen dienen immer
Hardys Anliegen, die Schönheit im Hässlichen aufzuzeigen. Zu den zentralen Botschaften der
Gedichte gehört Hardys Philosophie eines Universums, das von einem immanenten Willen gelenkt
wird und dem tragischen Schicksal des Individuums gleichgültig gegenübersteht. Tod,
Vergänglichkeit, Einsamkeit, zerstörte Hoffnungen und unglückliche Liebe sind immer
wiederkehrende Themen. Dort erreicht Hardys Lyrik ihre höchste Intensität, so vor allem in den
vom plötzlichen Tod seiner ersten Frau Emma inspirierten elegischen Poems of 1912-1913, die zu
seinen hervorragendsten Gedichten gehören.
Zu den besonderen Stilmerkmalen in Hardys Lyrik zählt ein künstlerisches Understatement, das
seinen Ausdruck in einer Ästhetik scheinbarer Kunstlosigkeit findet. Hinzu gehört der klare, von
subtilen Untertönen weitgehend befreite Ton ebenso wie die bewusste Verwendung metrischer
Unregelmäßigkeiten – was Hardy oft den Vorwurf einbrachte, eine banale und unbeholfene Lyrik zu
produzieren. Aufgrund seiner Ansicht, der Dichter könne immer nur versuchen, herkömmliche
Themen mit traditionellen Mitteln besser zu gestalten, sucht man in Hardys lyrischem Werk
vergeblich nach spektakulären Neuerungen.
Nach Hardys Tod 1928 kam es zu einer allmählichen Neubewertung seiner Lyrik. Die USamerikanische Literaturzeitschrift „Southern Review“ widmete ihre Winterausgabe 1940 dem
englischen Dichter; unter den zahlreichen Beiträgen findet sich auch ein anerkennender Artikel von
W. H. Auden162. Dies verhalf Hardys Werk zu breiter Aufmerksamkeit und markierte einen
deutlichen Wendepunkt in der Hardy-Rezeption.
3.3.2 Entstehungsgeschichte und Überblick
Der nach Gedichten von Thomas Hardy zwischen Gloriana und The Turn of the Screw im Jahr 1953
entstandene Zyklus Winterwords op. 52 wurde von Britten für eine Aufführung gemeinsam mit
Pears im Leeds-Festival komponiert. 163 Das Werk ist John und Myfanwy Piper gewidmet; Britten
selbst spricht nicht von einem Liederzyklus, sondern bevorzugte die Bezeichnung „Lyrik und
Ballade“. Er hatte aus den Gedichtanthologien Hardys insgesamt acht Texte ausgewählt. Hardys
Gedichte, die melancholischen Fatalismus und naive Vorstellungen enthalten, machten auf Britten
einen tiefen Eindruck und so entstand eines seiner beste Werk für Stimme und Klavier. Die blumigornamentale Technik aus früheren Werken ist verschwunden, an deren Stelle tritt eine ökonomische
162
163
Vgl. W. H. Auden, A Literary Transference in: Southern Review, Winterausgabe 1940.
Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 196.
56
und epigrammatische Strenge. In Winterwords wirkt wie eine Aufeinanderfolge von musikalischen
Szenen, ähnlich wie in der Winterreise von Schubert.
Wie im darauffolgenden Werk, The Turn of the Screw, thematisiert Winterwords den Verlust der
Unschuld durch das Erwachen des Bewusstseins. 164 Das erste Stück At day-close in November ist
eigentlich kein „Winterstück“, sondern eher ein „Herbststück“ mit raschem Walzer-Rhythmus in dMoll, der Originaltonart des ersten Stückes der Winterreise. Besonderer Schwung entsteht durch die
aufsteigenden Akkordbrechungen, mit Achtelnoten in der linken Hand, überlagert von Achteltriolen
in der rechten Hand. In Midnight on the Great Western nimmt ein Zug mit seinem motorischen
Rhythmen und Warnsignalen einen kleinen Jungen mit in eine unbekannte Welt. Wagtail and Baby
bringt einen wiegenden 6/8-Takt mit vogelartigen Zwischenrufen im Klavier über einen ironischen
Text. Im vierten Lied, The Little old Table, erklingt in der Begleitung ein fließend Pendelmotiv,
während scharfe, lebhafte Einwürfe das Quietschen eines alten Tisches imitieren, von welchem der
Text handelt. The Choirmaster´s Burial inszeniert einen Gegensatz zwischen der sanft
psalmodierenden Melodie des Erzählers und der forschen Stimme des Vikars und schließt mit einem
himmlischen Gesang vor dem Grab des Chorleiters. Proud Songsters erklingt in einem raschen 5/4Takt und charakterisiert mit seinen schwungvollen Achteltriolen, Trillern und Tremoli verschiedene
Vogelarten. Im At the Railway Station, Upway hört man das Geigenspiel eines kleinen Jungen, der
am Bahnhof auf einen Verurteilten trifft. Im spielerischen Klaviersatz schimmern immer wieder die
leeren Saiten der Geige durch. Im achten und letzten Lied Before Life and After bilden gleichmäßig
wiederholte Dreiklänge in tiefer Lage das Fundament für den schwermütigen philosophischen Text.
Die einfach konstruierte Musik wirkt sehr rein; die dem Text zugrunde liegende Losung „Zurück
zur Unschuld“ spiegelt Brittens eigene Weltanschauung. Der Zyklus endet mit dem
herzzerreißenden Schrei „How long, how long?“, der in der Klavierbegleitung nachhallt und
schließlich verstummt.
164
Vgl. Whittall, The Music of Britten and Tippet.
57
3.3.3 Beispielanalyse Midnight on the Great Western
Das Gedicht Midnight on the Great Western stammt
aus
Hardys
Buch
Moments
of
Vision
and
Miscellaneous Verses, veröffentlicht im Jahr 1917.
Das Anliegen des Buchs war, nach Hardys eigenen
Worten, „[to] mortify the human sense of selfimportance by showing or suggesting, that human
beings are of no matter or appreciable value in this
nonchalant universe.“ 165
Abb. 16: The Great Western
Die „Great Western Railway“ war eine britische
Eisenbahngesellchaft, die von 1833 bis 1947 existierte.
Sie verband Londons Paddington Bahnhof mit Südwestengland, Westengland und Südwales. 166 Der
vom damaligen englischen Parlament beschlossene „Railway Regulation Act 1844“ war einer von
mehreren „Railway Regulation Acts“ zwischen 1940 und 1893 und ist ein Gesetz, das den
minimalen Standard für Bahnreisende festlegte. Er verbesserte insbesondere die Bedingungen in der
dritten Klasse und sorgte dafür, dass auf allen Strecken Plätze in dieser angeboten wurden, um so
armen Leuten günstige Bahnfahrten zu ermöglichen und ihnen damit auch bei der Arbeitssuche zu
helfen.167 Bis diesem Zeitpunkt gab es drei oder
mehrere Klassen für Eisenbahnwagen, wobei die
dritte Klasse oft ein offener Güterwagen ohne
Sitzplätze war. In England stiegen bereits in den
1910er Jahren die meisten Bahngesellschaften
auf ein Zweiklassensystem um: „1st“ und „3rd“;
die zweite Klasse hingegen wurde abgeschafft.
Die „1st“ bot etwa den Komfort der Zweiten
Klasse auf dem Kontinent (Abteile mit sechs
Sitzen), die „3rd“ war jedoch aufgrund der
Abb. 17: Honoré Daumier, ein Waggon dritter Klasse,
Polstermöbel bereits viel komfortabler als jenseits um 1865.
des Kanals.168
Das Gedicht vereint objektive und subjektive Anschauung: Die ersten zwei Strophen beschreiben
die äußeren Umstände des Schauplatzes, die folgenden zwei Strophen geben die persönlichen
165
166
167
168
http://www.poets.org/poetsorg/text/thomas-hardy-behind-mask-explaining-poems
Vgl. Johnson, Britten, Voice and Piano, S. 230.
Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Railway_Regulation_Act_1844
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wagenklasse#Gro.C3.9Fbritannien
58
Gedanken des Autors über das Innenleben des Protagonisten wieder.
Midnight on the Great Western Mitternachts im Great Western
In the third-class seat sat the journeying boy,
Auf der Bank dritter Klasse saß der reisende Bub,
And the roof-lamp's oily flame
Und das flackernde Deckenlicht
Played down on his listless form and face,
Sank öltrüb über Gestalt und Gesicht
Bewrapt past knowing to what he was going,
Vom Wissen benommen, woher er gekommen
Or whence he came.
Und wohin die Reise ging.
In the band of his hat the journeying boy
Unterm Band des Hutes des Jungen auf Fahrt
Had a ticket stuck; and a string
Stak ein Fahrschein, am Halse hing
Around his neck bore the key of his box,
Zum Reisekoffer der Schlüssel am Band,
That twinkled gleams of the lamp's sad beams
Der funkelnd die Trübnis des Deckenlichts narrt’,
Like a living thing.
Wie ein belebtes Ding.
What past can be yours, O journeying boy
Was hast du erlebt, du Junge auf Fahrt
Towards a world unknown,
In eine fremde Welt,
Who calmly, as if incurious quite
Der ruhig, fast unberührt von all dem,
On all at stake, can undertake
Was auf dem Spiel, zu fernem Ziel
This plunge alone?
Allein dich wagst?
Knows your soul a sphere, O journeying boy,
Kennt dein Geist ein Reich, du Junge auf Fahrt,
Our rude realms far above,
– erahnt, doch nicht bekannt –
Whence with spacious vision you mark and mete
Von wo dein ruhiger Blick diese Sündenwelt,
This region of sin that you find you in,
In der du nun weilst und von der du nicht bist,
But are not of?
Zu urteil'n fand?
Die Gedichtsammlung wurde 1917, also während des Ersten Weltkrieges herausgegeben und
reflektiert gewissermaßen den Schrecken, den Pessimismus und die ungewisse Zukunft dieser Zeit.
Draußen herrscht Dunkelheit, im Inneren des Zuges brennt nur ein schwaches flackerndes Öllicht,
in dessen Schein der Schlüsselbund funkelt. Sowohl Licht als auch Schlüssel sind Sinnbilder für
Weisheit und Vernunft, während der kleine Junge die Unschuld symbolisiert. Die Tatsache, dass der
Junge alleine unterwegs ist, mag als Appell verstanden werden, furchtlos seinen eigenen Weg zu
gehen und sich dabei von der Vernunft leiten zu lassen. Obwohl der Junge einen Fahrschein besitzt,
59
bleibt das Ziel der Reise für den Leser verborgen. Vielleicht kann es gar nicht in Worte gefasst,
sondern nur erahnt werden; jedenfalls bleibt es der Vorstellungskraft des Lesers überlassen.
Das Lied ist in vier klare Strophen unterteilt, wobei die ersten beiden Strophen nahezu identisch
wiederholt werden; es kommt lediglich zu ein paar rhythmischen Abweichungen aufgrund des
Textes. Midnight on the Great Western ist damit das einzige Lied des Zyklus, das eine
Strophenwiederholung enthält. Am Beginn der ersten beiden Strophen erklingt im Klavier ein
Signal, dass einer Dampfpfeife nachempfunden ist, woraufhin sich die Eisenbahn mit einem
anschwellenden Ganztontriller („gradually pushing forward“) und einer absteigenden Basslinie in
Bewegung setzt, um schließlich in T. 6 mit bedachter Bewegung („with deliberate movement“) die
Fahrt aufzunehmen. Der bis zum Ende der Strophe durchgehende motorische Rhythmus zeichnet
die ratternde Fahrt der Eisenbahn nach. Er folgt bemerkenswerterweise nie dem 3/4-Takt, sondern
ist entweder als Hemiole (4 + 4 + 4 Achtel) oder als 6/8-Takt (3 + 3 Achtel) – teilweise über die
Taktgrenze hinaus (z. B. T. 15-16 oder T. 56-57) – gestaltet und steht oft in Konflikt zur
Singstimme. In T. 23-26 sorgen zwei verschieden lange Phrase (5 Viertel + 7 Viertel) für zusätzliche
Asymmetrie. Trotz des regelmäßig durchlaufenden Achtelpulses entsteht so ein Gefühl des
Schwankens und der Unsicherheit, das sowohl auf die Qualität der damaligen Eisenbahnen verweist
als auch das Thema des Textes, nämlich die ziellose Fahrt durch das Leben, musikalisch erfahrbar
macht.
In der dritten Strophe scheint der Fokus der Aufmerksamkeit – analog zum Text – vom Äußeren auf
das Innere zu wechseln: Das Rattern der Eisenbahn wird ausgeblendet (in T. 37-39 setzt die Musik
zwar kurz zum motorischen Achtelrhythmus an, bricht aber bald darauf ab und verbleibt in einem
langsamen, freien Zeitmaß), das Signal der Dampfpfeife bleibt hingegen, kompositorisch
verarbeitet, als fernes Echo bestehen und steht womöglich für die warnende Stimme des Gewissens.
Die Singstimme klingt wie ein innerer Monolog und unterstreicht damit den introspektiven
Charakter der Strophe.
In T. 49-50 ist analog zum Beginn und führt in die vierte und letzte Strophe. Diese knüpft an die
ersten beiden Strophen an, wird aber in Folge stark variiert und führt nach einer kurzen Steigerung
zum dynamischen Höhepunkt des Stückes in T. 64 – ein musikalischer Zornausbruch auf den
Worten „This regions of sin that you find you in“) –, um mit der wichtigen Einschränkung „But
[you] are not of“ ins versöhnliche p zurückzukehren. Das Stück schließt mit einem letzten,
vergrößerten Signal der Dampfpfeife.
Die zentrale kompositorische Idee des Stückes ist die Verwischung des Unterschiedes zwischen Dur
und Moll. Die damit hervorgerufene (harmonische) Unklarheit kann auch als metaphorische
60
Interpretation des Textinhaltes verstanden werden. Am deutlichsten tritt diese Strategie beim
Dampfpfeifenmotiv am Beginn des Stückes zutage: Der liegenbleibende Ton es wird von der
Mollterz in c-Moll zur Dur-Terz in H-Dur umgedeutet und anschließend ins d geführt, sodass aus
dem H-Dur ein Mollakkord wird. Da jedoch die Töne im Pedal bleiben, verschwimmt die Grenze
zwischen Dur und Moll. Wenn schließlich das Pedal gehoben wird, hört man aufgrund der stumm
gedrückten Tasten einen leisen Nachklang des ursprünglichen c-Moll. Diese chromatisch
Klangverwandlung wird am Beginn der dritten Strophe ausgeweitet und zur einfachen
Halbtonrückung verknappt (T. 33-36), die sich in T. 44-45 zur Ganztonrückung wandelt. In T. 47-49
findet im langen Abstieg von b-Moll nach cis-Moll eine Kombination der drei Techniken statt. Der
Schluss des Stückes ist in dieser Hinsicht besonders raffiniert, denn Britten greift zunächst die
Fortspinnung aus T. 34 auf, führt diese dann aber zurück in den Ausgangsakkord, wobei der Ton es
am Ende alleine übrig bleibt, und zwar einerseits mit der Erinnerung an dessen Funktion als DurTerz in H-Dur, andererseits als Moll-Terz innerhalb des kaum mehr hörbar nachklingenden
Rahmenintervalls c – g von c-Moll – ein Meisterstück an Subtilität.
Der Wechsel zwischen Dur und Moll ist auch Teil der Melodiegestaltung. Man betrachte T. 9-16:
Die Melodie entwickelt sich aus einer anfänglichen Tonwiederholung zu einem kreisenden
Akkordbrechungsmotiv in G-Dur und landet schließlich auf dem Ton b, welcher als Mollterz die
zuvor gehörte Harmonie infrage stellt. T. 29-30 ist die (transponierte) reale Umkehrung von
T. 14-15, aus dem Dur-Akkord ist folglich ein Moll-Akkord geworden und der letzte Ton führt nun
in die Dur-Terz (siehe auch T. 67-71).
In der motorischen Klavierbegleitung ab T. 6 kann man eine wiederkehrende Tongruppe aus drei
Halbtönen erkennen (fis, g, as), mal als Achtelmotiv, mal zu einem Pendel in Sechzehntel
beschleunigt. Die drei Töne „umkreisen“ zuerst die Quinte (über dem Basston c), ab T. 15 dann die
Oktave (über wechselnden Basstönen) und in T. 30-32 schließlich die Mollterz, wobei uns hier im
Nebeneinander von d, es und e über dem Basston c wiederum die Verschleierung des
Tongeschlechts begegnet.
In Midnight on the Great Western schafft Britten aus einem reduzierten Material ein Stück von
großer kompositorischer Stringenz. Hinsichtlich der Textausdeutung bedient er sich sowohl der
Tonmalerei als auch der metaphorischen Qualität harmonischer und formaler Strukturen. Britten
nahm in Winter Words Abstand vom zum Teil wilden Eklektizismus, wie er uns beispielsweise in
On this Island begegnet, zugunsten einer persönlicheren und einheitlicheren Tonsprache. Dies trifft
in besonderer Weise auf den dritten und letzten von uns zu betrachtenden Zyklus zu.
61
3.4 Songs and Proverbs of William Blake
3.4.1 William Blake
William Blake wurde am 28. November 1757 als drittes von
fünf Kindern eines Londoner Händlers geboren. Er besuchte
die Schule nur kurz, danach unterrichtete seine Mutter ihn
zuhause. Er besuchte mit 10 Jahren die Henry Pars's Drawing
School, eine Kunstschule. Schon als Kind hatte Blake Visionen
von Engeln und Propheten, die er später in Gedichten und
Bildern verarbeitete. Diese Visionen hatten lebenslang einen
Abb. 18: William Blake
starken Einfluss auf seine Art zu malen und mit Farben umzugehen. 1772 begann Blake eine Lehre
bei dem Kupferstecher James Basire, bei welcher er viel für seine spätere Tätigkeiten lernte. Nach
dem Lehrabschluss begann Blake ein Studium an der Royal Academy of Arts. Dort überwarf er sich
jedoch mit dem Akademie-Präsidenten, welcher sein Werk kritisiert hatte, und verlor damit die
Hoffnung, als Maler leben zu können.
Mit 25 Jahren heiratete er Catherine Boucher. Er brachte ihr Lesen und Schreiben bei. Sie half ihm
bei seinen Arbeiten und begleitete ihn für den Rest seines Lebens. 1784 eröffnete er mit der Hilfe
von John Flaxman seinen eigenen Bücherladen in London. Das Geschäft lief aber schlecht, daher
stellte er sich unter Vertrag und arbeitete zusammen mit seiner Frau an seinen großen Werken. Die
beiden verließen bald London und zogen in die kleine Künstlerstadt Felpham, wo er bis zum Ende
seines Lebens blieb. Von 1818 bis zum seinem Tod produzierte er keine Dichtungen mehr, arbeitete
jedoch weiter als Kupferstecher. So schuf er beispielsweise 24 Platten für das Buch Job und
Illustrationen für Dantes Göttliche Komödie. Am 12. August 1827 starb William Blake verarmt,
seine Frau starb 4 Jahre später.
Die Bibel war für William Blake, der aus einem religiösen Elternhaus stammte, eine wichtige
Inspirationsquelle. Er entwickelte jedoch eine naturnahe Spiritualität, mit der er sich gegen die
Kirche wandte. Der Gottesfurcht stellte Blake die schöpferische Kraft des Individuums entgegen.
Die Hölle, wie er sie in seinen visionären Proverbs of Hell zeichnet, war in seiner Vorstellung kein
Ort der Qual, sondern eine Quelle dionysischer Energien, befreit von moralischen Konventionen
und institutionalisierter Religion. Viele Zeitgenossen legten seine Visionen als Wahnsinn aus; Blake
selbst jedoch sah sich als Medium einer jenseitigen Welt.
Sein wohl bekanntestes Werk – aus dem auch die meisten Texte von Brittens Liederzyklus stammen
– ist sicherlich die zweiteilige Gedichtsammlung Songs of Innocence and of Experience. Deren
62
erster Teil, Songs of Innocence, wurde von Blake bereits 1789 in kleiner Auflage und mit eigenen
Illustrationen herausgegeben. Fünf Jahre später erweiterte er die Sammlung um einen zweiten Teil,
Songs of Experience, und gab sie unter dem Namen Songs of Innocence and of Experience Showing
the Two Contrary States of the Human Soul heraus. Die beiden Teilen stehen zueinander in einer
polaren Beziehung und greifen den existenziellen Gegensatz zwischen Miltons mythischen
Urzuständen „Paradise“ und „Fall“ auf. Dieser Dualismus zeigt sich besonders in jenen Gedichten,
die in beiden Teilen unter demselben Titel aufscheinen, sich jedoch inhaltlich konträr zueinander
verhalten (Holy Thursday, The Chimney Sweeper, Nurse's Song), bzw. deren Titel jeweils eine
komplementäre Entsprechung haben (Infant Joy – Infant Sorrow, The Tyger – The Lamb, The
Blossom – The Sick Rose).
Der erste Teil ist Blakes Vision einer Welt vor dem
Sündenfall
bzw.
eines
von
Erfahrung
noch
unbeschädigten Lebens; Blake selbst beschrieb die
Songs of Innocence lapidar als „happy songs“.169 Der
Verzicht auf jede individuelle Metaphorik, die
zahlreichen Wiederholungen in Wortwahl, Rhythmus
und Lautmalerei sowie die vornehmlich statische
Beschreibung unschuldig-kindlichen Glücksgefühls
zeugen von einer – freilich nur scheinbaren – naiven
Grundhaltung.
Häufig
wiederkehrende
Symbole
unschuldiger Liebe evozieren eine von Konflikten,
Ängsten und Zweifeln freie Welt, in der es – ähnlich
wie in Jean-Jacques Rousseaus Naturzustand – noch
keine Entfremdung zwischen Mensch und Natur gibt.
Abb. 19: Titelseite von Songs of Innocence and of
Experience
Der zweite Teil hingegen ist die Schilderung der Menschheit nach dem Sündenfall, und zwar mit
deutlichen Seitenhieben auf die damalige gesellschaftliche und politische Situation. Blakes
wütendes Aufbegehren gegen institutionalisierten Zwang und gesellschaftliche Versklavung, das ihn
auch für die Französische Revolution Partei ergreifen ließ, richtete sich ebenso gegen die Kirche
(The Garden of Love. Littel Vagabond) wie gegen soziales Elend (The Chimney Sweeper, Holy
Thursday, Infant Sorrow, London). Als Symbolfiguren der Unterdrückung erscheinen immer wieder
der jugendliche Kaminkehrer, der Soldat und die Hure.
169
Vgl. Radler, Kindlers neues Literatur Lexikon, S. 743.
63
3.4.2 Entstehungsgeschichte und Überblick
1965 nahm Britten auf den Rat seines Arztes hin eine Pause von Konzertreisen und seiner
Dirigiertätigkeit.170 Britten und Pears entschieden sich, auf Urlaub nach Indien zu gehen. Nach der
Rückkehr entstand Songs and Proverbs of William Blake, op. 74. Es ist sein einziger Liederzyklus,
der explizit für Bariton komponiert ist. Britten widmete das Werk dem großen deutschen Sänger
Dietrich Fischer-Dieskau, der auch als Solist in der Uraufführung des War Requiem sang. Im
Vorwort steht: „To Dieter, the past and the future.“ Die Uraufführung fand mit Fischer-Dieskau und
Britten selbst im Juni 1965 im Rahmen des Aldeburgh-Festivals statt, kurz darauf wurde es
aufgenommen.
Britten hatte bereits in seiner Spring Symphony, in A Charm of Lullabies und in der Elegy seiner
Serenade for Tenor, Horn and Strings Gedichte von William Blake vertont. Songs and Proverbs of
William Blake ist, ungewöhnlich für Britten, als ein zusammenhängender, durchkomponierter
Zyklus konzipiert und besteht aus sieben Liedern, denen jeweils ein epigrammatisches Vorspiel
vorausgeht. Jedes Stück folgt ohne Pause nahtlos in das nächste; die Aufführungsdauer beträgt rund
20 Minuten. Britten und Pears stellten den Text selbst zusammen: Die ersten 6 Songs stammen aus
den Songs of Experience, die dazugehörigen Proverbs aus den Proverbs of Hell; der siebte und
letzte Song mitsamt Proverb ist hingegen dem längeren Gedicht Auguries of Innocence entnommen.
Die düstere, desillusionierte Stimmung dieser großen Vision Blakes zieht sich, von Britten
musikalisch kongenial umgesetzt, in großer Intensität durch den gesamten Zyklus.
Wie in einem Ritornell treten in den Proverbs die 12 Noten der chromatischen Skala auf,
zusammengefasst in drei Gruppen zu je vier Noten: e-dis-d-g, cis-c-h-fis, b-a-gis-f. Während
zwischen den ersten drei Tönen jeder Gruppe immer das Intervall einer kleinen Sekunde besteht,
vergrößert sich das jeweils letzte Intervall von einer kleinen Terz über eine reine Quart bis hin zu
einer reinen Quint. Die ersten drei Töne der ersten Gruppe erscheinen in den beiden anderen
Gruppen jeweils eine kleine Terz nach unten transponiert, der letzte Ton der ersten Gruppe dagegen
wird jeweils einen Halbton nach unten versetzt. Diese Art der Reihenkonstruktion zeugt von
Brittens Beschäftigung mit der Zweiten Wiener Schule. Die Anordnung der drei Gruppen sowie der
vier Töne innerhalb jeder Gruppe wird in jedem Proverb variiert. Diese Art der Ritornellgestaltung
weist Ähnlichkeiten mit den Zwischenspielen der 1954 komponierten Kammeroper The Turn of the
Screw auf. Die regelmäßig schreitende Klavierbegleitung und die psalmodierende Singstimme sind
rhythmisch nicht genau synchronisiert (eine Technik, die Britten bereits im Jahr davor in Curlew
River erprobt hatte), wodurch eine eigentümlich schwebende Wirkung entsteht. Die letzten beiden
170
Vgl. Matthews, Britten, S. 138.
64
Proverbs greifen zudem musikalisches Material des vorherigen Liedes auf bzw. nehmen das des
folgenden Liedes vorweg: Die Halbtonpendel-Figur des fünften Stückes (The Fly) beschleunigt sich
im sechsten Proverb zu einem Tremolo, welches im sechsten Lied (Ah! Sun-Flower) auf die Dauer
einer Vierteilnote verkürzt und Teil der Begleitfigur wird. Diese Tremolofigur wird schließlich am
Ende des Liedes isoliert und zum Ausgangsmaterial für das siebte und letzte Proverb, das wiederum
organisch und fast unmerklich in das letzte Lied (Every Night and Every Morn) überleitet.
Dem ersten Lied London liegt eine bewegte, wellenartige Klavierfigur zugrunde, deren
Polyrhythmik (Achtelquintolen über Vierteltriolen) ein Gefühl der Unruhe und Instabilität
vermittelt. Darüber erklingt die Stimme in streng metrischer Rhythmik und schlichter Melodik, um
die sozialen Missstände der Stadt anzuklagen, wie Blake sie mit Beginn der Industrialisierung in
London Tag für Tag hautnah erlebt hatte. Die langen Phrasen, die im forte beginnen und im piano in
einer für einen Bariton schwachen Lage enden, sind wie geschaffen für die Virtuosität,
hervorragende Atemkontrolle und Lungenkapazität von Fischer-Dieskau.171
The Chimney-Sweeper handelt vom Missbrauch der Kinderarbeit. Das Klavier zeichnet in hohen
und klaren Klängen die klirrende Kälte einer trostlosen Winterszene nach. Ein Junge hockt
verlassen von seinen Eltern im Schnee, um Schornsteine zu fegen, während diese selbst in der
Kirche beten. Blakes Wortspiel mit „[s]weep“ (deutsch: fegen bzw. weinen) verkörpert diese Trauer,
die Britten hinter der tänzerischen, spielerisch-figurativen Musik versteckt und nur gelegentlich
durchblitzen lässt. Über große Sekunden und Terzen versichert der Junge, glücklich zu sein, aber
der stockende Gestus des Gesangs verrät seine wirklichen Gefühle. In der letzten Zeile führt die
Melodie der Singstimme bei „who make up a heaven of our misery“ in die Tiefe, während im
Klavier weiterhin im höchsten Register die Schneeflocken tanzen.
In der Mitte des Zyklus steht das umfangreichste Lied, A Poison Tree, das den menschlichen
Sündenfall im Garten Eden widerspiegelt. Die Zwölftonmelodik der Singstimme in den ersten
Zeilen erzeugt in Kombination mit den parallel verschobenen düsteren Mollakkorden des Klaviers
eine bedrohliche Grundstimmung. Es beginnt mit einer beinahe statischen, minimalen Bewegung,
aber nach und nach beginnt der Groll und Ärger zu wachsen und die Musik bewegt sich unerbittlich
auf ihren schrecklichen Höhepunkt zu.
The Tyger, Blakes wohl meistzitiertes und -interpretiertes Gedicht, erklingt im Zyklus als Scherzo,
ohne jedoch von der düsteren Grundstimmung abzuweichen. Der Gesang offenbart eine kaum
zurückgehaltene Wut und die aufgestaute Energie wird durch die unruhig springenden
Klavierfiguren noch befördert.
171
Vgl. Christopher Palmer, The Britten Companion, London, 1984, S.301
65
The Fly ist ein sanftmütiger Kontrast zur ernsten Schwere der restlichen Stücke; der unregelmäßige
Flug der Fliege wird durch die leichtfüßige, synkopierte Halbtonfigur in der Klavierbegleitung
dargestellt. In Blakes Vergleich des Menschen mit Raubtier und Insekt stellt sich uns die Frage nach
unserem gemeinsamen Ursprung und unseren Zielen: Sind wir denn wirklich so anders?
Die schwere Basslinie des vorletzten Lied, Ah, Sunflower, drückt sehr wirkungsvoll eine lang
gehegte Erwartung aus. Die wechselhaften dynamischen Anweisungen erinnern an die sich im Wind
wiegenden Sonnenblumen. Sie skizzieren in den letzten Akkorden auf „Where my Sun-flower
wishes to go“ ein transzendentes Bild von Ewigkeit, das thematisch im siebten Proverb fortgeführt
wird: „To see a World in a Grain of Sand“.
Die Gesangsstimme schöpft hier den gesamten
Zwölftonvorrat aus, die letzte Viertongruppe bildet
die Basis für die Begleitung des letzten Liedes Every
Night and Every Morn. Bei diesem handelt es sich
um
ein
resignatives
Lamento
über
ostinate
Bassfiguren, das die Widrigkeiten des Lebens
beklagt. Es bewegt sich sanft und stabil in einer
Stimmung der Resignation und führt zu einem kurzen
Höhepunkt auf dem Wort „light“, der jedoch schnell
wieder abklingt. Die Begleitfigur wird schließlich am
Ende des Zyklus über den Text „To those who Dwell
in Realms of Day“ aufgelöst, woraufhin der Zyklus
mit einem leisen F-Dur-Akkord schließt.
Abb. 20: William Blake, Ancient of Days.
66
3.4.3 Beispielanalyse Proverb VII und Every Night and Every Morn
Dieses Proverb und Lied sind die einzigen Stücke des Zyklus, deren Text nicht aus den Songs of
Innocence
bzw. den Proverbs of Hell stammt, sondern dem längeren Gedicht Auguries of
Innocence (Weissagungen der Unschuld) aus dem Jahre 1803 entnommen ist. Britten und Pears
nahmen davon nur die erste 4 Zeilen für das Proverb und die letzte 14 Zeilen für das Lied. Das
originale Gedicht enthält keine Satzzeichen, wodurch zwei zeitliche Ebenen zugleich dargestellt
werden: eine rasche Geschwindigkeit mit dynamischen Rhythmen und ruhende grenzenlose
Ewigkeit. In diesem Gedicht kommen verschiedene Tiere und Menschen in allen möglichen
Situationen vor, die exemplarisch für das Leben selbst sind. Die letzten 14 Zeilen stellen quasi eine
Zusammenfassung des gesamten Gedichts dar; im Kontext des Zyklus bilden sie das Fazit der
vorhergehenden 6 Sprüche und 6 Lieder und wenden abschließend den Blick vom Besonderen hin
zum Allgemeinen in Form einer großen mystischen Schau.
AUGURIES OF INNOCENCE
To see a World in a Grain of Sand
And a Heaven in a Wild Flower
Hold Infinity in the palm of your hand
And Eternity in an hour
A Robin Red breast in a Cage
Puts all Heaven in a Rage
A dove house fill’d with doves & Pigeons
Shudders Hell thro all its regions
A dog starvd at his Masters Gate
Predicts the ruin of the State
A Horse misusd upon the Road
Calls to Heaven for Human blood
Each outcry of the hunted Hare
A fibre from the Brain does tear
A Skylark wounded in the wing
A Cherubim does cease to sing
The Game Cock clipd & armd for fight
Does the Rising Sun affright
Every Wolfs & Lions howl
67
Raises from Hell a Human Soul
The wild deer wandring her & there
Keeps the Human Soul from Care
The Lamb misusd breeds Public strife
And yet forgives the Butchers Knife
The Bat that flits at close of Eve
Has left the Brain that wont Believe
The Owl that calls upon the Night
Speaks the Unbelievers fright
He who shall hurt the little Wren
Shall never be belovd by Men
He who the Ox to wrath has movd
Shall never be by Woman lovd
The wanton Boy that kills the Fly
Shall feel the Spiders enmity
He who torments the Chafers sprite
Weaves a Bower in endless Night
The Caterpillar on the Leaf
Repeats to thee thy Mothers grief
Kill not the Moth nor Butterfly
For the Last Judgment draweth nigh
He who shall train the Horse to War
Shall never pass the Polar Bar
The Beggars Dog & Widows Cat
Feed them & thou wilt grow fat
The Gnat that sings his Summers song
Poison gets from Slanders tongue
The poison of the Snake & Newt
Is the sweat of Envys Foot
The Poison of the Honey Bee
Is the Artists Jealousy
The Princes Robes & Beggars Rags
Are Toadstools on the Misers Bags
A truth thats told with bad intent
Beats all the Lies you can invent
68
It is right it should be so
Man was made for Joy & Woe
And when this we rightly know
Thro the World we safely go
Joy & Woe are woven fine
A Clothing for the Soul divine
Under every grief & pine
Runs a joy with silken twine
The Babe is more than swadling Bands
Throughout all these Human Lands
Tools were made & Born were hands
Every Farmer Understands
Every Tear from Every Eye
Becomes a Babe in Eternity
This is caught by Females bright
And returnd to its own delight
The Bleat the Bark Bellow & Roar
Are Waves that Beat on Heavens Shore
The Babe that weeps the Rod beneath
Writes Revenge in realms of Death
The Beggars Rags fluttering in Air
Does to Rags the Heavens tear
The Soldier armd with Sword & Gun
Palsied strikes the Summers Sun
The poor Mans Farthing is worth more
Than all the Gold on Africs Shore
One Mite wrung from the Labrers hands
Shall buy & sell the Misers Lands
Or if protected from on high
Does the whole Nation sell & buy
He who mocks the Infants Faith
Shall be mock`d in Age & Death
He who shall teach the Child to Doubt
The rotting Grave shall neer get out
He who respects the Infants faith
69
Triumphs over Hell & Death
The Childs Toys & the Old Mans Reasons
Are the Fruits of the Two seasons
The Questioner who sits so sly
Shall never know how to Reply
He who replies to words of Doubt
Doth put the Light of Knowledge out
The Strongest Poison ever known
Came from Caesars Laurel Crown
Nought can deform the Human Race
Like to the Armours iron brace
When Gold & Gems adorn the Plow
To peaceful Arts shall Envy Bow
A Riddle or the Crickets Cry
Is to Doubt a fit Reply
The Emmets Inch & Eagles Mile
Make Lame Philosophy to smile
He who Doubts from what he sees
Will neer Believe do what you Please
If the Sun & Moon should Doubt
Theyd immediately Go out
To be in a Passion you Good may do
But no Good if a Passion is in you
The Whore & Gambler by the State
Licencd build that Nations Fate
The Harlots cry from Street to Street
Shall weave old Englands winding Sheet
The Winners Shout the Losers Curse
Dance before dead Englands Hearse
Every Night & every Morn
Some to Misery are Born
Every Morn & every Night
Some are Born to sweet delight
Some are Born to sweet delight
Some are Born to Endless Night
70
We are led to Believe a Lie
When we see not Thro the Eye
Which was Born in a Night to perish in a Night
When the Soul Slept in Beams of Light
God Appears & God is Light
To those poor Souls who dwell in Night
But does a Human Form Display
To those who Dwell in Realms of day172
Proverb VII
Sprichwort VII
To see a World in a Grain of Sand,
Die Welt zu sehn im Korn aus Sand,
And a Heaven in a Wild Flower,
Das Firmament im Blumenbunde,
Hold Infinity in the palm of your hand,
Unendlichkeit halt' in der Hand
And Eternity in an hour.
Und Ewigkeit in einer Stunde.
Der Inhalt der ersten vier Zeilen lässt sich auf viele
verschiedene Arten interpretieren: als Fraktal, als
Symbol für Samsara oder als Ausdruck einer
pantheistischen Welthaltung.
Fraktal ist ein mathematischer Begriff, der bestimmte
natürliche oder künstliche Gebilde oder geometrische
Muster bezeichnet, die selbstähnliche Eigenschaften
aufweisen, d. h. dass ein Muster innerhalb desselben
Musters immer wiederkehrt. Ein sehr bekanntes
Abb. 21: Fraktal
Beispiel ist das sogenannte Sierpinski-Dreieck, aber
auch in der Natur lassen sich fraktalähnliche
Strukturen beobachten, vor allem bei Pflanzen. Die in vielen mystischen Strömungen verbreitete
Vorstellung der Einheit von Mikro- und Makrokosmos lässt sich auch als Fraktal verstehen.
Samsara ist die Bezeichnung für den immerwährenden Zyklus des Seins, den Kreislauf von
Werden und Vergehen oder den Kreislauf der Wiedergeburten in den indischen Religionen
172
William Blake, Auguries of Innocence in: The Complete Poetry & Prose of William Blake, hrsg. von David V.
Erdman, New York 1988, S. 490.
71
Hinduismus, Buddhismus und Jainismus. (Songs and Proverbs of William Blake entstand kurz nach
Brittens Indienreise.) Die Zeile „And Eternity in an hour“ lässt sich so deuten, dass eine Stunde und
die Ewigkeit miteinander verbunden sind und dass somit alles räumlich und zeitlich eine Einheit
bildet.
Pantheismus zeichnet sich durch die Auffassung aus, dass Gott eins mit dem Kosmos und der Natur
sei und daher in allen Dingen der Welt existiere bzw. mit der Welt identisch sei. In den ersten drei
Zeilen des Spruchs, insbesondere in dem Bild „a Heaven in a Wild Flower“, kommt eine solche
Haltung deutlich zum Ausdruck. Pantheistische Strömungen findet man bereits bei den alten
Griechen, aber auch bei Mystikern des Mittelalters; sie wurden von der Katholischen Kirche mit
dem Atheismus gleichgesetzt und entsprechend verfolgt, weil für die offizielle Kirchenlehre Gott
transzendent und daher von der Welt grundverschieden sein müsse. Blake selbst stand mit der
Amtskirche zeit seines Lebens in Konflikt.
Um diesen philosophische Inhalt auszudrücken, verwendet Britten im Proverb auch alle zwölf
Töne, denn in der Zwölftontechnik ist jeder Ton gleichwertig und ähnlich wie im Fraktal finden sich
Eigenschaften auf der Makroebene (der Reihe) in der Mikroebene wieder (Motive, Akkorde). Eine
religiöse-metaphysische Deutung der Zwölftonmethode findet sich beispielsweise im Werk Josef
Hauers (Österreich, 1883-1959), insbesondere in dessen Idee des „Zwölftonspiels“, in welchem die
Reihentechnik das Abbild eines kosmischen Ordnungsprinzips ist. Brittens Kompositionstechnik
kann im Vergleich zu den Komponisten der europäischen und amerikanischen Avantgarde als eher
konservativ bezeichnet werden; wenn er jedoch zu avancierteren Mitteln greift, so geschieht dies
immer in sehr effektiver und bedeutungsvoller Weise.
Die Gesangslinie des Proverb erinnert an einen christlichen Choral oder ein in einer buddhistischen
Messe rezitiertes Sutra. Sie fließt sanft und großmütig und wird quasi gesprochen oder erzählend
vorgetragen. Die Klavierbegleitung im hohen Register erscheint hingegen wie eine aus der Ferne
klingende Glocke und trägt zur rituellen Atmosphäre bei. Im Gegensatz zu den vorhergehenden
Proverbs und deren gravitätisch schreitenden Viertelnoten besteht diese ausschließlich aus
gehaltenen Akkorden (mit kurzem Tremolo) und vermittelt so ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Sie
stellt am Beginn jedes Taktes die Töne der jeweiligen Viertongruppe vor, welche anschließend von
der Stimme aufgegriffen werden. Die letzte Viertongruppe mit den Tönen f, gis, a und b (T. 4) stellt
den Ausgangspunkt für die Überleitung zum letzten Lied dar. In T. 5 erscheint, noch während die
Singstimme die letzte Phrase zu Ende singt, wie aus dem Nichts eine Klavierbegleitung, in der die
besagte Viertongruppe in der rechten Hand als sanft repetierter Akkord (in Viertelnoten) und in der
linken Hand als ostinate Bassfigur (in Achtelnoten) ausgeführt wird. Die Viertongruppe wird
72
kurzfristig um die Töne h und c erweitert, wodurch sich ein Dreivierteltakt ergibt, und anschließend
wieder auf die Grundgestalt reduziert. Die gleichmäßigen Akkorde der rechten Hand, die endlose
Kreisfigur in der linken Hand sowie die statische Harmonik eröffnet dem/der HörerIn einen weiten
zeitlosen Raum, wo er/sie sich auf das nun folgende letzte Lied einstimmen kann.
Every Night and every Morn
Jede Nacht und jeden Morgen
Every night and every morn
Jede Nacht und jeden Morgen
Some to Misery are Born.
Wachen manche auf in Sorgen.
Every Night & every Morn
Jeden Morgen, jede Nacht
Some are Born to sweet delight.
Zum Entzücken wer erwacht.
Some are born to sweet delight,
Manche sind zum Entzücken erwacht,
Some are born to endless night.
Manche geboren zu endloser Nacht.
We are led to believe a lie
Wir werden einer Lüge glauben,
When we see not thro' the eye,
Wenn wir nicht sehn durch unsre Augen,
Which was born in a night to perish in a night
Die geboren in Nacht, zu vergehen im Nichts,
When the soul slept in beams of light.
Als die Seele schlief in Strahlen des Lichts.
God appears, and God is light,
Gott erscheint und Gott ist Licht
To those poor souls who dwell in night;
Den Seelen, welche Nacht umflicht;
But does a human form display
Doch er weist sein menschlich Bild
To those who dwell in realms of day.
Jenen, die der Tag umhüllt.
Das Gedicht nimmt unterschiedliche Blickwinkel ein: Die erste Strophe beschreibt von einem
neutralen Standpunkt aus die existenzielle Situation des Menschen und schafft darin eine besondere
Aura. Die zweite Strophe hingegen beginnt in der ersten Person Plural („We are“) und wechselt
somit plötzlich die Erzählperspektive. Die Worte zeugen von einer lebendigen Erfahrung, der Inhalt
des Gedichts wirkt überzeugend und realistisch. Der Beginn der dritten Strophe richtet den Fokus
des Lesers auf ein einzelnes Wort, nämlich „God“, um schließlich wieder zum Menschen
zurückzukehren.
Das Lied führt das Modell am Ende des Proverbs weiter. Während die rechte Hand sanft, aber
beharrlich Akkorde im Viertelpuls anschlägt, dominiert in der linken Hand ein kreisendes
73
Achtelnotenmotiv aus vier Tönen (die Viertongruppe f, g#, a, b), wobei der Ton f die Funktion
eines Zentraltons einnimmt. Diese melodische Zelle wird in den darauffolgenden Takten ständig
erweitert, einerseits indem Töne hinzugefügt werden (wodurch es zu Taktwechseln kommt),
andererseits indem die Intervallstruktur variiert wird.
Das ganze Lied hindurch herrscht eine dunkle
Atmosphäre vor, gleichzeitig wird der Text
feinfühlig und unauffällig ausgeleuchtet. Wenn
beispielsweise in T. 17173 vom Wort „delight“
die Rede ist, erreicht die sich bis dahin
vornehmlich in Sekundschritten entwickelnde
Phrase ihren dynamischen Höhepunkt auf dem
bis dahin höchsten Ton es2; die Stimme erreicht
eine deutlich höhere Lage und die Harmonik
Abb. 21: William Blake, Whirlwind of Lovers
wendet sich plötzlich hin zu einer anderen
(Illustration zu Dantes Inferno)
Viertongruppe (d, es, e, g) mit es als Zentralton.
Die Phrase „Some are Born to sweet delight“ wird daraufhin gleich wiederholt, jedoch sofort durch
ihr Gegenteil „Some are Born to Endless Night.“ ergänzt. Diese Polarität wird von Britten
musikalisch subtil unterstrichen, indem die zweite Phrase eine (ungenaue) Umkehrung der ersten
darstellt. Während bei dieser auf dem Wort „sweet [delight]“ (T. 22) eine kleine Sext nach oben
erklingt, führt bei jener auf „Endless [night]“ (T. 26) die Stimme eine große Sext nach unten und
erreicht damit den tiefsten Ton des Stückes (b). Zusammen mit dem Diminuendo ins pianissimo
scheint die Musik in diesem Moment, passend zum Text, in die tiefe schwarze Nacht zu versinken.
Hier lässt sich außerdem die raffinierte Handhabung des Tonmaterials durch den Komponisten
erkennen. Die Klavierbegleitung in T. 27-29 stellt eine Verschränkung des Vorhergehenden dar: Das
rhythmische Modell in beiden Händen wird zwar unverändert weitergeführt, jedoch spielt die rechte
Hand nun die Töne der Singstimme in der einen Phrase („sweet delight“) als Dreiklang (g, d, es),
während die linke Hand das Modell aus T. 17 mit dem Motiv b-ces-es der Singstimme in der
anderen Phrase („Endless Night“) kombiniert. Das, was vorher als Gegensatz nebeneinander gestellt
wurde, erklingt nun simultan.
Britten führt dies noch einen Schritt weiter. Mit dem Einsatz der zweiten Strophe (und deren
Perspektivenwechsel) erklingt in der linken Hand eine freie Fortspinnung des vorgehenden
Viertonmotivs, die fünfzehn Takte lang andauert und in der rechten Hand konsequent gespiegelt
wird. (Letzteres trifft streng genommen nur auf die Bewegungsrichtung zu, bei den einzelnen
173
Anmerkung: Die Zählung beginnt mit Einsatz der Singstimme.
74
Intervallen nimmt sich Britten einige Freiheiten.)
Das Tempo wird etwas angezogen („with
movement“), die Dynamik verbleibt aber im piano und steigert sich erst in den drei Takten vor dem
Höhepunkt in T. 46.
Eine besonders raffinierte Stelle ist T. 37. Auf dem Text „When we see not Thro' the Eye“ landen
alle drei Stimmen für einen kurzen Moment gleichzeitig auf dem Ton a – und zwar ausgerechnet
auf dem Wort „Eye“. Die Thematik des Sehens wird durch eine besonders „durchsichtige“
musikalische Struktur (Oktaven) illustriert; für einen kurzen Moment scheint plötzlich Klarheit zu
herrschen.
Die Illustration von Gegensätzlichkeit durch Spiegelung finden wir wieder in T. 39-42. Die jeweils
zweitaktige Phrase der Singstimme ist eine „gestauchte“ Version des Bassmotivs aus T. 27, einmal
in originaler Bewegungsrichtung („Born in a Night“), einmal als Umkehrung („perish in a Night“).
In T. 45 – ein Takt vor dem Höhepunkt – bricht die bis dahin starre rhythmische Struktur plötzlich
auf, es kommt zu einem auskomponierten Accelerando über Achteltriolen bis hin zu Sechzehntel
und man hat das Gefühl, die Sonne bricht aus den Wolken. Auf dem Wort „Light“ setzt daraufhin im
forte das Klavier mit einer neuen Struktur ein. Der Abstand zwischen beiden Händen ist groß und
das rhythmische Modell vom Beginn des Stückes erscheint nun in vertauschter Form: Während die
linke Hand in tiefer Lage schwere Akkorde im Viertelpuls anschlägt, spielt die rechte Hand im
hohen Register ein zweistimmiges Ostinato aus jeweils vier Achtelnoten, das sich wiederum auf das
Bassmotiv aus T. 27 zurückführen lässt. Diese Struktur erfährt wiederum eine Fortspinnung und
klingt langsam ab.
In T. 58 kehrt das Stück zur Viertongruppe des Beginns zurück. Das Motiv f-gis-b-a stellt den Krebs
des Bassmotivs am Beginn des Stückes dar (f-a-b-gis-[f]), es wird über fast vier Oktaven nach oben
und wieder nach unten arpeggiert, wobei linke und rechte Hand um eine Achtelnote voneinander
versetzt erklingen. Mit der Zeile „To those who Dwell in Realms of Day“ kehrt das Stück langsam
zur ursprünglichen rhythmischen, melodischen und harmonischen Struktur zurück. Ab T. 69 wird
die kontinuierliche Bewegung aufgebrochen, zusammen mit dem Rallentando scheint die Musik
fast in Stillstand zu geraten. Im vorletzten Takt erklingen im Bass noch einige Reizdissonanzen, die
sich schließlich im letzten Takt im zartesten pianissimo in einen F-Dur-Akkord auflösen.
75
Zusammenfassung
Durch diese Arbeit wurde herausgearbeitet, wie die Situation des Künstlers sich direkt auf den
künstlerischen Prozess auswirkt. Betrachtet wurde nicht nur, wie persönlich prägende Erfahrungen
die Inspiration zu bestimmten künstlerischen Inhalten liefern, sondern auch wie die Konstellation
privater und beruflicher Beziehungen gewisse Vorbedingungen schafft, ohne die die konkrete
Gestalt des Kunstwerks nicht ausreichend erklärt werden kann. Dies ist im Falle Benjamin Brittens
insbesondere in der Partnerschaft zu Peter Pears und der daraus entstandenen musikalischen
Produktion evident, aber auch die persönliche Bekanntschaft und Freundschaft mit Dichtern wie
W. H. Auden schlägt sich unmittelbar in konkreten Werken nieder.
Führt man die Linie über den unmittelbaren privaten Bereich hinaus, gelangt man schnell in das
Gebiet der (Musik-)Soziologie. Bestimmte historisch-gesellschaftliche Ereignisse und Tatsachen
finden ihren unmittelbaren Niederschlag in Brittens künstlerischem Schaffen; dies ist allerdings
nicht bei allen Komponisten/innen in solchem Ausmaß und solcher Eindeutigkeit der Fall. Brittens
pazifistische Grundhaltung, seine sozialistischen Ideen, sein Einsatz gegen jede Form der
Unterdrückung und seine sexuelle Orientierung drängten ihn zeit seines Lebens in eine
Außenseiterposition. Aufgrund letzterer führt er zudem eine Existenz am Rande der Legalität
(Homosexualität war zu jener Zeit in vielen Ländern noch strafbar), das nach Verstecken und
Verdrängung verlangte. So verwundert es auch wenig, dass sich einige dieser Inhalte in seinen
Werken manifestieren, am deutlichsten in seinen Opern. Ähnlich wie Schostakowitsch zur selben
Zeit in der Sowjetunion bedurfte Britten des Mediums Kunst, um sich in symbolischer und
allegorischer Form frei äußern zu können.
Dass Musik jedoch weit mehr ist als das Ins-Werk-Setzen unbewusster psychischer Inhalte,
beweisen die Analysen des dritten Teils. Hier wird deutlich, dass Britten tief in der europäischen
Tradition verwurzelt ist und seine Werke bei genauerer Betrachtung ein hohes Ausmaß an
musikalischer Konstruktion aufweisen. Dass jene jedoch nicht nur Selbstzweck ist, sondern im
Dienste einer höheren Idee steht, wird besonders in der Betrachtung des dritten Liederzyklus Songs
and Proverbs of William Blake klar. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft mit großen
Komponisten wie Bach, Beethoven, Berg oder Messiaen.
Es bleibt zu wünschen, dass die Qualitäten Benjamin Brittens als Lied- und Opernkomponist in
Zukunft in Mitteleuropa auf breitere Anerkennung stoßen und sein musikalisches Schaffen tiefer im
Konzertrepertoire verankert ist. Hier gäbe es noch einiges zu entdecken.
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Quellennachweise
Literaturverzeichnis:
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Bildverzeichnis:
Abb.1 : http://www.classicfm.com/composers/britten/guides/benjamin-britten-life-pictures/
Abb.2 :http://www.ft.com/cms/s/0/6ce00642-6ce1-11deaf5600144feabdc0.html#axzz3ZxQWkOek
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Abb.4: http://www.musicweb-international.com/bridge/
Abb.5: http://www.trevor-bray-music-research.co.uk/Bridge/letters_3.html
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Abb.7: http://oe1.orf.at/programm/355323
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Abb.9: http://de.wikipedia.org/wiki/Mstislaw_Leopoldowitsch_Rostropowitsch
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Abb.18:http://commons.wikimedia.org/wiki/File:William_Blake,_painter_and_poet_
%28page_50%29.png
Abb.19: www.blakearchive.org/exist/blake/archive/object.xq?objectid=songsie.aa.illbk.01&java=no
Abb.20: http://www.wikiart.org/en/william-blake/the-ancient-of-days-1794
Abb.21: http://delta.math.sci.osaka-u.ac.jp/jikkensugaku2012/120713fractal/index.html
Abb.22:http://ayay.co.uk/art/surrealist/william_blake/whirlwind-of-lovers-illustration-to-dantesinferno/
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Anhang
Notenbeispiele:
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