Fünftes Zeitfenster - Tod der Anna Maria Mozart in Paris

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Fünftes Zeitfenster - Tod der Anna Maria Mozart in Paris
Fünftes Zeitfenster - Tod der
Anna Maria Mozart in Paris
Anna Maria Mozart erkrankte während des Aufenthaltes in Paris
schwer: Es wird berichtet, dass sie am 10. Juni 1778 zum
letzten Mal ausgegangen war. Danach fühlte sie sich nicht wohl
und ließ sie sich daher am 11. Juni selbst zur Ader. Das
scheint nicht geholfen zu haben, denn ab 19. Juni war sie
bettlägerig, und am 20. Juni bekam sie starkes Fieber. –
Mozart war wieder bei Graf Sickingen eingeladen, um ihm die
neue Pariser Sinfonie (KV 297) vorzuspielen, die am 18. Juni
1778 mit großem Erfolg uraufgeführt worden war. – Für diesen
Erfolg hatte Wolfgang übrigens, wie er dem Vater berichtete,
einen Rosenkranz gebetet, um dann im Café bei einem guten
Gefrorenen für sich allein zu feiern.1
Nachdem Anna Maria Mozart am 24. Juni ihr Gehör verloren
hatte, wurde endlich ein Arzt zugezogen. – Vorsorglich erhielt
sie am 30. Juni die letzte Ölung, am 3. Juli starb sie abends
nach 22 Uhr in Gegenwart ihres Sohnes, einer Wärterin und
Franz Joseph Hainas, der sich in Paris sehr um sie gekümmert
hatte. – Wolfgang schrieb noch am selben Abend an den
Familienfreund Abbé Joseph Bullinger nach Salzburg und bat
diesen, den Vater und die Schwester vorsichtig auf die
Todesnachricht vorzubereiten. Dem Vater selbst schrieb er an
diesem Tag, dass die Mutter ‚sehr kranck’ sei. – Die
Einsegnung erfolgte am 4. Juli in der Kathedrale St. Eustache,
anschließend war die Beisetzung auf dem Friedhof St. JeanPort-Latine in Paris. – Erst am 9. Juli berichtete Mozart dem
Vater vom Tod der Mutter, am 31. Juli gab er ihm eine genauere
Beschreibung der Krankheit und ihrer letzten Tage.
Der (berühmte) Brief,2 den Mozart am 3. Juli, nach dem Tod der
Mutter, an den Abbé Bullinger, einen Freund der Familie,
geschrieben hat, ergänzt das Bild des Geschehenen:
„Allerbester freünd!
ce 3 julliet 1778
für
allein.
Paris
sie
ganz
Trauern sie mit mir, mein freünd! – dies war der Trauerigste
Tag in meinem leben – dies schreibe ich um 2 uhr nachts – ich
muß es ihnen doch sagen, meine Mutter, Meine liebe Mutter ist
nicht mehr! – gott hat sie zu sich berufen – er wollte sie
haben, das sahe ich klar – mithin habe ich mich in willen
gottes gegeben – Er hat sie mir gegeben, er konnte sie mir
auch nehmen, stellen sie sich nur alle meine unruhe, ängsten
und sorgen vor die ich diese 14 täge ausgestanden habe – sie
starb ohne das sie etwas von sich wuste – löschte aus wie ein
licht. Sie hat 3 täge vorher gebeichtet, ist Comunicirt
worden, und hat die heilige öehlung bekommen – die letzten 3
täge aber phantasirte sie beständig, und heüt aber um 5 uhr 21
minuten griff sie in Zügen, verlohr alsogleich darbey alle
empfindung und alle sinne – ich druckte ihr die hand, redete
sie an – sie sahe mich aber nicht, hörte mich nicht und
empfand nichts- so lag sie bis sie verschied, nemlich in 5
stunden um 10 uhr 21 minuten abends – es war niemand darbey,
als ich, ein guter freünd von uns / den mein vatter kennt / H:
Haina, und die wächterin – die ganze kranckheit kann ich ihnen
heüte ohnmöglich schreiben ich bin der Meynung, dass sie hat
sterben müssen – gott hat es so haben wollen. Ich bitte sie
unterdessen um nichts als um das freünd-stück, dass sie meinen
armen vatter ganz sachte zu dieser trauerigen nachricht
bereiten – ich habe ihm mit der nehmlichen Post geschrieben –
aber nur dass sie schwer krank ist – warte dann nur auf eine
antwort – damit ich mich darnach richten kann.
Gott gebe ihm stärcke und muth! – mein freünd! – ich bin nicht
izt, sondern schon lange her getröstet! – ich habe aus
besonderer gnade gottes alles mit standhaftigkeit und
gelassenheit übertragen. wie es so gefärlich wurde, so batt
ich gott nur um 2 dinge, nemlich um eine glückliche
sterbstunde für meine Mutter, und dann für mich um stärcke und
muth – und der gütige gott hat mich erhört, und mir die 2
gnaden im grösten maaße verliehen.
Ich bitte sie also, bester freünd, erhalten sie mir meinen
vatter, sprechen sie ihm muth zu dass er es sich nicht gar zu
schwer nimmt, wenn er das ärgste erst hören wird. Meine
schwester empfehle ich ihnen auch von ganzen herzen – gehen
sie doch gleich hinaus zu ihnen, ich bitte sie – sagen sie
ihnen noch nichts dass sie Tod ist, sondern prepariren sie sie
nur so dazu – Thun sie was sie wollen, – wenden sie alles an –
machen sie nur dass ich ruhig seyn kann und dass ich nicht
etwa ein anderes unglück noch zu erwarten habe. – Erhalten sie
mir meinen lieben vatter, und meine liebe schwester. Geben sie
mir gleich antwort ich bitte sie. – Adieu, ich bin dero
gehorsamster danckbarster diener
aus fürsorg.
Wolfgang Amade Mozart
Rue de gros chenet
vis a vis celle du croißant
a l’hotel des quatre
fils aimont.
Wolfgang
Hildesheimer
nannte
diesen
Brief
„ein
kalligraphisches Schmuckstück …: so schön, als habe es
gegolten auf einem besonderen Gebiet ein exemplarisches
Dokument für die bewundernde Nachwelt aufzustellen“. 3 – Im
Gegensatz zu anderen Autoren, die darin ‚ein erschütterndes
Dokument’, ‚das herrlichste Denkmal kindlicher Liebe’ oder
‚herrliche, in Kummer getränkte Buchstaben’ sehen wollen,
meint er, Mozarts Erschütterung halte sich innerhalb der
Grenzen barocker Konvention.
Kurz darauf schrieb Wolfgang an den Vater, dass er froh wäre,
wenn er „hier erlöset werde; denn lection zu geben ist hier
kein spass“. – Er fand in Paris keine sinnvolle Beschäftigung
mehr; auch sein Vorhaben, eine Oper zu schreiben, war
misslungen. – Am 31. August teilt Leopold Mozart seinem Sohn
brieflich mit, dass es ihm gelungen sei, Wolfgangs
Wiederanstellung als Concertmeister wie zuvor am Salzburger
Hof zu erreichen.
Betrachten wir auch diese Zeit aus psychologischer Sicht: 4
Mozart reagierte auf die Ereignisse offensichtlich mit großer
Unsicherheit und Verwirrung, alles schien ihm zu verschwimmen,
so dass er zum Teil wohl nicht einmal mehr seinen alltäglichen
Verrichtungen nachkommen konnte. Sein Denken war blockiert. Er
war in einer ambivalenten Weise tief traurig. Zugleicht
scheint ihn wieder eine starke innere Unruhe ergriffen zu
haben, ohne dass er sich gleich aus seiner unschlüssigen,
gelähmten Haltung befreien konnte.
Das Sterben der Anna Maria Walburga Mozart
Die Mozartin war – wie ich schon berichtet habe – trotz ihrer
bodenständigen, vitalen Haltung und ihrer tüchtigen, oft sogar
gelegentlich derben Art von früh auf etwas kränklich gewesen
und kam in ihren Kräften offenbar immer wieder an ihre
Grenzen. Ihre eigentliche Tüchtigkeit konnte sie im Rahmen
ihrer Familie entfalten, wobei die langen und anstrengenden
Familienreisen, bei denen sie ja auch wieder für die
Bewältigung vieler Alltagsmühen zuständig war, sie zweifellos
sehr gefordert haben.
Die Entscheidung, Wolfgang statt des Vaters auf dieser letzten
Reise nach Paris zu begleiten, stellte auf alle Fälle eine
Überforderung dar. – Anna Maria konnte ihre ganze Kraft
einsetzen, solange ihr Mann die leitende Funktion samt den
notwendigen Verhandlungen übernahm. Jetzt aber war sie mit
ihrem eigenwilligen, oft auch auf sich selbst bezogenen und in
vielen Dingen ungeschickten Sohn unterwegs, der sich von ihr
trotz aller Zuneigung mit Sicherheit nicht viel sagen ließ,
sondern sich in seinen Unternehmungen selbst bestimmen wollte,
– und im Übrigen in dieser Zeit wenig entschieden und
zupackend reagierte.
Dadurch fehlte oft die notwendige zügige Planung, es fehlten
auch die klaren Entscheidungen, und alles kostete viel Zeit –
und dies bei geringen verfügbaren Geldmitteln. Dazu kam, dass
die beiden Reisenden in wenig gemütlichen und oft dunklen
Quartieren absteigen mussten, die zudem ungepflegt und auch
kalt waren, also auch nicht viel Erholung boten.
Das war für die Mozartin, die aufgrund ihrer persönlichen
Haltung Boden unter den Füßen brauchte, die also auf ein
Gefühl des Eingebundenseins angewiesen war und die auch auf
lebendigen Kontakt und Austausch mit anderen Menschen
angewiesen war, eine trostlose Situation, zumal ihr Sohn für
sich berufliche Kontakte suchen, Verabredungen treffen,
Verhandlungen führen, Übungsmöglichkeiten schaffen – und
dadurch seine Mutter oft auch allein lassen musste.
Weiter kamen dazu noch die Lebensbedingungen im damaligen
Paris: Es waren nicht nur ärmliche und dunkle (obwohl teure)
Zimmer, die Mozartin bekam in ihrem Quartier auch nur
schlechtes und viel zu wenig Essen. Das Wasser aus der Seine,
das Straßenhändler anboten, war unrein und ungesund. – Sie war
einsam, müde, erkrankte immer wieder, – ihre Ressourcen
reichten nicht mehr aus. Im Übrigen waren die Straßen
schmutzig, voller Unrat. Um sich zu bewegen, brauchte man eine
Kutsche, die aber war teuer.
Durch die psychologische Analyse erfahren wir, dass sie das
Jahr 17775 mit nachlassenden Kräften nur mit viel Anstrengung
bewältigen konnte, wobei die zahlreichen interessanten
Begegnungen und Erlebnisse natürlich auch anregend waren. Die
Mozartin versuchte wohl auch, ihre Energien überlegt
einzusetzen, um das Gefühl der inneren Stabilität zu erhalten.
– Auf der anderen Seite wird deutlich, dass sie viel Not und
Kummer in sich aufstauen musste, die sie nicht nach außen
zeigen konnte. – Dazu kam noch, dass sie sich über die
Bedeutung der Reise im Klaren war und sich daher immer wieder
neu motivieren musste. – Insgesamt erlebte sie also nicht nur
die äußere, sondern vor allem auch ihre innere Situation als
schwere Aufgabe und Belastung. Und dies alles war eigentlich
zu viel.
Im Jahr 17786 setzte sie zwar noch engagiert und
anstrengungsbereit viel Kraft ein, entwickelte aber zunehmend
das Gefühl, überfordert zu sein, und zog sich innerlich – auch
von vorhandenen Kontakten – zurück. Dadurch begann sie, ihre
frustrierten Bedürfnisse und Gefühle in sich aufzustauen: Sie
war einsam, ganz allein auf sich zurückgeworfen und litt
innerlich zurückgezogen stumm (und sicherlich recht
unauffällig, ohne zu klagen oder sich zu beschweren) vor sich
hin und verlöschte still.
Betrachten wir die astrologische Zeitqualität7 des
Todeszeitpunkts im Vergleich mit ihrem Geburtskosmogramm, so
können wir nicht nur das dem Tod vorangehende Aufstauen der
innersten Gefühle feststellen, sondern auch das stille
Weggehen.
Blicken wir noch einmal auf Wolfgang Mozart, um zu verstehen,
was in ihm in dieser schwierigen Zeit vorgegangen sein muss:
Die Misserfolge im Jahr 1777 8 bedrückten Mozart, steigerten
aber zugleich sein ehrgeiziges Streben und auch seine
wachsende Ungeduld, die sich allerdings wohl verstärkt auch in
Träumereien Luft machte. – 17789 steigerten sich Ungeduld und
Unruhe weiter und führten zu einer tiefen persönlichen
Verunsicherung, obwohl Mozart immer wieder neuen Schwung nahm
– und dann doch enttäuscht und frustriert reagierte. Seine
Kreativität schien nachzulassen, auch sein Elan flachte ab,
die Kräfte ließen nach, und es traten melancholische,
hoffnungslos trübe Stimmungen auf. Auch die Liebesgefühle und
–Phantasien verloren ihr Strahlen und ihren Schwung.
Der Gedanke drängt sich auf, dass Wolfgang Mozart – oft
bemüht, angestrengt und doch erfolglos unterwegs – sich zu
wenig um die Mutter, um ihren schwachen Zustand und um ihr
Wohlergehen kümmerte, bis es schließlich zu spät war. Dann
überfielen ihn wohl Schuldgefühle und die Angst vor
Vorwürfen.10 – In dieser Zeit fühlte er sich der Situation kaum
mehr gewachsen, reagierte angespannt, überlastet und
depressiv. Er verlor seine (oberflächliche) Sicherheit, wusste
eigentlich nicht mehr aus noch ein und spürte, dass er vieles
in sich und in seiner Situation loslassen musste, wusste aber
nicht, wie er dies bewältigen sollte.
Am 26. September 1778 verließ Mozart Paris und reiste über
Mannheim nach München, wo er am 25. Dezember ankam. – Bei
einer erneuten Begegnung mit Aloisia Weber kam es zum Bruch,
da sie seinen Heiratsantrag ablehnte. – Mozart hatte (aus
welchem Grund auch immer) das Bäsle nach München kommen
lassen. Als er Mitte Januar 1779 nach Salzburg zurückreiste,
fuhr Anna Maria Thekla mit der Post hinterher, um ihn zu
begleiten. Offenbar brauchte er jemanden, der ihm vertraut
war. – Diese Inszenierung wirkt eigenartig: Der junge Mann
erlebte – was der Vater mit Sicherheit ja auch befürchtete –
den Aufbruch seiner Sexualität, begegnete dabei der sinnlich
ansprechenden und wohl auch ansprechbaren Maria Anna Thekla
und kam dann durch die Begegnung mit Aloysia durch deren
völlig andere Ausstrahlung in eine massive innere Ambivalenz.
Er
wandte
sich
vom
Bäsle
ab,
um
deren
verführender
Ausstrahlung nicht weiter ausgesetzt zu sein – und wurde jetzt
von Aloisia abgelehnt, die ihren eigenen Weg weitergehen, aber
keine Beziehung zu ihm und schon gar keine Amouren mit ihm
wollte. Sie half ihm zwar, sich von der Verwandten zu
distanzieren, er aber bat gerade diese Verwandte, ihn nach
Hause zu begleiten.
Leopold Mozarts Reaktion auf die Pariser Reise
Leopold Mozart war enttäuscht und verbittert über die
Erfolglosigkeit der kostspieligen Parisreise, die ein Fiasko
war, viel Geld gekostet und ihn gezwungen hatte, Schulden bei
seinem Salzburger Hausherrn zu machen. Besonders schwer war
für ihn, dass seine Frau nicht mehr zurückkehrte. – Auch
merkte er auch bald, dass es zu einer immer stärkeren
Entfremdung seines Sohnes ihm gegenüber kam und dieser ihm und
seinem Einfluss immer mehr entglitt, obwohl er eigentlich
alles für ihn getan hatte. Er versuchte daher, sich stärker
durchzusetzen, die Zügel straffer anzuziehen und den Sohn
endlich zur Rückkehr nach Salzburg zu zwingen. – Am 16.
Februar 1780 schrieb Leopold Mozart an Wolfgang:11
„Mein Sohn! in allen Deinen Sachen bist Du hitzig und gähe! Du
hast von Deiner Kindheit und Knabenjahre an nun Deinen ganzen
Charakter geändert. Als Kind und Knab warest Du mehr ernsthaft
als kindisch, und wenn Du beym Clavier saßest oder sonst mit
Musik zu thun hattest; so durfte sich niemand unterstehen Dir
den mindesten Spaß zu machen. Ia Du warest selbst in Deiner
gesichtsbildung so ernsthaft, dass viele einsichtsvolle
Personen in verschiedenen Ländern wegen dem zu frühe
aufkäumenden Talente und Deiner immer ernsthaft nachdenkenden
Gesichtsbildung für Dein langes Leben besorgt waren. Itzt aber
bist Du, wie mir scheint, zu voreilig iedem in spaßhaften Ton
auf die erste herausforderung zu antworten – und das ist dann
schon der erste schritt zur familiarität etc.: die man bey
dieser Welt nicht viel suchen muß, wenn man seinen Respect
erhalten will.
Wenn man ein gutes Herz hat, so ist man freilich frey und
natürlich sich herauszulassen gewohnt: allein das ist gefehlt.
Und eben Dein gutes Herz ist es, welches macht, dass Du an
einem Menschen, der Dich wacker lobet, der Dich hochschätzet
und bis in den Himmel erhebet, keinen fehler mehr siehest, ihm
all Deine vertraulichkeit und Liebe schenkest: wo Du als Knab
die übertriebene Bescheidenheit hattest, gar zu weinen, wenn
man Dich zu sehr lobte.“
Die Enttäuschung und auch die Sorge des Vaters sind aus seiner
Sicht nachvollziehbar. Er hatte zwar die Entwicklung seines
Sohnes mit allen Mitteln gefördert und versucht, ihn in einer
guten (und sicheren) Position unterzubringen. Auf der anderen
Seite war er aber in seiner Mentalität ein zwar ehrgeiziger
und zielstrebiger Mann, der sich ernsthaft mit der Realität
dieser Welt auseinandersetzte, dem es aber fremd war, sich
gegen
gegebene Strukturen aufzulehnen, der vielmehr versuchte, in
allen Lebenslagen pragmatische Lösungen zu suchen.
Er konnte sicherlich in seinem Denken und Fühlen nicht
nachvollziehen, dass sein Sohn in seinem ebenfalls weitgehend
unpolitischen Denken zum ersten Mal eine Ahnung hatte, „dass
an der herrschenden Gesellschaft etwas nicht in Ordnung wäre.
Jedenfalls war er sehr bald nicht mehr bereit, sie zu
akzeptieren, er nahm nicht mehr alles hin, wie sein Vater es
getan hätte und es von ihm forderte“.
12
Verschiedene Biografen haben das Jahr 1778 als
‚Schicksalsjahr’ Mozarts bezeichnet. – Die Ablehnung an
verschiedenen Höfen bei seiner Suche nach einer Anstellung,
die mit ständigen Demütigungen verbunden war, die Ablehnung
seiner großen Liebe durch Aloisia Weber, der Verlust der
Mutter, – dies alles soll zu einem Einschnitt in Mozarts Leben
geführt haben.
Zwar stimmt es, dass bei Wolfgang während der Zeit in Paris
eine innere passive Auflehnung spürbar wurde. Es waren aber
wohl nicht nur einzelne Ereignisse und Erlebnisse, die zu
emotionalen Reaktionen führten, vielmehr wurde durch die
innere Entwicklung sein Lebensgefühl wesentlich verändert:
Hildesheimer spricht davon, dass Mozart in diesen Jahren zum
ersten Mal in seinem Leben allein (und selbstständig) war und
er beschreibt die Folge dieser Tatsache als ungewohnten, nicht
ganz geheuren, zugleich aber willkommenen Zustand, den er aber
mit einem steigenden Lebensgefühl registriert und aktiv
wahrnahm: „Er fühlte plötzlich, was Freiheit bedeuten könnte;
was wäre, wenn der Vater nicht wäre.“13 Wir haben es daher nach
meinem Verständnis mit einer sich allmählich zuspitzenden
Entwicklungskrise zu tun, die sich in einem verzögerten
Ablösungsprozess mit einem lange aufgestauten Bedürfnis nach
persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit äußerte. Diese
Bedürfnisse des jungen Mannes sind als Gegenimpulse zur
jahrelangen kindlichen Einbindung Wolfgangs zu verstehen, die
er durch den Vater erfahren hatte:
„Wolfgang (ließ) jegliche Dressur über sich ergehen,
wahrscheinlich sogar gern. Er kannte es nicht anders und
verlangte nicht nach anderem. Den Hang zu gewissen
Äußerlichkeiten, zu prunkvoller Aufmachung, zu schönen
Knöpfen, Schuhschnallen, Litzen und Borten, hat er sein Leben
lang beibehalten, in retrospektivem Verlangen Unbefriedigung
über die Unansehnlichkeit des Mannes in sich. … In gewisser
Weise hat er sich immer nach seiner Wunderkindheit
zurückgesehnt … und gewiss auch nach jener Geborgenheit, die
sein Vater ihm gewährt hatte: Doch der Vater der Erinnerung
wurde zunehmend ein anderer, eine imaginäre Idealgestalt; er
war nicht die dominierende Autorität, die Rechenschaft
forderte und die Rechnung für seine Opfer präsentierte.“14