Benjamin Britten als Liedkomponist
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Benjamin Britten als Liedkomponist
Benjamin Britten als Liedkomponist Hanae Kato Klavier-Vokalbegleitung Wissenschaftliche Masterarbeit an der Kunstuniversität Graz Betreuer: Ao.Univ.Prof. Mag.phil. Dr.phil. Harald Haslmayr Kurzzusammenfassung Die Arbeit thematisiert Benjamin Brittens Leben und künstlerischen Werk und widmet sich dabei insbesondere seinem Liedschaffen. Neben einem umfangreichen und detaillierten biografischen Teil, der Britten innerhalb der damaligen gesellschaftlichen und künstlerischen Umstände zu verorten sucht, betrachtet die Autorin drei von Brittens Liederzyklen aus unterschiedlichen Schaffensperioden, wobei jeweils ein repräsentatives Stück einer genauen musikalischen Analyse unterzogen wird. Die Arbeit vereint damit unterschiedliche musikwissenschaftliche Zugänge, um ein möglichst umfassendes Bild von Benjamin Britten Schaffen zeichnen zu können. Abstract This thesis seeks to adress the live and creative work of Benjamin Britten, giving special attention to his vocal oeuvre. Besides a comprehensive and detailed biographic section which tries to locate Britten's role within society and art at that time, the author examines three of Britten's song cycles, each of them from a different period, with always one song being analysed in detail. Within the thesis, several musicological approaches are combined to give an extensive picture of Britten's work. 2 Inhaltsverzeichnis Vorwort …........................................................................................................................................ S. 1 Einleitung ….....................................................................................................................................S. 2 1 Biografie …................................................................................................................................... S. 4 1.1 Frühe Kindheit ….......................................................................................................... S. 4 1.2 Eine entscheidende Begegnung …................................................................................ S. 7 1.3 Studium in London …................................................................................................... S. 9 1.4 Karriere als Komponist …............................................................................................. S. 11 1.5 Aufenthalt in Amerika …...............................................................................................S. 15 1.6 Zurück in Suffolk, England …...................................................................................... S. 19 1.7 Peter Grimes …............................................................................................................ S. 21 1.8 Das Aldeburgh-Festival ............................................................................................... S. 24 1.9 Britten als Opernkomponist …..................................................................................... S. 26 1.10 Erfolg und seine Freundeskreis ….............................................................................. S. 30 1.11 Brittens letzte Oper: Death in Venice…........................................................................S. 34 2 Britten als Vokalkomponist ….......................................................................................................S. 38 2.1 Einflüsse …................................................................................................................... S. 38 2.2 Werke …........................................................................................................................ S. 40 2.3 Peter Pears …................................................................................................................ S. 42 3. Betrachtung ausgewählter Liederzyklen …................................................................................. S. 45 3.1 Begründung der Liedauswahl …................................................................................ S. 45 3.2 On this Island …............................................................................................................S. 46 3.2.1 W. H. Auden …............................................................................................. S. 46 3.2.2 Entstehungsgeschichte ….............................................................................. S. 49 3.2.3 Analyse …..................................................................................................... S. 50 3.3 Winter Words …............................................................................................................. S. 53 3.3.1 Thomas Hardy …...........................................................................................S. 53 3.3.2 Entstehungsgeschichte ….............................................................................. S. 54 3.3.3 Analyse …......................................................................................................S. 56 3.4 Songs and Proverbs of William Blake ….......................................................................S. 60 3.4.1 William Blake …........................................................................................... S. 60 3.4.2 Entstehungsgeschiche …............................................................................... S. 62 3.4.3 Analyse …......................................................................................................S. 65 Zusammenfassung …....................................................................................................................... S. 74 Quellenverzeichnis …...................................................................................................................... S. 75 Anhang …........................................................................................................................................ S. 78 3 Vorwort Ziel der vorliegenden wissenschaftlichen Masterarbeit ist es, Benjamin Brittens Bedeutung und seine individuellen Qualitäten als Vokalkomponist aufzuzeigen und sein Werk damit einem größeren Personenkreis näherzubringen. Obwohl Britten im angloamerikanischen Raum von Anfang an als einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts anerkannt wurde, führt sein Schaffen in Mitteleuropa noch immer ein Schattendasein. Die Autorin selbst wurde an die Musik Brittens durch ihren Lehrer Prof. Julius Drake herangeführt. Sein Unterricht, sein Klavierspiel und seine Persönlichkeit hat sie tief beeindruckt und stark geprägt, darum ist diese Arbeit auch ihm gewidmet. Wenn auch die Instrumentalmusik Brittens in Kontinentaleuropa noch auf ihre Entdeckung wartet, haben seine Opern und Lieder schon längst einen Fixplatz im klassischen Konzertbetrieb eingenommen. Dennoch gibt es kaum deutschsprachige Literatur zur Person Britten, geschweige denn zu seinem musikalischen Werk. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass in diesem Text zum größten Teil auf englischsprachige Literatur verwiesen wird. Häufig kommen darin ehemalige Weggefährten Brittens zu Wort, deren persönliche Schilderungen hier zitiert werden, um dem/der Leser/in ein plastisches Bild der damaligen Zeit und Umstände zu geben. Diesem musiksoziologischen Ansatz ist der sehr ausführliche biografische Teil am Beginn geschuldet, dieser wird jedoch durch eine musikhistorische Einordnung im zweiten Teil sowie durch detaillierte musikalische Analysen im dritten Teil ergänzt. Der Text kann interessierten Musikerinnen und Musikern dabei helfen, einen besseren Zugang zu Benjamin Brittens Vokalmusik zu finden. Die Autorin wünscht sich, dass der/die Leser/in zur weiterführenden selbstständigen Beschäftigung angeregt wird, im Lesen wie auch im Hören und Spielen. 4 Einleitung Der Text ist in drei Teile gegliedert: Der erste Teil umfasst eine detaillierte und umfangreiche Darstellung der Biografie Benjamin Brittens, von seiner frühen Kindheit bis zu seinen letzten Lebensjahren. Neben der privaten Lebensgeschichte wird insbesondere auch der berufliche und musikalische Werdegang nachgezeichnet. Dies soll dazu dienen, Brittens Musik aus den verschiedenen Schaffensperioden in einen entsprechenden historischen, gesellschaftlichen und persönlichen Kontext stellen zu können, und bietet somit die Grundlage für die übrigen zwei Teile, von denen der nächste Brittens Rolle als Vokalkomponist untersucht. Zunächst werden die musikalischen und literarischen Einflüsse auf Brittens Liedschaffen aufgezeigt, mit einem besonderen Fokus auf die Rolle Henry Purcells. Auf eine vollständige Auflistung der von Britten komponierten Lieder folgt schließlich eine kurze Darstellung der Beziehung zwischen Britten und dem Sänger Peter Pears, sowohl im Beruflichen als auch im Privaten. Diese ist im biografischen Teil bereits angeklungen, soll aber nun noch etwas konkretisiert werden. Es handelt sich gewissermaßen um die Vorbereitung für den dritten, analytischen Teil, in welchem drei unterschiedliche Liederzyklen Brittens (On this Island, Winter Words und Songs and Proverbs of William Blake) besprochen werden, die in verschiedenen Schaffensperioden entstanden sind. Die ersten beiden Zyklen wurden explizit für Peter Pears komponiert; im dritten, dem großen Sänger Dietrich Fischer-Diskau gewidmeten Zyklus Songs and Proverbs of William Blake war Pears für die Textauswahl und -zusammenstellung verantwortlich. Jede Darstellung folgt dabei demselben Schema: Zuerst wird der jeweilige Dichter der Textvorlage vorgestellt, dann wird die Entstehungsgeschichte erläutert und ein knapper Überblick über den gesamten Zyklus gegeben. Anschließend wird ein bestimmtes Stück exemplarisch ausgewählt und Text und Musik einer detaillierten poetischen bzw. musikalischen Analyse unterzogen. Neben innertextlichen und innermusikalischen Strukturen soll vor allem das Verhältnis zwischen Text und Musik untersucht werden, um als Ergebnis Brittens jeweiligen kompositorischen Ansatz der Textvertonung erfassen zu können. 5 1 Biografie 1.1 Frühe Kindheit „my life as child was coloured by the fierce storms that sometimes drove ships on to our coast and ate away whole stretches of the neighbouring cliffs.“1 Benjamin Britten wurde als viertes und jüngstes Kind des Zahnarztes Robert Victor und dessen Ehefrau Edith Rhoda Britten am 22. November 1913 in Lowestoft, gelegen in der ostenglischen Grafschaft Suffolk in England, geboren. Der 22. November ist der Tag der heiligen Cäcilie, der römische Märtyrerin, die seit dem 15. Jahrhundert als Patronin für alle Musiker verehrt wird. Abb. 1: Britten am Schoß seiner Mutter Drei Monate nach seiner Geburt kämpfte der kleine Benjamin Britten mit einer Lungenentzündung und hohem Fieber. Die Familie bangte um sein Leben. Er überlebte die Krankheit, aber es blieb eine Herzschwäche, die ihm in späteren Jahren zum Verhängnis wird. Er konnte nicht gut einschlafen, deswegen musste seine Mutter Edith für ihn singen. Es war die erste Musik, die er hörte. Nach der Aussage seines Kindheitsfreundes Basil Reeve und auch seiner Schwester Beth war die Mutter eine Amateursängerin mit einer Mezzosopran-Stimme.2 Seine Mutter hatte einen starken Charakter und großen Ehrgeiz bezüglich ihres Sohnes. Mit fünf Jahren begann Britten mit dem Klavierspiel, außerdem entstanden erste Kompositionen unter mütterlicher Anleitung. Viele Jahren später, als seine Oper Peter Grimes in Europa aufgeführt wurde, erzählte er in einer Radiosendung über seinen ersten Kompositionsversuch: „I remember the first time I tried, the result looked rather like the Forth Bridge... hundreds of dots all over the page connected by long lines all joined together in beautiful curves. I am afraid it was the pattern on the paper which I was interested in and when I asked my mother to play it, her look of horror upset me considerably. My next efforts were much more conscious of sound. I had started playing the piano and wrote elaborate tone poems usually lasting about twenty seconds, inspired by 1 2 Paul Kildea, Britten on Music, New York 2003, S. 50. Vgl. David Matthews, Britten, London 2003, S. 3. 6 terrific events in my home life such as the departure of my father for (a day in) London, the appearance in my life of a new girl friend, or even a wreck at sea. My later efforts luckily got away from these (purely) emotional inspirations.“ 3 Obwohl sein Vater selbst kein Instrument spielte, förderte dieser die Hausmusik in der Familie. Um schädliche Einflüsse zu vermeiden, verbot er Radio und Grammophon. Er war jedoch skeptisch, was eine mögliche musikalische Laufbahn seines Sohnes betraf. Der schon erwähnte Freund Basil Reeve, der selbst ein guter Pianist war, erinnerte sich: „Er konnte nicht sich vorstellen, dass Ben musikalisch einmal irgendwas erreichen würde ..., dass überhaupt jemand hieraus eine Existenz gründen könne ..., Er war ein ziemlich strenger Mensch ..., gleichwohl eine gutgesinnte Persönlichkeit.“4 Im Jahr 1921 schickte Edith Britten ihren Sohn zur ortsansässigen Klavierlehrerin Ethel Astle, die auch an der privaten Vorbereitungsschule für die Public School tätig war. Er machte in kürzester Zeit enorme spielerische Fortschritte, konnte nun seine Mutter am Klavier begleiten oder vierhändig mit dem Organisten der St.-Johns-Kirche spielen.5 Zum neunten Geburtstag schenkte ihm sein Onkel Willie ein Buch: A Dictionary of Musical Term von Stainer und Barrett, daraufhin entwickelten sich seine Kompositionsversuche noch weiter.6 Seine erste richtige Komposition war ein Kreis von zwölf Liedern für Mezzosopran- und Alt-Stimme. Darin Abb. 2: Britten mit sieben Jahren am Klavier. enthalten sind u. a. O that I had neér been married und Beware!. Beware! nach Longfellow handelt von einem undurchschaubaren und unberechenbaren Mädchen, vor dem man sich hüten muss: I know a maiden fair to see, Take care! She can both false and friendly be, Beware! Beware! Trust her not, She is fooling thee! 3 4 5 6 Imogen Holst, Britten (Great Composers), London 1966, S. 1. Norbert Abels, Benjamin Britten, Hamburg 2008, S. 14. Vgl. ebenda, S. 19. Vgl. Matthews, Britten, S. 5. 7 She has two eyes, so soft and brown, Take care! She gives a side-glance and looks down, Beware! Beware! Trust her not, She is fooling thee! Abb. 3: Manuskript von Beware! von Benjamin Britten. 8 1.2 Eine entscheidende Begegnung Im Jahr 1923 begann er auch Bratsche bei Audrey Alston zu lernen, die eine Freundin von Edith Britten war. Im Triennial-Festival in Norwich im Oktober 1924 spielte Audrey Alston in einem Streichquartett und nahm Britten mit zum Festival. Neben vielen anderen Stücken wurde auch Frank Bridges Orchestersuite The Sea gespielt.7 Brittens Eindruck: „I was knocked sideways.“ 8 Dieses Erlebnis war entscheidend für Brittens weitere Laufbahn als Komponist. Beim nächsten Triennial-Festival im Jahr 1927 war Britten wieder anwesend. Diesmal wurde das von Frank Bridge für Orchester komponierte Tongemälde Enter Spring uraufgeführt, das von der Kritik verrissen wurde, Britten aber stark interessierte. Da Bridge bei Mrs. Alston wohnte, wurde er ihm dort nach dem Konzert vorgestellt. Bridge ließ sich am nächsten Tag Brittens Kompositionen zeigen und erkannte sofort das Potenzial. Gegen seine Gewohnheit entschloss er sich dazu, ihn als Schüler anzunehmen. Er empfahl ihm auch, Klavierstunden bei seinem Freund Harold Samuel zu nehmen, der am Royal College of Music unterrichtete. Brittens wohl wichtigster Abschnitt seiner musikalischen Lehrzeit begann.9 Frank Bridge (1879-1941) begann als englischer Romantiker wie seine Zeitgenossen Vaughan Williams (1872-1958) und Gustav Holst (1874-1934). The Sea (1910) ist ein gutes Beispiel für seinen frühen Stil. In den folgenden Jahren entwickelte er fortschrittliche seine Richtung musikalische und Sprache verarbeitete in dabei eine die harmonischen Innovationen von Debussy, Ravel und Skriabin, später auch von Schönberg, Berg und Bartók. In der Mitte der Abb. 4: Frank Bridge 1920er Jahre war wahrscheinlich kein englischer Komponist so interessiert an den kontinentalen Entwicklungen wie Bridge und Brittens modernistische Tendenzen in seiner Zeit als Teenager geht größtenteils auf den Einfluss von Bridge zurück.10 Neben dem bereits erwähnten Enter Spring befinden sich unter seinen reifen und bedeutenden Werken das Stück Oration (1930) für Cello und Orchester – ein leidenschaftlicher Protest gegen den ersten Weltkrieg von Seiten der Opfer – sowie das dritte und vierte Streichquartett. Bridge war auch ein guter Bratschist und erfahrener Dirigent.11 In den Schulferien fuhr Britten zur Familie Bridge nach Eastbourne oder London. Britten erinnerte 7 8 9 10 11 Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 22. Sunday Telegraph, Britten looking back, London 17. 11. 1963, S. 9, zitiert in Kildea, Britten on Music, S. 250. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 22. Vgl. Matthews, Britten, S. 8. Vgl. ebenda. 9 sich später an seine Stunden und erzählte: „I remember one that started at half past ten, and at tea-time Mrs. Bridge came in and said, 'Really, you must give him a break.' Often I used to end these marathons in tears; not that he was beastly to me, but the concentrated strain was too much for me.“12 Bridges Methode war: „to play every passage slowly on the piano and say, 'Now listen to this – is this what you want?' ... And he really taught me to take as much trouble as I possibly could over every passage, over every progression, over every line.“13 Die Kompositionsstunden bei Bridge zeigten bald viele Ergebnisse. Obwohl Beethoven und Brahms die musikalische Götter seiner Teenager-Zeit waren, lernte der vierzehnjährige Britten, von seinem Lehrer ermutigt, allmählich moderne Komponisten seiner Zeit kennen und versuchte sich in fortgeschritteneren musikalischen Wendungen. Zwischen April 1926 und dem Zeitpunkt, als er Bridge traf, komponierte er folgende Werke: Five Poems, Suite fantastique für Klavier und Orchester, eine Symphonie für Riesenorchester mit acht Waldhörnern und Oboe d'amore, Variationen mit dem Titel Chaos and Cosmos. Zwei weitere Orchesterstücke, komponiert in den ersten Monaten des Jahres 1928, zeigen deutlich die Einflüsse von Bridges orchestraler Kompositionstechnik.14 Bridge brachte ihm auch Arnold Schönbergs Zwölftontechnik bei. Außerdem besuchten sie einmal gemeinsam ein Konzert mit der Londoner Erstaufführung von Stravinskys Symphony of Psalms im Jahr 1931. Bridge meinte, dass es ein Meisterwerk sei. 15 Die Stunden bei Bridge endeten erst, als Britten 1930 an das Royal College of Music in London ging. Bridge und seine Ehefrau hatten kein Kind, deswegen war Britten für ihn wie ein Sohn. Britten und Bridge führten eine tief verbundene, liebevolle Freundschaft bis zu Bridges Tod im Jahr 1941.16 Abb. 5: Hiawatha Coleridge-Taylor, seine Frau Kathleen Markwell, Benjamin Britten, Ethel Bridge and Frank Bridge, 12. August 1935. 12 13 14 15 16 Kildea, Britten on Music, S. 250. Donald Mitchell und Philipp Reed, Letters from a Life: The selected Letters and Diaries of Benjamin Britten, London, 1991, S. 101. Vgl. Matthews, Britten, S. 11. Michael Oliver, Benjamin Britten, London, 1996, S. 23. Vgl. Matthews, Britten, S. 9. 10 1.3 Studium in London „I am thinking much about modernism in art. Debating whether Impressionism, Expressionism, Classicism, etc. are right. I have half decided on Schönberg. I adore Picasso´s pictures.“17 Im Mai 1930 bot das Royal College of Music in London ein musikalisches Stipendium an und Britten bewarb sich dafür. Er sendete eine Mappe mit aktuellen Werken von ihm, inklusive zweier Vokalwerke, die später veröffentlicht wurden: ein Lied The Birds, Text von Hilaire Belloc, und Wealden Trio für Frauenstimme, Text von Ford Madox. Einige Wochen später wurde er gebeten, für die Aufnahmeprüfung nach London zu kommen.18 Die schriftliche Prüfung fand er nicht schwer, bei der mündlichen Prüfung waren Vaughan Williams, John Ireland und Sydney Waddington (Theorie-Lehrer) anwesend. Einer der drei Professoren sagte zu Brittens Mutter: „What is an English public-school boy doing writing music of this kind?“ 19 Britten schaffte die Prüfung und erhielt ein Vollstipendium. Für den Anfang fand er ein winziges Zimmer in London, das er mit seiner Schwester Beth gelegentlich teilte. Im Zimmer stand auch ein rot gestrichenes Klavier, endlich konnte er ohne Unterbrechung arbeiten.20 Sein Lehrer war John Ireland, ein damals 50-jähriger sehr bekannter Komponist in England, der politisch der extremen Linken nahestand. Britten besuchte einmal dessen Haus und war erstaunt, dass Ireland dort wie ein Bohème lebte. 21 Er erzählte seiner Schwester Beth, dass er manchmal sehr betrunken oder skrupellos war. Die Musik dieses „stöhnenden Elend“ – so Brittens jugendlicher Freund Wulff Scherchen22 – wirkte auf Britten verstaubt spätromantisch. Ein neuer Wind schien darin nicht zu wehen. Er fand das Royal College nicht besonders anregend. „The attitude of most of the RCM students was amateurish and folksy“ 23,,schrieb er 1959. Im RCM wollte er gern mehr zeitgenössische Musik kennenlernen, aber es schien, als ob es dort wenige Gelegenheiten dazu gab. Als er in der Bibliothek eine Partitur von Schönbergs Pierrot Lunaire suchte, fand er heraus, dass diese überhaupt nicht im Katalog war. Danach meldete er es als empfehlenswertes Buch, aber es wurde abgelehnt. (Er selbst hatte natürlich schon seine Partitur zu Hause.) Stattdessen begegnete er dort 17 18 19 20 21 22 23 Aus Brittens unveröffentlichem Tagebuch, April 1930, zitiert in Matthews, Britten, S. 13. Vgl. Matthews, Britten, S. 16. Holst, Britten, S. 23. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 28. Vgl. Matthews, Britten, S. 18. Abels, Benjamin Britten, S. 29. High Fidelity Magazin, Dezember 1959, zitiert in Matthews, Britten, S. 17. 11 der Musik Purcells, in dem er einen Geistesverwandten erkannte.24 Seine wichtigste Entdeckung in der damaligen Zeit war Gustav Mahler, der ihn sein Leben lang begleiten sollte. Ein weiterer Anknüpfungspunkt war Franz Schubert: In beiden Komponisten spürte er wahrscheinlich Visionen der Kindheit, die man mithilfe der Musik zurückgewinnen konnte.25 1931 gewann er den Ernest-Farrar-Preis für Komposition, welcher an den in der Somme-Schlacht gefallenen Komponisten und Kriegsgegner erinnern sollte. Brittens eigene politischen Ansichten wurden immer mehr von pazifistischen Ideen geprägt.26 Im Jahr 1933 kam die öffentliche Aufführung von Brittens Sinfonietta, op. 1 im Mercury-Theater in London zustande. Der Londoner Daily Telegraph schrieb am 1. Februar: „Benjamin Britten... kann so provokant sein wie sonst nur die ausländischen Vertreter des Catch-as-catch-canKompositionsstils.“27 Ein Jahr zuvor wurden im selben Theater seine Three Two-part Songs aufgeführt. Britten meinte später über die damalige Kritik: „The only written criticism of this performance damned them entirely – as being obvious copies of Walton´s three facade Songs... It is easy to imagine the damping effect of this first notice on a younger composer. I was furious and dismayed because I could see there was not a word of truth in it. I was also considerably discouraged. No friendliness – no word of encouragement – no perception. Was this the critical treatment which one would expect all one´s life? A gloomy outlook. I decided to avoid reading critics from that day onwards.“28 Die Simple Symphony, op. 4 entstand auch im gleichen Jahr, kurz vor Weihnachten. Ende des Jahres absolvierte er seine Klavierabschlussprüfung. Er wusste, dass das Virtuosentum mit seiner Zukunft nichts zu tun haben würde. „How I´m going to make my pennies Heaven only knows.“ 29 Britten hatte recht, weil er nie ein professioneller Solist wurde, trotzdem gab er 1938 seinen ersten Klavierabend. Er war auch immer ein toller Begleiter auf hohem Niveau. Die vielversprechenden musikalischen Erfolge wurden überschattet von der Angst um den sich verschlechternden Gesundheitszustand seines Vaters.30 Während des letzten Studienjahres im RAC erhielt er ein kleines Reisestipendium. Britten wünschte sich nach Wien zu gehen, um eine Stunde bei Alban Berg zu nehmen, der ihn tief beeindruckte. Frank Bridge war auch dafür. Die Widerstände seitens des RAC und seiner Eltern waren jedoch zu 24 25 26 27 28 29 30 Vgl. Holst, Britten, S. 24. Vgl. Matthews, Britten, S. 20. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 29. Ebenda, S. 31. Opera 3/3, März 1952, zitiert in Kildea, Britten on Music, New Yourk, 2003, S.115 Aus Brittens unveröffentlichtem Tagebuch, Dezember 1930, zitiert in Matthews, Britten, S. 19. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 33. 12 groß und so musste er seinen Plan aufgeben: „There was at the time an almost moral prejudice against serial music... I think also that there was some confusion in my parents minds – thinking that 'not a good influence' meant morally, not musically. They had been shown in my later school days.”31 Statt nach Wien ging er nach Italien. Dort erhielt er ein Telegramm von seiner Mutter, die ihn über den bedrohlichen gesundheitlichen Zustand des Vaters informierte. Er packte schnell seine Sachen und kehrte zurück, es war jedoch leider schon zu spät. Als Britten das Telegramm in der Hand hielt, war der Vater bereits verstorben.32 Für die Beerdigung wählte er die Musik aus, u. a. das von ihm komponierte und dem Vater gewidmete Vokalwerk A Boy was born.33 In seinen späteren Werke verwendete er gelegentlich die Zwölftontechnik Schönbergs – in Turn of the Screw, A Midsummer Night´s Dream, Cantata Academica, Owen Wingrave und Death in Venice – aber die Zwölftontechnik ist immer in die Tonalität eingebettet. 34 Von der Vokalmusik A Boy Was Born, 1933 komponiert, kann man sagen, dass sie denkbar weit von Bergs und Schönbergs Expressionismus ist. Er suchte und fand eine frische Beziehung zum traditionellen englischen Choral. Damals war er auch noch praktizierender Katholik, deswegen hatte der von Britten selbst verfasste Text eine ehrliche religiöse Bedeutung.35 Die auf Brittens Talent aufmerksam gewordene BBC nahm dieses Stück für eine Radiosendung auf. Nach dem Tod des Vaters war er gezwungen eine Arbeit zu finden. „When I was nineteen I had to set about earning my living. I was determined to do it through composition: it was the only thing I cared about and I was sure it was possible.“36 1.4 Karriere als Komponist Anfang des Jahres 1934 war Britten gerade erst 20 Jahre alt und hatte schon seine formelle Ausbildung beendet. Er zog zurück in seine Heimat Lowestoft. Er war sicher, seinen Lebensunterhalt als Komponist zu verdienen, aber in dieser Zeit gab es sehr wenige englische Komponisten, die nur von der Komposition leben konnten. Vaughan Williams hatte ein zusätzliches privates Einkommen und William Walton konnte einige Jahre lang nur durch die Unterstützung 31 32 33 34 35 36 Sunday Telegraph, Britten looking back, London 17. 11. 1963, S. 9, zitiert in Kildea, Britten on Music, S. 252. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 34. Vgl. ebenda. Vgl. Matthews, Britten, S. 27. Vgl. ebenda. Holst, Britten, S. 26. 13 seitens der Familie Sitwell seine Zeit der Musik widmen. 37 Im Oktober 1934 unternahm Britten gemeinsam mit seiner Mutter eine Reise nach Basel, Salzburg und Wien – es wurde durch das Geld aus seinem Reisestipendium finanziert. Alban Berg war gerade nicht anwesend, er konnte ihn daher nicht treffen. Stattdessen ergab sich eine Freundschaft mit dem Dirigenten Erwin Stein, der damals Redakteur bei der Universal Edition war und 10 Jahre später Brittens persönlicher Redakteur bei Boosey & Hawks und ein treuer Begleiter werden sollte. Stein war ein Schüler von Schönberg und ein Anhänger Mahlers; sie hatten also vieles gemeinsam.38 Nach der Reise kehrte er wieder nach London zurück, um dort zu leben. Da fand er einen Ausweg aus seinen Geldsorgen: Aufgrund einer Empfehlung der BBC wurde ihm von der General Post Office´s Film Unit angeboten, für den Dokumentarfilm The King´s Stamp die Musik zu schreiben. Britten akzeptierte das Angebot und verstand sofort, worum es ging. „I had to write scores for not more than six or seven players, and to make those instrument make all the effects that each film demanded. I also had to be ingenious and try to imitate the studio unloading in a dock. We had pails of water which we slopped everywhere, drain-pipes with coal slipping down them, whistles, and every kind of paraphernalia we could think of.“39 Er schrieb Musik für mehr als 25 Filme innerhalb von eineinhalb Jahren, meistens für Dokumentarfilme, aber auch für Science-Fiction-Filme. Für GPO Film Unit wurden die Partituren meistens von einer Gruppe junger Künstler und Intellektueller verfasst, unter der Aufsicht des Dokumentarfilm-Produzenten John Grierson. Einige Mitglieder dieser Gruppe waren politisch links.40 Am 5. Juli 1935 hatte Britten einen Termin, um mit einem Lehrer an der Downs School über Abb. 6: Benjamin Britten mit W. H. Auden künftige Filmprojekte zu sprechen. Dieser Lehrer war Wystan Hugh Auden, ein in England längst bekannter Dichter, fast sieben Jahre älter als Britten und ehemaliger Schüler der Greham-Schule, die auch Britten besuchte. Er war ein bekennender Homosexueller und ein Nonkonformist. 41 „He is a very startling personality – but absolutely sincere and very brilliant. He has a very wide knowledge, not only of course of literature, but of every branch of art, and especially of politics; this last in the direction that I can't help feeling every serious person, and artists especially, must 37 38 39 40 41 Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 46. Vgl. Matthews, Britten, S. 30. Holst, Britten, S. 26. Vgl. Matthews, Britten, S. 31. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 37. 14 have. Strong opposition in every direction to Facism, which of course restricts all freedom of thought.”42 Britten erschien sehr jung für Auden, aber er erkannte allmählich seine außergewöhnliche Musikalität und nahm ihn in seine Gruppe von Künstlern auf. Auden, Stephen Spender und Cecil Day Lewis waren Dichter, Christopher Isherwood war Schriftsteller, Coldstream war ein Maler und Britten war nun der Komponist.43 Die künstlerische Zusammenarbeit zwischen Britten und Auden begann 1935 und dauerte bis zum Beginn der fünfziger Jahre an. Es entstanden dabei eine Oper, vier Filme, drei Theaterstücke, Musik für den Rundfunk und eine Reihe von Liedvertonungen, zum Beispiel Our Hunting Fathers, On this Island, Cabaret Songs, Ballad of Heroes und Hymn of St. Cecilia. Auden beeinflusste Britten sowohl persönlich als auch künstlerisch.44 Einmal nahm Auden Britten zum Westminster Theater mit, um gemeinsam das Stück The Dance of Death und The Dog Beneath the Skin anzusehen und ihm dabei die weiteren Mitglieder der Gruppe vorzustellen: Isherwood und seine Freunde von der Theatergruppe, Direktor Rupert Doone und sein Partner, den Designer Robert Medley. Alle waren homosexuell oder bisexuell. Es ist möglich, dass Britten durch die Freundschaft mit Auden sich seiner Homosexualität erst richtig bewusst wurde.45 Im Jahr 1936 kam eine Anfrage vom Norwich Festival: Der Organisator bat Britten, ein Stück für Solo-Stimme und Orchester zu schreiben. Er komponierte daraufhin Our Hunting Fathers über einen Text von Auden. Es handelt vom Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Britten dirigierte selbst das London Philharmonic Orchester. Das Publikum war sehr höflich, aber es war deutlich verunsichert. Sogar Frank Bridge war skeptisch. Brittens Mutter sagte zu ihrer Freundin: „Oh, I do hope Ben will write something that somebody will like.“46 Im gleichen Jahr flog er für die Aufführung seiner Suite für Violine und Klavier, op. 6 nach Barcelona, wo ein Festival der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik stattfand. Dort verbrachte er einen Tag mit zwei neuen Freunden, die auch an dem Festival teilnahmen, nämlich der Komponist Lennox Berkeley und dessen Freund Peter Burra, ein angehender Schriftsteller. Burra war ein alter College-Freund von Peter Pears, von dem noch die Rede sein wird.47 In Oktober zog Britten mit seiner Schwester in die neue Wohnung in der Finchley Road in London 42 43 44 45 46 47 Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 378. Vgl. Matthews, Britten, S. 32. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 38. Vgl. Matthews, Britten, S. 33. Humphrey Carpenter, Benjamin Britten: A Biography, London 1992, S. 88. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 42. 15 um. Dort war auch ein Zimmer, das für den Besuch seiner Mutter verwendet werden konnte. Zu Neujahr wurden Britten und Beth krank, beide wurden Opfer einer furchtbaren Grippewelle. Britten erholte sich bald, aber die Mutter kam, um die arme Beth zu pflegen, die mit hohem Fieber im Bett lag. Dabei wurde sie jedoch selbst krank, sie holte sich eine Lungenentzündung. Während Beth sich erholte und schließlich gesund wurde, verschlimmerte sich der Zustand der Mutter. Am 31. Januar 1937 erlitt sie einen starken Herzanfall und starb. 48 „It is a terrible feeling, this loneliness, and the very happy & beautiful memories I have of Mum don't make it any easier – tho' perhaps they should, but then I expect there is something wrong about my philosophy of life. Anyhow I'm blessed with a grand family, and things like this bring one very close together.”49 Dann geschah ein weiteres Unglück. Peter Burra, den Britten in Barcelona kennengelernt hatte, starb am 27. April beim Absturz einer kleinen Privatmaschine. Er fuhr nach Bucklebury zur Beerdigung. Am Tag darauf traf er sich mit Burras Freund Peter Pears, dem er einige Wochen davor bei einer Lunch-Party begegnet war. Er bat Britten, ihm beim Ordnen des Nachlasses zu helfen. Durch diesen tragischen Zwischenfall miteinander verbunden, entwickelte sich langsam eine Beziehung. 50 Als Britten seine Mutter verlor, war er erst 23. Es ist verständlich, dass sich seine Freundschaft zu Pears besonders nach dem Tod der Eltern festigte. Pears schützte ihn oft vor der öffentlichen Meinung und vor Kritikern, und er nahm seine Angst vor der Gesellschaft. Pears hatte angeblich eine sehr ähnliche Stimme wie Brittens Mutter,51 wodurch Abb. 7: Benjamin Britten und Peter Pears sich Britten bei ihm geborgen fühlte. Im Vergleich zur Selbstsicherheit Pears in Bezug auf dessen Homosexualität hatte Britten eine Abneigung gegenüber einer sexuellen Beziehung gezeigt. Er bewegte sich zwar in homosexuellen Kreisen, aber in den 1930er Jahren war Homosexualität in England noch illegal und konnte mit langjähriger Haft bestraft werden. (Trotz einer Forderung zur Entkriminalisierung im WolfendenReport 1957 wurde das Gesetz bis zum Jahr 1967 nicht geändert.) Britten selbst hatte auch einmal ein Gespräch mit der Polizei wegen seiner Homosexualität. Es ist in unserer liberalen Zeit kaum 48 49 50 51 Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 43. Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 476. Vgl. Matthews, Britten, S. 41. Graham Johnson, Britten, Voice and Piano, London, 2003, S. 11. 16 vorstellbar, wie Britten damals wegen seines Schuldbewusstseins litt.52 Trotz seines schwierigen Privatlebens hatte er weiter Erfolg als Komponist. Im August 1937 gab es eine Aufführung von Variation on a Thema of Frank Bridge für Streichorchester bei den Salzburger Festspielen. Diese Chance bekam er durch den Dirigenten Boyed Nell; Britten akzeptierte sein Angebot sofort und schrieb dieses 25-minütige Stück in einem Monat. Es war sehr erfolgreich und wurde in den darauffolgenden zwei Jahren mehr als fünfzig Mal in Europa und Amerika gespielt.53 In dieser Zeit kaufte Britten ein Haus in Snape bei Aldeburgh, weil sein Familienhaus in Lowestoft nach dem Tod der Eltern verkauft worden war. Er lud viele Freunde dorthin ein und begründete viele musikalische Kooperationen. Einer von diesen Freunden, der amerikanische Komponist Aaron Copland, besuchte ihn dort im Jahr 1938. Er beschrieb diesen Aufenthalt später: „I can still recall the week-end I spent there and the excitement of exchanging ideas with a newfound composer friend, Benjamin Britten, then aged twenty-four. ... I had with me the proofs of my school opera, The Second Hurricane, composed for young people of fourteen to seventeen. It had been performed the previous year by a group of talented students at a lower East Side settlement school in New York. It didn't take much persuasion to get me to play it from start to finish, singing all the parts of the principals and chorus in the usual composer fashion. Britten seemed pleased. Less than a year after this visit, he was on his way to North America. Perhaps our meeting in Snape had some part in his decision to try his luck abroad.”54 1.5 Aufenthalt in Amerika Am 19. Februar 1936 entsandte Hitler einen Sonderbotschafter nach London, um den ersten Einmarsch der Nazis ins Rheinland zu rechtfertigen. Die europäische Sicherheit war in Gefahr und Britten ahnte auch, was mit England passieren würde. Es gab mehrere Gründe dafür, warum er damals überhaupt geplant hat, nach Amerika zu gehen: Frank Bridge hatte mehr Erfolg in Amerika als in seinem Heimatland; Pears war schon zweimal mit seiner Sängergruppe dort; Auden und Isherwood waren wegen der politischen Situation, die in Europa gravierend schien, bereits nach New York umgezogen. Britten fühlte sich unruhig, wie er später erzählte: „Many of us young people at that time felt that Europa was more or less finished.” 55 Britten und Pears gingen am 29. April 1939 an Bord des Schiffs Austonia. Frank Bridge nahm 52 53 54 55 Vgl. Matthews, Britten, S. 42. Vgl. Holst, Britten, S. 27. Ebenda, S. 28 Oliver, Benjamin Britten, S. 71. 17 Abschied von beiden und er schenkte ihnen seine eigene italienische Bratsche – eine echte Giussani – mit dem Gruß „bon voyage“, aber auch „bon retour“. 56 Er sollte seinen Schüler nicht mehr wiedersehen, denn zwei Jahre später starb er im Alter von 62. Am 10. Mai kamen sie in Montreal an. Nach einem einmonatigen Aufenthalt in Kanada besuchten sie kurz Grand Rapids, Michigan, das auf dem Weg nach New York lag. In der Zwischenzeit hatte sich die Beziehung zwischen Britten und Pears geändert, denn sie wurden ein Liebespaar. An diesem Moment schrieb er jedoch einen Brief an Wulf Scherchen: „It is awful how much you mean to me...“. Wahrscheinlich verhielt es sich zu diesem Zeitpunkt so: Wulf war seine Muse und Pears war seine Realität.57 In New York trafen Britten und Pears Aaron Copland. Sie verbrachten den Rest des Sommers in Woodstock, NY, und mieteten ein Studio in der Nähe von Coplands Haus. Britten schrieb dort Les Illuminations, Young Apollo (Wulf Scherchen gewidmet) sowie das Violin-Concert op. 15 für den spanischen Geiger Antonil Brosa. 58 Im August wechselten Britten und Pears wieder den Wohnort, nämlich nach Amityville in Long Island zu Elisabeth Mayer. Pears lernte sie während seines letzten Besuchs in Amerika kennen. Mayer war nach dem Aufstieg der Nazis zusammen mit ihrer Familie aus Deutschland emmigriert. Sie lud Britten und Pears ein, bei ihr zu wohnen, und zwar so lange, wie sie wollten. 59 Britten schrieb an Anid Slater über Frau Mayer: “She is one of those grand people who have been essential through the ages for the production of art; really sympathetic and enthusiastic, with instinctive good taste (in all the arts) and a great friend of thousands of those poor fish-artists. She is never happy unless she has them all round her - ... I think she's one of the few really good people in the world - and I find her essential in these times when one has rather lost faith in human nature.”60 Pears plante, am Ende des Sommers nach England zurückzukehren, und reservierte auch schon einen Platz in der Queen Mary. Britten versuchte Pears zu überzeigen, noch in Amerika zu bleiben, – eine weise Voraussicht, denn der Weltkrieg begann bereits am 3. September. 61 Die britischen Behören empfahlen Britten, angesichts der Kriegssituation in den USA zu bleiben, 62 und die neue Karriere in Amerika sah vielversprechend aus. Er hielte noch den Kontakt mit der BBC (viele 56 57 58 59 60 61 62 Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 74. Vgl. Matthews, Britten, S. 53. Ebenda, S.51 Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 77. Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 724. Vgl. Matthews, Britten, S. 56. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 78. 18 europäische Erstaufführungen der während seiner Zeit in den USA komponierten Werke gingen von ihr aus) und dem Verlag Boosey and Hawkes, der gerade ein neues Büro in New York hatte. Die amerikanische Erstaufführung von Variation on a Thema of Frank Bridge in New York wurde positiv aufgenommen, genauso das Klavierkonzert in Chicago. Die Erstaufführung des ViolinConcert op. 15 fand am März 1941 in New York unter der Leitung von John Barbirolli statt. Den Winter 1939/1940 verbrachten Britten und Pears in bei Auden in Brooklyn, New York. Sein Haus war gewissermaßen eine Künstlerkolonie. Dort trafen sich auch viele Anhänger der amerikanischen Linken. Britten empfand das Haus als ein einziges geistiges und künstlerisches Zentrum, wie er es in diesem Land noch nicht angetroffen hatte. 63 Er komponierte dort die Michelangelo-Sonette, op. 22, die Peter Pears gewidmet sind. Dazu komponierten Britten und Auden gemeinsam eine Operette für Kinder mit dem Titel Paul Bunyan. Grundlage der Handlung ist eine amerikanische Sage über einen riesenhaften Holzfäller. Die Musik ist von Purcells King Authur beeinflusst, aber auch von balinesischer Gamelan-Musik – vermittelt durch Colin McPhee, den Britten in Amityville kennengelernt hatte. 64 Das Stück wurde im Mai 1941 an der ColumbiaUniversität New York uraufgeführt und es erhielt mehrheitlich negative Reaktionen. Auden und Britten waren der Meinung, dass es bearbeitet werden musste. Britten verlor jedoch das Vertrauen in dieses Stück und zog es zurück. Erst in den letzten Jahren seines Lebens fand er zu ihm zurück und unterzog es einer Revision.65 Im Jahr 1940 begann er eine Symphonie schreiben, nachdem von der japanischen Regierung zur 2600-Jahre-Feier der Tenno-Dynastie (direkt übersetzt „Himmelskind“, entspricht dem euroäischen Kaiser) ein europäisches Musikwerk in Auftrag gegeben wurde. Für diesen Anlass durfte er eine beliebige Form wählen. Er entschied sich für eine Symphonia da Requiem, mit christlicher Assoziation und zum Gedenken an seine Eltern. Es ist schon schwer zu glauben, dass er sich vorstellen konnte, dass dieses Stück für den Auftrag geeignet sei. Es war auch eine klare Reaktion auf den Krieg, der damals in Europa beherrschte,66 und wurde von der japanischen Kommission als gezielte Provokation und offenkundige Beleidigung aufgefasst. (Britten erhielt jedoch ein Honorar und verwendete dieses für ein Auto.)67 Das Stück wurde bald darauf in New York unter der Leitung von Barbirolli aufgeführt. Während Britten sich in den USA aufhielt, erzählte die deutsche Kriegsmarine im Seekrieg gegen Großbritannien mehrere Siege. Britten schrieb an seine Geschwister in England, denn er hatte 63 64 65 66 67 Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 60. Vgl. ebenda S. 56. Vgl. Matthews, Britten, S. 56. Vgl. ebenda S. 58. Vgl. ebenda S. 58. 19 Angst um ihr Leben. Er versuchte auch, seine Schwester Beth und deren Familie nach Amerika zu holen. Andererseits begann ihn das Heimweh zu plagen. Auden besaß damals schon die amerikanische Staatsbürgerschaft und es gab eine Zeit, wo auch Britten darüber nachdachte. Aber er wusste, dass es für ihn unmöglich sein würde, als Emigrant dort zu leben, wo er keine Wurzeln hatte. Er wurde auch depressiv, denn er konnte es nicht aushalten, dass er während der Kriegszeit nirgendwohin zu gehören schien. Diese gespannte stressige Situation machte ihn auch physisch krank, mehrere Monate lang konnte er viele Arbeiten nicht erledigen und er hörte schließlich auf zu komponieren.68 Er hatte einige gute Freunde, die ihm helfen konnten. Sie sagten ihm, dass er nicht alleine sei, und auch andere Künstler krank werden wegen der Angst und Unentschlossenheit. Ein Dichter und Schriftsteller William Plomer meinte: „Disease is a kind of protest of the individual against his environment, and when this protest is against not only the way that his life but the way that the world is ordered, then the disease is deep-seated indeed.”69 Während er im Juli 1941 sich in Kalifornien aufhielt, fand der zufällig eine Kopie der wöchentlich von der BBC herausgegeben Zeitschrift The Listener und las darin einen Artikel von E. M. Forsters über den britischen Dichter George Crabbe. Da stand: „To talk about Crabbe is to talk about England. He never left our shores... He did not go to London much, but lived in villages and small country towns. He was born at Aldeburgh, on the coast of Suffolk. It is a break little place, not beautiful. It huddles round a flint-towered church and sprawls down to the North Sea – and what a wallop the sea makes as it pounds at the shingle! Nearby is a quay at the side of an estuary, and here the scenery becomes melancholy and flat; expanses of mud, saltish commons, the marsh-birds crying. Crabbe heard that sound and saw that melancholy, and they got into his verse.” 70 Britten beschloss daraufhin, so bald wie möglich nach England zurückzukehren. Diese Entscheidung tat ihm gut und fing er wieder an zu komponieren. Pears fand eine Crabbes-Ausgabe in einer antiquarischen Buchhandlung und Britten las darin ein Gedicht namens The Borough, das von der Geschichte des Aldeburgher Fischers Peter Grimes handelt. 71 Er schrieb augenblicklich an Frau Mayer: „Very excited – maybe an opera one day...!“72 68 69 70 71 72 Vgl. Holst, Britten, S. 32. Ebenda. Ebenda. Vgl. Matthews, Britten, S. 64. Oliver, Benjamin Britten, S. 90. 20 1.6 Zurück in Suffolk, England Da es im Jahr 1942 aufgrund des eskalierenden Seekrieges schwer war, den Atlantik zu überqueren, warteten Pears und Britten noch einige Monate, bis es möglich wurde. Am 16. März begleitete Frau Mayer die beiden zum New Yorker Hafen, wo die Axel Johnson hielt. Es handelte sich um einen kleinen Frachter am Ende eines Kriegsschiffes; vier Wochen lang sollten sie darin bleiben, mit der ständigen Angst vor Angriffen. Britten jedoch komponierte an Bord fast pausenlos. Er arbeitete an Hymn to St Cecilia, dessen Text Auden für ihn verfasst hatte.73 Außerdem hatte er bereits die Musik für seine zukünftige erste Oper Peter Grimes im Ohr. Trotz der Sehnsucht nach seinem Zuhause fühlte sich Britten nicht willkommen, als sie am 17. April 1942 in Liverpool ankamen. In einem Brief an Frau Mayer beschrieb er die Situation in England während der Kriegszeit als „drab shabiness 74“ und er klagte über das arme musikalische Leben in London. Im Mai musste Britten vors Gericht, um sich für seine Wehrdienstverweigerung zu rechtfertigen. Er schrieb eine Erklärung dafür: „Since I believe that there is in every man the spirit of God, I cannot destroy, and feel it my duty to avoid helping to destroy as far as I am able, human life, however strongly I may disapprove of the individual's actions or thoughts. The whole of my life has been devoted to acts of creation (being by profession a composer) and I cannot take part in acts of destruction. Moreover, I feel that the fascist attitude to life can only be overcome by passive resistance. If Hitler were in power here or this country had any similar form of government, I should feel it my duty to obstruct this regime in every non-violent way possible, and by complete non-cooperation. I believe sincerely that I can help my fellow human beings best by continuing the work I am most qualified to do by the nature of my gifts and training, i.e. the creation or propagation of music.”75 Auch aufgrund seiner Bekanntheit wurden Britten und Pears als konzessionslose Pazifisten akzeptiert. Als Ersatz für den Armeedienst beauftragte The Arts Council of Great Britain sie beide, ohne Gage für Konzerte zur Verfügung zu stehen. Er sollte für diejenigen Leute spielen, die unter dem Druck des Krieges besonders zu leiden hatten.76 Britten und Pears reisten viel umher und gaben Konzerte in Kirchen, in kleinen Dorfsälen oder in Gefängnissen. Sie erlebten auch die ständigen Bombenalarme, die Stromausfälle und die Flucht in U-Bahn-Schächte oder Warenhauskeller. In den vergangenen drei Jahren war aufgrund von Brittens Flucht in die USA in der englischen Presse einige Feindseligkeit ihm gegenüber entstanden, diese löste sich nun aber in Luft auf und 73 74 75 76 Vgl. Holst, Britten, S. 33. Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 1037. Matthews, Britten, S. 69. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 64. 21 Britten und Pears fühlten sich endlich zu Hause. Als sie im September 1942 gemeinsam die Michelangelo Sonnets in der Wigmore Hall präsentierten, waren Publikum und Kritiker sowohl von Brittens Musik als auch von der neuen, glänzenden und kraftvollen Stimme Pears' beeindruckt.77 Sie wiederholten das gleiche Programm im Oktober in der National Gallery und wollten es gleich darauf aufnehmen. So entstand die erste Aufnahme für Decca. Sie wurden bald eine den meistgeliebten Duo-Partnerschaften, deren Präsentation der berühmten Lieder-Zyklen wie Die Winterreise oder Die schöne Müllerin von Schubert oder Schumanns Dichterliebe einstimmig positive Anerkennung fand. Britten schrieb weitere Werke, darunter Volkslied-Arrangements, für die Konzerte mit Pears. Im Jahr 1942 wurde die Sinfonia da Requiem als europäische Erstaufführung beim Promenade Concert gespielt und warmherzig aufgenommen. Dazu wurde Hymn to Saint Cecilias in der BBC gesendet. Britten schrieb an Frau Mayer: „I am a bit worried by my excessive local success at the moment - the reviews that the Sonnets, St Cecilia, the Carols and now the Quartet have had, and also the fact that Les Illuminations is now a public draw! It is all a little embarrassing, and I hope it doesn't mean there's too much superficial charm about my pieces. I think too much success is as bad as too little...” 78 Nach der Heimkehr stellte sich die Frage, wo sie wohnen sollten. In Brittens Haus in Snape wohnte seine Schwester Beth. Dort war man keinen Luftangriffen ausgesetzt und es war der ideale Ort, ihre zwei Kinder zu erziehen. (Ihr Mann war wegen des Militärdiensts nicht bei ihr.) Britten und Pears wohnten für kurze Zeit bei Pears' Eltern oder bei Freunden in London und sie fanden mehr als zehn Monaten lang keine eigene Wohnung.79 Britten besuchte in den Jahren 1943/44 jedoch immer wieder sein Haus in Snape, denn dort war immer eine friedliche Stimmung, so dass er in Ruhe komponieren konnte. Britten genoss die Natur, machte ausgedehnte Spaziergänge über Wiesen und Sumpf und plante dabei seine Oper Peter Grimes. 1.7 Peter Grimes Am Beginn des Jahres 1944 war Britten endlich bereit, seine Komposition Peter Grimes zu beginnen. Kurz nach der Heimkehr bat er den Autor Montagu Slater, das Libretto zu verfassen, und dieser willigte ein. Britten hatte ursprünglich Christopher Isherwood gefragt, aber dieser hatte die Idee abgelehnt. Er wandte sich deswegen nicht an Auden, weil er um dessen Beschäftigung mit einem Weihnachtsoratorium wusste.80 77 78 79 80 Vgl. Matthews, Britten, S. 68. Oliver, Benjamin Britten, S.118. Vgl. ebenda, S. 96. Vgl. Matthews, Britten, S. 75. 22 Britten und Pears planten eine Oper mit traditionell dramatischem Schema. Slater, der politisch links stand, legte in seinem Libretto die Betonung auf den Konflikt zwischen Grimes und der unterdrückerischen Dorfgesellschaft und beschrieb Grimes damit als Opfer des gesellschaftlichen Vorurteils. Britten und Pears, die Pazifisten waren (wie sie öffentlich erklärten) und als ein homosexuelles Paar lebten (was sie aus guten Gründen privat hielten), sahen Grimes als ihren eigenen Schatten, als typischen Vertreter eines Außenseiters. „It is getting more and more an opera about the community“81, schrieb Britten an Frau Mayer. Die Oper Peter Grimes kam am 7. Juni 1945, ein Monat nach dem Ende des Krieges in Europa, im Sadler´s Wells Theatre zur Uraufführung. Das Royal Opera House in Convent Garden wurde während des Kriegs als Tanz-Saal verwendet und das Sadler´s Wells Theatre war eigentlich seit der Bombardierung im Jahre 1940 geschlossen. Einige Ensemblemitglieder von Sadler´s Wells versuchten jedoch, unter der Leitung von Joan Cross trotz der Kriegszustand weiterzuarbeiten. Sie reisten mit einer kleinen Besetzung an Sängern, Spielern und Technikern durch verschiedene Kleinstädte. Peter Pears hatte dort bis zum Jahr 1943 mitgearbeitet und als das Ensemble davon hörte, dass Britten gerade mit einer neuen Oper beschäftigt war, entschieden sie mit enormem Mut, diese in London zu produzieren.82 Die Proben für Peter Grimes fanden unter schwierigen Bedingungen statt. Die Leute von Sadler's Wells waren ständig auf Tournee (sie gaben acht Aufführungen in einer Woche), dazu standen wichtige Sänger dem Stück und dessen Komponisten ablehnend gegenüber, nur der Tenor (Peter Pears) und der Produzent (Eric Crozier) sprachen sich vehement dafür aus. Einige schlugen vor, für die Wiedereröffnung des Theaters ein anderes Stück, nämlich aus eines dem Repertoire, auszuwählen. Einige Sänger protestierten gegen das Management und die „Kakophonie“, die nur Zeit und Geldverschwendung wäre.83 Britten befürchtete eine rebellische Reaktion, die sich fatal auf Aufführung seiner Oper auswirken würde. Nach der Generalprobe war er überzeugt, dass es eine Katastrophe würde.84 Das Gegenteil traf ein und die Uraufführung wurde ein voller Triumph. Als der Vorhang fiel, wussten alle Publikum im Publikum, dass sie gerade ein Meisterwerk gehört hatten und dass sich nie zuvor etwas Vergleichbares in der Musik Englands nach Purcell ereignet hatte. Sie erhoben sich von ihren Plätzen und schrien vor Begeisterung.85 Mehr als hundert Briefe trafen bei Brittens Zuhause in Snape ein. Einige Wochen später schrieb er an seinen Freund: 81 82 83 84 85 Mitchell und Reed , Letters from a Life, S. 1037. Vgl. Holst, Britten, S. 38. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 107. Vgl. ebenda. Vgl. Holst, Britten, S. 39. 23 „I am so glad that the opera came up to your expectations. I must confess that I am very pleased with the way that it seems to 'come over the footlights', and also with the way the audience takes it, and what is perhaps more, returns night after one than either Sadler's Wells or me. Perhaps it is an omen for English Opera in the future. Anyhow, I hope that many composers will take the plunge, and I hope also that they'll find, as I did, the water not quite so icy as expected!”86 Obwohl diese Oper in englischer Sprache verfasst Abb. 8: Peter Pears in seiner Rolle als Peter Grimes, ist, ist ihre Art stark vom kontinentaleuropäischen Sadler’s Wells 1945. Stil beeinflusst. Die Struktur ist wie bei Verdi: Sie ist aufgeteilt in Arien, Ensembles und Chöre, aber diese mithilfe des Dialogs gebaute Teilung klingt sehr natürlich. Die fünf orchestralen Zwischenspiele (die Four Sea Interludes und Passacaglia wurde ihrer Beliebtheit wegen bald getrennt veröffentlicht und in Folge oft als ein einzelne Stücke aufgeführt) haben etwas mit Bergs Oper Wozzeck und Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk gemeinsam – zwei Werke, die Britten sehr bewunderte.87 Peter Grimes stoß nicht nur in England auf Begeisterung. In den folgenden drei Jahren wurde die Oper auf Italienisch, Deutsch, Schwedisch, Dänisch, Flämisch, Tschechisch und Ungarisch übersetzt. Sie wurde in 20 Städten aufgeführt, darunter Mailand, Berlin, Budapest, New York, Los Angeles und Sydney. Im August 1946 fand in dem von Serge Koussevitzky veranstalten Tanglewood-Festival eine amerikanische Erstaufführung dieser Oper statt. Am Pult stand ein junger Mann, den Britten sechs Jahren zuvor in Audens Kommune in New York kennengelernt hatte: Leonard Bernstein. Der angereiste Auden beurteilte das Werk als „schrecklich“, 88 beim Publikum kam diese Oper jedoch hervorragend an. Zwei Monate später veranstaltete Britten mit Yehudi Menuhin eine Tournee durch Deutschland. Ziel der Fahrt waren die Lager der sogenannten DPs („displaced persons“), die von den Westalliierten und den Sowjets eingerichtet worden waren. Mit „displaced persons“ bezeichneten die Alliierten diejenigen Menschen, sich aufgrund des Kriegs außerhalb ihres Heimatstaates aufhielten und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder in ein anderes Land emigrieren konnten. Darunter waren Frauen, 86 87 88 Holst, Britten, S. 39. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 109. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 70. 24 Männer, Kinder und Jugendliche, die unbeschreibliche Qualen als Zwangsarbeiter, Häftlinge und Versuchspersonen erlitten hatten. Menuhin gab bereits während des Krieges zugunsten des Roten Kreuzes mehr als fünfhundert Konzerte an allen möglichen Schauplätzen. Britten und Menuhin spielten gemeinsam in Lagern, in Siedlungen, in Kasernen, Klöstern und Schulen. Britten würde diese Reisen nie vergessen. Pears erzählte Jahre nach dessen Tod, dass sein Freund erst gegen Ende seines Lebens über den Schock zu sprechen begann, den diese dunkle Tournee bei ihm ausgelöst hatte, und darüber, dass alles, was er danach geschrieben hat, dadurch geprägt worden sei. 89 Gleich nachdem Britten nach England zurückgekommen war, arbeitete er an einem seiner düstersten Werke, den Holy Sonnets of John Donne, op. 35 für Tenor und Klavier, dessen leidenschaftliches Gedicht den triumphierend siegenden Tod besingt. Die fiebrige Stimmung dieses Werkes trug sicherlich dazu bei, dass er während der Komposition krank wurde.90 Einige der Ensemblemitglieder, die in Peter Grimes zusammengearbeitet hatten, beschlossen eine neue englische Operngruppe zu gründen, um mit einem kammermusikalischen Opernprojekt auf Tournee zu gehen. Im Jahr 1947 schrieb Britten dafür eine neue Oper, Albert Herring, in welcher er eine französische Komödie in die Gegend von Ost-Suffolk versetzte. Es handelt sich um eine Ensemble-Oper, mit Giuseppe Verdis Oper Falstaff als großem Vorbild. Nach der Uraufführung dieser Oper gab er sein Haus in Snape auf und zog nach Aldeburgh um, und zwar in die Crabbe-Street Nr. 4, nicht weit entfernt vom Jubiläums-Saal der Albert HerringAufführung und der Versammlungshalle der Peter Grimes-Auffühunrg entfernte. Die Stadt Aldeburgh war kein Urlaubsort, sondern eine Fischerstadt, am Strand lagen Fischerhütten und Boote. Brittens Arbeitszimmer hatte einen direkten Ausblick auf das Meer: Bei hoher Flut schien es, als ob diese ins Zimmer käme. Hier war nun sein Zuhause für die nächsten zehn Jahre. 1.8 Das Aldeburgh-Festival Im August im Jahr 1947 reiste Britten mit den Mitgliedern einer englischen Operngruppe, die gerade Albert Herring in mehren Opernhäuser spielten, durch Europa. Eines Tages schlug Peter Pears plötzlich vor: „Why not make our own Festival? A modest Festival, with a few concerts given by friends? Why not have an 'Aldeburgh Festival'?“ 91 Sie diskutierten darüber und kurz darauf begannen sie schon mit der Planung. Sie erhielten die Erlaubnis der Stadt, Konzerte in der Gemeindekirche und in der Taufkapelle zu veranstalten. Einige Besitzer größerer Häuser stellten 89 90 91 Vgl. ebenda, S. 68. Vgl. Matthews, Britten, S. 84. Holst, Britten, S. 43. 25 Zimmer für Ausstellungen zur Verfügung, andere wiederum boten Unterkunftsmöglichkeiten für die Sänger und Spieler an. In dem total ausverkauften Konzert in der Gemeindekirche in Aldeburgh erklang am 5. Juni 1948 zur Eröffnung des ersten Aldeburgh-Festivals Brittens St-Nicolas-Kantate. Dieses Auftragswerk für eine Schule klang dramatisch wie eine Oper und war das perfekte Eröffnungsstück. Beim zweiten Festival in Jahr 1949 wurde Brittens neue Oper für Kinder, The Little Sweep bzw. Let´s make an Opera aufgeführt. Diese hat eine Suffolk-Geschichte, die im Nachbardorf Iken spielt, zum Inhalt. Die Uraufführung fand im Jubilee-Saal statt und wurde von Norman Del Mar dirigiert. Die zwischen acht- bis vierzehnjährigen Kinder, die eine bedeutende Rolle in der Oper spielten, waren die Söhne, Töchter und Neffen des Festivalvorsitzenden. Die Idee von Peter Pears, „concerts given by friends“, erwies sich als optimal. Die Künstlerliste wurde beeindruckend lang und die Kleinstadt wurde zum Reiseziel der bedeutendsten Solisten der Musikwelt. Dort gelangten viele Werke junger Komponisten zur Uraufführung: Michael Tippett, William Walton, Lennox Berkeley, Robert Gerhard, Priaulx Rainer und Hans Werner Henze. Dazu kamen Vorträge von E. M. Forster, William Plomer, Edith Sitwell, Kenneth Clark, Francis Poulenc und Aaron Copland. Das ursprünglich bescheidene Festival wuchs immer weiter. Eine der schwersten Aufgaben war, eine sichere finanzielle Unterstützung zu finden. Brittens verwandte die meiste Zeit auf praktische Fragen: „Can we do without a third trumpet and a second bassoon?” 92 usw. Die Planung für das Festival nahm elf Monate in einem Jahr in Anspruch. Besucher des Aldeburgh-Festivals fragten sich zum Teil, wie Britten sich überhaupt Zeit für die Organisation des Festivals finden können, wo er doch schon als Komponist so sehr beschäftigt schien. Britten selbst meinte, er sei unglücklich, wenn ein Tag ohne Komponieren zu Ende geht. Wenn nicht gerade Konzerte oder andere Arbeit Priorität hatten, stand Britten immer um sieben Uhr am Morgen auf und saß bald darauf am Schreibtisch. Bis zum Mittag komponierte er und dann hörte er auf zu arbeiten – es sei denn, es war kurz vor einer Abgabefrist. Bis zum Abendessen machte er einen langen Spaziergang, fuhr sein Auto durch die Suffolk-Landschaft, spielte Tennis, schwamm oder beobachtete die Vögel. Musikalische Gedanken, die ihm dazwischen einfielen, schrieb er am nächsten Morgen auf. Viele seiner Freunde erzählten auch, dass Britten wirklich glücklich war, wenn er komponierte. 93 Er nahm seinen Freundeskreis und seine Umgebung sehr wichtig, denn nur so konnte er Musik für die passenden Leuten (wie die English Opera Group) am passenden Ort schreiben. Mit dem Aldeburgh-Festival versuchte Britten wahrscheinlich, so etwas wie eine große Familie zu gründen. Im Oktober 1962 wurde Britten als „Honorary Freeman of the Ancient Borough of Aldeburgh“ 92 93 Ebenda, S. 48. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 120. 26 geehrt. Hier ein Auszug aus seiner Dankesrede: „In the arts, at least, – it is so often the wrong person who gets them, or for the wrong reason. It is the dull, the respectable, the one who kow-tows, who sucks up, the members of that favourite name today – the Establishment. You know what I mean (conveniently forgetting for the moment honoured names like Sir Peter Paul Rubens, Lord Tennyson, Chevalier Gluck) – think of Schubert, unwanted; Mozart, a pauper's grave; Van Gogh mad like Blake; Wilfred Owen killed at the age of 25 – how far honours were from these great names and hundreds like them. The trouble really is that the people who hand out honours usually knows so little about the artists. They take a famous name, and that's that. Why is it then that I am unexpectedly proud and touched this evening? (…) I am proud because this honour comes from people who knows me – many of whom have known me for quite a long time too, (...) because you really do know me, and accept me as one of yourselves, as a useful part of the Borough – and this is, I think, the highest possible compliment for an artist. I believe, you see, that an artist should be part of his community, should work for it, with it, and be used by it. (…) And here I think I can blow Aldeburgh's own small trumpet. It is a considerable achievement, in this small Borough in England, that we run year after year, a first-class Festival of the Arts, and we make a huge success of it. And when we say 'we' I mean 'we'. The Festival couldn't be work of just one, two or three people, or a board or a council – it must be corporate effort of a whole town!! And, if I may say so, what a nice town it is!”94 Aldeburgh blieb bis zu Brittens Tod dessen Lebensmittelpunkt. Hier entstand der bei weitem größte Teil des kompositorischen Werkes. 1.9 Britten als Opernkomponist Nach der Konzertreise durch Nordamerika mit Pears im Herbst und Winter 1949 beginnt Britten langsam mit der Komposition einer neuen Oper. William Plomer, der seit seinem Vortrag im Aldeburgh-Festival mit Britten befreundet war, schlug dafür Herman Melvilles Novelle Billy Budd vor.95 Britten bat den berühmten Romancier E. M. Forster das Libretto zu verfassen, zusammen mit dem Ko-Librettisten Eric Crozier. Diese Oper besteht aus vier Akten ohne Liebesszene und kommt gänzliche ohne Frauenstimmen aus. Die Handlung spielt auf einem britischen Kriegsschiff während des englisch-französischen Seekrieges. Es gibt keine andere Oper Brittens, die einen größeren Orchesterapparat verlangt, die große Besetzung an Blech- und Holzblasinstrumenten und deren vielfältige Kombinationsmöglichkeiten sorgen für einen einzigartigen Klang. Diese Oper wurde am 94 95 Kildea, Britten on Music, S. 217. Vgl. Matthews, Britten, S. 102. 27 ersten Dezember 1951 im Royal Opera House Covent Garden uraufgeführt, dirigierte vom Britten selbst. Die Aufführung wurde von der BBC übertragen und präsentierte den jungen amerikanischen Bariton Theodor Uppman, der die Rolle des Billy leidenschaftlich verkörperte. Britten war stolz auf dieses Werk und glücklich, dass er zusammen mit seinen engsten Freunden daran arbeiten konnte, 96 er stieß jedoch auf geteilte Meinungen seitens der Kritiker. Am 28. Juli 1951 wurde er ein Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Lowstoft. Er bekam die Gelegenheit, sein künstlerisches Glaubensbekenntnis zu erzählen: „It is not a bad thing for an artist to try to serve all sorts of different people, to have to work to order. Any artist worth his salt has ideas knocking about in his head, and an invitation to write something can often direct these ideas into a concrete form and shape”. Und weiter:“Artists are artists because they have an extra sensitivity – a skin less, perhaps, than other people; and the great ones have an uncomfortable habit of being right about many things, long before their time... So when you hear of an artist saying or doing something strange or unpopular, think of that extra sensitivity, that skin less; consider a moment whether he may not after all be seeing a little more clearly than ourselves, whether he is really as irresponsible as he seems, before you condemn him... It is a proud privilege to be a creative artist, but it can also be painful.”97 Brittens Sensibilität war außergewöhnlich, jegliche Kritik unterhöhlte sein Selbstvertrauen. Einige Jahre später war er, nachdem er eine übellaunige Bemerkung über „sein“ Festival zufällig mitbekommen hatte, einige Wochen nicht in der Lage zu komponieren. Damals hatte auch er große Angst vor dem stetigen Leistungsdruck, der auf ihm lastete. Er konnte beispielsweise achtundvierzig Stunden vor einem Konzert keine richtige Mahlzeit vertragen. 98 Seine Umgebung in Aldeburgh entstand durch die liebevolle Beteiligung seiner Freunde, die über seine instabile seelische Verfassung Bescheid wussten. Sie beschlossen, ihm eine ungestörte Arbeit zu ermöglichen und ihn vor jedem Schock zu bewahren, der seiner Kreativität schaden könnte. Das Jahr 1952 war ein entscheidendes und kritisches Jahr in Brittens Leben. Neun Jahre nach seiner Rückkehr aus Amerika hatte er Triumph nach Triumph und er wurde damals schon als einer der wichtigsten noch lebenden britischen Komponisten erkannt (William Vaughan war damals 80 Jahre alt). Während eines Ski-Urlaubs in Österreich im März 1952 diskutierten Britten, Pears, Georg und Marion Harewood über den Plan, eine große nationale Oper zur Krönung der Königin Elisabeth II zu komponieren. Plomer akzeptierte die Bitte, das Libretto zu verfassen. Britten beschloss, um die Mitarbeit von Imogen Holst (die Tochter von Gustav Holst und Assistentin des Aldeburgh-Festivals 96 97 98 Vgl. Matthews, Britten, S. 106. Michael Kennedy, The Dent Master Musicians: Britten, London, 1981, S. 58. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 146. 28 von 1952 bis 1964) zu bitten. Der Premiere dieser Oper Gloriana war am 8. Juni 1953 im Royal Opera House. Nach dem letzten Wort der Oper herrschte flauer Applaus im Saal. Womöglich war dieser auch deshalb so gedämpft, weil so viele Hände behandschuht waren. 99 Das Publikum hatte wahrscheinlich ein Stück in der Art von Merrie England erwartet, das tiefes Philistertum zur Gründungszeit Englands zeigte und nichts mit moderner Musik zu tun hatte. Gloriana fiel bald aus dem Repertoire und wurde in den nächsten 12 Jahren nicht wieder aufgeführt. Sie ist auch die einzige Oper, von der zu Brittens Lebzeiten keine Aufnahme gemacht wurde.100 Zunächst plante er wieder eine neue Oper, The Turn of the Screw. Britten begegnete diesem Werk schon 1932 in Form eines Radio-Hörspiels: „a wonderful impressive but terribly eerie play”. 101 Das Werk basiert auf einer Erzählung von Henry James (1898), die aus der Perspektive der Erzieherin der zwei Waisenkinder Flora und Miles ein dämonisches Szenario entfaltet. Die Librettistin Myfanwy Pipper, die Britten dieses Werk vorgeschlagen hatte, betonte später noch Brittens ungeheures Interesse an der Wirkung einer genuin bösen Erwachsenenwelt auf die kindliche Unschuld: „Der wichtige Punkt für Britten war, dass der Teufel sowohl im Leben als auch im Bewusstsein dazu fähig ist, den Verlust der Unschuld zu verursachen.“ 102 Britten begann erst im Februar 1954 mit der Komposition. Dabei schrieb er mit der linken Hand, als Reaktion auf einen kürzlich erlittenen scharfen Bursitis-Anfall in der rechten Schulter. Er arbeitete sehr schnell und in kurzer Zeit, denn bereits im September 1954 wurde diese Oper im Teatro la Fenice in Venedig uraufgeführt, dirigiert von Britten selbst. Im Gegensatz zur vorhergehenden Oper Gloriana wurde The Turn of the Screw ein voller Erfolg. Die Produktion durch die English Opera Group wurde sofort darauf in London aufgeführt, danach folgte eine nationale Tournee sowie ein Gastspiel in Holland. Seit 1960 ist diese Oper eine der wichtigsten internationalen Repertoire-Opern. Britten komponierte in diesen zehn Jahren insgesamt acht Opern, the Spring Symphony, Saint Nikolas und mehr als zwölf kleine Stücke. Er war erschöpft und er brauchte eine Pause. Er schrieb einen Brief an seine Schwester Barbara während der Weihnachten: „Yes, we will have a holiday next year – no more years like this in a hurry.“103 Nach dem Aldeburgh-Festival im Jahr 1955 gingen Britten und Pears vier Monate lang auf Weltreise. Es war zwar eine Art von Urlaub, aber sie gaben unterwegs auch einige Konzerte. Sie hatten während der Reise einige enge Freunden wie Prinz Ludwig von Hesses und dessen Frau Prinzessin Margaret dabei. Beide waren großzügige Unterstützer für das Aldeburgh-Festival. Unter 99 100 101 102 103 Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 102. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 150. Aus Brittens Tagebüchern von 1928-1938, zitiert in Matthews, Britten, S. 114. Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 104. Brief von Benjamin Britten an Barbara Britten, datiert auf den 26.12.1954, zitiert in Matthews, Britten, S. 118. 29 einem Pseudonym besorgte die Prinzessin die deutsche Übersetzung mehrerer Werke Brittens, inklusive The Turn of the Screw104. Auf der Reise besuchten sie zusammen Österreich, Jugoslawien, Türkei, Singapur, Indonesien, Japan, Hongkong, Thailand, Bali, Indien und Ceylon. Britten war besonderes begeistert von der Gamelan-Musik aus Bali: „After a week of hectic concerts in Java we came on here – the island, where musical sounds are as much part of the atmosphere as the palm trees, the spicy smells, and the charming beautiful people. The music is fantastically rich – melodically, rhythmically, texture (such orchestration!) and above all formally... At last I´m beginning to catch on to the technique, but it´s about as complicated as Schoenberg.” 105 Nach zwölf wunderschönen Tagen in Bali besuchten sie Tokio. Dort gab er einige Konzerte zusammen mit Pears und er dirigierte die Symphonia da Requiem, die er vor fünfzehn Jahren komponiert hatte. Sie hörten in Japan Nō-Theater, diese Erfahrung sollte er Jahre später in einer Komposition verarbeiten. Die gesamte Reise gab ihm viel Inspiration zukünftige Stücke. Nach der Ankunft in England komponierte er ein Ballett, das von Gamelan-Musik beeinflusste Stück The Prince of the Pagodas. Es stieß bei Publikum und Kritik nicht gerade auf Begeisterung, aber Brittens setzte seine Versuche in der kompositorischen Verarbeitung der Gamelan-Musik weiter fort. Im Jahr 1957 arbeitete Britten an zwei Stücken für das Aldeburgh-Festival: Songs from the Chinese für Sopran und Gitarre sowie die Kinderoper Noye´s Fludde. Im Sommer und Herbst dirigierte er einige Aufführungen der English Opera Group, darunter The Turn of the Screw in Stratford, Ontario, und beim Berlin-Festival. Das Werk Songs from Chinese, übersetzt von Arthur Waley, war das letzte Werk, dass Britten im Crag House komponiert hatte. 106 In November verließen sie das Haus in der Crabbe Street und zogen ins Red House ein, denn sie waren zu berühmt geworden, um weiterhin im Crag House bleiben zu können. Britten schrieb an seine Schwester: „Passer-by would peer over the fence and, when they made the fence high, peered through the holes. There was no privacy.”107 Nach den Songs from the Chinese begann er sofort mit der Kinderoper Noye´s Fludde, deren Genre Britten mehr oder weniger selbst erfand. Wie bei der Oper Saint Nicolaus kombinierte Britten geschickt Amateur- und Profi-InstrumentalistInnen und SängerInnen. In dieser Oper jedoch wirken tatsächlich Kinder in zahlreicher Form als SängerInnen und InstrumentalistInnen mit. Britten sagte in einem Interview: „... I like writing for children and I like the sounds they make when they sing. So I wrote something in which children played a major part and I'm glad that it sparked off, certainly in England, a new way of thinking about music for children...” 108 104 105 106 107 108 Vgl. Kennedy, Britten, S. 67. Holst, Britten, S. 58. Vgl. Kennedy, Britten, S. 68. Matthews, Britten, S. 122. Kildea, Britten on Music, S. 306. 30 Im Herbst 1959 begann Britten eine neue Oper. Sie war zwar kein Auftragswerk, jedoch war sie zur Feier der lange fälligen Renovierung der Jubilee Hall in Aldeburgh bestimmt. Es gab nicht genügend Zeit für ein gänzlich neues Libretto, deshalb entschied sich Britten dafür, A Midsummer Night´s Dream von Shakespeare zu adaptieren – ein Stück, das er immer geliebt hatte. In den zwanzig Jahren seit dem Stück Nocturne aus dem Liederzyklus On this Island kam er immer wieder zum Bild der Nacht und des Traums zurück. Die Oper A Midsummer Night´s Dream handelt von Erotik und der Dämonologie des Sexus. Zum Entstehungsprozess sagte Britten: „Writing an opera is very different from writing individual songs, opera, of course, includes songs, but has many other musical forms and a whole dramatic shape as well. In my experience, the shape comes first. With A Midsummer Night's Dream, as with other operas, I first had a general musical conception of the whole work in my mind. I conceived the work without any one note being defined. I could have described the music, but not played a note.”109 Die Geschwindigkeit, mit der Britten komponierte, war bemerkenswert, besonders weil er damals krank war: „This Winter I became quite ill, but had to work. A lot of the third act was written when I was not at all well with flu. I didn't enjoy it. I find that one´s inclination, whether one wants to work or not, does not in the least affect the quality of the work done.“110 Diese Oper wurde am 11. Juni 1960 in der Jubilee Hall von der English Opera Group uraufgeführt, wiederum dirigiert von Britten selbst. 1.10 Erfolg und Freundeskreis Kurz nach dem Erfolg von A Midsummer Night´s Dream kam es zu einer wichtigen Begegnung in Brittens Leben. Im September 1960 besuchte er die Royal Festival Hall, um die Erstaufführung von Schostakowitschs erster Cello-Sonate, dem Solisten Mstislaw Rostropovich gewidmet, zu hören. Schostakowitsch, den Britten sehr bewunderte, lud ihn in seine Loge ein. 111 (Sie respektierten sich gegenseitig und trafen sich später noch öfter.) Nach dem Konzert stellte Schostakowitsch den Cellisten vor. Rostropovich fragte Britten sofort, ob dieser für ihn ein Stück komponieren wolle. „I ´ll come to your hotel to discuss it tomorrow morning.“, antwortete Britten. 112 Die zwei Männer besaßen einen völlig anderen Charakter: Britten, der Engländer, war sehr scheu und distanziert, Rostropovich, der Russe, hingegen war sehr offen mit seiner Zuneigung und Bewunderung. Sie 109 110 111 112 Christopher Palmer, The Britten Companion, London, 1984, S. 178. Kennedy, Britten, S. 71. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 169. M. Rostropovich, Three Friends in: The Observer, 27.11.1977, zitiert in Kennedy, Britten, S. 72, 31 kommunizierten auf Deutsch, dem sogenannten „Aldeburgh-Deutsch“. Im Hotel sagte Britten zu, eine Cello-Sonate zu schreiben. Diese wurde im Januar 1961 fertiggestellt und er lud Rostropovich zum Aldeburgh-Festival ein, um dort die Uraufführung zu spielen. Rostropovich schrieb später über die erste Probe: „After four or five very large whiskies drinking we finally sat down and played through the sonata. We played like pigs, but we were so happy.” 113 Die Uraufführung fand am 7. Juli 1961 in der Jubilee Hall statt und ab dem Punkt engagierte sich Rostropovich leidenschaftlich für das Festival. Seine Frau Galina Vishnevskaya, die eine führende Sängerin am Moskauer BolschoiTheater war, besuchte Britten im Red House und wurde teil des Freundeskreise. Britten komponierte später für sie einen Liederzyklus, The Poet´s Echo, über Texte von Puschkin. Zur Zeit der Uraufführung der Cello-Sonate mit Rostropovich begann Britten mit einem Chorwerk. Anlass war die Rekonstruktion der mittelalterlichen St.-Michael-Kathedrale in der mittelenglischen Stadt Conventry, die Bombardements im Jahr 1940 von deutschen völlig zerstört wurde. Als eine Zueignung für diese neu gebaute Kathedrale wurde ein Festival mit verschiedenen Auftragswerken für den Frühling 1962 geplant. Britten wurde gebeten, ein Chorwerk dafür zu schreiben – das berühmte War Requiem. „The best music to listen to in a great Gothic church is the polyphony which was written for it, and was calculated for its resonance,” erzählte Britten, „This was my approach in the War Requiem – I Abb. 9: Britten und Rostropovich. calculated it for a big reverberant acoustic, and that is where it sounds best.” 114 Britten war ein Pazifist. Dieses Chorwerk zeigt genau seine Position und Gedanken als Künstler. Es ist vier Freunden gewidmet, drei davon waren im zweiten Weltkrieg gefallen, und der letzte starb 1959 durch Selbstmord. Die Texte stammen von Wilfred Owen, der mit nur 25 Jahren im ersten Weltkrieg gefallen war. Als Vorwort zur Partitur wählte Britten Worte von Wilfred Owen, die genau das wiedergeben, was Britten ausdrücken wollte: „My subject is war, and the pity of war. The poetry is in the pity. Yet these elegies are to this generation in no sense consolatory. They may be to the next. All a poet can do today is warn. This is why the true poets must be truthful.” Am 30. Mai 113 114 Ebenda, S. 73. Kennedy, Britten, S. 73. 32 1962 wurde Brittens Trauer- und Klagewerk War Requiem in der Kathedrale uraufgeführt. Britten wünschte sich für die Uraufführung Solisten aus drei verschiedene Nationen: England (Peter Pears), Deutschland (Dietrich Fischer-Dieskau) und Russland (Galina Vischnevskaya), aber Vischnevskaya bekam aufgrund der damaligen Regierung Probleme mit ihrem Visum und sie wurde kurzfristig durch die Engländerin Heather Harper ersetzt. Die Uraufführung erzielt eine ungeheure Wirkung. Fischer-Dieskau erinnert sich an ihre dichte Atmosphäre, „dass ich zum Schluss innerlich völlig aufgelöst war und nicht wusste, wo mein Gesicht verstecken.“115 Dresden, Hiroschima und Guernica wurden in den Klang eingeschlossen. Es wurde ein international anerkanntes Stück und Britten erreichte mit dem War Requiem seinen künstlerischen Höhepunkt. Von der Aufnahme, die Britten sieben Monate nach der Uraufführung selbst dirigierte, wurden nur im ersten Jahr mehr als 200.000 Stück verkauft. Britten wünschte sich, sein neues Werk, Cello-Symphonie op. 68, rechtzeitig zu beenden, damit er es im Festival British Music in Moscow 1963 gemeinsam mit Rostropovich präsentieren könne, aber wegen seiner Krankheit wurde es verschoben. Schließlich schaffte er es, im März 1964 selbst das Moskauer Philharmonische Orchester zu dirigieren. Schostakowitsch und Khatchaturian waren im Publikum und die Symphonie wurde enthusiastisch rezipiert. Bei diesem Besuch hatte er auch die Gelegenheit, das War Requiem zu hören, gespielt von Studenten des Leningrad Konservatoriums.116 Am Tag der St. Cäcilia 1963 wurde ein Buch, Tribute to Benjamin Britten on his Fiftieth Birthday, veröffentlicht. Zwischen den zahlreichen Beiträge von verschiedenen Freunden gab es einen Brief von Rostropovich: „Every day your music is played is a holiday for music in general... When you and I are no longer here, millions of ordinary people will still be celebrating your birthdays – your 125th, 150th, 200th birthdays. I foresee these jubilees and congratulate you in advance – you and your music.”117 Es gab ein feierliches Konzert in der Royal Festival Hall am 22. November mit der Aufführung seiner Oper Gloriana. Einige Leuten waren skeptisch, das ein lebender Komponist so viel Erfolg haben sollte. Britten sprach einige Tagen vor seinem Geburtstag in der Zeitung Sunday: „People sometimes seem to think that with a number of works now lying behind, one must be bursting with confidence. It is not so at all. I haven´t yet achieved the simplicity I should like to in my music, and am enormously aware that I haven´t yet come up to the technical standards Bridge set me.“118 115 116 117 118 Dietrich Fischer-Dieskau, Nachklang – Ansichten und Erinnerungen, Stuttgart 1988, S. 218 ff. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 183. Holst, Britten, S. 69. Ebenda, S. 71. 33 Zu diesem Zeitpunkt kam das Projekt, das er seit acht Jahren im Kopf hatte. Im Jahr 1955, bevor Britten nach Osten verreiste, fragte er William Plomer, was es dort zu sehen gäbe. Da bekam Britten die Empfehlung, ein Nō-Theaterstück zu sehen. Britten sah sich tatsächlich ein Stück an, und zwar Sumidagawa in Tokio im Februar 1956. Die Geschichte handelt von eine Mutter, die durch die Suche nach ihrem Sohn, der von Sklavenhändler entführt worden ist, wahnsinnig geworden ist. Britten war davon entgegen seiner Erwartung sehr begeistert: „... a totally new 'operatic' experience. There was no conductor – the instrumentalists sat on the stage as did the chorus, and the chief characters made their entrance down a long ramp. The lightning was strictly non-theatrical. The cast was all-male, the one female character wearing an exquisite mask which made no attempt to hide the male jowl beneath it... The memory of this play has seldom left my mind in the years since... Was it not possible to use just such a story... with an English background?”119 Britten fragte Plomer, ob dieser den Stoff von Sumidagawa in ein Libretto für eine Oper umarbeiten könne: „... the idea of making it a Christian work... I can´t write Japanese music, but we might get a very strong atmosphere if we set it in pre-conquest East Anglia.“ 120 Plomer akzeptierte diese Idee und es entstand eine Kirchenparabel, Curlew River. Die Uraufführung fand während des AldeburghFestivals 1964 in der Norman Church Orford statt. Die Musik ist stark vom Gagaku, der traditionellen japanischen Hofmusik, beeinflusst. Rund um das Jahr 1960 war die Zeit, wo die serielle Musik in der zeitgenössischen klassischen Szene eine der Hauptströmungen war. Britten verwendete zwar auch Techniken seiner avantgardistischen Zeitgenossen, aber im Großen und Ganzen wurde Brittens Musik eher als konservativ bezeichnet. Im Juli 1964 wurde Britten als erster Künstler mit dem Aspen Award in the Humanities (Colorado, USA) ausgezeichnet. Mehr als hundert Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller, Dichter, Philosophen und Politiker wurden dafür nominiert. 121 Britten wurde im Begründungsschreiben für die Nominierung wie folgt beschrieben: „a brilliant composer, performer, and interpreter through music of human feelings, moods, and thoughts who has truly inspired man to understand, clarify and appreciate more fully his own nature, purpose and destiny”122. Britten reiste nach Aspen, um am 31. Juli den Preis entgegenzunehmen. In seiner Dankesrede sprach er über einige Aspekte seines kompositorischen Schaffens: „I certainly write music for human beings – directly and deliberately. I consider their voices, the 119 120 121 122 Kennedy, Britten, S. 80. Matthews, Britten, S.134. Vgl. ebenda, S. 83. Kildea, Britten on Music, S. 255. 34 range, the power, the subtlety, and the colour potentialities of them. I consider the instruments they play – their most expressive and suitable individual sonorities... I also take note of the human circumstances of music, of its environment and convention; for instance, I try to write dramatically effective music for the theatre – I certainly don't think opera is better for not being effective on the stage (some people think that effectiveness must be superficial). And then the best music to listen to in a great Gothic church is the polyphony which was written for it, and was calculated for its resonance... I believe, you see, in occasional music... almost every piece I have ever written has been composed with a certain occasion on mind, and usually for definite performers, and certainly always human ones... I can find nothing wrong... with offering to my fellow-men music which may inspire them or comfort them, which may touch them or certain them, even educate them – directly and with intention. On the contrary, it is the composer's duty, as a member of society, to speak to or for his fellow human beings...”123 Kurz danach entschied Britten auf ärztlicher Empfehlung ein Jahr Urlaub von Konzerten und vom Dirigieren zu nehmen. Er flog mit Pears nach Indien, wo er leidenschaftlich Vögel beobachten konnte. Er unterbrach jedoch nicht die kompositorische Arbeit. Dort schuf er die Gemini Variation für zwei 13-jährige ungarische Zwillinge. Im April 1965 stellte er einen neuen Liederzyklus fertig, Songs and Proverbs of William Blake. Die Textauswahl besorgte Britten zusammen mit Pears. Der Zyklus ist Dietrich Fischer-Dieskau gewidmet, dieser und Britten präsentierten das Werk gemeinsam am 24. Juni 1965 im Aldeburgh-Festival. 1.11 Brittens letzte Oper: Death in Venice In keinem Jahr war Britten so beschäftigt wie 1967. Er gab ein Orchesterkonzert in England, Konzerte in Europa, Aufführungen mit der Englisch Opera Group in Kanada und eine lange Tournee durch Südamerika. Dazwischen komponierte er energisch. Außerdem plante er, eine alte Mälzerei in Snape zu einem neuen Konzertsaal für das Aldeburgh-Festival umzubauen. Es dauerte mehr als ein Jahr und im Juni 1967 wurde der Saal fertiggestellt. Am 2. Juni kamen die Königin und Prinz Philip fürs Mittagsessen zum Red House, danach eröffnete die Königin die Feier für den neuen Maltings-Saal. Britten dirigierte das englische Kammerorchester mit Chor, die seine neue Bearbeitung der Nationalhymne und seine neue Ouvertüre, The Building of the House, spielten. Er sagte später darüber: „a true example of occasional music, inspired by the excitement and the haste!“124 123 124 Kildea, Britten on Music, S. 72. Holst, Britten, S. 78. 35 Während der legendären Tournee in Südamerika war er schon bereit, mit der Komposition seines nächsten Werkes, The Prodigal Son, zu beginnen, aber im März wurde er krank. Anfangs dachte er, es sei eine Grippe, aber es wurde schlimmer. Im Krankenhaus wurde schließlich eine Herzentzündung diagnostiziert. Gegen alle ärztlichen Anweisungen bracht er die Schostakowitsch gewidmete Parabel für das Aldeburgh-Festival 1968 zu Ende. Danach entstand ein Auftragsstück für die 50-Jahre-Feier des Save the Children Fund, The Children´s Crusade, für Kinderstimme und Schlagzeug nach einem Text von den Brüdern Grimm. Britten nahm dieses Stück als Grundlage für seinen letzte Liederzyklus für Pears, Who are these Children. Dessen Text schildert das den Kindern angetane Unrecht in Vietnam-Krieg: „Der Tod kam aus der Luft am lichten Nachmittag“. Britten arbeitete zwischen den Jahren 1969 und 1970 an einer Oper, das von der BBC für eine Fernsehsendung in Auftrag gegebene Stück Owen Wingrave. Gleich wie The Turn of the Screw statt die Textvorlage von Henry James. Britten begann mit diesem Werk während eines für ihn traumatischen Ereignisses: Der neue Maltings-Konzertsaal war aufgrund eines unbeabsichtigten Feuers in der ersten Nacht des Festivals 1969 abgebrannt. Das Festival wurde trotzdem weitergeführt: Die für den Maltings-Saal geplante Aufführung fand stattdessen in der BlythburghKirche statt. Britten beschloss, dass der Saal wieder bis zum nächsten Festival rekonstruiert werden sollte.125 (Tatsächlich dauerte es zwei Jahre.) Britten sagte während des Festival-Meetings: „We must forgive each other over and over again all the time.“ 126 Aber diese unerwartete Belastung war nicht gerade positiv für seine Gesundheit. Im Jahr 1970 kaufte sich Britten ein kleines Landhaus in Mittel-Suffolk, um dort ungestört arbeiten zu können, weil ein amerikanischer Jagdbomber während der Arbeit über sein Haus geflogen war. Er hatte auch ein kleines Studio im Garten, ähnlich wie Mahlers Komponierhäuschen. Mit der Fernsehaufzeichnung von Owen Wingrave war Britten nicht glücklich. Zwischen ihm und dem Fernsehteam kam es zu Spannungen aufgrund der Wiederaufnahme von mehreren Szenen. Er war in der Zeit bei schlechter Gesundheit und der Aufnahmeprozess war für ihn lästig und anstrengend.127 Diese Abb. 10: Britten und Pears in Venedig, 1957. Oper erreichte mehr Zuschauer als seine bisherigen Opern, trotzdem wollte er das 125 126 127 Vgl. Matthews, Britten, S. 144. Holst, Britten, S. 83. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 198. 36 Medium Fernsehen nicht mehr nutzen. Kurz bevor die Aufnahme begann, erzählte er Myfanwy Piper, dass er schon ein Thema für seine nächste Oper gefunden hatte, und er wünschte sich, dass sie das Libretto dazu verfassen möge. Ihre erste Reaktion war „unmöglich“. Kurz danach erzählte Pears dem Maler Sydney Nolan: „Ben is writing an evil opera, and it´s killing him.“ 128 Der Tod in Venedig ist eine Novelle von Thomas Mann, die 1911 entstanden ist. Die Hauptfigur Gustav von Aschenbach ist ein berühmter deutscher Schriftsteller, der sehr auf Zucht und Vernunft bedacht ist. Während einer Erholungsreise in der Adria packt ihn der Wunsch, für ein paar Tage Venedig zu besuchen, wo er dem Anblick eines polnischen Knaben namens Tadzio erliegt, den er für den Inbegriff des Schönen hält. Der Knabe aber steht als Allegorie der Schönheit zugleich auch für den Tod. Die Komposition seiner neuen Oper Death in Venice nahm Britten vom Dezember 1971 bis zum März 1973 in Anspruch. Im Jahr 1972 wohnte er im Schloss Wolfsgarten mit der verwitweten Prinzessin Margaret von Hessen. Er ging für das Aldeburgh-Festival kurz zurück nach England, wo er The Turn of the Screw und Schumanns Szene aus Goethes Faust dirigierte. Dies wurde sein letztes Mal beim Aldeburgh-Festival, weil im August 1972 wieder ein Problem in seinem Herz gefunden worden war. Es war ernst und eine Operation schien nötig. Britten arbeitete zu viel und er fühlte sich immer sehr erschöpft. Die Ärzte erlaubten ihm, zuerst die Oper fertigzustellen, damit man danach die Operation durchführen könne.129 Ende März 1973, kurz nach dem Besuch der Geburtstagsfeier von Prinzessin Margaret, ging Britten nach London um einen Spezialisten aufzusuchen. In Mai hatte er seine Herzoperation, aber diese konnte ihm überhaupt nicht helfen. Die Koordination seiner rechten Hand wurde für ihn schwierig. Rita Thomson, die sich um ihn im Krankenhaus gekümmert hatte, begleitete ihn nach Hause nach Suffolk. Schließlich verließ sie die Krankenhaus und wurde Brittens Vollzeithelferin. Rita wurde für ihn wie eine Mutter und ihr ging es ähnlich.130 Am 16. Juni wurde Death in Venice in dem nach dem Brand wieder neu instandgesetzten MaltingsSaal ohne die Anwesenheit des schwerkranken Komponisten uraufgeführt. Nach der Vollendung dieser Oper meinte Britten, diese sei die Erzählung des eigenen Lebens: „I wanted passionately to finish this piece. It is probably Peter´s last major operatic part, and it was an opera I had been thinking about for very long time.“ 131 Nachdem Britten die Uraufführung verpasst hatte, wurde eine Sondervorstellung für ihn im September in Maltings gespielt. Kurze Zeit später kam der Bericht über den Tod von Wiliam Plomer und W. H. Auden. Britten trauerte um seinen alten Freund, den er 128 129 130 131 Ebenda. Vgl. Holst, Britten, S. 84. Vgl. Matthews, Britten, S. 148. Holst, Britten, S. 85. 37 seit 1953 nicht mehr getroffen hatte.132 Im November hatte er seinen sechzigsten Geburtstag, der von der BBC ausführlich gefeiert wurde. Britten war aber immer noch krank. Er hoffte, dass er wieder gesund werden würde, jedoch bemerkte er selbst, dass er nicht mehr dirigieren oder Klavier spielen konnte. Das war für ihn ein enormer Schock und er dachte sogar, dass es besser gewesen wäre, wenn er die letzte Operation nicht überlebt hätte. Obwohl er noch schwach war und nur eine Stunde pro Tag arbeiten konnte, fing er im Sommer 1974 wieder mit dem Komponieren an – vierzehn Monate nach seiner Operation.133 „For a time, I couldn´t compose because I had no confidence in my powers of selection. I was worried, too, about my ideas. Then I suddenly got my confidence back, and now that I can write again I have the feeling of being of some use once more.“134 In Oktober 1974 begann er mit dem letzten großen Orchesterwerk, die Suite on Englisch Folk Tunes mit dem Untertitel A Time There Was... – eine Referenz auf das letzte Lied in Winter Words. Es ist Percy Grainger gewidmet. Im gleichen Jahr entdeckte er eine neue Leidenschaft für T. S. Eliot, die zur Komposition des Canticle V, “The Death of Saint Narcissus“ führte. 1975 erreichte seine neue Schaffenskraft ihren Höhepunkt. Er schrieb Sacred and Profane für Stimme ohne Begleitung, A Birthday Hansel für Tenor und Harfe, eine Kantate mit dem Namen Phaedra und das während seines letzten Besuchs in Venedig fertiggestellte dritte Streichquartett. Das opernhafte Phaedra komponierte er für Janet Baker, die in Lucretia auf der Bühne und während der von Britten dirigierten Aufnahme sang. In den Selbstvorwürfen der Phaedra hat Britten selbst eine Nähe zum Protagonisten Aschenbach aus Der Tod in Venedig festgestellt. Das letztes Jahr in seinem Leben war 1976. Seine Gesundheit hatte sich verschlechtert, aber er arbeitete weiter. Er schrieb eine kleine Gebrauchsmusik, Welcome Ode, für die Kinder in Suffolk sowie Lachrymosa für Streichorchester. Im Februar wurde seine erste europäische Aufführung des Paul Bunyan (erste Fassung in 1941), den er vor zwei Jahren revidiert hatte, im Radio gesendet. Die optimistische jugendliche Energie dieses zusammen mit Auden geschaffenen Werks überwältigte ihn.135 Das Aldeburgh-Festival dieses Jahres konnte er noch an einigen Aufführungen besuchen. Dort erlebte er, wie sein neues Werk Phaendra die Zuhörer begeisterte.136 Während des Festivals ernannte die Königin den sterbenskranken Britten noch zum Lord mit dem offiziellen Titel „Baron 132 133 134 135 136 Vgl. Matthews, Britten, S. 149. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 205. Holst, Britten, S. 85. Vgl. Matthews, Britten, S. 150. Vgl. Holst, Britten, S. 86. 38 Britten of Aldeburgh in the Country of Suffolk“. Im November kam das Amadeus-Quartett zum Red House, um für einige Tage das dritte Streichquartett zu proben. In dieser Zeit konzentrierte sich Britten auf seine Arbeit an der Kantate Praise We Great Men, deren Text Edith Sitwells zum 300. Geburtstag Henry Purcells verfasst hatte. Vor dem Meeting für das Konzert mit Colin Matthews bemerkte er, dass er nicht mehr arbeiten konnte.137 Der aufgrund eines Konzertes nach Los Angeles und Toronto verreiste Pears bekam ein alarmierendes Telegramm von Rita Thomson. Er kehrte sofort zurück und fand den vom Tode gezeichneten Freund. Am 22. November organisierte Rita Thomson eine Geburtstagsparty zu seinem 63. Geburtstag und lud einige Freunde dorthin ein. Imogen Holst, Mary Potter, Prinzessin Margaret von Hessen und Brittens Schwester Barbara und Beth, jeder kam allein in sein Zimmer, um Abschied zu nehmen.138 Einige Tage später kam auch Rostropovich. Britten überreichte ihm ein unfertiges Stück, Praise We Great Men. Abb. 11: Britten am Klavier. Am frühen Morgen des vierten Dezember starb Britten. Drei Tagen später wurde er am Friedhof der Aldeburgh-Kirche begraben. In der Kirche sang ein Chor Hymn to the Virgin, welches Britten in seiner Schulzeit komponiert hatte. Der Grabstein unterscheidet sich nicht sehr von denen der Nachbargräbern und er ruht friedlich neben seinem Partner Peter Pears, der im Jahr 1986 starb. 137 138 Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 210. Vgl. Matthews, Britten, S. 155. 39 2. Britten als Vokalkomponist 2.1 Einflüsse Lieder nehmen in Brittens Schaffen einen beträchtlichen Raum ein. Sie begleiteten seinen kompositorischen Weg vom Anfang bis zum Ende, von den ersten, noch in der frühen Jugendzeit geschriebenen Liedern bis kurz vor seinem Tod. Er hatte sich immer ein ursprüngliches Verhältnis zur menschlichen Stimme und damit auch zu einer natürlichen, kantablen Melodik erhalten. Britten suchte ständig nach Texten in alten und neuen Anthologien, seine nicht selten sonderbaren und exotischen literarischen Fundstücke, auch seine unermüdliche Leseleidenschaft sind ein Erbe aus der frühen Jugend.139 Mit Dichtern wie W. H. Auden, T. S. Eliot, Wilfred Owen oder Edith Sitwell erschienen in Brittens Gedichtvertonungen die Exponenten einer neuen, von aller viktorianischen und edwardianischen Phraseologie sich befreienden, neuen englischen Lyrikergeneration. Britten war in allen maßgeblichen musikalischen Gattungen kompositorisch tätig und hat der englischen Musik ihre seit der Zeit des Barock verlorene Geltung zurückgewonnen. Er war den Bildungseinflüssen der Vergangenheit sowie der Gegenwart gegenüber offen und der heimatlichen Tradition der elisabethanischen Musik und deren Nachfolger Henry Purcell besonders verbunden.140 Anlässlich Purcells 250. Todestages komponierte Britten ein Werk mit didaktischem Zug für Kinder: The Young Person´s Guide to the Orchestra wurde am 15. Abb. 12: Henry Purcell Oktober 1946 in Liverpool uraufgeführt und ist ein Meisterwerk der kompositorischen Ableitungstechnik. Es basiert auf dem Rondo aus der Abdelazer-Suite von Henry Purcell und trägt den entsprechenden Untertitel Variations and Fugue on a Theme of Purcell. Henry Purcell lebte und wirkte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In London genoss er als Organist und Komponist zu seinen Lebzeiten hohes Ansehen. Sein Ruhm speiste sich vor allem aus seinen Werken für die Bühne. Die Oper Dido and Aeneas sowie die fünf sogenannten „SemiOpern“, Mischformen aus Schauspiel und Oper, die während seiner fünf letzten Lebensjahre entstanden, bilden einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der englischsprachigen dramatischen Musik. Dazu kommt Bühnenmusik für mehr als vierzig Schauspiele. Die englischen Theatermacher schätzten Purcells Kompositionen, weil er, so das Vorwort zum Orpheus 139 140 Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 75. Vgl. Werner Oehlmann, Reclams Liedführer, Stuttgart 1973, S. 879. 40 Britannicus, einem zweibändigen Sammelwerk mit »Songs« aus den Theatermusiken, „eine besondere Begabung dafür hatte, die Kraft der englischen Worte auszudrücken, womit er die Gefühle aller Zuhörer erregte.“ 1692 schrieb Purcell das berühmte Music for a while für das Schauspiel Ödipus. Es untermalt die Beschwörungsszene, in der König Laios auferstehen soll; die Musik wird zur Bezwingerin der Furien. Drei Jahre später entstand für die Tragödie Pausanias die Serenade Sweeter than roses. Britten bearbeitete, wie viele andere, auch dieses Stück seines großen Vorgängers. Er erzählte einmal: „In practically every one of our concerts, given the length of three continents over the last twenty years, Peter Pears and I have included a group of Purcell's songs. Although they were not included for chauvinistic reasons, it has been nice to find that foreign audiences accept these English songs alongside those of their own great classic song-writers... And not only in foreign places; in England too – where, to our shame, the music of Purcell is still shockingly unknown. It is unknown because so much of it is unobtainable in print, and so much of what is available is in realizations which are frankly dull and out of date. Because all Purcell's solo songs, secular and sacred, as well as his many big scenas, have to be realized. We have these wonderful vocal parts, and fine strong basses, but nothing in between (even the figures for the harmony are often missing). If the tradition of improvisation from a figured bass were not lost, this would not be so serious, but to most people now, until worked-out edition is available, these cold, unfilled-in lines mean nothing, and the incredible beauty and vitality, and infinite variety of these hundreds of songs go undiscovered...”141 Purcells Technik der Verbindung von Poesie und Musik ist eine Kunst, der Brittens Liedschaffen viel verdankt. In einer zeitgenössischen Ausgabe von Musik der Zeit wird Letzteres wie folgt charakterisiert: „Man denkt an seine ungestümen Rhythmen, seine gewagten misstönenden Akkordverbindungen, seine ausladenden Melodiebildungen ohne mechanische Wiederholungen ohrenfälliger Phrasierungen, insbesondere auch an seine Liebe zum Virtuosen, zum opernhaften und zur bewussten Anwendung wirklich klingender Brillianz.“142 141 142 On the Realizing the Continuo in Purcell´s Songs, zitiert in Kildea, Britten on Music, S. 166. Benjamin Britten, in: Musik der Zeit. 7, Bonn 1954, S. 36, zitiert in Abels, Benjamin Britten, S. 75. 41 2.2 Werkliste Es folgt nun eine vollständige Liste der von Britten verfassten Lieder 143: (BH = Boosey&Hawkes; FM = Faber Music) 1922-3 Beware! Text von H. W. Longfellow. (FM) 1928-31 Tit for Tat. Überarbeitet in 1968. 1929 The Birds. Mittlere Stimme, Text von H. Belloc; überarbeitet in 1934. (BH) 1935-36 When you´re feeling like expressing your affection. Hohe Stimme, Text von Auden; UA: Blythburgh, Holy Trinity Church, 15. Juni 1992. 1936 Two Ballads. Zwei Stimmen; 1. Mother Comfort (M. Slater), 2. Underneath the adject willow (Auden); UA: London, 31. Dezember 1936. (BH) On this Island, op. 11. Hohe Stimme; Text von Auden; (1. Let the florid music praise! 2. Now the leaves are falling fast 3. Seascape 4. Nocturne 5. As it is, plenty); UA: London (BBC Rundfunk) 19. November 1937. (BH) Fish in the unruffled lakes. Hohe Stimme; Text von Auden; UA: London (BBC Rundfunk) 22. November 1985. Night covers up the rigid land. Hohe Stimme; Text von Auden; UA: London, 22. November 1985. The sun shines down on the ships at sea. Hohe Stimme; Text von Auden. Not even summer yet. Hohe Stimme; Text von Peter Burra; UA: 1937. 1937-9 Four Cabaret Songs. Alt Stimme; Text von Auden; 1. Tell me the truth about love, 2. Funeral Blues, 3. Johnny, 4. Calypso. (FM) 1938 The Red Cockatoo. Hohe Stimme; Text von Po-Chu-i, übersetzt von A. Waley; UA: Snape, Maltings, 17. Juni 1991. 1940 Seven Sonnets of Michelangelo, op. 22. Tenor; Text auf Italienisch von Michelangelo (Sonnete Nr. XVI, XXXI, XXX, LV, XXXVIII, XXXII und XXIV); UA: privat in den USA 1940, öffentlich in London am 23. September 1942. (BH) 1942 Wild with passion and if Thou wilt ease. Hohe Stimme; Text von T. L. Boddes; UA: Blythburgh, Holy Trinity Church, 15. Juni 1992. 1945 Three Arias from Peter Grimes. Text von M. Slater; 1. Peter´s Dreams (Tenor), 2. Embroidery Aria (Sopran). 3. Church Scene (Sopran). (BH) The Holy Sonnets of John Donne, op. 35. Hohe Stimme; 1. O my blacke Soule, 143 Vgl. Kennedy, Britten, S. 300. 42 2. Batter my heart, 3. O might those sighes and teares, 4. Oh, to vex me, 5. What if this present, 6. Since she whom I loved, 7. At the round erarth´s imagined corners, 8. Thou hast made me, 9. Death, be not proud; UA: London, 22. November 1945. (BH) 1946 Three Arias from The Rape of Lucretia. Text von R. Duncan; 1. Flower Song (Alt), 2. The Ride (Tenor), 3. Slumber Song (Mezzo). (BH) 1947 Canticle I, My Beloved is Mine, op. 40. Hohe Stimme; Text von F. Quarles; UA: London, 1. November 1947 (BH) A Charm of Lullabies, op. 41. Mezzo-Sopran; 1. A Cradle Song, 2. The Highland Balou, 3. Sephestia´s Lullaby, 4. A Charm, 5. The Nurse´s Song; UA: The Hague, 3. Januar 1948; (BH). (Verworfene Lieder: Somnus the humble god und Come, little Babe.) 1952 Canticle II, Abraham and Isaac, op. 51. Alto oder Countertenor und Tenor; Text von Chester Miracle Play; UA: Nottingham, 21. Januar 1952. (BH) 1953 Winter Words, op. 52. Text von Thomas Hardy. Hohe Stimme; 1. At day-close in November, 2. Midnight on the Great Western, 3. Wagtail and Baby, 4. The little old Table, 5. The choirmaster´s burial, 6. Proud songsters, 7. At the railway station, 8. Before life and after; UA: 8. Oktober 1953. (BH) Verworfene Lieder: The hildren and Sir Nameless und If it´s ever Spring again. UA: London (BBC Rundfunk) 23. April 1985. 1954 Canticle III, Still falls the rain – The raids, 1940, Night and Dawn, op. 55. Tenor und Horn (mit Klavier); Text von E. Sitwell; UA: London, 28. Januar 1955. (BH) 1958 Sechs Hölderlin-Fragmente, op. 61. Text auf Deutsch von Friedrich Hölderlin; 1. Menschenbeifall, 2. Die Heimat, 3. Sokrates und Alcibiades, 4. Die Jugend, 5. Hälfte des Lebens, 6. Die Linien des Lebens; UA: (Rundfunk) 14. November 1958. (BH) 1959/1960 Um Mitternacht. Text von Goethe; UA: Blythburgh, Holy Trinity Church, 15. Juni 1992. 1965 Songs and Proverbs of William Blake, op. 74. Bariton; Text von William Blake, ausgewählt von P. Pears; Proverb I – London – Proverb II – The chimney-sweeper – Proverb III – A Poison Tree – Proverb VI – The Tyger – Proverb V – The Fly – Proverb VI – Ah, Sunflower! – Proverb VII – Every Night and Every Morn; UA: Aldeburgh, 24. Juni 1965. (FM) The Poet´s Echo, op. 76. Hohe Stimme; Text auf Russisch von A. Pushkin, englische 43 Version von P. Pears; 1. Echo, 2. My heart..., 3. Angel, 4. The Nightingale and the Rose, 5. Epigram, 6. Lines written during a sleepless night; UA: Moskau, 2. Dezember 1965. (FM) 1968 Tit for Tat. Gedichte von Walter de la Mare; 1928-31 komponiert, 1968 überarbeitet; 1. A Song of Enchantment (1929), 2. Autumn (1931), 3. Silver (1928), 4. Vigil (1930), 5. Tit for Tat (1928); UA: Aldeburgh, 23. Juni 1969. (FM) 1969 Who Are these Children?, op. 84. Tenor; Texte von von William Soutar; 1. A Riddle, 2. A Laddie´s Sang, 3. Nightmare, 4. Black Day, 5. Bed-time, 6. Slaughter, 7. A Riddle (The Child you were), 10. Supper, 11. The Children, 12. The Auld Aik; UA: Cardiff, 7. März 1971. Verworfene Lieder: 1. Dawtie´s devotion, 2. Tradition, 3. The Gully. 1971 Canticle IV, Journey of the Magi, op. 86. Countertenor, Tenor und Bariton; Text von T. S. Eliot; UA: Snape, 26. Juni 1971. (FM) 1975 Four Burns Songs (Nr. 3,4,5 and 6 von A Birthday Hansel), op. 92. 1. Afton Water, 2. Wee Willie Gray, 3. The Winter, 4. My Hoggie; Klavierbegleitung arrangiert von C. Matthews. (FM) 44 2.3 Peter Pears Der britische Tenor Peter Pears wurde am 22. Juni 1910 in Farnham geboren. Seine Familie war wohlhabender als die Brittens, aber im Unterschied zu jenem verbrachte er viel Zeit entfernt von seinen Eltern. Der Vater stammte aus einer Offiziersfamilie und war als hoher Militärbeamter in Afrika, Südamerika und Indien tätig. Aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit konnte er seinen Sohn erst nach 20 Jahren kennenlernen. Er besaß darum – wie auch Britten – eine starke Mutterbindung.144 Im Jahr 1934 wurde er von der Schwester seines Freundes Peter Burra ermutigt, noch einmal die Aufnahmeprüfung für das Royal College of Music zu versuchen, weil er es beim ersten Mal nicht geschafft hatte. Diesmal gelang es ihm und er gewann darüber hinaus auch ein Stipendium. Er verließ aber bald das College und begann danach seine Laufbahn im Chor Abb. 13: Britten und Pears gemeinsam am Klavier der BBC.145 Damals war seine Stimme noch eher klein und er war sich selbst auch nicht sicher, ob er Tenor oder Bariton sei. Sein Leben als Sänger war damals noch nicht gefestigt und teilweise dilettantisch. Wenn er nicht Britten begegnet wäre, hätte er sich wahrscheinlich nicht zu einem so außergewöhnlichen Sänger entwickelt. 146 Die meisten Vokalwerke Brittens sind explizit für Peter Pears geschrieben, d. h. mit besonderer Rücksicht auf praktische Ausführbarkeit und gesangliche Wirkung. Pears hatte angeblich eine sehr ähnliche Stimme wie Brittens Mutter,147 wodurch sich Britten bei ihm geborgen fühlte. Seine sensible, leidenschaftliche und intelligente Art des Singens war genau das, was Britten wollte. 148 Es ist ein seltener, aber umso glücklicherer Umstand, dass ein Komponist einen Sänger findet, mit dem er kontinuierlich Dinge ausprobieren und arbeiten kann. Pears und Britten arbeiteten 35 Jahre lang zusammen. Britten und Pears gaben gemeinsam zahlreiche Konzerte, für die Britten manchmal Volkslieder arrangierte, teils als Auflockerung des Programms, teils auch als Zugaben. Seine einzigartigen und farbenfrohen Arrangements hauchen diesen traditionellen Liedern neues Leben ein und gehen weit über die einfachen Harmonien diverser Ausgaben (z. B. die von Cecil Sharp) hinaus. Seine ersten Arrangements stammen von Ende 1941, als er in Amerika lebte und voll Heimweh nach England war. 144 145 146 147 148 Vgl. Abels, Benjamin Britten, S. 44. Vgl. Matthews, Britten, S. 42. Vgl. ebenda. Johnson, Britten, Voice and Piano, S.11. Vgl. Holst, Britten, S. 30. 45 Pears schützte den sensiblen Britten lebenslang vor Kritikern und der Gesellschaft. Brittens Brief am 3. April 1966 beweist dessen intimes Vertrauen zu Pears: „I am sorry I have been such a drag on you these last years... It may not seem like it to you, but what you think or feel is really the most important thing in my life. It is an unbelievable thing to be spending my life with you; I can´t think what the Gods were doing to allow it to happen! You have been so wonderful to me, given so much of your life, such wonderful experiences, knowledge and wisdom which I never could have approached without you. And above all – your love, which I never have felt so strongly as in the lowest moments, physically and spiritually, of that old op. What's all this gush in aid of – only, really to say sorry for having mucked up your Easter plans, and to make quite sure that you realise that I love you!”149 Als Brittens Rückzug aufgrund seiner Krankheit offensichtlich wurde, begann sich die Beziehung zwischen den beiden doch ein wenig zu ändern. Die schottische Krankenschwester Rita Thomson nahm jetzt die Mutterrolle ein und Pears fand einen anderen, jüngeren Freund. Trotz dieser Situation blieben sie als Freunde zusammen. Am 4. Dezember 1976 starb Britten in den Armen von Pears, welcher später über diesen Augenblick geschrieben hat: „He was certainly not afraid of dying. There was no struggle to keep alive... his greatest feeling was sadness and sorrow at the thought of leaving... his friends and his responsibilities.”150 Pears blieb nach Brittens Tod in Red House und setzte seine Konzertreisen mit Brittens Musik bis zum Jahre 1980 fort, wo er einen Herzanfall bekam. Er starb 1986 und wurde neben seinem Partner begraben. 149 150 Matthews, Britten, S. 140. Ebenda, S. 155. 46 3 Betrachtung ausgewählter Liederzyklen 3.1 Begründung der Liedauswahl Die Autorin hat sich bei der Auswahl der zu betrachtenden Lieder auf drei Liederzyklen beschränkt, von denen jeweils ein Lied genauer untersucht werden soll. Diese drei Zyklen, nämlich On this Island, op 11; Winter Words, op 52 und Songs and Proverb of William Blake, op 74, stammen aus gänzlich verschiedenen Schaffensperioden, mit einem Abstand von jeweils ca. zehn Jahren, und sind somit geeignet, die Entwicklung Brittens als Liedkomponist exemplarisch aufzuzeigen. Brittens Verständnis und Liebe gegenüber der Poesie wurde schon früh offenkundig, denn die Vokalkomposition nahm bereits in seiner Jugend einen breiten Raum ein. Seine Werke zeigen deutlich, dass er tief in die Gedichte hineinlas, sie gänzlich zu durchdringen versuchte, um anschließend die bestmögliche musikalische Umsetzung zu erreichen. Seine Lieder verhalten sich meiner persönlichen Meinung nach sehr treu gegenüber den Gedichttexten. Teilweise kann man nur durchs Hören, ohne den Text zu kennen, den Inhalt erahnen. Er hatte die besondere Gabe, Gedichte durch die Musik noch lebendiger und bunter zu machen, ohne in eine bloße Illustration zu verfallen. Mit wachsender Lebenserfahrung traten seine Fähigkeiten als Liedkomponist immer klarer hervor. Auch in anderer Hinsicht hat die Zeit in den Liedern ihre Spuren hinterlassen: Brittens Schaffen ist immer auch ein Spiegel der jeweiligen biographischen, aber auch gesellschaftlichen Situation. Zum Zeitpunkt der Komposition von On this Island Mitte der 30er Jahre war Britten gerade 23 Jahre alt. Dieser Liederzyklus hat einen eher unbeschwerten Charakter; die Lieder wirken frisch, mutig, neugierig, dazu tritt eine eigentümliche Mischung aus Aggressivität auf der einen und ironisch-humoristischen Elementen auf der anderen Seite. Er wurde damals durch seinen reizvollen Freundeskreis sehr inspiriert und motiviert, was sich im großen, durch den ganzen Zyklus gehenden Schwung ablesen lässt. Die geschickten Szenenwechsel sind ganz natürlich und doch spannend gebaut und zeigen seine Empfindsamkeit gegenüber der Sprachkunst. Die von Britten selbst ausgewählten Texte bergen inhaltlich einige Unklarheiten und Geheimnisse, die er aber vielleicht schon damals auf seine Weise erahnen konnte. Die Lieder von Winter Words aus dem Jahre 1953 hingegen wirken wie Gemälde, die eine geradezu farbenreiche optische Imagination ermöglichen. Anhand Brittens Textauswahl kann man sehen, dass er die Unschuldigen und Hilflosen, also diejenigen, die in der Gesellschaft keine Sicherheit haben und miserabel behandelt werden, immer besonders wichtig nahm. Brittens Kompositionen sind geprägt von seiner großen Empfindlichkeit gegenüber den Menschen – seine Freunde nannten ihn „skinless“ – und vor allem von seiner Liebe zur Gesellschaft. Im Vergleich zu On this Island 47 klingen die Lieder insgesamt reiner, aber auch dunkler und teilweise grotesk. Songs and Proverb of William Blake entstand 1965, während einer für Britten schwierigen psychischen Situation. Obwohl die Gedichte schon recht alt waren (und Britten bevorzugt zeitgenössische, moderne Texte vertonte), beeindruckte deren Inhalt ihn so sehr, dass er sich für eine Vertonung entschied. Thema ist auch hier wieder die Ungerechtigkeit und Unterdrückung von Menschen aufgrund des sozialen Standes. Britten selbst durfte nicht öffentlich über seine Sexualität sprechen, weshalb er das Gefühl der gesellschaftlichen Ausgrenzung sehr gut nachvollziehen konnte. Auch andere Ereignisse in seiner Biografie trugen zu seiner Haltung bei. Besonders geprägt hatte ihn die Benefiz-Tournee, die er nach Kriegsende gab. Er litt lange an den furchtbaren Eindrücken, gleichzeitig wollte er danach immer solidarisch mit den gesellschaftlich Schwachen bleiben. Die gemeinsam mit Pears zusammengestellten Texte drücken seinen Ärger gegen eine gnadenlose Gesellschaft aus, ohne jedoch den Glauben an eine bessere Zukunft zu verlieren. Diese drei Liederzyklen zeigen nicht nur Brittens kompositorische Entwicklung und allgemeinen Gedanken zur Musik, sondern auch seine persönliche Veränderung als Künstler. Man begibt sich auf eine weite Reise von der lebensfrohen, überschwänglichen Jugendzeit über den späteren inneren Verzweiflungsschrei bis hin zur wiedererlangten, entschlossenen Hoffnung. 3.2. On this Island 3.2.1 W. H. Auden „O dear white children casual as birds, Playing among the ruined languages, ... come down and startle Composing mortals with immortal fire.” (Zitat aus Audens Gedicht, Britten gewidmet)151 Das Liedschaffen umfasst einen großen Teil von Brittens Gesamtwerk, der darin am häufigsten vertonte Dichter war Wysten Hugh Auden. Auden war offen homosexuell und Nonkonformist; als Britten ihn das erste Mal traf, war er gerade mit einer deutschen Frau verheiratet (nämlich Erika Mann, der Tochter von Thomas Mann), nur um ihr eine britische Staatsangehörigkeit verschaffen und sie somit vor der Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland zu retten. 151 Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 97. 48 Auden wurde am 21. Feburar 1907 als Arztsohn in York geboren. Obwohl er zur Zeit des Kriegs ohne festen Wohnsitz war, besucht er ab 1915 die St. Edmund Schule in Hindhead-Surrey. Im Alter von 13 Jahren hatte er bereits seine ersten Gedichte verfasst; 1922 entschied er sich endgültig dafür, Schriftsteller zu werden. Danach besucht er das Christ Church College in Oxford, wo er auch den Autor Christopher Isherwood kennenlernte. Auden ist von den großen englischsprachigen Dichtern des 20. Jahrhunderts mit Abstand der vielseitigste. Er war Dichter, Reiseschriftsteller, Librettist, Drehbuchautor, Kritiker, Herausgeber, Übersetzer und akademischer Lehrer. Er besaß schon früh breite Kenntnisse nicht nur der literarischen, philosophischen und theologischen Tradition, sondern auch zeitgenössischer Wissenschaftszweige. In dem Band Poems aus dem Jahre 1930 zeigt sich ein explosives Gemisch aus wechselnden Sprechweisen und Stilformen. Dieser Band beeinflusste die damalige zeitgenössische Dichtergeneration, insbesondere Stephen Spender, Cecil Day und Louis Abb. 14: W. H. Auden Macneice. Die zweite Auflage (1933), die ihn berühmt machte, zeichnet sich durch einen unverwechselbaren und bis dahin unerhörten Tonfall aus, der als „Audenesque“ in der Literaturgeschichte eingetragen ist.152 Audens zentrales Thema war die Frage nach dem Zustand des Individuums in der Massengesellschaft. Auden zog 1939 nach New York. Von 1941 bis 1942 unterrichtete er an der Universität Michigan und nahm schließlich 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Seine späteren Gedichte haben vielleicht nicht die gleiche Stärke und Prägnanz wie die früheren, aber Auden war bis zum Schluss vielseitig schöpferisch tätig und innovativ in seiner Sprache. Gemeinsam mit Chester Kallman schrieb er einige Libretti, z. B. für Igor Strawinsky (The Rake´s Progress, 1951) und Hans Werner Henze (Elegy for Young Lovers, 1959; The Bassarids, 1963). Auden arbeitete öfter mit dem sieben Jahr jüngeren Britten zusammen, aber Ende des Jahres 1953 kam es zu einem entscheidenden Abbruch der Freundschaft. Britten erhielt einen Brief von Auden, in welchem dieser eines seiner Stücke kritisierte (wahrscheinlich Brittens Oper Gloriana). Britten war sehr empfindlich gegenüber jedweder Kritik und konnte damit nicht umgehen. Er zerriss den Brief in kleine Stücke und schickte ihn zurück.153 Trotz dieser Trennung war klar, dass Britten von Auden stark beeinflusst war. Auden selbst wusste 152 153 Vgl. Rudolf Radler, Kindlers Neues Literatur Lexikon, Band 1, München,1989, S. 842. Vgl. Matthews, Britten, S. 66. 49 auch genau, welche Fähigkeiten und Persönlichkeit Britten in sich trug. Am 31. Januar 1942 schrieb er an Britten: „There is a lot I want to talk to you about, but I must try and say a little of it by letter. I have been thinking a great deal about you an your work during the past year. As you know I think you are the white hope of music; for this very reason I am more critical of you than of anybody else, and I think I know something about dangers that you beset you as a man and as an artist because they are my own. Goodness and beauty are the results of a perfect balance between Order and Chaos, Bohemianism and Bourgeois Convention. Bohemian chaos alone ends in a mad jumble of beautiful scraps; Bourgeois convention alone ends in large unfeeling corpses. Every artist except the supreme masters has a bias one way or the other... For middle-class Englishmen like you and me, the danger is of course the second. Your attraction to thin-as-a-board juveniles, i.e. to the sexless and innocent, is a symptom of this. And I am certain too that it is your denial and evasion of the demands of disorder that is responsible for your attacks of ill-health, i.e. sickness is your substitute for Bohemian. Wherever you go you are and probably always will be surrounded by people who adore you, nurse you, and praise everything you do, e.g. Elisabeth, Peter (Please show this to P to whom all this is also addressed). Up to a certain point this is fine for you, but beware. You see, Bengy dear, you are always tempt to make things too easy for yourself in this way, i.e. to build yourself a warm nest of love (of course when you get it, you find it a little stifling) by playing the lovable talented little boy. If you are really to develop to your full stature, you will have, I think, to suffer, and make others suffer, in ways which are totally strange to you at present, and against every conscious value that you have; i.e. you will have to be able to say what you never yet have had the right to say – God, I'm a shit. This is all expressed very muddle-headedly, but try and not misunderstand it, and believe that it is only my love and admiration for you that makes me say it...”154 Von 1956 bis 1960 arbeitete Auden in Oxford als Professor für Poesie. Seit dem Jahr 1957 verbrachte Auden die Sommer in Österreich und er starb im September 1973 in Wien. Brittens Antwort auf die Todesnachricht war, in Donald Mitchell´s Wort, „a storm of tears.”155 154 155 Mitchell und Reed, Letters from a Life, S. 1015. Vgl. Kennedy, Britten, S. 63. 50 3.2.2 Entstehungsgeschichte und Überblick Benjamin Brittens frühestes großes Vokalwerk, Our Hunting Fathers op. 8, ein symphonischer Zyklus für Sopransolo und Orchester nach Texten von Auden aus dem Jahre 1936, ist nicht dem Bereich des Liedes zuzuordnen. Im Jahre 1938 folgte als Opus 11, wieder nach Gedichten Audens, der aus fünf Liedern bestehende Zyklus On This Island. (Obwohl es als Zyklus bezeichnet wird, handelt es sich eher um eine lose Sammlung mehrerer kleiner Lieder.) Britten schrieb ausgehend von Audens dazu noch die Ballad of Heroes (1939) für Chor und Orchester, die „Operette“ Paul Bunyan (vollendet 1941) und die Hymn to St Cecilia (1942) für Chor. Darüber hinaus vertonte Britten während dieser Zeit eine Reihe anderer Gedichte von Auden, die zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht blieben. Audens Ästhetik hatte einen nachhaltigen Einfluss auf Brittens Liedschaffen. Pears meinte dazu: „Britten´s song-cycles of mixed origin are much more like Auden's vision of poetry than any other literary person's.”156 On this Island lässt einen Einfluss von Strawinskys Apollon Musagète (1927-1928) erkennen, worauf Peter Pears beim Mitchell-Keller-Symposium 1952 hingewiesen hat. 157 Audens Worte sind nicht immer eindeutig verständlich und bei einigen Gedichten scheint es, als ob er nur zu einem kleinen Kreis von Eingeweihten sprechen würde. Das erste Lied, Let the florid music praise, beginnt mit opernhafter, barockisierender Emphase, setzt zu einer bravourösen Koloraturpassage an und mündet schließlich in eine lyrische Melodie in Moll, die deutlich an Brittens großes Vorbild Purcell angelehnt ist. Das zweite Lied, Now the leaves are falling fast, behandelt einen damals aktuellen politischen Inhalt. Die laufenden Sechzehntel der Vokallinie und die pochenden Achtel der Klavierbegleitung vermitteln ein unruhiges Gefühl. Kurz vor dem Ende erklingt ein kühle Akkordfolge, die darauf verweist, dass man im Traum Frieden findet. Das dritte Stück, Look Stranger, at this Island now, bringt stürmische Steigerungen mit einer ununterbrochener Begleitung, die an den Schaum der Meereswellen denken lässt. Das vierte Lied, Nocturne, wirkt mit seiner konsequenten musikalischen Ökonomie vielleicht am persönlichsten und weist bereits auf die inspirierte Schlichtheit späterer Werke wie Les Illuminations und die Michelangelo Sonnets hin. Mit seiner Dreiklangsmelodik und dunklen cis-Moll-Harmonik beschwört es den Klang des 19. Jahrhunderts herauf. Das Tempo ist Andante, die Phrasen steigen und fallen langsam wie ein großer Atembogen. Das letzte Lied, As it is plenty, enthält einen ironischen Text, die Musik ist leicht und tänzerisch, mit gezielten Reizdissonanzen und spielerischen Anklängen an die Unterhaltungsmusik.158 Die Uraufführung durch die Sopranistin Sophie Weiss mit Britten am Klavier fand im November 156 157 158 Mervyn Cooke, The Cambridge Companion to Benjamin Britten, Cambridge 1999, S. X. Vgl. Kennedy, Britten, S. 133. Oehlmann, Reclams Liedführer, S. 880. 51 1937 bei einem BBC-Konzert für zeitgenössische Musik statt. Die Partitur erschien im Oktober 1938 bei Boosey & Hawkes. 3.2.3 Beispielanalyse Let the florid music praise! Hier soll nun das erste Lied des Zyklus, Let the florid music praise!, analysiert werden. Dieses im Oktober 1937 komponierte Lied weist vielfältige Anklänge an die Barockmusik auf, insbesondere an Henry Purcell und G. F. Händel. Außerdem hört man eine deutliche Beeinflussung durch Strawinskys Neoklassizismus, von dem Britten sehr begeistert war, sodass auch dieses Lied jener Stilrichtung zuzuordnen ist. Britten schrieb paradoxerweise eine barockisierende, prächtige Klavierbegleitung zu schreiben, die im Gegensatz zum wehmütigen Text über eine verlorene Liebe steht. (Bei dem Text handelt es sich eigentlich um einen Lobgesang Audens an einen seiner Liebhaber.)159 Let the florid music praise! Munter rühme die Musik! Let the florid music praise, Munter rühme die Musik The flute and the trumpet, – Flöte wie Drommete – Beauty’s conquest of your face: Auf deiner Haut der Schönheit Sieg! In that land of flesh and bone, Dort, wo im Land aus Fleisch und Bein Where from citadels on high Von hoher Zinne nunmehr kühn Her imperial standards fly, Im Winter ihre Standarten weh’n, Let the hot sun Shine on, shine on Soll die Sonne heiß, Erglühn, erglühn. O but the unlov’d have had power, Stets hatten Ungeliebte Macht The weeping and striking, Zu kämpfen, sich zu wehren. Always; time will bring their hour: Hallt dereinst der Stunde Schlag: Their secretive children walk Ziehen ihre Kinder stumm Through your vigilance of breath Hin durch eures Atems Wacht To unpardonable death, Zu dem nie verziehnen Tod, And my vows break Und mein Gelübde bricht Before his look. Vor seinem Blick. Die Einleitung entstand nach einem Rat von F. Bridge. Britten erzählte dazu: 159 Vgl. Johnson, Britten, Voice and Piano, S. 148. 52 „Originally it began with a downward glissando on the piano. Bridge hated that, and said I was trying to make a side-drum or something non-tonal out of the instrument: on the piano, the gesture ought to be a musical one. So I rewrote it as the present downward D major arpeggio.“160 Das Lied beginnt in der Tonart D-Dur, welche in der Musikgeschichte oft für feierliche Werke verwendet worden ist, und trägt die Vortragsbezeichnung „Maestoso – non troppo presto“. Nach dem bereits erwähnten Arpeggio am Beginn setzt im zweiten Takt der Gesang mit einer fanfarenartigen, emphatischen Melodie ein, auf eine erneut nach unten stürzenden Arpeggio-Figur im Klavier folgt. Diese Phrase wird leicht variiert wiederholt, woraufhin hin in T. 9 als Antwort eine kontrastierende, abwärts gerichtete Linie im Gesang erklingt, die im Klavier von parallel verschobenen Dur-Dreiklängen begleitet wird. Man beachte den bewussten Querstand in T. 10 zwischen dem B-Dur-Akkord im Klavier und dem Ton h im Gesang. Bis hierhin handelt es sich um eine Barform mit dem Formschema AAB. In T. 12-16 erscheint eine 2½-taktige Phrase, die motivisch von A abgeleitet ist. Diese wird daraufhin sequenzierend und variiert wiederholt, wobei es zu einer überraschenden Wendung nach Fis-Dur kommt. In T.- 17 hören wir ein neues Motiv C in Form einer fallenden Quart, die im Abstand einer Terz mehrmals nach unten sequenziert wird. Die Begleitung im Klavier erfolgt in parallelen Dur-Akkorden im Terzabstand (Fis, D, H, G). Als vorläufiger dynamischer Höhepunkt erschient in T. 20 auf dem Text „Let the hot sun shine“ eine abgewandelte Form des Motivs aus B, und zwar mit kadenzierender Funktion. Auffällig ist die Harmonisierung des Tones g durch den in diesem Kontext unerwarteten Es-Dur-Akkord, der noch dazu in einem weit entfernten Verhältnis zum darauffolgenden fis-Moll-Akkord steht. Auf dem Wort „Shine“ erklingt in der Stimme ein langer Triller, der gemeinsam mit einer erneuten ArpeggioFigur im Klavier in einen langen Koloratur-Teil auf letzten Silbe mündet (T. 22-28), der mit „con bravura“ überschrieben ist. Hier kommt es zu einem Wechselspiel zwischen den schnellen Akkordbrechungen in der Stimme und der hüpfende Begleitfigur im Klavier. Strukturell handelt es sich bei T. 22-25 um eine barockisierende Terzfallsequenz. Britten verwendet hier jedoch eine subtile Verfremdungstechnik, nämlich die Vermeidung von Terzen in der Klavierbegleitung, sodass statt Dur-Akkorden nur leere Quint-Akkorde zu hören sind. In T. 26 erscheint das Quartmotiv aus C, diesmal zweimal real sequenziert. In T. 27 führt die Singstimme schrittweise in die Höhe, um dann in T. 28 wieder abzusinken. Der Bass wird in diesen zwei Takten konsequent in Gegenbewegung geführt, wobei sich scharfe Dissonanzen ergeben. Auf dem dritten Schlag von T. 28 kommt zu einer Art Halbschluss auf der Dominante (eigentlich e-Moll über den Basston A). Hier hält das Stück kurz inne, um im Takt darauf im ff zur Kadenz anzusetzen. 160 Kildea, Britten on Music, S. 252. 53 In T. 30-33 wird die Arpeggio-Figur über einem langsam steigenden Bass weitergeführt, wobei der Klaviersatz neben dem diminuendo und poco ritardando auch satztechnisch ausgedünnt wird und mit dem D-Dur-Sextakkord als Zwischendominante in den zweiten Teil nach g-Moll führt. Der zweite Teil steht im 6/4-Takt und ist mit „Poco più lento – grazioso e rubato“ überschrieben. Die wehmütig klagende Melodie erinnert an die Arien von G. F. Händel. Am Ende von T. 35 wird die Arpeggio-Figur in ihrer Moll-Variante eingewoben. In darauffolgenden zwei Takten erklingen variierte Abspaltungen in Form von abwärts führenden Skalenausschnitten mit nachschlagendem Pedalton und in T. 38 eine kurze Seufzermotiv-Kette. T. 36-37 ist eigentlich eine diatonische Quintfallsequenz in c-Moll (VI7 – II7 – V7 – I7), wobei auch hier Britten das Modell bewusst verfremdet: Bei VI7 und V7 bringt die Singstimme einen zusätzlichen akkordfremden Ton, bei II7 und I7 fehlt hingegen die Terz (vgl. T. 22-25). In T. 37-40 schreibt Britten eine chromatisch absteigende Basslinie, als sogenannter Lamento-Bass ein beliebtes Stilmittel des Barock. Der zweite Akkord in T. 39 ist ein Hybrid aus As-Dur mit großer Septime und einem BDominantseptakkord in dritter Umkehrung; er ist ein Resultat aus dem liegenbleibenden Ton g und stellt eine subtile harmonische Abweichung dar. Die chromatisch aufsteigende Klavierlinie in T. 41 übernimmt den nachschlagenden Pedalton aus den vorhergehenden Takten und bildet einen Ausgleich zum zuvor gehörten Lamento-Bass. Stilistisch passt diese Figur eher zur Wiener Klassik als ins Barock. Der D-Dominantseptakkord mit Quartvorhalt in T. 42 führt uns zurück nach g-Moll; dabei erklingt wieder die Arpeggio-Figur, von welcher auch das Bassmotiv der nächsten zwei Takte abgleitet ist. In T. 44 wendet sich das Stück zunächst in Richtung As-Dur. Der Text lautet: „Their secretive children walk / Through your vigilance of breath“. Hier gleitet die Musik in einen unerwarteten spätromantischen Chromatizismus ab – besonders zu erwähnen ist die chromatische Klangverwandlung Es7/G → Ges7 in T. 45-46 bzw. analog dazu Ces7/Es → D7 in T. 47-48. Mit dem Text „To unpardonable death“ führt die Singstimme in die dunkelste Tiefe (mit dem tiefsten Ton cis auf dem Wort „death“), während der Ton d in der rechten Hand des Klaviers einsam im Himmel zu schweben scheint. Im Takt darauf führt eine lange Seufzermotiv-Kette wieder nach unten, wobei die Töne as und f mit dem darunterliegenden D-Dominantseptakkord kollidieren. Die verminderte Terz es – cis am Übergang von T. 48 und 49 war schon im Barock Mittel zur Textausdeutung und es ist kein Zufall, dass dieses Intervall hier in Zusammenhang mit dem Wort „death“ auftritt. Außerdem steht das cis, als Leitton zum Grundton d, in scharfer Dissonanz zur bereits erklingenden kleinen Septime c. In T. 50 kommt es zu einer Wiederaufnahme des Beginns mit einer lautenartigen, arpeggierenden Klavierbegleitung. Das Wort „break“ wird scheinbar unendlich in die Länge gezogen und die Musik scheint stillzustehen. Nach einer kurzen Zäsur setzt mit dem Text „Before his look“ über einen Dominantseptakkord mit Quartsextakkord die letzte Phrase ein. Über den 54 Basston d erklingt in der rechten Hand wieder die Arpeggio-Figur, diesmal in g-Moll und – als bewusste harmonische Abweichung – als fis-Moll und es-Moll. Nun folgt noch ein 5-taktiges Nachspiel; der Satz ist zweistimmig gehalten, in der rechten Hand finden sich zum Teil extreme Sprünge (eine immanente Mehrstimmigkeit?), der Abstand zur linken Hand ist zunächst groß und verringert sich erst gegen Ende hin. Dazwischen erscheint zweimal das Arpeggio-Motiv als leiterfremder f-Moll-Akkord, wie eine Botschaft aus einer längst vergangenen Zeit. Das Stück endet schließlich im unisono auf dem Ton g und hinterlässt ein Gefühl der Leere und Kälte. Britten bedient sich in Let the florid music praise! althergebrachter Mittel, um eine möglichst klare musikalische Aussage zu treffen. Die traditionellen Modelle werden jedoch zugunsten des Ausdrucks gebrochen und verfremdet, sodass Britten in diesem Stück der „seconda prattica“ eines Monteverdi oder Gesualdo ästhetisch womöglich nähersteht als dem eher intellektuellen Neoklassizismus Strawinskys, obwohl beide auf ähnliche Techniken zurückgreifen. 3.3 Winter Words 3.3.1 Thomas Hardy Der englischer Schriftsteller Thomas Hardy wurde am 2. Juni 1840 in Upper Bockhampton geboren. Er war Sohn eines Baumeisters. Nach einer Architektenlehre ging er nach London und begann neben seiner Arbeit als Kirchenrestaurator zu schreiben. Er verstand sich selbst zeitlebens in erster Linie als Dichter, obwohl er am Anfang seiner Karriere mit Romanen und Kurzgeschichten an die Öffentlichkeit trat. Abb. 15: Thomas Hardy. Erst nach seiner Abkehr von der Prosa, nach seinem letzten Roman Jude the Obscure (1895), publizierte Hardy bis zu seinem Tod mehrere Gedichtsammlungen. Die Gesamtausgabe seiner Gedichte zählt insgesamt 947 Texte.161 Seine Gedichte sind in mehrere Hinsicht ideal als Gesangstext: Sie sind oft kurz, mit einem stabilen Metrum und einer einheitlichen Stimmung. Hardys Gedichte entstammen meist seinem persönlichen Erfahrungsbereich, sie beschreiben alltägliche Erlebnisse, Gefühle und Stimmungen, Erinnerungen an vertraute Menschen und 161 Vgl. Radler, Kindlers neues Literatur-Lexikon, S. 292. 55 Situationen, ohne allzu selbst-analytisch oder introspektiv zu sein. Desillusionierende oder tragikomische Ereignisse vor dem Hintergrund stimmungsvoller Naturschilderungen dienen immer Hardys Anliegen, die Schönheit im Hässlichen aufzuzeigen. Zu den zentralen Botschaften der Gedichte gehört Hardys Philosophie eines Universums, das von einem immanenten Willen gelenkt wird und dem tragischen Schicksal des Individuums gleichgültig gegenübersteht. Tod, Vergänglichkeit, Einsamkeit, zerstörte Hoffnungen und unglückliche Liebe sind immer wiederkehrende Themen. Dort erreicht Hardys Lyrik ihre höchste Intensität, so vor allem in den vom plötzlichen Tod seiner ersten Frau Emma inspirierten elegischen Poems of 1912-1913, die zu seinen hervorragendsten Gedichten gehören. Zu den besonderen Stilmerkmalen in Hardys Lyrik zählt ein künstlerisches Understatement, das seinen Ausdruck in einer Ästhetik scheinbarer Kunstlosigkeit findet. Hinzu gehört der klare, von subtilen Untertönen weitgehend befreite Ton ebenso wie die bewusste Verwendung metrischer Unregelmäßigkeiten – was Hardy oft den Vorwurf einbrachte, eine banale und unbeholfene Lyrik zu produzieren. Aufgrund seiner Ansicht, der Dichter könne immer nur versuchen, herkömmliche Themen mit traditionellen Mitteln besser zu gestalten, sucht man in Hardys lyrischem Werk vergeblich nach spektakulären Neuerungen. Nach Hardys Tod 1928 kam es zu einer allmählichen Neubewertung seiner Lyrik. Die USamerikanische Literaturzeitschrift „Southern Review“ widmete ihre Winterausgabe 1940 dem englischen Dichter; unter den zahlreichen Beiträgen findet sich auch ein anerkennender Artikel von W. H. Auden162. Dies verhalf Hardys Werk zu breiter Aufmerksamkeit und markierte einen deutlichen Wendepunkt in der Hardy-Rezeption. 3.3.2 Entstehungsgeschichte und Überblick Der nach Gedichten von Thomas Hardy zwischen Gloriana und The Turn of the Screw im Jahr 1953 entstandene Zyklus Winterwords op. 52 wurde von Britten für eine Aufführung gemeinsam mit Pears im Leeds-Festival komponiert. 163 Das Werk ist John und Myfanwy Piper gewidmet; Britten selbst spricht nicht von einem Liederzyklus, sondern bevorzugte die Bezeichnung „Lyrik und Ballade“. Er hatte aus den Gedichtanthologien Hardys insgesamt acht Texte ausgewählt. Hardys Gedichte, die melancholischen Fatalismus und naive Vorstellungen enthalten, machten auf Britten einen tiefen Eindruck und so entstand eines seiner beste Werk für Stimme und Klavier. Die blumigornamentale Technik aus früheren Werken ist verschwunden, an deren Stelle tritt eine ökonomische 162 163 Vgl. W. H. Auden, A Literary Transference in: Southern Review, Winterausgabe 1940. Vgl. Oliver, Benjamin Britten, S. 196. 56 und epigrammatische Strenge. In Winterwords wirkt wie eine Aufeinanderfolge von musikalischen Szenen, ähnlich wie in der Winterreise von Schubert. Wie im darauffolgenden Werk, The Turn of the Screw, thematisiert Winterwords den Verlust der Unschuld durch das Erwachen des Bewusstseins. 164 Das erste Stück At day-close in November ist eigentlich kein „Winterstück“, sondern eher ein „Herbststück“ mit raschem Walzer-Rhythmus in dMoll, der Originaltonart des ersten Stückes der Winterreise. Besonderer Schwung entsteht durch die aufsteigenden Akkordbrechungen, mit Achtelnoten in der linken Hand, überlagert von Achteltriolen in der rechten Hand. In Midnight on the Great Western nimmt ein Zug mit seinem motorischen Rhythmen und Warnsignalen einen kleinen Jungen mit in eine unbekannte Welt. Wagtail and Baby bringt einen wiegenden 6/8-Takt mit vogelartigen Zwischenrufen im Klavier über einen ironischen Text. Im vierten Lied, The Little old Table, erklingt in der Begleitung ein fließend Pendelmotiv, während scharfe, lebhafte Einwürfe das Quietschen eines alten Tisches imitieren, von welchem der Text handelt. The Choirmaster´s Burial inszeniert einen Gegensatz zwischen der sanft psalmodierenden Melodie des Erzählers und der forschen Stimme des Vikars und schließt mit einem himmlischen Gesang vor dem Grab des Chorleiters. Proud Songsters erklingt in einem raschen 5/4Takt und charakterisiert mit seinen schwungvollen Achteltriolen, Trillern und Tremoli verschiedene Vogelarten. Im At the Railway Station, Upway hört man das Geigenspiel eines kleinen Jungen, der am Bahnhof auf einen Verurteilten trifft. Im spielerischen Klaviersatz schimmern immer wieder die leeren Saiten der Geige durch. Im achten und letzten Lied Before Life and After bilden gleichmäßig wiederholte Dreiklänge in tiefer Lage das Fundament für den schwermütigen philosophischen Text. Die einfach konstruierte Musik wirkt sehr rein; die dem Text zugrunde liegende Losung „Zurück zur Unschuld“ spiegelt Brittens eigene Weltanschauung. Der Zyklus endet mit dem herzzerreißenden Schrei „How long, how long?“, der in der Klavierbegleitung nachhallt und schließlich verstummt. 164 Vgl. Whittall, The Music of Britten and Tippet. 57 3.3.3 Beispielanalyse Midnight on the Great Western Das Gedicht Midnight on the Great Western stammt aus Hardys Buch Moments of Vision and Miscellaneous Verses, veröffentlicht im Jahr 1917. Das Anliegen des Buchs war, nach Hardys eigenen Worten, „[to] mortify the human sense of selfimportance by showing or suggesting, that human beings are of no matter or appreciable value in this nonchalant universe.“ 165 Abb. 16: The Great Western Die „Great Western Railway“ war eine britische Eisenbahngesellchaft, die von 1833 bis 1947 existierte. Sie verband Londons Paddington Bahnhof mit Südwestengland, Westengland und Südwales. 166 Der vom damaligen englischen Parlament beschlossene „Railway Regulation Act 1844“ war einer von mehreren „Railway Regulation Acts“ zwischen 1940 und 1893 und ist ein Gesetz, das den minimalen Standard für Bahnreisende festlegte. Er verbesserte insbesondere die Bedingungen in der dritten Klasse und sorgte dafür, dass auf allen Strecken Plätze in dieser angeboten wurden, um so armen Leuten günstige Bahnfahrten zu ermöglichen und ihnen damit auch bei der Arbeitssuche zu helfen.167 Bis diesem Zeitpunkt gab es drei oder mehrere Klassen für Eisenbahnwagen, wobei die dritte Klasse oft ein offener Güterwagen ohne Sitzplätze war. In England stiegen bereits in den 1910er Jahren die meisten Bahngesellschaften auf ein Zweiklassensystem um: „1st“ und „3rd“; die zweite Klasse hingegen wurde abgeschafft. Die „1st“ bot etwa den Komfort der Zweiten Klasse auf dem Kontinent (Abteile mit sechs Sitzen), die „3rd“ war jedoch aufgrund der Abb. 17: Honoré Daumier, ein Waggon dritter Klasse, Polstermöbel bereits viel komfortabler als jenseits um 1865. des Kanals.168 Das Gedicht vereint objektive und subjektive Anschauung: Die ersten zwei Strophen beschreiben die äußeren Umstände des Schauplatzes, die folgenden zwei Strophen geben die persönlichen 165 166 167 168 http://www.poets.org/poetsorg/text/thomas-hardy-behind-mask-explaining-poems Vgl. Johnson, Britten, Voice and Piano, S. 230. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Railway_Regulation_Act_1844 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wagenklasse#Gro.C3.9Fbritannien 58 Gedanken des Autors über das Innenleben des Protagonisten wieder. Midnight on the Great Western Mitternachts im Great Western In the third-class seat sat the journeying boy, Auf der Bank dritter Klasse saß der reisende Bub, And the roof-lamp's oily flame Und das flackernde Deckenlicht Played down on his listless form and face, Sank öltrüb über Gestalt und Gesicht Bewrapt past knowing to what he was going, Vom Wissen benommen, woher er gekommen Or whence he came. Und wohin die Reise ging. In the band of his hat the journeying boy Unterm Band des Hutes des Jungen auf Fahrt Had a ticket stuck; and a string Stak ein Fahrschein, am Halse hing Around his neck bore the key of his box, Zum Reisekoffer der Schlüssel am Band, That twinkled gleams of the lamp's sad beams Der funkelnd die Trübnis des Deckenlichts narrt’, Like a living thing. Wie ein belebtes Ding. What past can be yours, O journeying boy Was hast du erlebt, du Junge auf Fahrt Towards a world unknown, In eine fremde Welt, Who calmly, as if incurious quite Der ruhig, fast unberührt von all dem, On all at stake, can undertake Was auf dem Spiel, zu fernem Ziel This plunge alone? Allein dich wagst? Knows your soul a sphere, O journeying boy, Kennt dein Geist ein Reich, du Junge auf Fahrt, Our rude realms far above, – erahnt, doch nicht bekannt – Whence with spacious vision you mark and mete Von wo dein ruhiger Blick diese Sündenwelt, This region of sin that you find you in, In der du nun weilst und von der du nicht bist, But are not of? Zu urteil'n fand? Die Gedichtsammlung wurde 1917, also während des Ersten Weltkrieges herausgegeben und reflektiert gewissermaßen den Schrecken, den Pessimismus und die ungewisse Zukunft dieser Zeit. Draußen herrscht Dunkelheit, im Inneren des Zuges brennt nur ein schwaches flackerndes Öllicht, in dessen Schein der Schlüsselbund funkelt. Sowohl Licht als auch Schlüssel sind Sinnbilder für Weisheit und Vernunft, während der kleine Junge die Unschuld symbolisiert. Die Tatsache, dass der Junge alleine unterwegs ist, mag als Appell verstanden werden, furchtlos seinen eigenen Weg zu gehen und sich dabei von der Vernunft leiten zu lassen. Obwohl der Junge einen Fahrschein besitzt, 59 bleibt das Ziel der Reise für den Leser verborgen. Vielleicht kann es gar nicht in Worte gefasst, sondern nur erahnt werden; jedenfalls bleibt es der Vorstellungskraft des Lesers überlassen. Das Lied ist in vier klare Strophen unterteilt, wobei die ersten beiden Strophen nahezu identisch wiederholt werden; es kommt lediglich zu ein paar rhythmischen Abweichungen aufgrund des Textes. Midnight on the Great Western ist damit das einzige Lied des Zyklus, das eine Strophenwiederholung enthält. Am Beginn der ersten beiden Strophen erklingt im Klavier ein Signal, dass einer Dampfpfeife nachempfunden ist, woraufhin sich die Eisenbahn mit einem anschwellenden Ganztontriller („gradually pushing forward“) und einer absteigenden Basslinie in Bewegung setzt, um schließlich in T. 6 mit bedachter Bewegung („with deliberate movement“) die Fahrt aufzunehmen. Der bis zum Ende der Strophe durchgehende motorische Rhythmus zeichnet die ratternde Fahrt der Eisenbahn nach. Er folgt bemerkenswerterweise nie dem 3/4-Takt, sondern ist entweder als Hemiole (4 + 4 + 4 Achtel) oder als 6/8-Takt (3 + 3 Achtel) – teilweise über die Taktgrenze hinaus (z. B. T. 15-16 oder T. 56-57) – gestaltet und steht oft in Konflikt zur Singstimme. In T. 23-26 sorgen zwei verschieden lange Phrase (5 Viertel + 7 Viertel) für zusätzliche Asymmetrie. Trotz des regelmäßig durchlaufenden Achtelpulses entsteht so ein Gefühl des Schwankens und der Unsicherheit, das sowohl auf die Qualität der damaligen Eisenbahnen verweist als auch das Thema des Textes, nämlich die ziellose Fahrt durch das Leben, musikalisch erfahrbar macht. In der dritten Strophe scheint der Fokus der Aufmerksamkeit – analog zum Text – vom Äußeren auf das Innere zu wechseln: Das Rattern der Eisenbahn wird ausgeblendet (in T. 37-39 setzt die Musik zwar kurz zum motorischen Achtelrhythmus an, bricht aber bald darauf ab und verbleibt in einem langsamen, freien Zeitmaß), das Signal der Dampfpfeife bleibt hingegen, kompositorisch verarbeitet, als fernes Echo bestehen und steht womöglich für die warnende Stimme des Gewissens. Die Singstimme klingt wie ein innerer Monolog und unterstreicht damit den introspektiven Charakter der Strophe. In T. 49-50 ist analog zum Beginn und führt in die vierte und letzte Strophe. Diese knüpft an die ersten beiden Strophen an, wird aber in Folge stark variiert und führt nach einer kurzen Steigerung zum dynamischen Höhepunkt des Stückes in T. 64 – ein musikalischer Zornausbruch auf den Worten „This regions of sin that you find you in“) –, um mit der wichtigen Einschränkung „But [you] are not of“ ins versöhnliche p zurückzukehren. Das Stück schließt mit einem letzten, vergrößerten Signal der Dampfpfeife. Die zentrale kompositorische Idee des Stückes ist die Verwischung des Unterschiedes zwischen Dur und Moll. Die damit hervorgerufene (harmonische) Unklarheit kann auch als metaphorische 60 Interpretation des Textinhaltes verstanden werden. Am deutlichsten tritt diese Strategie beim Dampfpfeifenmotiv am Beginn des Stückes zutage: Der liegenbleibende Ton es wird von der Mollterz in c-Moll zur Dur-Terz in H-Dur umgedeutet und anschließend ins d geführt, sodass aus dem H-Dur ein Mollakkord wird. Da jedoch die Töne im Pedal bleiben, verschwimmt die Grenze zwischen Dur und Moll. Wenn schließlich das Pedal gehoben wird, hört man aufgrund der stumm gedrückten Tasten einen leisen Nachklang des ursprünglichen c-Moll. Diese chromatisch Klangverwandlung wird am Beginn der dritten Strophe ausgeweitet und zur einfachen Halbtonrückung verknappt (T. 33-36), die sich in T. 44-45 zur Ganztonrückung wandelt. In T. 47-49 findet im langen Abstieg von b-Moll nach cis-Moll eine Kombination der drei Techniken statt. Der Schluss des Stückes ist in dieser Hinsicht besonders raffiniert, denn Britten greift zunächst die Fortspinnung aus T. 34 auf, führt diese dann aber zurück in den Ausgangsakkord, wobei der Ton es am Ende alleine übrig bleibt, und zwar einerseits mit der Erinnerung an dessen Funktion als DurTerz in H-Dur, andererseits als Moll-Terz innerhalb des kaum mehr hörbar nachklingenden Rahmenintervalls c – g von c-Moll – ein Meisterstück an Subtilität. Der Wechsel zwischen Dur und Moll ist auch Teil der Melodiegestaltung. Man betrachte T. 9-16: Die Melodie entwickelt sich aus einer anfänglichen Tonwiederholung zu einem kreisenden Akkordbrechungsmotiv in G-Dur und landet schließlich auf dem Ton b, welcher als Mollterz die zuvor gehörte Harmonie infrage stellt. T. 29-30 ist die (transponierte) reale Umkehrung von T. 14-15, aus dem Dur-Akkord ist folglich ein Moll-Akkord geworden und der letzte Ton führt nun in die Dur-Terz (siehe auch T. 67-71). In der motorischen Klavierbegleitung ab T. 6 kann man eine wiederkehrende Tongruppe aus drei Halbtönen erkennen (fis, g, as), mal als Achtelmotiv, mal zu einem Pendel in Sechzehntel beschleunigt. Die drei Töne „umkreisen“ zuerst die Quinte (über dem Basston c), ab T. 15 dann die Oktave (über wechselnden Basstönen) und in T. 30-32 schließlich die Mollterz, wobei uns hier im Nebeneinander von d, es und e über dem Basston c wiederum die Verschleierung des Tongeschlechts begegnet. In Midnight on the Great Western schafft Britten aus einem reduzierten Material ein Stück von großer kompositorischer Stringenz. Hinsichtlich der Textausdeutung bedient er sich sowohl der Tonmalerei als auch der metaphorischen Qualität harmonischer und formaler Strukturen. Britten nahm in Winter Words Abstand vom zum Teil wilden Eklektizismus, wie er uns beispielsweise in On this Island begegnet, zugunsten einer persönlicheren und einheitlicheren Tonsprache. Dies trifft in besonderer Weise auf den dritten und letzten von uns zu betrachtenden Zyklus zu. 61 3.4 Songs and Proverbs of William Blake 3.4.1 William Blake William Blake wurde am 28. November 1757 als drittes von fünf Kindern eines Londoner Händlers geboren. Er besuchte die Schule nur kurz, danach unterrichtete seine Mutter ihn zuhause. Er besuchte mit 10 Jahren die Henry Pars's Drawing School, eine Kunstschule. Schon als Kind hatte Blake Visionen von Engeln und Propheten, die er später in Gedichten und Bildern verarbeitete. Diese Visionen hatten lebenslang einen Abb. 18: William Blake starken Einfluss auf seine Art zu malen und mit Farben umzugehen. 1772 begann Blake eine Lehre bei dem Kupferstecher James Basire, bei welcher er viel für seine spätere Tätigkeiten lernte. Nach dem Lehrabschluss begann Blake ein Studium an der Royal Academy of Arts. Dort überwarf er sich jedoch mit dem Akademie-Präsidenten, welcher sein Werk kritisiert hatte, und verlor damit die Hoffnung, als Maler leben zu können. Mit 25 Jahren heiratete er Catherine Boucher. Er brachte ihr Lesen und Schreiben bei. Sie half ihm bei seinen Arbeiten und begleitete ihn für den Rest seines Lebens. 1784 eröffnete er mit der Hilfe von John Flaxman seinen eigenen Bücherladen in London. Das Geschäft lief aber schlecht, daher stellte er sich unter Vertrag und arbeitete zusammen mit seiner Frau an seinen großen Werken. Die beiden verließen bald London und zogen in die kleine Künstlerstadt Felpham, wo er bis zum Ende seines Lebens blieb. Von 1818 bis zum seinem Tod produzierte er keine Dichtungen mehr, arbeitete jedoch weiter als Kupferstecher. So schuf er beispielsweise 24 Platten für das Buch Job und Illustrationen für Dantes Göttliche Komödie. Am 12. August 1827 starb William Blake verarmt, seine Frau starb 4 Jahre später. Die Bibel war für William Blake, der aus einem religiösen Elternhaus stammte, eine wichtige Inspirationsquelle. Er entwickelte jedoch eine naturnahe Spiritualität, mit der er sich gegen die Kirche wandte. Der Gottesfurcht stellte Blake die schöpferische Kraft des Individuums entgegen. Die Hölle, wie er sie in seinen visionären Proverbs of Hell zeichnet, war in seiner Vorstellung kein Ort der Qual, sondern eine Quelle dionysischer Energien, befreit von moralischen Konventionen und institutionalisierter Religion. Viele Zeitgenossen legten seine Visionen als Wahnsinn aus; Blake selbst jedoch sah sich als Medium einer jenseitigen Welt. Sein wohl bekanntestes Werk – aus dem auch die meisten Texte von Brittens Liederzyklus stammen – ist sicherlich die zweiteilige Gedichtsammlung Songs of Innocence and of Experience. Deren 62 erster Teil, Songs of Innocence, wurde von Blake bereits 1789 in kleiner Auflage und mit eigenen Illustrationen herausgegeben. Fünf Jahre später erweiterte er die Sammlung um einen zweiten Teil, Songs of Experience, und gab sie unter dem Namen Songs of Innocence and of Experience Showing the Two Contrary States of the Human Soul heraus. Die beiden Teilen stehen zueinander in einer polaren Beziehung und greifen den existenziellen Gegensatz zwischen Miltons mythischen Urzuständen „Paradise“ und „Fall“ auf. Dieser Dualismus zeigt sich besonders in jenen Gedichten, die in beiden Teilen unter demselben Titel aufscheinen, sich jedoch inhaltlich konträr zueinander verhalten (Holy Thursday, The Chimney Sweeper, Nurse's Song), bzw. deren Titel jeweils eine komplementäre Entsprechung haben (Infant Joy – Infant Sorrow, The Tyger – The Lamb, The Blossom – The Sick Rose). Der erste Teil ist Blakes Vision einer Welt vor dem Sündenfall bzw. eines von Erfahrung noch unbeschädigten Lebens; Blake selbst beschrieb die Songs of Innocence lapidar als „happy songs“.169 Der Verzicht auf jede individuelle Metaphorik, die zahlreichen Wiederholungen in Wortwahl, Rhythmus und Lautmalerei sowie die vornehmlich statische Beschreibung unschuldig-kindlichen Glücksgefühls zeugen von einer – freilich nur scheinbaren – naiven Grundhaltung. Häufig wiederkehrende Symbole unschuldiger Liebe evozieren eine von Konflikten, Ängsten und Zweifeln freie Welt, in der es – ähnlich wie in Jean-Jacques Rousseaus Naturzustand – noch keine Entfremdung zwischen Mensch und Natur gibt. Abb. 19: Titelseite von Songs of Innocence and of Experience Der zweite Teil hingegen ist die Schilderung der Menschheit nach dem Sündenfall, und zwar mit deutlichen Seitenhieben auf die damalige gesellschaftliche und politische Situation. Blakes wütendes Aufbegehren gegen institutionalisierten Zwang und gesellschaftliche Versklavung, das ihn auch für die Französische Revolution Partei ergreifen ließ, richtete sich ebenso gegen die Kirche (The Garden of Love. Littel Vagabond) wie gegen soziales Elend (The Chimney Sweeper, Holy Thursday, Infant Sorrow, London). Als Symbolfiguren der Unterdrückung erscheinen immer wieder der jugendliche Kaminkehrer, der Soldat und die Hure. 169 Vgl. Radler, Kindlers neues Literatur Lexikon, S. 743. 63 3.4.2 Entstehungsgeschichte und Überblick 1965 nahm Britten auf den Rat seines Arztes hin eine Pause von Konzertreisen und seiner Dirigiertätigkeit.170 Britten und Pears entschieden sich, auf Urlaub nach Indien zu gehen. Nach der Rückkehr entstand Songs and Proverbs of William Blake, op. 74. Es ist sein einziger Liederzyklus, der explizit für Bariton komponiert ist. Britten widmete das Werk dem großen deutschen Sänger Dietrich Fischer-Dieskau, der auch als Solist in der Uraufführung des War Requiem sang. Im Vorwort steht: „To Dieter, the past and the future.“ Die Uraufführung fand mit Fischer-Dieskau und Britten selbst im Juni 1965 im Rahmen des Aldeburgh-Festivals statt, kurz darauf wurde es aufgenommen. Britten hatte bereits in seiner Spring Symphony, in A Charm of Lullabies und in der Elegy seiner Serenade for Tenor, Horn and Strings Gedichte von William Blake vertont. Songs and Proverbs of William Blake ist, ungewöhnlich für Britten, als ein zusammenhängender, durchkomponierter Zyklus konzipiert und besteht aus sieben Liedern, denen jeweils ein epigrammatisches Vorspiel vorausgeht. Jedes Stück folgt ohne Pause nahtlos in das nächste; die Aufführungsdauer beträgt rund 20 Minuten. Britten und Pears stellten den Text selbst zusammen: Die ersten 6 Songs stammen aus den Songs of Experience, die dazugehörigen Proverbs aus den Proverbs of Hell; der siebte und letzte Song mitsamt Proverb ist hingegen dem längeren Gedicht Auguries of Innocence entnommen. Die düstere, desillusionierte Stimmung dieser großen Vision Blakes zieht sich, von Britten musikalisch kongenial umgesetzt, in großer Intensität durch den gesamten Zyklus. Wie in einem Ritornell treten in den Proverbs die 12 Noten der chromatischen Skala auf, zusammengefasst in drei Gruppen zu je vier Noten: e-dis-d-g, cis-c-h-fis, b-a-gis-f. Während zwischen den ersten drei Tönen jeder Gruppe immer das Intervall einer kleinen Sekunde besteht, vergrößert sich das jeweils letzte Intervall von einer kleinen Terz über eine reine Quart bis hin zu einer reinen Quint. Die ersten drei Töne der ersten Gruppe erscheinen in den beiden anderen Gruppen jeweils eine kleine Terz nach unten transponiert, der letzte Ton der ersten Gruppe dagegen wird jeweils einen Halbton nach unten versetzt. Diese Art der Reihenkonstruktion zeugt von Brittens Beschäftigung mit der Zweiten Wiener Schule. Die Anordnung der drei Gruppen sowie der vier Töne innerhalb jeder Gruppe wird in jedem Proverb variiert. Diese Art der Ritornellgestaltung weist Ähnlichkeiten mit den Zwischenspielen der 1954 komponierten Kammeroper The Turn of the Screw auf. Die regelmäßig schreitende Klavierbegleitung und die psalmodierende Singstimme sind rhythmisch nicht genau synchronisiert (eine Technik, die Britten bereits im Jahr davor in Curlew River erprobt hatte), wodurch eine eigentümlich schwebende Wirkung entsteht. Die letzten beiden 170 Vgl. Matthews, Britten, S. 138. 64 Proverbs greifen zudem musikalisches Material des vorherigen Liedes auf bzw. nehmen das des folgenden Liedes vorweg: Die Halbtonpendel-Figur des fünften Stückes (The Fly) beschleunigt sich im sechsten Proverb zu einem Tremolo, welches im sechsten Lied (Ah! Sun-Flower) auf die Dauer einer Vierteilnote verkürzt und Teil der Begleitfigur wird. Diese Tremolofigur wird schließlich am Ende des Liedes isoliert und zum Ausgangsmaterial für das siebte und letzte Proverb, das wiederum organisch und fast unmerklich in das letzte Lied (Every Night and Every Morn) überleitet. Dem ersten Lied London liegt eine bewegte, wellenartige Klavierfigur zugrunde, deren Polyrhythmik (Achtelquintolen über Vierteltriolen) ein Gefühl der Unruhe und Instabilität vermittelt. Darüber erklingt die Stimme in streng metrischer Rhythmik und schlichter Melodik, um die sozialen Missstände der Stadt anzuklagen, wie Blake sie mit Beginn der Industrialisierung in London Tag für Tag hautnah erlebt hatte. Die langen Phrasen, die im forte beginnen und im piano in einer für einen Bariton schwachen Lage enden, sind wie geschaffen für die Virtuosität, hervorragende Atemkontrolle und Lungenkapazität von Fischer-Dieskau.171 The Chimney-Sweeper handelt vom Missbrauch der Kinderarbeit. Das Klavier zeichnet in hohen und klaren Klängen die klirrende Kälte einer trostlosen Winterszene nach. Ein Junge hockt verlassen von seinen Eltern im Schnee, um Schornsteine zu fegen, während diese selbst in der Kirche beten. Blakes Wortspiel mit „[s]weep“ (deutsch: fegen bzw. weinen) verkörpert diese Trauer, die Britten hinter der tänzerischen, spielerisch-figurativen Musik versteckt und nur gelegentlich durchblitzen lässt. Über große Sekunden und Terzen versichert der Junge, glücklich zu sein, aber der stockende Gestus des Gesangs verrät seine wirklichen Gefühle. In der letzten Zeile führt die Melodie der Singstimme bei „who make up a heaven of our misery“ in die Tiefe, während im Klavier weiterhin im höchsten Register die Schneeflocken tanzen. In der Mitte des Zyklus steht das umfangreichste Lied, A Poison Tree, das den menschlichen Sündenfall im Garten Eden widerspiegelt. Die Zwölftonmelodik der Singstimme in den ersten Zeilen erzeugt in Kombination mit den parallel verschobenen düsteren Mollakkorden des Klaviers eine bedrohliche Grundstimmung. Es beginnt mit einer beinahe statischen, minimalen Bewegung, aber nach und nach beginnt der Groll und Ärger zu wachsen und die Musik bewegt sich unerbittlich auf ihren schrecklichen Höhepunkt zu. The Tyger, Blakes wohl meistzitiertes und -interpretiertes Gedicht, erklingt im Zyklus als Scherzo, ohne jedoch von der düsteren Grundstimmung abzuweichen. Der Gesang offenbart eine kaum zurückgehaltene Wut und die aufgestaute Energie wird durch die unruhig springenden Klavierfiguren noch befördert. 171 Vgl. Christopher Palmer, The Britten Companion, London, 1984, S.301 65 The Fly ist ein sanftmütiger Kontrast zur ernsten Schwere der restlichen Stücke; der unregelmäßige Flug der Fliege wird durch die leichtfüßige, synkopierte Halbtonfigur in der Klavierbegleitung dargestellt. In Blakes Vergleich des Menschen mit Raubtier und Insekt stellt sich uns die Frage nach unserem gemeinsamen Ursprung und unseren Zielen: Sind wir denn wirklich so anders? Die schwere Basslinie des vorletzten Lied, Ah, Sunflower, drückt sehr wirkungsvoll eine lang gehegte Erwartung aus. Die wechselhaften dynamischen Anweisungen erinnern an die sich im Wind wiegenden Sonnenblumen. Sie skizzieren in den letzten Akkorden auf „Where my Sun-flower wishes to go“ ein transzendentes Bild von Ewigkeit, das thematisch im siebten Proverb fortgeführt wird: „To see a World in a Grain of Sand“. Die Gesangsstimme schöpft hier den gesamten Zwölftonvorrat aus, die letzte Viertongruppe bildet die Basis für die Begleitung des letzten Liedes Every Night and Every Morn. Bei diesem handelt es sich um ein resignatives Lamento über ostinate Bassfiguren, das die Widrigkeiten des Lebens beklagt. Es bewegt sich sanft und stabil in einer Stimmung der Resignation und führt zu einem kurzen Höhepunkt auf dem Wort „light“, der jedoch schnell wieder abklingt. Die Begleitfigur wird schließlich am Ende des Zyklus über den Text „To those who Dwell in Realms of Day“ aufgelöst, woraufhin der Zyklus mit einem leisen F-Dur-Akkord schließt. Abb. 20: William Blake, Ancient of Days. 66 3.4.3 Beispielanalyse Proverb VII und Every Night and Every Morn Dieses Proverb und Lied sind die einzigen Stücke des Zyklus, deren Text nicht aus den Songs of Innocence bzw. den Proverbs of Hell stammt, sondern dem längeren Gedicht Auguries of Innocence (Weissagungen der Unschuld) aus dem Jahre 1803 entnommen ist. Britten und Pears nahmen davon nur die erste 4 Zeilen für das Proverb und die letzte 14 Zeilen für das Lied. Das originale Gedicht enthält keine Satzzeichen, wodurch zwei zeitliche Ebenen zugleich dargestellt werden: eine rasche Geschwindigkeit mit dynamischen Rhythmen und ruhende grenzenlose Ewigkeit. In diesem Gedicht kommen verschiedene Tiere und Menschen in allen möglichen Situationen vor, die exemplarisch für das Leben selbst sind. Die letzten 14 Zeilen stellen quasi eine Zusammenfassung des gesamten Gedichts dar; im Kontext des Zyklus bilden sie das Fazit der vorhergehenden 6 Sprüche und 6 Lieder und wenden abschließend den Blick vom Besonderen hin zum Allgemeinen in Form einer großen mystischen Schau. AUGURIES OF INNOCENCE To see a World in a Grain of Sand And a Heaven in a Wild Flower Hold Infinity in the palm of your hand And Eternity in an hour A Robin Red breast in a Cage Puts all Heaven in a Rage A dove house fill’d with doves & Pigeons Shudders Hell thro all its regions A dog starvd at his Masters Gate Predicts the ruin of the State A Horse misusd upon the Road Calls to Heaven for Human blood Each outcry of the hunted Hare A fibre from the Brain does tear A Skylark wounded in the wing A Cherubim does cease to sing The Game Cock clipd & armd for fight Does the Rising Sun affright Every Wolfs & Lions howl 67 Raises from Hell a Human Soul The wild deer wandring her & there Keeps the Human Soul from Care The Lamb misusd breeds Public strife And yet forgives the Butchers Knife The Bat that flits at close of Eve Has left the Brain that wont Believe The Owl that calls upon the Night Speaks the Unbelievers fright He who shall hurt the little Wren Shall never be belovd by Men He who the Ox to wrath has movd Shall never be by Woman lovd The wanton Boy that kills the Fly Shall feel the Spiders enmity He who torments the Chafers sprite Weaves a Bower in endless Night The Caterpillar on the Leaf Repeats to thee thy Mothers grief Kill not the Moth nor Butterfly For the Last Judgment draweth nigh He who shall train the Horse to War Shall never pass the Polar Bar The Beggars Dog & Widows Cat Feed them & thou wilt grow fat The Gnat that sings his Summers song Poison gets from Slanders tongue The poison of the Snake & Newt Is the sweat of Envys Foot The Poison of the Honey Bee Is the Artists Jealousy The Princes Robes & Beggars Rags Are Toadstools on the Misers Bags A truth thats told with bad intent Beats all the Lies you can invent 68 It is right it should be so Man was made for Joy & Woe And when this we rightly know Thro the World we safely go Joy & Woe are woven fine A Clothing for the Soul divine Under every grief & pine Runs a joy with silken twine The Babe is more than swadling Bands Throughout all these Human Lands Tools were made & Born were hands Every Farmer Understands Every Tear from Every Eye Becomes a Babe in Eternity This is caught by Females bright And returnd to its own delight The Bleat the Bark Bellow & Roar Are Waves that Beat on Heavens Shore The Babe that weeps the Rod beneath Writes Revenge in realms of Death The Beggars Rags fluttering in Air Does to Rags the Heavens tear The Soldier armd with Sword & Gun Palsied strikes the Summers Sun The poor Mans Farthing is worth more Than all the Gold on Africs Shore One Mite wrung from the Labrers hands Shall buy & sell the Misers Lands Or if protected from on high Does the whole Nation sell & buy He who mocks the Infants Faith Shall be mock`d in Age & Death He who shall teach the Child to Doubt The rotting Grave shall neer get out He who respects the Infants faith 69 Triumphs over Hell & Death The Childs Toys & the Old Mans Reasons Are the Fruits of the Two seasons The Questioner who sits so sly Shall never know how to Reply He who replies to words of Doubt Doth put the Light of Knowledge out The Strongest Poison ever known Came from Caesars Laurel Crown Nought can deform the Human Race Like to the Armours iron brace When Gold & Gems adorn the Plow To peaceful Arts shall Envy Bow A Riddle or the Crickets Cry Is to Doubt a fit Reply The Emmets Inch & Eagles Mile Make Lame Philosophy to smile He who Doubts from what he sees Will neer Believe do what you Please If the Sun & Moon should Doubt Theyd immediately Go out To be in a Passion you Good may do But no Good if a Passion is in you The Whore & Gambler by the State Licencd build that Nations Fate The Harlots cry from Street to Street Shall weave old Englands winding Sheet The Winners Shout the Losers Curse Dance before dead Englands Hearse Every Night & every Morn Some to Misery are Born Every Morn & every Night Some are Born to sweet delight Some are Born to sweet delight Some are Born to Endless Night 70 We are led to Believe a Lie When we see not Thro the Eye Which was Born in a Night to perish in a Night When the Soul Slept in Beams of Light God Appears & God is Light To those poor Souls who dwell in Night But does a Human Form Display To those who Dwell in Realms of day172 Proverb VII Sprichwort VII To see a World in a Grain of Sand, Die Welt zu sehn im Korn aus Sand, And a Heaven in a Wild Flower, Das Firmament im Blumenbunde, Hold Infinity in the palm of your hand, Unendlichkeit halt' in der Hand And Eternity in an hour. Und Ewigkeit in einer Stunde. Der Inhalt der ersten vier Zeilen lässt sich auf viele verschiedene Arten interpretieren: als Fraktal, als Symbol für Samsara oder als Ausdruck einer pantheistischen Welthaltung. Fraktal ist ein mathematischer Begriff, der bestimmte natürliche oder künstliche Gebilde oder geometrische Muster bezeichnet, die selbstähnliche Eigenschaften aufweisen, d. h. dass ein Muster innerhalb desselben Musters immer wiederkehrt. Ein sehr bekanntes Abb. 21: Fraktal Beispiel ist das sogenannte Sierpinski-Dreieck, aber auch in der Natur lassen sich fraktalähnliche Strukturen beobachten, vor allem bei Pflanzen. Die in vielen mystischen Strömungen verbreitete Vorstellung der Einheit von Mikro- und Makrokosmos lässt sich auch als Fraktal verstehen. Samsara ist die Bezeichnung für den immerwährenden Zyklus des Seins, den Kreislauf von Werden und Vergehen oder den Kreislauf der Wiedergeburten in den indischen Religionen 172 William Blake, Auguries of Innocence in: The Complete Poetry & Prose of William Blake, hrsg. von David V. Erdman, New York 1988, S. 490. 71 Hinduismus, Buddhismus und Jainismus. (Songs and Proverbs of William Blake entstand kurz nach Brittens Indienreise.) Die Zeile „And Eternity in an hour“ lässt sich so deuten, dass eine Stunde und die Ewigkeit miteinander verbunden sind und dass somit alles räumlich und zeitlich eine Einheit bildet. Pantheismus zeichnet sich durch die Auffassung aus, dass Gott eins mit dem Kosmos und der Natur sei und daher in allen Dingen der Welt existiere bzw. mit der Welt identisch sei. In den ersten drei Zeilen des Spruchs, insbesondere in dem Bild „a Heaven in a Wild Flower“, kommt eine solche Haltung deutlich zum Ausdruck. Pantheistische Strömungen findet man bereits bei den alten Griechen, aber auch bei Mystikern des Mittelalters; sie wurden von der Katholischen Kirche mit dem Atheismus gleichgesetzt und entsprechend verfolgt, weil für die offizielle Kirchenlehre Gott transzendent und daher von der Welt grundverschieden sein müsse. Blake selbst stand mit der Amtskirche zeit seines Lebens in Konflikt. Um diesen philosophische Inhalt auszudrücken, verwendet Britten im Proverb auch alle zwölf Töne, denn in der Zwölftontechnik ist jeder Ton gleichwertig und ähnlich wie im Fraktal finden sich Eigenschaften auf der Makroebene (der Reihe) in der Mikroebene wieder (Motive, Akkorde). Eine religiöse-metaphysische Deutung der Zwölftonmethode findet sich beispielsweise im Werk Josef Hauers (Österreich, 1883-1959), insbesondere in dessen Idee des „Zwölftonspiels“, in welchem die Reihentechnik das Abbild eines kosmischen Ordnungsprinzips ist. Brittens Kompositionstechnik kann im Vergleich zu den Komponisten der europäischen und amerikanischen Avantgarde als eher konservativ bezeichnet werden; wenn er jedoch zu avancierteren Mitteln greift, so geschieht dies immer in sehr effektiver und bedeutungsvoller Weise. Die Gesangslinie des Proverb erinnert an einen christlichen Choral oder ein in einer buddhistischen Messe rezitiertes Sutra. Sie fließt sanft und großmütig und wird quasi gesprochen oder erzählend vorgetragen. Die Klavierbegleitung im hohen Register erscheint hingegen wie eine aus der Ferne klingende Glocke und trägt zur rituellen Atmosphäre bei. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Proverbs und deren gravitätisch schreitenden Viertelnoten besteht diese ausschließlich aus gehaltenen Akkorden (mit kurzem Tremolo) und vermittelt so ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Sie stellt am Beginn jedes Taktes die Töne der jeweiligen Viertongruppe vor, welche anschließend von der Stimme aufgegriffen werden. Die letzte Viertongruppe mit den Tönen f, gis, a und b (T. 4) stellt den Ausgangspunkt für die Überleitung zum letzten Lied dar. In T. 5 erscheint, noch während die Singstimme die letzte Phrase zu Ende singt, wie aus dem Nichts eine Klavierbegleitung, in der die besagte Viertongruppe in der rechten Hand als sanft repetierter Akkord (in Viertelnoten) und in der linken Hand als ostinate Bassfigur (in Achtelnoten) ausgeführt wird. Die Viertongruppe wird 72 kurzfristig um die Töne h und c erweitert, wodurch sich ein Dreivierteltakt ergibt, und anschließend wieder auf die Grundgestalt reduziert. Die gleichmäßigen Akkorde der rechten Hand, die endlose Kreisfigur in der linken Hand sowie die statische Harmonik eröffnet dem/der HörerIn einen weiten zeitlosen Raum, wo er/sie sich auf das nun folgende letzte Lied einstimmen kann. Every Night and every Morn Jede Nacht und jeden Morgen Every night and every morn Jede Nacht und jeden Morgen Some to Misery are Born. Wachen manche auf in Sorgen. Every Night & every Morn Jeden Morgen, jede Nacht Some are Born to sweet delight. Zum Entzücken wer erwacht. Some are born to sweet delight, Manche sind zum Entzücken erwacht, Some are born to endless night. Manche geboren zu endloser Nacht. We are led to believe a lie Wir werden einer Lüge glauben, When we see not thro' the eye, Wenn wir nicht sehn durch unsre Augen, Which was born in a night to perish in a night Die geboren in Nacht, zu vergehen im Nichts, When the soul slept in beams of light. Als die Seele schlief in Strahlen des Lichts. God appears, and God is light, Gott erscheint und Gott ist Licht To those poor souls who dwell in night; Den Seelen, welche Nacht umflicht; But does a human form display Doch er weist sein menschlich Bild To those who dwell in realms of day. Jenen, die der Tag umhüllt. Das Gedicht nimmt unterschiedliche Blickwinkel ein: Die erste Strophe beschreibt von einem neutralen Standpunkt aus die existenzielle Situation des Menschen und schafft darin eine besondere Aura. Die zweite Strophe hingegen beginnt in der ersten Person Plural („We are“) und wechselt somit plötzlich die Erzählperspektive. Die Worte zeugen von einer lebendigen Erfahrung, der Inhalt des Gedichts wirkt überzeugend und realistisch. Der Beginn der dritten Strophe richtet den Fokus des Lesers auf ein einzelnes Wort, nämlich „God“, um schließlich wieder zum Menschen zurückzukehren. Das Lied führt das Modell am Ende des Proverbs weiter. Während die rechte Hand sanft, aber beharrlich Akkorde im Viertelpuls anschlägt, dominiert in der linken Hand ein kreisendes 73 Achtelnotenmotiv aus vier Tönen (die Viertongruppe f, g#, a, b), wobei der Ton f die Funktion eines Zentraltons einnimmt. Diese melodische Zelle wird in den darauffolgenden Takten ständig erweitert, einerseits indem Töne hinzugefügt werden (wodurch es zu Taktwechseln kommt), andererseits indem die Intervallstruktur variiert wird. Das ganze Lied hindurch herrscht eine dunkle Atmosphäre vor, gleichzeitig wird der Text feinfühlig und unauffällig ausgeleuchtet. Wenn beispielsweise in T. 17173 vom Wort „delight“ die Rede ist, erreicht die sich bis dahin vornehmlich in Sekundschritten entwickelnde Phrase ihren dynamischen Höhepunkt auf dem bis dahin höchsten Ton es2; die Stimme erreicht eine deutlich höhere Lage und die Harmonik Abb. 21: William Blake, Whirlwind of Lovers wendet sich plötzlich hin zu einer anderen (Illustration zu Dantes Inferno) Viertongruppe (d, es, e, g) mit es als Zentralton. Die Phrase „Some are Born to sweet delight“ wird daraufhin gleich wiederholt, jedoch sofort durch ihr Gegenteil „Some are Born to Endless Night.“ ergänzt. Diese Polarität wird von Britten musikalisch subtil unterstrichen, indem die zweite Phrase eine (ungenaue) Umkehrung der ersten darstellt. Während bei dieser auf dem Wort „sweet [delight]“ (T. 22) eine kleine Sext nach oben erklingt, führt bei jener auf „Endless [night]“ (T. 26) die Stimme eine große Sext nach unten und erreicht damit den tiefsten Ton des Stückes (b). Zusammen mit dem Diminuendo ins pianissimo scheint die Musik in diesem Moment, passend zum Text, in die tiefe schwarze Nacht zu versinken. Hier lässt sich außerdem die raffinierte Handhabung des Tonmaterials durch den Komponisten erkennen. Die Klavierbegleitung in T. 27-29 stellt eine Verschränkung des Vorhergehenden dar: Das rhythmische Modell in beiden Händen wird zwar unverändert weitergeführt, jedoch spielt die rechte Hand nun die Töne der Singstimme in der einen Phrase („sweet delight“) als Dreiklang (g, d, es), während die linke Hand das Modell aus T. 17 mit dem Motiv b-ces-es der Singstimme in der anderen Phrase („Endless Night“) kombiniert. Das, was vorher als Gegensatz nebeneinander gestellt wurde, erklingt nun simultan. Britten führt dies noch einen Schritt weiter. Mit dem Einsatz der zweiten Strophe (und deren Perspektivenwechsel) erklingt in der linken Hand eine freie Fortspinnung des vorgehenden Viertonmotivs, die fünfzehn Takte lang andauert und in der rechten Hand konsequent gespiegelt wird. (Letzteres trifft streng genommen nur auf die Bewegungsrichtung zu, bei den einzelnen 173 Anmerkung: Die Zählung beginnt mit Einsatz der Singstimme. 74 Intervallen nimmt sich Britten einige Freiheiten.) Das Tempo wird etwas angezogen („with movement“), die Dynamik verbleibt aber im piano und steigert sich erst in den drei Takten vor dem Höhepunkt in T. 46. Eine besonders raffinierte Stelle ist T. 37. Auf dem Text „When we see not Thro' the Eye“ landen alle drei Stimmen für einen kurzen Moment gleichzeitig auf dem Ton a – und zwar ausgerechnet auf dem Wort „Eye“. Die Thematik des Sehens wird durch eine besonders „durchsichtige“ musikalische Struktur (Oktaven) illustriert; für einen kurzen Moment scheint plötzlich Klarheit zu herrschen. Die Illustration von Gegensätzlichkeit durch Spiegelung finden wir wieder in T. 39-42. Die jeweils zweitaktige Phrase der Singstimme ist eine „gestauchte“ Version des Bassmotivs aus T. 27, einmal in originaler Bewegungsrichtung („Born in a Night“), einmal als Umkehrung („perish in a Night“). In T. 45 – ein Takt vor dem Höhepunkt – bricht die bis dahin starre rhythmische Struktur plötzlich auf, es kommt zu einem auskomponierten Accelerando über Achteltriolen bis hin zu Sechzehntel und man hat das Gefühl, die Sonne bricht aus den Wolken. Auf dem Wort „Light“ setzt daraufhin im forte das Klavier mit einer neuen Struktur ein. Der Abstand zwischen beiden Händen ist groß und das rhythmische Modell vom Beginn des Stückes erscheint nun in vertauschter Form: Während die linke Hand in tiefer Lage schwere Akkorde im Viertelpuls anschlägt, spielt die rechte Hand im hohen Register ein zweistimmiges Ostinato aus jeweils vier Achtelnoten, das sich wiederum auf das Bassmotiv aus T. 27 zurückführen lässt. Diese Struktur erfährt wiederum eine Fortspinnung und klingt langsam ab. In T. 58 kehrt das Stück zur Viertongruppe des Beginns zurück. Das Motiv f-gis-b-a stellt den Krebs des Bassmotivs am Beginn des Stückes dar (f-a-b-gis-[f]), es wird über fast vier Oktaven nach oben und wieder nach unten arpeggiert, wobei linke und rechte Hand um eine Achtelnote voneinander versetzt erklingen. Mit der Zeile „To those who Dwell in Realms of Day“ kehrt das Stück langsam zur ursprünglichen rhythmischen, melodischen und harmonischen Struktur zurück. Ab T. 69 wird die kontinuierliche Bewegung aufgebrochen, zusammen mit dem Rallentando scheint die Musik fast in Stillstand zu geraten. Im vorletzten Takt erklingen im Bass noch einige Reizdissonanzen, die sich schließlich im letzten Takt im zartesten pianissimo in einen F-Dur-Akkord auflösen. 75 Zusammenfassung Durch diese Arbeit wurde herausgearbeitet, wie die Situation des Künstlers sich direkt auf den künstlerischen Prozess auswirkt. Betrachtet wurde nicht nur, wie persönlich prägende Erfahrungen die Inspiration zu bestimmten künstlerischen Inhalten liefern, sondern auch wie die Konstellation privater und beruflicher Beziehungen gewisse Vorbedingungen schafft, ohne die die konkrete Gestalt des Kunstwerks nicht ausreichend erklärt werden kann. Dies ist im Falle Benjamin Brittens insbesondere in der Partnerschaft zu Peter Pears und der daraus entstandenen musikalischen Produktion evident, aber auch die persönliche Bekanntschaft und Freundschaft mit Dichtern wie W. H. Auden schlägt sich unmittelbar in konkreten Werken nieder. Führt man die Linie über den unmittelbaren privaten Bereich hinaus, gelangt man schnell in das Gebiet der (Musik-)Soziologie. Bestimmte historisch-gesellschaftliche Ereignisse und Tatsachen finden ihren unmittelbaren Niederschlag in Brittens künstlerischem Schaffen; dies ist allerdings nicht bei allen Komponisten/innen in solchem Ausmaß und solcher Eindeutigkeit der Fall. Brittens pazifistische Grundhaltung, seine sozialistischen Ideen, sein Einsatz gegen jede Form der Unterdrückung und seine sexuelle Orientierung drängten ihn zeit seines Lebens in eine Außenseiterposition. Aufgrund letzterer führt er zudem eine Existenz am Rande der Legalität (Homosexualität war zu jener Zeit in vielen Ländern noch strafbar), das nach Verstecken und Verdrängung verlangte. So verwundert es auch wenig, dass sich einige dieser Inhalte in seinen Werken manifestieren, am deutlichsten in seinen Opern. Ähnlich wie Schostakowitsch zur selben Zeit in der Sowjetunion bedurfte Britten des Mediums Kunst, um sich in symbolischer und allegorischer Form frei äußern zu können. Dass Musik jedoch weit mehr ist als das Ins-Werk-Setzen unbewusster psychischer Inhalte, beweisen die Analysen des dritten Teils. Hier wird deutlich, dass Britten tief in der europäischen Tradition verwurzelt ist und seine Werke bei genauerer Betrachtung ein hohes Ausmaß an musikalischer Konstruktion aufweisen. Dass jene jedoch nicht nur Selbstzweck ist, sondern im Dienste einer höheren Idee steht, wird besonders in der Betrachtung des dritten Liederzyklus Songs and Proverbs of William Blake klar. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft mit großen Komponisten wie Bach, Beethoven, Berg oder Messiaen. Es bleibt zu wünschen, dass die Qualitäten Benjamin Brittens als Lied- und Opernkomponist in Zukunft in Mitteleuropa auf breitere Anerkennung stoßen und sein musikalisches Schaffen tiefer im Konzertrepertoire verankert ist. Hier gäbe es noch einiges zu entdecken. 76 Quellennachweise Literaturverzeichnis: Abels, Norbert: Benjamin Britten, Hamburg 2008. Auden, W. H.: A Literary Transference in: Southern Review, Winterausgabe 1940. Blake, William: Auguries of Innocence in: The Complete Poetry & Prose of William Blake, hrsg. von David V. Erdman, New York 1988. Carpenter, Humphrey: Benjamin Britten: A Biography, London 1992. Cooke, Mervyn: The Cambridge Companion to Benjamin Britten, Cambridge 1999. Fischer-Dieskau, Dietrich: Nachklang – Ansichten und Erinnerungen, Stuttgart 1988. Holst, Imogen: Britten (Great Composers), London 1966. Johnson, Graham: Britten, Voice and Piano, London 2003. Kennedy, Michael: The Dent Master Musicians: Britten, London 1981. Kildea, Paul: Britten on Music, New York 2003. Matthews, David: Britten, London 2003. Mitchell, Donald und Reed, Philipp: Letters from a Life: The selected Letters and Diaries of Benjamin Britten, London 1991. Oehlmann, Werner: Reclams Liedführer, Stuttgart 1973. Oliver, Michael: Benjamin Britten, London 1996. Palmer, Christopher: The Britten Companion, London 1984. Radler, Rudolf: Kindlers Neues Literatur Lexikon, 2 Bände, München 1989. Whittall, Arnold: The Music of Britten and Tippet, Cambridge 1982. 77 Internetquellen: www.poets.org/poetsorg/text/thomas-hardy-behind-mask-explaining-poems (zuletzt aufgerufen am 10.6.2015) en.wikipedia.org/wiki/Railway_Regulation_Act_1844 (zuletzt aufgerufen am 10.6.2015) de.wikipedia.org/wiki/Wagenklasse#Gro.C3.9Fbritannien (zuletzt aufgerufen am 10.6.2015) Bildverzeichnis: Abb.1 : http://www.classicfm.com/composers/britten/guides/benjamin-britten-life-pictures/ Abb.2 :http://www.ft.com/cms/s/0/6ce00642-6ce1-11deaf5600144feabdc0.html#axzz3ZxQWkOek Abb.3: Imogen Holst, Britten (Great Composers), London 1966, S. 15. Abb.4: http://www.musicweb-international.com/bridge/ Abb.5: http://www.trevor-bray-music-research.co.uk/Bridge/letters_3.html Abb.6: http://news.lib.uchicago.edu/blog/2013/10/31/benjamin-brittens-literary-connections/ Abb.7: http://oe1.orf.at/programm/355323 Abb.8: http://eu.steinway.com/de Abb.9: http://de.wikipedia.org/wiki/Mstislaw_Leopoldowitsch_Rostropowitsch Abb.10: http://opera-abierta-unileon.blogspot.co.at/2008_05_01_archive.html Abb.11: http://www.telegraph.co.uk/culture/music/classicalmusic/10453596/Benjamin-Brittencentenary-how-the-composer-proved-the-sneerers-wrong.html Abb.12: http://www.theguardian.com/music/tomserviceblog/2010/jun/15/purcell-didos-lamentradio-3 Abb.13: http://intoclassics.net/news/2009-11-22-11270 Abb.14: http://www.npg.org.uk/collections/search/portrait/mw49652/WH-Auden Abb.15: http://www.telegraph.co.uk/culture/books/authorinterviews/10635887/The-genius-of- 78 Thomas-Hardy.html Abb.16:http://www.warwickshirerailways.com/gwr/gwrbh1620.htm Abb.17: http://www.kunstkopie.de/a/daumier-honore/eisenbahn_wagen_3klasse_.html Abb.18:http://commons.wikimedia.org/wiki/File:William_Blake,_painter_and_poet_ %28page_50%29.png Abb.19: www.blakearchive.org/exist/blake/archive/object.xq?objectid=songsie.aa.illbk.01&java=no Abb.20: http://www.wikiart.org/en/william-blake/the-ancient-of-days-1794 Abb.21: http://delta.math.sci.osaka-u.ac.jp/jikkensugaku2012/120713fractal/index.html Abb.22:http://ayay.co.uk/art/surrealist/william_blake/whirlwind-of-lovers-illustration-to-dantesinferno/ Alle zuletzt aufgerufen am 6.7.2015 79 Anhang Notenbeispiele: 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92