25 jahre weltmeister

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25 jahre weltmeister
B E R N
M Ü N C H E N
D I E H E LD E N VO N R O M
R O M
R I O
SOMMER 2015
DEUTSCHLAND
4,90 EURO
25 JAHRE
WELTMEISTER
WM-KAPITÄN
LOTHAR MATTHÄUS
AUF 46 SEITEN
PLUS: Andi Brehme und der Elfer seines Lebens +++ Fans aus Dresden über ihre unvergessliche Reise +++
Wolfgang Niersbachs WM-Tagebuch +++ Udo Jürgens über Fußball-Hymnen +++ Ruuuudi, Klinsi, Auge, Franz!
Aus dem ARD-Livekommentar
zum WM-Finale 1990. Reporter
Gerd Rubenbauer (GR) und
Experte Karl-Heinz Rummenigge
(KHR) – ungeschnitten
GR: Matthäus … Traumpass … Völler ! ...
Und was gibt er?
Er gibt Elfmeter,
er gibt Elfmeter!
FOTO: xxxxxxxx
FOTO: Witters
Also, den vorher an Augenthaler, den hätte ich zehnmal
eher gepfiffen als den jetzt an Völler … Oooh …
KHR: … ist schon etwas eine Konzessionsentscheidung gewesen.
GR: Das war eine Konzessionsentscheiung …
KHR: Der von Augenthaler war viel, viel klarer.
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1990
2
M5E Ja
H RhArLS
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P IEEi L
st E r
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GR: Also, das war ein Geschenk, das war ein
Geschenk. Aber vorher hätte er einen geben
müssen! Bleiben wir dabei. Mit Zeitverzögerung
gibt’s Elfmeter für Deutschland.
Wer wird? Spontan würde
ich sagen: Lothar Matthäus.
ich sage
andi
Brehme.
FOTO: Witters (2)
KHR:
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GR: Ja, Matthäus hat sich schon verkrochen.
KHR: Er steht am Mittelkreis, während Brehme
sich schon ganz mutig den Ball geschnappt hat.
Hat er auch bei Inter Mailand im Übrigen. In den
ganz, ganz wichtigen Spielen hat Lothar ihm
immer diesen Ball überlassen. Und Brehme hat
eigentlich auch dort nie versagt.
GR: Ergebnis des Elfmeterschießens gegen
England: Als gefragt wurde vom Teamchef,
wer will als Erster? Sagte Matthäus ‚Nein‘ und
Brehme sagte ‚Ja‘ …
KHR: Spricht für seine Nervenstärke.
Er ist auch jetzt ganz ruhig, ganz cool muss
man direkt sagen.
GR: Tja, an diesem einen Schuss, meine Damen
und Herren, kann der Weltmeistertitel für die
deutsche Mannschaft hängen. Er kann mit links
und kann mit rechts…
KHR: Die meisten schießt er mit rechts.
GR: Wie gegen England … Ins linke Eck.
KHR: Richtig.
GR: So, genug der Prognosen. Hoffentlich trifft
er – das ist das einzig Wichtige! Brehme gegen
den Elfmetertöter Goycochea …
Jaaaaaaaa!
FOTO: pixathlon/action images
GR und KHR:
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GR: Toooor für Deutschland, 1:0! Durch Andreas Brehme. Alles wie gehabt. Mit
rechts flach ins linke Eck. Goycochea wusste alles – nur halten konnte er ihn nicht.
Eine hochverdiente Führung für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft.
FOTO: imago (3)
Vier minuten
und 14 sekunden
vor dem Ende
des spiels.
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B E R N
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Das Abi ’89 in der Tasche, den Sand der mehrwöchigen
Interrail-Tour durch Südeuropa noch in den Schuhen,
den Zivildienst gerade begonnen – und keine Ahnung,
wohin die berufliche Reise einmal führen soll: So ging
ich als Hobby-Kicker und Fußballfan in die WM 1990.
Irgendwann in der langen Nacht nach dem aufregenden
und aufwühlenden Achtelfinale gegen Holland muss der
Entschluss gereift sein: Ich werde Sportjournalist!
Traumhaft schöne Böden!
FREUNDEWAND
Diese fußballbegeisterten
Marken & Unternehmen haben
uns bei der Produktion als Partner
unterstützt. Vielen Dank!
25 Jahre später schließt sich ein Kreis. Den vierten
Weltmeister-Titel durfte ich auf der Pressetribüne im
Estádio do Maracanã von Rio de Janeiro verfolgen.
Und durch die Arbeit an dem vierten Magazin unserer
54749014-Reihe über die „Helden von Rom“ habe ich
nun endlich erfahren, dass Rudi Völler nach der fiesen
Spuckattacke von Frank Rijkaard doch noch ausflippte
– abseits der TV-Kameras, im Spielertunnel!
Mein Kollege Patrick Strasser traf in München Andi
Brehme und entlockte ihm wunderbare Details über
den Elfmeter seines Lebens. Sabine Cole machte sich
auf den Weg zu Elke aus Dresden – und brachte ein
echtes Stück Zeitgeschichte mit. Ich selbst flog nach
Budapest zu Lothar Matthäus. Der Rekord-Nationalspieler verriet, dass er das Wort „Stolz“ nur sehr, sehr
selten verwende. Aber er sei bis heute „stolz“, Kapitän
der 1990er-Weltmeister zu sein. „Wir waren eine
saubere Truppe.“ Den Eindruck hatte ich damals auch.
In diesem wunderbaren italienischen Sommer 1990.
Drei Hefte sind in der WMReihe 54749014 bislang erschienen. Die Ausgabe „Mehr
als ein Spiel“, ein komplettes
Magazin über das 7:1 im
WM-Halbfinale 2014 gegen
Brasilien wurde vom Art
Directors Club ausgezeichnet.
Heft Nummer zwei war für den
Reporterpreis nominiert.
DiE PriNt-HEFTE
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DIE MAGAZINE
ALS E-PAPER:
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O L I V E R
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* Vorne kurz, hinten lang – und
eine halbseidene Trainingsjacke.
So war das 1990. Immerhin: Mit der
A-Jugend des SV Ottfingen holten
wir vor WM-Start auch einen Pokal.
W U R M
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DIE FACEBOOK-SEITE:
547490
AUF TWITTER:
@oliverwurm
MITARBEITER
1 | SABINE COLE im Berlin der Wendezeit –
ausgehfertig! 25 Jahre später schrieb
die fußballbegeisterte Autorin für uns über
das Jahr vor der deutschen Einheit eine
musik-politische Einordnung. Und in Dresden
traf sie Dynamo-Fan Elke, die 1990 aus der
DDR endlich zu einer WM reisen durfte.
2 | UDO MURAS (M.) zeigt es an: Victory –
Sieg. Zur WM nach Italien reiste er noch als
Fan. Wie sich die Nationalmannschaft ab 1984
unter Teamchef Beckenbauer entwickelte und
quasi erst in allerletzter Sekunde die WMQuali meisterte, beschreibt der renommierte
Fußball-Historiker in seinem Text „Kaiserzeit“.
3 | LINUS SCHUBERT war 1990 noch klein –
seine Begeisterung für den Fußball aber war
bereits damals riesig. Er hat für uns die
„Wiegen der Weltmeister“ recherchiert.
4 | BRODER-JÜRGEN TREDE Die Haare sind
inzwischen zwar grauer geworden. Hellwach
aber ist er nach wie vor. Als Schlussredakteur
und Dokumentar muss er das auch sein. Trede
macht (noch) weniger Fehler als Illgner 1990.
5 | ANDREAS vOLLERITSCH Aus dem
Austria-Posterboy der 1990er ist ein hoch
dekorierter Designer geworden. Er verpasst
54749014 den weltmeisterlichen Look.
6 | ULLI GLANTZ Unser „Auge“. Quasi der
Libero der Bildrecherche. Ein gutes Sportfoto,
das Ulli Glantz nicht findet? Gibt‘s nicht!
7 | NINA AUSTERMEIER Das Nesthäkchen
der Redaktion. Die Grafikerin hat vermutlich
schon in der Wiege über den Aufbau des WMStatistikteils im 1990er Heft nachgedacht.
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aus DEm iNhalt
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Er giBt ElfmEtEr! Gerd Rubenbauers und Karl-Heinz
Rummenigges 1990er-ARD-Kommentar im Originalton.
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kaisErzEit 1986 wurde Franz Beckenbauer Teamchef der
Nationalmannschaft. Ein Glücksfall – mit holprigem Start.
20
lothar matthäus Der Rekordnationalspieler und
WM-Kapitän im Exklusiv-Gespräch über die sieben Spiele
zum Titel, das Erfolgsgeheimnis des Kaders, den tobenden
Kaiser und eine ganz besondere Flasche Bier.
Plus: Andreas Brehme über den Elfmeter seines Lebens (S. 57),
Rudi Völler über die Spuckattacke von Frank Rijkaard (S. 37),
Jürgen Klinsmann über das WM-Quartier (S. 41) und
Franz Beckenbauer über seinen Spaziergang von Rom (S.
rtt61).
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Der Kaiser und sein Fuß(ball)Volk: Franz Beckenbauer inmitten seiner feiernden WM-Helden.
Nach dem Titel 1974 als Spieler,
wird Beckenbauer in Italien auch
Weltmeister als Trainer. Den WMHattrick macht er perfekt, als er
im Juli 2000 als OK-Chef auch
noch die Sommermärchen-WM
2006 nach Deutschland holt.
wEltmEistEr-WIEGEN Kleine Clubs, große Namen.
68 WOLFGANG NIERSBACHS TAGEBUCH
Als Pressechef führte der heutige DFB-Präsident 1990
minutiös Protokoll über die 57 Tage bis zum Titel.
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SEMPRE ROMA Udo Jürgens über die legendären
WM-Schallplatten mit der deutschen Nationalmannschaft.
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SO LIEF DIE WM Alle Spiele und Ergebnisse.
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SONDERZUG NACH MAILAND Lange musste Elke aus
Dresden auf diesen Tag warten: Zum Auswärtsspiel ins San Siro!
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KINDER, SEID IHR GROSS GEWORDEN
Wie alt waren die Weltmeister von 2014 im Jahr 1990?
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FUNDSTÜCK Der Elfmeterpunkt 1990 kommt ins Museum!
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CHILDREN OF THE REvOLUTION Ein musikpolitischer Streifzug durch das Jahr vor der Wiedervereinigung.
UNSER WELTMEISTERLICHER DANK GEHT ZUSÄTZLICH AN:
+++ Wim Vogel und die Sportmanufaktur +++ Andreas Pahlmann +++ die fleißige Praktikantin Sabrina +++ Valeria und Ulli von der
Sportfoto-Agentur Witters +++ Tobias von der Bildagentur imago +++ Dieter Eikelpoth +++ Appel Group +++ Videokünstler Shadiego!
imPrEssum
hErausgEBEr & ChEfrEDaktEur Oliver Wurm (V.i.S.d.P.) DEsigNkoNzEPt Andreas Volleritsch, neubaudesign.com
hErstElluNg Appel Group, Alter Wall 55, 20457 Hamburg, www.appel-grafik.de
DruCk B&K Offsetdruck GmbH, Gutenbergstraße 4-10, 77833 Ottersweier, www.bk-offset.de
PaPiEr Sappi Deutschland GmbH; Berliner Allee 14, 30175 Hannover VErtriEB Stella Distribution GmbH, Frankenstraße 7, 20097 Hamburg
© für alle Beiträge bei Oliver Wurm | Medienbüro, Schanzenstraße 36, 20357 Hamburg, [email protected]
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KAISERZEIT
Text:
UDO
MURAS
Sie begann mit einer BILD-Schlagzeile. Und endete
in Rom mit dem dritten WM-Titel für Deutschland.
D
er Ball war lange in der Luft. Lange genug, um zu wissen, wo er herunter
kommen würde. Aber die wenigsten ahnten, was er anrichten würde. Es
lief die letzte Minute im dritten deutschen Vorrunden-Spiel bei der Europameisterschaft 1984 in Frankreich. Letzte Minuten, so lernten es
Kinder von ihren Vätern, sind gute Minuten. Weil die Deutschen, die
nie aufgeben, so schlecht sie auch spielen, dann ein Tor schießen und
nicht der Gegner. So war es in Wembley, so war es in Mexiko, so war es in
Belgrad und so war es auch in Rom, beim bis dahin letzten deutschen
EM-Triumph. Vier Jahre lag das zurück.
Am 20. Juni 1984 wurde der Mythos verraten und die
deutsche Fußball-Geschichte neu geschrieben. Der Ball, der
so lange in der Luft war, landete auf einem spanischen Schädel und nicht
auf einem deutschen, obwohl sie doch alle da waren; Förster, Stielike,
Briegel. Jeder für sich ein Inbegrif deutscher Tugenden. Und keiner
konnte verhindern, was nun geschah. Spaniens Libero Maceda, in purer
Verzweilung mit nach vorne geeilt, kam unbedrängt zum Kopfball und
überwand Toni Schumacher. Es war das 0:1, das Endergebnis, das wenige Sekunden später feststand. Erstmals seit Menschengedenken war die
letzte Minute keine gute Minute, erstmals war Deutschland bei einem
Turnier nach der Vorrunde ausgeschieden. Es war die Stunde Null.
Zwei Tage, nachdem der Mann, den sie schon in jungen Spieler-Jahren
den „Kaiser“ nannten, an der heke ein ziemlich vages Versprechen abgegeben hatte. Im Hotel Henri IV in Saint-Germain-en-Laye bei Paris
begann am 20. Juni 1984 die Kaiser-Zeit des deutschen Fußballs. Beckenbauer war als Kolumnist der „BILD-Zeitung“ zur EM gereist und
saß nach dem Spanien-Spiel mit seinen „Kollegen“ zusammen. Die
Wegbereiter der glücklichen Wendung verdienen es, genannt zu werden. Die Journalisten Alfred Draxler und Jörg F. Hüls und der Wiener
Zyniker Max Merkel, ein ehemaliger Meister-Trainer mit Vorliebe für
bissige Kommentare, verarbeiteten die deutsche Fußball-Katastrophe
beim Bier. Als der Kellner die vierte Runde gebracht hat, so ist es überliefert, sprach Redakteur Hüls große Worte gelassen aus:
„Franz, mach Du es!“
Des Kaisers Antwort: „Seid‘s ihr narrisch worn?“ Er war fast 40 und noch
immer galt sein Credo: „Wenn ich eines weiß, dann, dass ich nie ein
guter Trainer sein würde.“ Er war nicht mal ein schlechter, er war gar keiner. 1984 war er ein Fußballer im Ruhestand, der seinen vielfältigen Geschäften nachging, die seinem großen Namen und seiner Persönlichkeit
geschuldet waren – und der Umtriebigkeit seines Managers Robert
Schwan. Er war längst ein gemachter Mann und führte ein Leben zwischen Golfplatz, Stadion und Studio, ein Werbetermin hier, ein TVAuftritt da. Schau‘n mer mal, was der Tag so bringt. Fatalerweise brachte
er sich beim Absacker an der Hotel-Bar selbst um dieses geruhsame Dasein in der Komfortzone, als er quasi als Friedensangebot in die Runde
warf, er könne ja als eine Art Technischer Direktor fungieren – aber nur,
wenn Not am Mann sei.
Zwei Tage danach erschien „BILD“ mit der Schlagzeile:
„Franz: Bin bereit!“ Als Trainer, wie suggeriert wurde. Der Letzte,
der davon etwas wusste, war der Heilsbringer selbst, was er auch dem
alsbald anrufenden DFB-Präsidenten Hermann Neuberger beteuerte.
Aber der ließ ihn nicht mehr von der Angel, und man fand einen seltsamen Kompromiss. Franz Beckenbauer sollte der Nationalelf betreuend ein Jahr zur Seite stehen, bis der Stuttgarter Meister-Trainer Helmut
Benthaus 1985 aus seinem Vertrag könne. Den Favoriten des DFB hatte
man in seinem Kanada-Urlaub nicht erreichen können. Wer weiß, wie
alles gekommen wäre, hätte es damals schon Handys gegeben …
Als Benthaus zurück war, teilte er mit, er wolle „losen Kontakt“ zum
DFB halten. Doch weil Benthaus kein klares Bekenntnis abgab, dann
wirklich zu kommen, und der DFB die WM-Qualiikation nicht gefährden wollte, überredete Neuberger Beckenbauer am Telefon zu einer
zweijährigen Zusammenarbeit. Mexiko 1986 inklusive.
FOTO: imago (2), Archiv BILD-Zeitung
Harald „Toni“ Schumacher ist geschlagen. Spaniens
Maceds köpft das 0:1. Das EM-Aus für Deutschland.
Nach der WM 1978
wird er Nachfolger von
Bundestrainer Helmut
Schön. Nach dem
Vorrunden-Aus bei der
EM-Endrunde 1984 muss
Jupp Derwall die Koffer
packen. Sein größter Erfolg: Der EM-Titel 1980.
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1990
Und so wurde in der DFB-Historie erstmals ein Bundestrainer aus
seinem laufenden Vertrag entlassen. Jupp Derwall, der noch zwei Tage
um sein Amt kämpfte, musste als Sündenbock von Paris herhalten.
Es war ja nicht nur die EM, schon der Weg dahin war von Mühen
gezeichnet, erst gegen zehn Albaner glückte im letzten Qualiikationsspiel ein 2:1-Sieg. Es passte in diese tristen Tage, im Europacup war
1983 erstmals kein Bundesligist über den Winter gekommen. Eine
bleierne Schwere lag über dem deutschen Fußball im Sommer 1984. In einer solchen Situation ruft ein Land nach
neuen Männern. Und wenn eine der lautesten Stimmen
nach einem ruft, ist es schwer „nein“ zu sagen. Sie rief
Franz Beckenbauer, den größten Fußballer des Landes.
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Die Seite eins der „BILD“ vom 22. Juni 1984.
Die Kollegen vom Boulevard liefern die Vorlage – der
Deutsche Fußball-Bund verwandelt. Franz Beckenbauer
wird Teamchef der A-Nationalmannschaft.
Der Beginn einer Erfolgsgeschichte.
So also begann es. Als Trainer sah sich Beckenbauer eigentlich nie, weshalb seinetwegen der Begriff des „Teamchefs“
geboren wurde. Auch um den Bund Deutscher Fußball-Lehrer zu
beruhigen. Der erste Teamchef nach fast 60 Jahren mit lauter Reichsoder Bundestrainern machte faktisch auch nichts anderes als seine lizenzierten Vorgänger: Er stand in Trainingshose auf dem Platz und stellte
die Mannschaft auf. Und Assistent Horst Köppel hatte ja eine Lizenz.
Beckenbauer gab sich in den sechs Teamchef-Jahren gern den Anschein,
er sei hier nur die Aushilfe, das Ganze ein Versehen, ein Irrtum, den er
nun ausbaden müsse. Dass es ihm an Erfahrung mangelte, wurde schnell
deutlich. Es hat nie einen undiplomatischeren Bundestrainer
gegeben, aber wenn es sich einer leisten konnte, die Bundesliga als „Schrott“ abzuqualifizieren, Schiedsrichter,
Funktionäre und Journalisten heftigst zu kritisieren, dann
er. Franz Beckenbauer, seine Majestät, der Kaiser.
Kaum zu glauben: Statistisch – also nach Punkteschnitt – wird es
mit Erich Ribbeck nur einen schlechteren Bundestrainer geben, gefühlt
aber war er stets auf einer Höhe mit Sepp Herberger und Helmut Schön.
1986 erreichte er das WM-Finale mit einer Mannschaft, die das Image
vom deutschen Fußball als Mischung aus Leichtathletik und Kampfsport untermauerte. Der zweite Platz in Mexiko mit Leuten wie Jakobs,
in Mannheim groß gewordenen Kölner Jürgen Kohler geradezu gedoubelt, der freche homas Häßler bereicherte das lange Zeit so unkreative
Mittelfeld, und der Stuttgarter Schwaben-Pfeil Jürgen Klinsmann war
mehr als ein Ersatz für Klaus Allofs. Nach Eike Immels Rücktritt im
Afekt kam 1988 ein neuer Torwart. Schumachers Nachfolger im Verein
wurde auch der im deutschen Tor: Bodo Illgner. Ein Dauer-hema des
Teamchefs war die Suche nach einem, wie er einer war: ein Libero von
Weltklasse-Format. Sie war von vornherein aussichtslos. Jakobs, Bruns,
Hörster – keiner fand Gnade vor den Augen des Kaisers. Nach der EM
wurde auch das Experiment mit dem Uerdinger Edel-Techniker
Matthias Herget beendet, dessen Klub-Kollege Holger Fach wurde als
nächstes gewogen und für zu leicht befunden. Im September 1989 holte
Beckenbauer dann Klaus Augenthaler nach dreijähriger Pause zurück,
auch um einen Anführer mehr zu haben. Augenthaler war bereits 32.
Kapitän aber war seit der EM Lothar Matthäus, der
1988 nach Italien gewechselt war. Mit ihm ging Andreas
Brehme zu Inter Mailand, Jürgen Klinsmann folgte 1989.
In Verona spielte Thomas Berthold, Rudi Völler war in Rom
glücklich. In der damals besten europäischen Liga reifte die
halbe Nationalmannschaft heran. In dem Land, das die
WM ausrichten sollte, hatten sie quasi Heim-Vorteil.
Teamchef Franz Beckenbauer war heilfroh ob seiner Legionäre, die
bei ihm alle gesetzt waren: „Sie haben ein höheres Niveau und professionelleres Verhalten, spielerische Fortschritte und Ernsthaftigkeit erreicht. Italien ist der Bundesliga in allen Belangen überlegen“, sagte er.
Um den Weg nach Italien frei zu schießen, brauchte es
aber einen kleinen Berliner. Damals, am 15. November
1989, als das wichtigste Spiel der Ära Beckenbauer von
epochalen Ereignissen überschattet, ja schier zerdrückt
wurde. Der Teamchef hat beteuert, es sei für ihn „die schwierigste Wo-
WM-Finale 1986: Im Aztekenstadion von Mexiko-City
unterliegt Deutschland der Elf von Argentinien mit 2:3.
Augenthaler und Eder war eine Sensation, über die er ein Jahr später
witzelte: „Mal ehrlich, können Sie glauben, dass wir mit die-
che überhaupt“ gewesen, „denn die Mauer iel und es war unmöglich,
die Konzentration hoch zu halten“. Im Falle des Scheiterns wäre er zurückgetreten. Die 21 Nationalspieler, die sich in der Sportschule Hennef auf das letzte und entscheidende WM-Qualiikationsspiel in Köln
gegen Wales vorbereiteten, spürten den Windhauch der Geschichte
auch, der von Berlin übers ganze Land wehte. In der trainingsfreien Zeit
saßen sie vor den Fernsehern und sahen Menschen, die anderen Menschen mit Deutschland-Fahnen zujubelten, und es ging eindeutig nicht
um Fußball. Stürmer Rudi Völler fragte damals: „Das Spiel gegen Wales,
was ist das schon gegen dieses Ereignis?“ homas Häßler, im Berliner
Wedding groß geworden, gab zu: „Ich wäre jetzt gern in Berlin gewesen,
um dies alles ganz persönlich mitzuerleben.“
Für sein Land war es jedoch besser, dass er an diesem NovemberMittwoch 1989 in Köln geblieben war. Denn Thomas Häßler
sen Spielern das Finale einer Weltmeisterschaft erreicht haben?“ Aber auf einige setzte er in seiner ganzen Ära: das Gerüst von Rom stand schon in Mexiko. Brehme, Berthold,
Matthäus, Völler und Littbarski. Schumacher wäre auch dabei
gewesen, doch der Kölner Torwart brachte sich mit seinem Enthüllungsbuch „Anpif“1987 selbst um Ruhm und Ehre. Später sagte Beckenbauer, es sei ein großer Fehler des DFB gewesen, Schumacher wegen seiner im Nachhinein stichhaltigen Doping-Vorwürfe vor die Türe
zu setzen. Aber sie passten nicht in die Zeit.
Bei der EM 1988 im eigenen Land erreichte Deutschland das Halbfinale, in Hamburg aber war Endstation gegen den späteren Sieger Holland. Doch niemand forderte
Beckenbauers Kopf, der Weg war erkennbar der richtige.
wurde zum Retter der Nation, sein Volley-Tor entschied das
nervenaufreibende Spiel gegen Wales (2:1). Was heute fast nie-
FOTO: imago (5), Witters (1)
Die Qualität wuchs spürbar: Vorstopper Karlheinz Förster wurde vom
Ciao: 1990 spielen mit Rudi Völler (AS Rom, Foto),
Thomas Berthold (Hellas Verona) und den drei InterMailand-Profis Lothar Matthäus, Andreas Brehme
und Jürgen Klinsmann gleich fünf Nationalspieler
in der Serie A.
Knock-Out kurz vor dem Abpfiff: Marco van
Basten schießt Holland ins EM-Finale 1988.
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1990
mand mehr weiß: Deutschland gewann nicht mal seine Qualiikationsgruppe – Erzrivale Holland holte einen Zähler mehr – und kam nur
durch den Umstand, bester Zweiter in den beiden Vierer-Gruppen geworden zu sein, nach Italien. Dafür blieb Dänemark auf der Strecke.
„Deutschland ist durch ein Nadelöhr gekrochen. Das Tor
von Häßler bewahrt Beckenbauer vor dem Psychiater!“,
schrieb eine holländische Zeitung. Vor allem bewahrte es ihn vor
einem unrühmlichen Abgang. Nun bestand die Aussicht, dass er als
Weltmeister gehen könnte. Italien würde Beckenbauers letzte Dienstreise sein, Berti Vogts stand als Nachfolger fest.
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Erlösung in Köln-Müngersdorf: Thomas
Häßler trifft in der 48. Minute zum 2:1 gegen
Wales. Deutschland rettet das Ergebnis mit Glück
und Geschick über die Zeit – und qualifiziert sich
auf den letzten Drücker für die WM 1990.
Auch er hätte wohl nur zugesehen. Die Stamm-Formation stand
ohnehin. Illgner im Tor, um Libero Augenthaler gruppierten sich Berthold, Kohler und Brehme. Matthäus und Buchwald spielten im defensiven Mittelfeld, Klinsmann und Völler waren der Parade-Sturm. Nur
im ofensiven Mittelfeld hatte der Kaiser die Qual der Wahl. Das Motto
hieß: zwei aus vier. Die Kandidaten: homas Häßler, Pierre Littbarski,
Olaf hon und Uwe Bein. Nesthäkchen Andreas Möller stellte keine
Ansprüche. „Diesmal haben wir eine bessere Mannschaft, eine bessere
Moral, keine Gruppen innerhalb des Kaders und die Stimmung ist viel
besser“, sagte Beckenbauer am 7. Juni 1990. Am Tag vor dem ersten
Spiel gab er sich auf der Pressekonferenz aufgeräumt: „Es ist keiner da,
der besser ist als wir. Heute haben wir eine Situation, die mich wieder an
1974 erinnert. Jeder hat mitgeholfen die Kurve zu kriegen, die Fans und
die Medien.“ Das Ziel? „Wir wollen schön spielen, hoch gewin-
Gruppenauslosungs-Show zur WM 1990:
FIFA-Generalsekretär Joseph S. Blatter und
Schauspielerin Sophia Loren ziehen die Kugeln.
nen und Weltmeister werden.“
Am 9. Dezember 1989 wurden in Rom die Gruppen
ausgelost, die Deutschen verließen den Sportpalast mit einem Lächeln auf den Lippen. Denn ihre Gegner waren
nicht gerade zum Fürchten: Wie so oft traf man auf Jugoslawien,
erstmals auf die Arabischen Emirate und auf Kolumbien. Beckenbauer
sagte: „Wir haben diesmal wirklich Glück gehabt.“ Es nährte die Hofnungen auf ein gutes Turnier.
Als Beckenbauer die Spieler am 14. Mai 1990 in Malente erstmals
zusammenrief, begrüßte er sie so: „Das eines klar ist – ihr kommt
unter die ersten vier. Und unser Ziel ist der Titel.“
Der WM-Kader 1990: Diese 22 Spieler sollen es richten.
Links: die Co-Trainer Berti Vogts und Holger Osieck.
Rechts: Beckenbauer und Torwart-Trainer Sepp Maier
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1990
Titel), die Familien waren in einem benachbarten Hotel einquartiert
und durften jeden Tag zu Besuch kommen. Und die Spieler wussten,
woran sie waren. Beckenbauer gab ofen zu: „Man kann nicht einfach
die besten 22 Spieler in ein WM-Team packen. Auf den Plätzen 16 bis
22 braucht man Typen, die nicht ständig aufmucken. Denn spielen werden sie wahrscheinlich eh nicht.“ Und so fuhren ein Andy Köpke, Paul
Presserunde: Reporter Jörg Wontorra
im Interview mit Franz Beckenbauer. Der
Teamchef wirkt vor dem Auftaktspiel der
WM 1990 gelassen – und zuversichtlich.
FOTO: imago (3), Witters (2)
Öffentiches Training, demonstrierte Volksnähe,
gute Laune: Beim Auftakt-Trainingslager in der
Sportschule Malente herrscht Volksfeststimmung.
Seiner Mannschaft, die am 21. Mai in der Sportschule Kaiserau ein
zweites Quartier bezog, traute man das zu, bei den Wettbüros und Umfragen lag sie meist auf Platz drei oder vier. Im Vergleich zur WM in Mexiko war alles besser: die Qualität, das Selbstbewusstsein, das interne
Klima, die Unterbringung, der Trainer – obwohl es derselbe war.
An ihm prallt auch die Kritik ab rund um das letzte Länderspiel auf
deutschem Boden – 21 Mann setzt er in Gelsenkirchen gegen die Dänen
(1:0) ein. Die Fans pifen, aber der Kaiser dachte mehr an das Klima im
Kader als an das unbedeutende Ergebnis. Er wusste, dass es für einige
der einzige Einsatz bleiben wird während der Mission Italia 90. Zwei Tage bekamen sie noch frei vor dem Ablug nach Verona am 2. Juni von
Frankfurt aus. Andy Möller zog noch schnell um, Kohler kümmerte sich
um die Vorbereitung seiner Hochzeit (am 12. Juli), Littbarski und Illgner besuchten ein Rock-Konzert der Rolling Stones, Uwe Bein ging
zum Zahnarzt. Andy Brehme spielte in Italien mit Söhnchen Ricardo.
Aber auch die „Italiener“ mussten noch einmal nach Frankfurt kommen, um dann wieder nach Italien zu liegen. Die Fotografen sollten ein
Bild der Geschlossenheit schießen können.
Im Hotel Seeleiten am Kalterer See traf der DFB-Tross Pingstsamstag planmäßig ein, der Bus von zwei Polizeiwagen eskortiert. Über
1000 Neugierige standen zum Empfang bereit. Eine Trachtengruppe
marschierte auf. Der Landeshauptmann von Südtirol wählte große
Worte: „Seit dem Mittelalter ist es Tradition, dass Kaiser und Könige,
die über den Brenner kommen, in Südtirol haltmachen. Ich freue mich,
dass Kaiser Franz und seine Mannen diese Tradition fortsetzen.“ Doch
die Krieger waren müde, verschwanden schnell auf ihren Zimmern. Am
dritten Tag durften sie sich warmschießen für die WM, eine SüdtirolAuswahl war das willige Opfer – 0:13 stand an der Anzeigetafel in Kaltern. Elf Tore entielen auf die Stürmer – Klinsmann, Völler, Mill (je 3),
Riedle (2). Die Einnahmen der Partie gingen an ein SOS-Kinderdorf in
Brixen. Solche Gäste verabschiedet man mit den allerbesten Wünschen.
Als das Team am 8. Juni im Castello di Casiglio in Erba
eintraf, in der schon Kaiser Barbarossa residiert hatte, standen die Rahmenbedingungen für eine nahezu perfekte
WM. Die Prämienfrage war geklärt (125.000 Mark pro Kopf für den
Willkommen in Erba: Drei Fans empfangen die Deutsche
Mannschaft vor malerischer Kulisse mit einer XL-Fahne.
Steiner, Günter Hermann, Frank Mill und Hansi Plügler ohne jegliche
Ansprüche mit gen Italien und ertrugen ihr Los gelassen. Uli Stein und
Wolfram Wuttke, von Medien ins Gespräch gebracht, blieben zuhause,
ebenso Holger Fach, der sich kurz vor der Abreise in Malente verletzte.
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Der Kaiser spricht vom Titel, das Fußvolk schaut zu ihm auf und
will ihm nur zu gerne glauben. Die Straßen sind leergefegt an diesem
Sommerabend, in ganz Deutschland. Die Mannschaft reist erst am
Spieltag mit dem Bus an, es sind ja nur 50 Kilometer von Erba bis Mailand. Die deutschen Fans haben einen weiteren Weg, aber ihre Vorfreude
versetzt Berge und Alpenpässe. 78.838 Zuschauer füllen am Sonntag,
den 10. Juni, schon weit vor Anpif um 21 Uhr das Giuseppe MeazzaStadion, das bei den Mailändern stets das „San Siro“ bleiben wird.
50.000 davon sind Deutsche, mindestens. Zwei Tage davor, beim Eröfnungsspiel zwischen Argentinien und Kamerun, ist es nicht ausverkauft.
Der alte Weltmeister verliert, wird es
etwa einen neuen geben?
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