Ä G Y P T E N

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Ä G Y P T E N
Ä G Y P T E N - ALLER ANFANG
ERZÄHLUNGEN
HOCHSCHULE
FÜR
FERNSEHEN
UND
FILM MÜNCHEN | LEHRSTUHL CREATIVE WRITING | PROF. DORIS DÖRRIE | 2010
INHALT
Vorwort
3
Helena Hufnagel | Tom
7
Sebastian Stojetz | Rocket
15
Sina Flammang | Fritz-Olaf in Ägyptenland – Reisejournals eines Kegelkönigs
35
Eva Trobisch | Stefan Mattendorf, 17 Jahre
53
Gregor Koppenburg | Letzte Tage und Abschiede
61
Doris Seisenberger | Michael Altmayer – der Jackpot
67
Anatol Schuster | Karin Winterberg – Eine Geschichte am Nil
73
Artjom Baranov | Die Geschichte von Svenja Raubein
77
Anne M. Hilliges | Ägypten-Geschichte
85
David Onuora | Die Gedankenfetzen der Kim „Rocky“ S
95
Jan Linnartz | Laura Belmonte im Land des grünen Skarabäus
103
Madeleine Fricke | Horsts Feuchtjebiet
111
Karolin Wanger | Ronny
117
Simon-Niklas Scheuring | Abu Simbel
125
Philip Grabow | Die Erinnerungen von Hildegard Borkamp
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VORWORT
Eine Schreibreise auf dem Nil. Die Studenten tragen ihre schlichten braunen Heftchen wie
einen kostbaren Schatz mit sich herum. Losgelöst von Laptop, Facebook und Youtube sollen
sie schreiben, ihre Sinne schärfen für die Assoziationen, die beim sanften Dahinschippern auf
unserem Nildampfer „Zeina“ in ihnen aufsteigen, sich überraschen lassen von den Menschen,
die ihnen begegnen, ihnen zuhören, und auch ihre eigenen Gefühle mit in ihre Geschichten
einweben. Sie sollen ihre Figuren auf eine Reise schicken und erleben das irritierende Gefühl,
doch selber auf einer (All-Inclusive-) Reise zu sein, die ihnen völlig neue Welten eröffnet.
Ungewohntes taucht auf:
Die Hitze. Die eifrigen Reiseführer Hassan und Hussein, die uns alle am frühen Morgen aus den
Betten scheuchen und uns vor der “ Rache des Pharao“ warnen. Sie reden ununterbrochen,
manchmal nachsichtig, manchmal voller Zorn, und zeigen uns beim abendlichen Programm wie
man aus seinem Schiffsgenossen per Klopapier eine Mumie bastelt.
Hassan sitzt gerne unter dem Schiffsdeck und lässt es sich nicht nehmen, die Reisenden via
Lautsprecher auf das üppige Programm des nächsten Tages hinzuweisen. Außerdem werden
Fruchtbarkeitstänze aufgeführt und ein Steuermann singt mit uns in der Feluke „Fiderallala,
Fiderallala“.
Von ausgehungerten Katzen erzählen die folgenden Geschichten, von Menschen ohne Perspektive, ob als Bewohner eines ärmlichen Städtchens am Nil oder als träge Touristen auf dem
Nildampfer. Von einer tragisch-komischen Misantropin, einem Kegelkönig und neuen Anfängen eines älteren Ehepaares. Von der Schönheit der Landschaft und den Sehnsüchten, die sie
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hervorbringt. Die Menschen in den Geschichten wollen sie riechen, die kleinen Gassen in den
Nildörfern, wollen mitlachen mit den Bewohnern, doch allzu oft kommt ihnen der eigene Pauschaltourismus in die Quere.
Auf vieles hätten auch wir verzichten können: animierten Hüftschwung beim Karaokeabend,
glühende Blicke vom männlichen Bordpersonal und die ständige Bitte um Geld.
Doch plötzlich blinzelt sie durch die Schiffsritzen: die Heiterkeit der Menschen, der Schalk in
den Augen, als wir gemeinsam mit einem Steward der „Zeina“ einen nackten Mann im gegenüberliegenden Schiff entdecken.
Komplizenschaft, fremde Gesten, und pure Freude.
Auf einmal ist die allabendliche Flussfahrt auf dem Nil doch voller Magie, märchenhaft. Der
Mond leuchtet am blassblauen Himmel und jeder von uns trägt seine Farben mit nach Hause.
Lehrstuhl Creative Writing
Prof. Doris Dörrie
Maya Reichert
Dorothea Körner
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TOM
Ja, ich sehe aus wie das Sams. Ich weiß, danke. Danke. Dankeschön. Diese Antwort habe ich
hier schon gefühlte 32 Mal gequält freundlich gegeben. 32 ist die Hälfte aller Passagiere an
Bord – ist mir nur aus interessierter Langeweile aufgefallen. Das heißt, mir bleiben noch mögliche 32 Mal zu sagen „Ja, ich sehe aus wie das Sams“. 32 ist die Anzahl der viereckigen stillosen Tische auf Deck die alle zusammen in den Augen der Ägypter anscheinend ein stilvolles
HELENA
HUFNAGEL
Touristen-Kreuzfahrtschiff ergeben. 32 ist die Zahl der herumliegenden gesammelten StellaBierdosen letzter Nacht von der Gruppe junger Archäologen an Bord. 32 ist mein junges Alter.
32 Grad hat es hier noch nicht mal nachts. 32 Stunden könnten die Tage hier kürzer sein. 32
Zähne habe ich ohne ein einziges Loch. 32 Sommersprossen besähen meinen linken Unterarm
– nur zur Information, der rechte hat 45. 3,2 ist die Länge meiner orangefarbigen Haare. Sie
stehen im rechten Winkel vom Kopf ab. Genau 3,2 cm. Sie sind wie ein filziger Schutzwall um
meinen Kopf. Ohne Lücke. Ordentlich nebeneinander.
Ich sah schon immer aus wie das Sams. Schweinsrüssel. Meine Nase ist eher unvorteilhaft
hochgezogen. Selbst von vorne kann jeder, der nicht mindestens 3 Köpfe größer ist als ich,
meine unterschiedlich großen Nasenlöcher sehen. Das rechte hat eine ovale Form, das linke ist
eher rund. Die stehende Hitze kriecht gnadenlos direkt frontal in beide hinein.
Die Ägypter sind braun. Schokobraun. Mein ganzer Körper ist einfach weiß. Nicht cremeweiß
wie bei den meisten Europäern oder Passagieren hier. Nein, schneeweiß, wie Puderzucker oder
Koks. Die afrikanische Sonne färbt ihn leider auch ziemlich schnell rot. Krebsrot. Ein Grund
mehr, warum Ägypten nicht mein Ort ist. Nackt vor dem matten Spiegel sieht es lustig interes-
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sant aus. Ein krebsrotes Etwas mit orangefarbigem Haar und weißen Streifen in der Mitte.
Ich mag die übertriebene Hitze gar nicht. 48 Grad. Als mir diese Zahl schon im Flugzeug mit
gleichgültiger Stimmlage angesagt wurde, dachte ich eher an einen schlechten Scherz. Seit
dem ersten Moment hier weiß ich, dass es den Ägyptern auch an gutem Humor fehlt. Ich liebe
den Regen. Wie auf der britischen Insel. Dort würde ich untergehen in der Menge mit meinem auffälligen Aussehen. Aber gut. Gar nicht gut. Jetzt hänge ich hier im Süden. Fest. Mama
liebt die Hitze. Sie meint, dass sie sich dann erst richtig spüren kann. Sie genießt das Gefühl
von Schweißtropfen, die langsam ihr Gesicht runterkullern, dann ihren Körper und schließlich
zwischen den Zehen hindurch ihren Weg auf den Boden finden. Ich beobachte jeden Tag den
Kampf der Schweißtropfen, die erbärmlich in der Hitze verdunsten, bevor sie überhaupt 10 cm
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weit gekullert sind. Manchmal übersehe ich hier, dass Mama blind ist. Ist die ja auch erst seit
ein paar Jahren. 15 Jahren. Sie kennt also noch Tom, das Sams, vom Erscheinungsbild und
weiß, was sie da für eine reale Kinderbuchfigur in die Welt gesetzt hat. Leider habe ich keine
echten blauen Wunschpunkte im Gesicht, sondern nur braune bis schwarze Sommersprossen.
Das fällt ihr mindestens einmal im Monat ein und dann verflucht sie den Semi-Sams-Tom. Mit
echten Wunschpunkten würde sie sich ihr Augenlicht wieder herbeizaubern. Gegen die verbitterte Enttäuschung habe ich ihr ein Hörbuch von Asterix und Obelix und Kleopatra geschenkt.
Ich verfluche diesen Tag genauso wie die Tatsache, dass ich keine blauen Punkte im Gesicht
habe. Dank den 2 gallischen Pappenheimern bin ich jetzt hier. Ich verstehe es absolut. Nicht.
Sie kann doch keine einzige Hieroglyphe betrachten. Für mich ist es hier der akzeptierte Kampf
gegen die Farbe Rot, den dominierenden penetranten Schweiß, die andauernd trockene Kehle
ohne einen Tropfen Speichel und, dass ich nicht mit jedem befreundet sein will, „my friend“. Ich
fühle mich hier gelähmt und unattraktiv. Mama versteht das nicht. Ihr ist ihr Aussehen seitdem
egal. Sie kombiniert gnadenlos Blau mit Schwarz oder Pink mit Rot. Sie hört lieber zu.
Wir sitzen in der stillen Music Hall. Alles ist schläfrig still außer dem quatschenden übermotivierten Hussein. Ich schaue ihn aufmerksam von oben bis unten an und finde ihn oberflächlich. Mama hört ihm aufmerksam in jeder Oktave zu und findet ihn tiefgründig. Ob ich
denn nicht die warme liebevolle Stimme wahrnehme? Ich solle mal mehr zwischen den Tönen
hören. Laut ihr hat er Familie zu Hause und ein gutes Herz. Hussein, der Führerer. Sie kann sich
stundenlang über die Stimme amüsieren und sie nachahmen. Ich bin nur genervt. Genervt von
seinem penetranten Sprachfehler -rer. Mama stellt sich Hussein überaus attraktiv vor. Ich lasse
sie in dieser Illusion.
Heute Morgen sind wir aufs Deck getapst und geschlichen. Ich glaube, wir zwei sehen nebeneinander lustig traurig aus. Ich tapse. Mama geht vorsichtig. Sie schleicht. Jedenfalls ist sie
vorgeschlichen. Sie wollte schon mal den besten Platz ausspähen. Als ich hochkam, sah ich das
zusammengefaltete Sonnendeck. Und meine Mutter, wie sie geradlinig darauf zusteuert. Immer
die Hände ausgestreckt nach vorne, für einen Blindenstock ist sie sich zu eitel. Jedenfalls waren
ihre Hände zu tief, um die Stangen in Kopfhöhe zu fühlen. Ich schrie verhalten „Stopp, warte,
nein, stehen bleiben Mama! Maaaaama!“ Schämte mich gleichzeitig vor den Stellmädchen
über mein schreiendes „Maaaaaama“, wie ein Baby, das fremdelt. Und die intensive Schamröte kam völlig umsonst. Mama rannte gegen die Stange und taumelte zurück. Gegen den
viereckigen Tisch auf der rechten, dann gegen den Stuhl auf der linken Seite und schließlich
landete sie auf dem grünen Plastikrasen auf dem Rücken, streckte die Hände in die Luft, um ihr
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Gesicht zu schützen für den Fall, dass noch etwas auf sie drauffallen könnte. Natürlich war das
nicht so. Aber sie sah es ja nicht. Und auch nicht ihre dicke Beule über dem rechten Auge. Die
fühlte sie nur pochen. Man sah sie eigentlich kaum, aber für Mama hat es sich wohl angefühlt
wie die Nase Pinocchios auf der Stirn. Ich musste ihr sofort einen Pony schneiden, um die Beule
zu kaschieren.
Ich schwitze wie ein Wal hier auf dem Deck in meinen blauen Badeshorts. Mama gibt mir so
nutzlose Tipps, wie „Geh doch in den Pool!“. Sie hat auch gut reden. Sie sieht ja nicht, dass der
Pool eine einzige abartige, abstoßend braune Suppe von aktiven Bakterien und Pilzen ist. Allerdings sitzen die Stella saufenden Archäologen auch schon seit Stunden drin, ohne weggeätzt zu
sein. Ich unterhalte mich angeregt mit der Wackeldackel-Frau. Sie nickt konstant unrhythmisch,
wenn ich rede, und ich fühle mich so, als wenn meine belanglosen Worte einen Sinn hätten.
Mama fragt plötzlich irritiert, warum ich die ganze Zeit einen Monolog halte. Sie sieht meinen
stille Gesprächspartnerin nicht nicken. Plötzlich komme ich mir blöd vor, ich bin 32 und verbringe meine Zeit mit der Nicklady, Prollo Heini und prozenthaltigem lebensrettendem Stella auf
einem abgenutzten Seniorendampfer. Prollo Heini amüsiert sich über seine unlustigen Witze.
Da hilft doch nur die Flucht in die Poolbrühe. Ich verstecke meine orangefarbigen Borstenhaare
unter einem weißen T-Shirt, fühle mich unsichtbar und trete zögerlich aus dem Schatten hervor.
Mutlos traue ich mich in die Nähe der halbbetrunken Gruppe, setze mich direkt neben sie an
den Beckenrand und beobachte alles aus gefühlter Ferne.
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Am Nachmittag besuchen wir den Tempel von Ramses dem 1. oder 10. oder 100. oder 1001.
Mich interessiert es nicht überschwänglich. Mama umso mehr. Sie will alles genau bis ins letzte
Detail beschrieben haben. Ich erzähle ihr, dass die Ägypter alle bekifft und auf Drogen waren,
weil auf jeder zweiten Hieroglyphe ’ne Wasserpfeife abgebildet ist. Waren alle high und haben
bunte Formen gemalt. Mama wird sauer und schreit wild durch die Gegend nach dem älteren
Mann, der früher Archäologe in Ägypten werden wollte und jetzt real im Traumland ist. Und wie
der sich darüber freut, ihr alles zu erklären! Er beschreibt ihr jede erahnbare Figur, von Baby
Horus bis Ramses. Alle Abbildungen bis ins kleinste Detail wie ein übermotivierter Lehrer in
Pension. Ich will da lieber ein kaltes Bier, um meine innere heiße Wüste zu stillen, und beobachte das Spektakel von dem Stand im Schatten aus. Ich sehe, wie Mama jeden Stein kurz innig
umarmt, um zu wissen, wie groß er ist. Und wie ihre staubbraunen Hände die bunten Wände
berühren, um Unebenheiten zu erfühlen. Wie sie hektisch stolpert und der Wunsch-Archäologe
sie sanft auffängt. Mit einer selbstbewussten Neugierde versucht sie, Ägypten zu erfühlen und
bekommt von jedem Tempelwächter Gnade aufgrund ihrer Erblindung. Bis auf gestern. Als sie
die Mumie des Tutenchamun anfassen wollte, um zu wissen, ob er wirklich drin liegt. Ich habe
fast einen Herzstillstand bekommen.
Mama hat eine einzige Lebensfreude auf dieser Reise. Für sie ist es ein berauschendes Fest
der Sinne. Für mich ist die Freude am Leben gerade schon mumifiziert. Es ist vielmehr eine
Qual des Daseins und Frage der Existenzberechtigung von Kreuzfahrtschiffen. Mama liebt das
Gefühl eines fahrenden Schiffes. Des starken Motors unter ihr. Mir wird dabei leicht schlecht.
Ich beschreibe ihr, dass die Häuser entlang des Nilufers aussehen, als wenn sie vom Fluss
aufgespießt werden. Ich erzähle ihr von dem männlichen Schiffspersonal in babyblauer Uniform. Von dem Eingangsfoyer in der Mitte des Schiffes, das mit viel Fantasie dem der Titanic gleicht. Von dem Passagier, der jeden Tag ein gestreiftes T-Shirt mit Stehkragen trägt und
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sich immer von unten nach oben mit faultierartigen Bewegungen abtrocknet. Ich verschweige ihr, dass ihr vegetrisches Gemüse jeden Tag neben dem Fleisch zubereitet wird. Dass die
einheimische Bauchtänzerin mit Brüsten wie Melonen wackelt und ich ihr die ganze Zeit ins
Dekolleté starre. Dass das Sofa in der Music Hall Augenkrebs erregende Muster hat. Wobei,
das wäre ihr schon wieder egal. Dass sie von den anderen Gästen bemitleidet und gleichzeitig
bewundert wird. Dass der Wunsch-Ägyptologe für sie möglicherweise seine Frau betrügen würde. Dass der Mann, mit dem sie die ganze Zeit an Deck Lagerfeuerlieder ohne Feuer singt, ein
sündiges Engelstattoo auf dem Rücken hat. Dass Eltern ihren kleinen Mädchen hier sexistische
Bauchtanzkostüme anziehen. Dass die einheimische Papyrusfabrik ein Touri-Trap war. Dass ich
Tabletten gegen Übelkeit nehme.
Gerade lernt meine Mama Bauchtanz, Erbse, Erbse, Nuss, die Acht ist ein Muss. Nachher
schauen wir uns das WM-Spiel an. Ich werde als britisch aussehender Deutscher in Ägypten
Fußballspielern in Südafrika zuschauen. Mama wird den arabischen Kommentator nicht verstehen und frustriert sein, dass sie nicht teilhaben kann an dem Spiel. Heute habe ich das
erste Mal keine Lust, für sie da zu sein. Glücklicherweise gibt es einen Mann aus Thüringen in
enger Speedo-Badehose, mit halb aufgeknöpftem Hemd, der sich als geborener Kommentator
fühlt. Und ich werde jetzt jede Menge Dosenbier genießen, um etwas für einen echten Trommelbauch, wie das Sams ihn hat, zu tun. Falls mir dann doch noch Wunschpunkte wachsen, bin
ich von hier weg.
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ROCKET
Eine Bar im amerikanischen Stil. Abgeranztes Leder, bordeaux wie der Wein. Beschlagene
Nieten. Sofas mit ausladenden Lehnen wie Schneckenhaus-Kringel.
SEBASTIAN
STOJETZ
Dazwischen dunkles Ebenholz, das nach Schuhfett duftet und knarzt, wenn man einen Schritt
darauf setzt. Wie die alten Treppenstufen in Omas Bauernhaus.
Kristalle, Sandfunkeln. Weiß auf weiß. Meine Fingerkuppe verschwindet im Zucker. Roter Lack.
Der knallt. Auch wenn nicht ganz perfekt ausgemalt. Hey, ich war noch nie geduldig. Schminken
hab ich auf der Bahnhofstoilette von meiner älteren Schwester gelernt.
„Hey Layla, genug Zucker?“
Eddy wedelt mit drei Päckchen wie ein Bazar-Händler, dessen Zähne vom Rauchen so cremig
gelb leuchten wie der Mond aus „Der Kleine Prinz“ von Saint-Exupéry.
Er grinst. Ich liebe Eddy für dieses Gesicht. Zwischen kleinem Bubi und weisem Großvater. In
der rechten Hand hält Eddy ein Geschirrtuch mit Karomuster, um die vom Schaum glitzernden
Whiskeygläser zu trocknen.
Meine Lippen küssen die Haut meines randvollen Wasser-Kaffees. So, wie ihn die Amerikaner
lieben und die Deutschen hassen. Mit zuviel Zucker und zuviel Wasser. Zuckerwasser. Alles
andere als bittersüßes Herzklopfen. Ich muss an „The Verve“ denken. Und an Luca.
Ich puste. Die zart wie ein Spinnennetz gespannte Oberfläche zerbricht. Mein Chemielehrer
würde sich für mich schämen. Ein Wunder der Natur und ich mach es kaputt. Tja, Herr Peters,
das tut mir jetzt aber leid. Wie bei einem Stausee, der nichts mehr aushält, schwappt die erste
Ladung braungelber Soße über die Kante und sucht sich die schnellsten Wege.
Eddy schüttelt gutmütig den Kopf. Dann schmeißt er mir das grün karierte Geschirrtuch rüber
und zückt sich das nächste von seinem Vorrat, der über seiner Schulter baumelt.
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„Du Batzi, mach sauber.“
*
„Teleeefon!“, ruft eine Stimme in mir. Sie ist vernünftig und nennt sich „Gewissen“. Etepetete.
5 Uhr 30. Rote Digitalzahlen. Von wegen digital ist besser. Aufstehen, ob digital oder analog.
Meine Augen fühlen sich an wie zwei kochende Sonnen, die sich langsam in mein Gesicht
einbrennen. Den Toco-Ohrwurm krieg ich heute nicht mehr los. Trockene Luft, die ungesund
schmeckt. So, als könnte man davon Asthma kriegen, scheiß Klima. Mal zu heiß, mal zu kalt.
Oben Hölle, unten Eispalast. Alles für die deutschen Idioten. Denen man’s nie Recht machen
kann.
Julia ist schon lange geweckt, gepudert, gehfertig. Wie eine Mischung aus fleißiger Biene und
fieser Stechmücke schwirrt sie von Lampe zu Lampe durch die hell erleuchtete Kabine, um
Sonnencreme, Schminketui und Gucci-Brille zusammenzupacken.
„Aufstehen, Küken“, sagt sie schon zum fünften Mal. Fünf zu eins. Ich grunze wie eine Kreuzung
aus Dino und Nilpferd, dabei hab ich noch nie eins gesehen. Also ein Nilpferd. Dinos sind ja für
immer tot, falls ihr’s noch nicht wusstet.
Nebenbei gesagt hat Julia nicht nur Hummeln im Hintern, sondern auch mich geboren. Inwiefern das zusammenhängt, erklär ich euch ein andermal. Jedenfalls ist sie sozusagen meine
Erzeugerin, wie sie es formulieren würde, denn schließlich gebe es ja auch Erzeuger. Ich nenne
sie schon lange Julia, weil ich finde, Mama klingt so kindlich und Mutter irgendwie nach Rammstein.
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Ihre Lippen zappeln und wollen meine Ohren zum Wackeln bringen. Kriegen sie nicht. Ich kann
sie nicht hören, meine Zeigefinger spielen Oropax. Ich weiß, ihr findet das kindisch. Mir egal.
Schnurzpiepegal!
„Du bist schon eher ein Morgenmuffel, Küken, oder?“
Ton an, Augen zu. Ich hasse es, wenn sie mich so nennt. Aber auch, nachdem ich ihr das schon
mindestens hundertmal gesagt habe – am selben oder an unterschiedlichen Tagen ändert
nichts daran - sie nennt mich immer so. „Alles klar, Küken.“
K. o. statt o. k. Ich weiß nicht, ob sie das vorsätzlich macht. Aber ich glaub es. Und verschwinde
in der verrückten Schwellenwelt zwischen Unterbewusstsein und Realität.
Ich sitze auf einem fliegenden Engel, der aussieht wie eine weiße Pocahontas und ein T-Shirt
trägt, auf dem steht „Jesus changed my life“. Ich will sprechen, aber der Fahrtwind lässt den
Schall, der aus meinem Mund strömt, verschwinden. Wie wenn man den Kopf aus einem geöffneten Zugfenster reckt. Erst als meine Lunge erstickt, kann ich den Horror-Film sehen, der in
goldenen Bildern auf meine innere Schädeldecke projiziert wird.
Ein Kind, das im Fluss sitzt und glitschige Würmer wie Torpedos durch seine winzigen Hände
schießen lässt. Ein Kind, das nur einen Kugelschreiber für seine Englisch-Hausaufgaben will.
Ein Kind mit traurig krummen Mundwinkeln und verkrüppelten Füßen, die zurück in die Vergangenheit zeigen, dazu Arme so lang wie die eines Affen. Ein Kind, das auf einem Pappkarton
in Staub und Katzenpisse schläft. Ein Kind, das Said heißt und nicht wie seine anderen fünf
Freunde Mahmud.
Tut mir leid für deine Verhältnisse, denke ich. Und doch ändert das nichts. Es ist und bleibt
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beschissen. Chancen. Ich hatte tausend und die keine. Verdammt, ich könnte kotzen vor Mitleid. Man kümmert sich einfach lieber um die toten Tempel aus toten Steinen toter Kulturen als
um die Lebenden.
Ich verfluche unseren Reiseführer Hussein für meine Albträume, ich verfluche die Welt. Wieso
macht ungerecht sein bloß soviel Spaß?
Meine Schlafdecke fliegt weg wie Aladins Wunderteppich. Julia! Ich strample in die Pedale
meines unsichtbaren Fahrrads, presse mein Gesicht ins Kissen.
„Hallo Küken! Sag mal, läuft das bei euch in der Redaktion auch so?“
„Mama, bitte...“
Eigentlich wollte ich doch Julia sagen. Eigentlich. „Unnütz“, hat der Dozent an der Journalistenschule, der Unnütz hieß uns immer eingebläut. Am Ende des Studiums mit einer seitenlangen
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Liste voller unästhetischer Begriffe mit der Überschrift „UNNÜTZ“ in der Hand hab ich mich
gefragt, wie ich überhaupt jemals einen vernünftigen Artikel schreiben soll. Mir kam’s so vor,
als ob achtzig Prozent der deutschen Sprache auf den Zetteln standen. Mir fehlten die Worte.
Das war bis dahin noch nie passiert. Eigentlich.
Ein Wort für die Schwachen und Unsicheren. Und „eigentlich“ wollte ich das nie sein.
Genauso wenig wie ungerecht oder gewalttätig.
Doch als Julia den schüchternen Zimmerjungen nicht durch ihre weltmännische Souveränität
– warum gibt es eigentlich keine weltfrauischen Männer? – mit Hinweis auf das signalrote DONOT-DISTURB-Schild wie üblich abweist, sondern den lieben Typen ohne Hemmungen reinbittet
(„Oh yeah, it’s fine, come in, please!“), würde ich sie am liebsten an den Schultern packen und
wie eine Piña Colada durchschütteln. Oder ich stelle mir vor, wie ich sie auf die teuflisch heißen Granitfliesen des Sonnendecks schnalle, damit sie brutzelt wie ein Wies’n-Grillhendl, einen
mindestens so schlimmen Sonnenbrand wie ich bekommt, bis ein Aasgeier landet, um sie zu
pieksen wie in dieser griechischen Sage.
Doch alles, was ich in Wirklichkeit tun kann, ist meine Schmunzel-Maske aufzuziehen. Emotion
versteckt. Winke, winke! Layla, du bist echt cool.
„Dann bis glei-heich“, säuselt Julia Sonnenhut und huscht glücklich wie eine wiederkäuende
Seekuh davon. Schlimm.
Plötzlich fällt mir der pausbäckige Zimmerjunge wieder ein, der wie eine Statue festgemeißelt
steht. Er ist dick. Wir gucken uns verdutzt an wie in einer schlechten Romantic Comedy mit
Sandra Bullock und Matthew McConaughey, die sich gleich im schillernden Abendrot einsamer
Zweisamkeit ihre Liebe gestehen, indem sie gleichzeitig zufällig gleiche Satzanfänge in ihre
Champagnergläser nuscheln, um kurz darauf einen Vorwand für ihr peinliches Gegacker zu
haben. Nur damit er am Ende sagen kann: „Sei ganz ruhig, Baby.“ Während sie an ihrer Bluse
nestelt, damit er dann... Ach, das lassen wir mal lieber.
Ich verzieh mich ins Bad.
Nachdem ich „Sugar Kane“ gehört habe, geht’s wieder.
Beim Frühstück riskier ich alles. Obstteller inklusive Wasser- und Honigmelone. Plus englischer
Tee und Julias zauberhaftes Lächeln. So sehen Gewinner aus, würde der Knorke sagen. Der
sein ganzes Leben lang gekifft hat und heute die einzige Aldi-Süd-Filiale in Erding leitet.
Unfertiger Obelisk. Klingt irgendwie nach geköpfter Bavaria.
Der Bus schnattert wie eine Moped-Gang, die Nägel durch ihre Auspuffrohre geschlagen haben,
damit der Sound stimmt.
Staub. Vorbei an unfertigen Häusern in erdigen Farbtönen, die so ausschauen, als ob der Lehm
oder das Geld für Baustoff ausgegangen sei, was auch wirklich stimmt wie der Reiseführer
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später erzählt. Klick. Ein Foto von einem unfertigen Friedhof. Meine Kamera ist jetzt definitiv
nicht mehr im „Lächel-Modus“ wie beim Hinflug, als bei meinem Lächel-Mund der Apparat nicht
auslöste, sondern große, blinkende Letter die Anzeige schmückten. „Lächeln nicht erkannt.“ So
eine Unverschämtheit.
Aus Wut und Frust habe ich dann die um mich herum sitzenden Passagiere getestet. Kann doch
nicht sein, dass nur ich hier falsch funktioniere. Jedenfalls bin ich nun im Besitz einer grandiosen Werbe-Fotostrecke dunkelhäutiger Stewardessen aus Tausendundeiner Nacht, die ich mit
großer Sicherheit für dickes Geld an Egypt Air verkaufen könnte. Julias zauberhaftes Lächeln
könnt ich mir natürlich als lebensgroßes Poster ausdrucken lassen, um mir das über mein Bett
zu hängen.
Zerteilte Steine wie Leichenteile verstreut. Damit die nie wieder zu einem Körper zusammen-
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finden. Elvis ist tot. Ich fühl mich wie in einem zerbombten Krisengebiet. Überall Tod und Verwesung, schreiende Kinder und weinende Madonnen. Rechts im Bild Peter Scholl-Latour in
Bestform. Journalisten sind Schweine. Die beschreiben immer nur Krisen, Katastrophen. Und
doch war ich schon immer davon fasziniert.
Haffner, Riehl-Heyse, Prantl. Platten und Bücher und Filme zerreißen kann schließlich jeder.
Kluge Essays schreiben dagegen nicht.
Der Obelisk ist keine Attraktion. Klar, er ist ja auch unfertig. Nicht perfekt. Irgendwie tut er mir
leid.
Das erinnert mich an Samuel, meinen besten Freund, als ich ungefähr zehn Jahre alt war.
Samuel war schwarz und kam aus dem Sudan, einem sehr heißen Land, wo die Leute schnell
braun werden. Jedenfalls hat mir Samuel als kleiner Wurschtel immer erzählt, sein Vater
würde Steine klopfen, wenn er in die Arbeit ginge, in einen echten Steinbruch! Schweiß, Bagger,
Männer. Ich war begeistert und konnte das kaum glauben. Als ich Mama davon erzählte und
sie leise fragte, was sie denn arbeiten würde, hat sie lachend geantwortet: „Na, was denkst du
denn? Steine klopfen, Küken.“
Wie Samuels Papa, dachte ich. Und war baff. Und verdammt stolz auf meine Mama. Das gibt’s
doch nicht!
Zwei Hunde, die sich im Sand wälzen auf der Suche nach Futter. Sie springen an einer hübschen Touristin hoch, riechen ihre Angst. Der eine ist gelb wie Curry, der andere so dunkel wie
starker Mokka. Gemeinsam sind sie wie Yin und Yang, eins.
„Hey, hey, verzieht euch!“, höre ich eine Stimme rufen, die gar nicht klingt wie meine.
Die Viecher hören auf mich. Das ist wohl der einzige Vorteil, wenn man auf dem Land aufgewachsen ist. Meine Hände streicheln parallel über das borstige Fell ihrer hungrigen Bäuche. Sie
hecheln wie Omas Hund, Bingo. S. Die Zunge wie eine nervöse Schlange.
Ich muss schon wieder an Luca denken. Seine Hand vor meinem Gesicht, damit ich die grüne
Mamba nicht anglotzen muss. Und er flüstert „Hosenschisser“, nur um mich zu ärgern. Auf dem
Wandertag im Tierpark Hellabrunn, die total lächerliche Exkursion mit der Kollegstufe, zu der
ich fast nicht hingegangen wäre. Hätte ich’s nicht getan, oh Mann. Ein Grund mehr sich zu erschießen. Oma mochte Luca. Wahrscheinlich, weil beide italienische Wurzeln hatten. Luca sah
genauso braungebrannt aus wie Margret, egal ob Sommer oder Winter. Irgendwie hätte Luca
viel eher ihr Enkel sein können als ich mit meiner englischen Blässe und den paar verirrten
Sommersprossen, auf die ich mal so stolz war. Besonders, wenn Margret mit ihren von dicken
Adern durchzogenen Händen die Punkte in meinem Gesicht bereiste wie Koordinaten eines
magischen Sternesystems.
„Margret ist tot“, sagte Julia.
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Nach dem dritten Mal konnte ich wieder atmen. Das ist kein Hollywood-Kitsch. Ich musste
lachen, weil ich so was nicht witzig finde. Ich hörte meine Stimme wie auf Kassette. Als ob
irgendein absurdes Drehbuch mich dazu zwingen würde, diese Sätze voller Ungläubigkeit loszuwerden. Es sind immer Drei-Worte-Sätze, die unser Leben verändern.
Vater ist weg. Sie ist schwanger. Ich liebe dich.
Philosophie hilft nicht, wenn man nichts glaubt. Margret kann nicht tot sein, denke ich. Oma war
so stark wie ein Dino. Fröhlich wie mindestens zehn gackernde Waschweiber. Und so lebenslustig. Wie eine Südtirolerin eben. Ich hätte mich so gern von ihr richtig verabschiedet. Ein
letztes Mal ihre schwere Hand auf meinen zappelnden Knien gespürt und das wonnig warme
Gefühl, das den Körper durchströmt wie kleine silberne Raketen und einem verspricht, dass
morgen alles gut wird. Aber es kommt nicht. Ich zergehe in Selbstmitleid wie eine geschmolzene
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Schokolade im Silberpapier. Viele Menschen schmeißen die Schokolade weg, penible Bürokraten tragen sie zurück nach Hause, um sie in den Kühlschrank zu legen, damit sie dort liegt bis
sie vergammelt, weil niemand so eine hässlich geformte Schokolade fressen will. Klar, Frust-Essen muss hübsch aussehen, man möchte ja nicht noch mehr unansehnliche Traurigkeit in sich
hineinstopfen. Doch Margret hätte sie einfach ausgezuzelt, sich die Finger schmutzig gemacht,
sie danach abgeleckt. Und was mach ich? Heul in der Hitze, leck mir den Rotz von der Oberlippe. Schmeckt nach Salz, Süßstoff und Essig. Ich will am liebsten alle Trauer und Wut auskotzen.
Aber ich kann nicht. Ich weiß, Margret will das nicht. Asche kann nicht mehr verbrennen. Nur
ein Phoenix. Die silberne Dose glüht, ich spüre die Wärme durch meine Umhängetasche, die
Julia viel zu männlich findet und mir das schon gefühlte hundertmal auf die Nase gebunden hat.
Ja doch, es gibt Wichtigeres. Die Geschichte des Todes. Unser Reiseführer beginnt bei Adam
und Eva und endet bei Kain und seinem erschlagenen Bruder Abel. Was für ein schrecklicher
Moment für Kain. Schuld und Verwirrung. Mit einem Schlag weißt du, man muss sterben. Was
bedeutet das, tot sein? Aufgabe, Verlust, Nichts? Was kommt danach? Was macht man mit
einem toten Menschen? Nur die Aasgeier wissen das.
„Hier schriebe aaah Agathe-e Christie-e ihre Roman-e, die-e weltberühmte-e geworden-e“,
nuschelt unser Reiseführer durch das kratzige Busmikro, als wir das Hotel in Assuan passieren,
in dem Christie ihr wohl berühmtestes Buch schrieb.
Margret liebte Christie. Immer auf der Suche nach ihrem Monsieur Poirot. Sie hat einfach zu
lange gewartet. Träume verpuffen. Einfach so. Ich verspüre einen Hass in mir, der meine Spucke
sauer schmecken lässt. Genau dasselbe Gefühl, wie wenn ich einen Rollstuhlfahrer, Krüppel,
Behinderten sehe. So eine Ungerechtigkeit. Dabei hätte ein Gentleman wie Sir Peter Ustinov
einfach perfekt an Margrets Seite gepasst. Sie hätte es verdient gehabt. Wenn nicht sie, wer
dann?
„Dafür bin ich jetzt tot auf dem Nil“, hätte Margret gesagt. Und herzlich gelacht.
Die Insel erinnert mich an Griechenland. Familienurlaub in der Antike. Meterhohe Säulen,
weißer Stein, Felsen. Die Sicherheitskontrollen piepen wie im Supermarkt. Nur, dass keiner
auf den Preis achtet. Der weiß gekleidete Soldat mit schwarzer Mütze kippelt auf seinem Stuhl
im Halbschatten und schlürft eine Coke. Sein Kollege dahinter lehnt sich gegen eine Felswand
und spuckt ab und zu auf eine schon feuchte Stelle im Dreck, immer eine Hand am Abzug der
Kalaschnikow, die an seiner Schulter hängt wie Christbaumschmuck.
Julia hat sich gleich an Land von unserer Reisegruppe abgeseilt und folgt SchmalzlockenHassan, der die Gäste eigentlich nur auf dem Schiff betreut und einfach so mitgefahren ist.
Wahrscheinlich reißt er mit dieser Tour immer geile Europäerinnen auf, nagelt sie eine Woche
lang und winkt zum Abschied von Deck mit Tempo-Taschentüchern. Widerlich.
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Plötzlich kennt sich Hassan, der studierte Tourismus-Manager, perfekt mit den Bedeutungen
der einzelnen Hieroglyphen aus. Seine Mimik ist nur dazu da, Lächeln zu erzwingen, seine Gesten, um einzig und allein – zwischen dem ganzen Gezeige – eine kleine unschuldige Berührung
mit Julias Unterarm herbei zu führen. Irgendwie ist es mir egal, was Hassan macht, wie Julia
sich verhält, was die beiden da treiben. Ich überlege, ob ich Julia drauf ansprechen soll, sie
warne, wie albern. Julia ist erwachsen, eine erfolgreiche Juristin, die für die UN in Wien Krisen-
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situationen auf dem Balkan einschätzt. Da wird sie wohl noch einen Lackaffen von einem richtigen Kerl unterscheiden können.
Schon als wir in tiefschwarzer Nacht aufs Schiff kamen, das von außen wie ein schwimmendes
Casino aus Las Vegas glitzerte, hat Hassan seine schon millionenfach wiederholten Witze nur
für Julia gerissen. So ging’s jedenfalls mir. Und die restliche Masse an zu fetten, vernarbten,
prolligen und übermüdeten Touris hat – weil man jetzt ja im Urlaub ist – einfach mitgegrunzt.
Ultrapeinlich. Ich mag Hassan nicht. Vor allem nicht seine Augen, deren Eiweiß nicht mal richtig
schneeweiß aussieht wie bei anderen Lebendigen, sondern seltsam grau, fad, leblos. Knopfgroße Pupillen wie schwarze Löcher, die dich durchbohren. Als würde er nicht dich, sondern den
weiblichen Prototyp einer westlichen Frau angaffen. Hauptsache helle Haut, noch besser blond.
Da bleibe ich noch lieber bei unserem alten Reiseleiter. Hussein wie Saddam. Sein Sprachtick,
jedem Wort ein „-er“ anzuhängen, macht zwar wahnsinnig und lässt einen jeglichen Sinn für
Humor verlieren, aber man gewöhnt sich schließlich an alles, sagt man, denke ich mir – auch an
beatverträumte Wackeldackel-Frauen, die meinen, sie wären die einzigen Existenzen, die den
tieferen Sinn hinter all den mystischen Erzählungen der Reiseführung schnallen würden und
müssten das visuell den anderen Spacken auch noch auf die Nase binden. So wie: „Seht her,
ich check’s und noch viel mehr, ich bin keine kleingeistige Ex-Grundschullehrerin, nur weil ich
kleinwüchsig bin und ’nen Männerhaarschnitt trage!“ Irgendwie auch süß. Zugegeben, ich mag
auch ein paar von Husseins Anekdoten. Zum Beispiel, dass der Urin schwangerer Frauen in Verbindung mit Gersten- oder Weizensamen das Geschlecht der Neugeburt verraten konnte. Die
waren schon gewitzt, die Ägypter. Auch die Sache mit dem Honig oder die geschminkten Typen
– das musste Bowie nur noch nachmachen. Noch besser finde ich allerdings Husseins Aussehen. Ich glaube, müsste ich mir einen Gott aussuchen, es wäre weder Horus noch Ra, ich würde
Gott Hussein wählen, da ist für jeden etwas dabei. Kompakt in schlichten eins fünfundsechzig
kommt er daher wie eine in Plastik geschweißte Action-Figur, der abgefahrene Highway-CopPriester arabischer Abstammung mit silbern verspiegelter Fliegerbrille, weißen Haarkringeln
unter der New Yorker Base-Cap, goldener Fake-Rolex und bronzefarbigen Stoffhosen, die um
seine dürren Beinchen wie zu große Segel schlackern. Und nicht zu vergessen der schwarzweiße Schal, eine Mischung aus Stola und Pali-Tuch. Scheiß auf “political correctness”, “mix and
match everything”. Hussein lebt den modernen Teenie-H&M-Style vor. Ich finde, Hussein muss
aufs Cover der Bravo. Dann hätten die endlich wieder ein Vorbild.
Das Zentrum des Körpers ist das Herz. Das Unbewusste. Vergiss ratio. Die Idee hätte Luca
sicher gefallen. Manchmal wünsche ich, er wäre hier. Genau jetzt. Ich möchte mit ihm reden,
seine Stimme hören. Ach ne, Layla, lass den Quatsch. Das führt zu nichts.
Sonnendeck. Oder besser „sonnendick“ – wie auf dem Fluchtplan der Zimmertür steht. Julia
lässt ihre Beine ins Wasser hängen und genießt die Sonne, während ich auf einer roten Luftmatratze im Pool treibe wie der Große Gatsby.
„Und was der imme labert, du!“, sagt Rüdiger in die Runde, dessen Stimme sich anhört wie ein
Beatmungsgerät. „Der hat doch von Tuten und Blasen keene Ahnung!“
Rüdiger hat schon immer geglänzt, in der Berufsschule und seit sechzehn Jahren im Außen-
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dienst der Allianz, kann ich mir vorstellen. Auch heute glänzt er ganz ordentlich. Seine wulstige
Stirn, behaarter Rücken, Nase, Beine. Vor allem sein Bauch, eine schmierige Kugel, die vor ihm
liegt wie ein falsch gesattelter Rucksack – das Ergebnis hunderter Rumkugeln, ohne deren
Einnahme Rüdigers Nerven kein Verkaufsgespräch überstehen würden.
„Dafür de Sandra!“, kontert Kevin, ein schlanker Kauz mit eng anliegender Speedo-Badehose,
Ohrring, Tribal-Tattoo und zu viel Wasserstoff, dessen männliche Raucherstimme im direkten
Widerspruch zu seinen schmächtigen Beinchen und Armen steht. Kevin verkauft und kauft
Autos, vor allem in und besonders aus Polen. Dann kichern und kreischen die beiden wie zwei
richtig unsympathische Spielplatz-Kinder, die am liebsten Regenwürmer mit ihren Schaufeln
entzweien und zusehen, wie die armen Tierchen vor Schmerz zappeln.
Eine blonde – wie könnte es auch anders sein – Frau, die sich gerade vorsichtig mit einer kalten
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Brause abduscht, dreht sich um und weiß nicht, was für ein Gesicht zur Laune passt. Sie entscheidet sich für einen unterwürfigen, gleichgültigen Blick mit ein bisschen Wut, die den Typen
wahrscheinlich nur noch geiler macht. Das muss Sandra sein. Prima, Alice Schwarzer versagt.
„Diese Spasten“, raune ich in Julias Richtung, die völlig verträumt döst.
„Ach komm, Küken, lass die doch.“
Julias Stimme klingt dünn, müde, als wäre sie high.
Kevin und Rüdiger, geblendet vom Schweiß in den Augen, sind so etwas nicht gewohnt. In Anwesenheit der Leute über sie zu reden scheint eine komplett neue Erfahrung für die beiden zu
sein. Kein Wunder, dass das nach gemeinsamen 73 Jahren auf diesem Planeten irgendwann
passieren musste.
„Ahhh... ach, guck a mal, ’ne Sandra.“
Kevin findet als erster seine grässliche Sprache wieder.
„Hältst auch mal gern de Stange, oder?“
Auch in und um Schalke gilt scheinbar der Vorsatz: Angriff ist die beste Verteidigung.
Sofort lässt Sandra das Geländer los, an dem sie sich zum Abbrausen festgehalten hat, um
nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dummerweise scheint sie sich ertappt zu fühlen. Während
Kevin sich gar nicht mehr einzukriegen scheint, ganz begeistert von seiner hohlen Witzigkeit.
Seine Augen tränen vor Vergnügen, Rüdigers Walross-Lache wirkt nicht mehr ganz so herzlich. Der Takt lässt nach. Dazu muss man wissen, Rüdiger hatte eine sehr kurze musikalische
Karriere, die mit einer Blockflöte in der Grundschule begann und mit einer zerbrochenen Blockflöte in der Grundschule endete, nachdem Luisa ihm das Stück Holz aus Schreck – nach drei
ungelenken Fehltreffern in die Fettpolster – in die Schamteile gerammt hatte, noch bevor Rüdiger ihr seine echte Flöte im Gebüsch zeigen konnte. Seither ist Rüdigers Verhältnis zu Frauen
nicht weniger gestört. Er kichert immer noch, wenn er das Wort „bumsen“ hört, kriegt rosa
Pusteln und meidet Musikgeschäfte, während Kevin ohne ordinäre Worte für „Liebe machen“
keine vernünftige Grammatik hinkriegt. Er reißt immer noch dumme Sprüche, dazwischen holt
er kurz Luft und lacht wieder los, ein Teufelskreis.
„Endlich ma Schatten, super Idee“, sagt Rüdiger, der das Thema am liebsten wechseln möchte.
Doch als Rüdiger blinzelt, steht da nicht Kevin mit einem Sonnenschirm, sondern die vor kurzem noch dösende Masse von Tommy Heinz Ölberg, der seinen zweiten Vornamen vorsätzlich
nicht in das Formular im Reisebüro einschrieb.
So schnell wie der Schatten auf Rüdigers Körper erschien, so schnell schießen jetzt die Schweißperlen aus seinen Hautporen. Rüdiger badet sozusagen im Sitzen, sehr praktisch.
Nachdem er einige Sekunden wie paralysiert den muskulösen Bauch vor sich betrachtet hat,
als hätte er noch nie etwas derartig Widerwärtiges und zugleich Wunderschönes auf dieser
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Welt gesehen, beginnt er Kevins verkümmerten Oberarm zu tätscheln. Doch Kevin reagiert
nicht, weder auf Licht noch Schatten noch auf süße Verlockung oder tödliche Gefahr. Er sitzt
einfach in sich gesunken auf einer Liege wie ein Ball, dem die Luft ausgegangen ist, kichert und
verschüttet lauwarmes Bier zwischen seinen Schenkeln. Vor ihm steht immer noch Ölberg, die
bestmögliche Entwicklung, die die Evolution der Gene hätte wählen können – vorausgesetzt
Kevin und Rüdiger könnten sich paaren. In sich ruhend, Kaugummi kauend, die muskelbepack-
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ten Arme verschränkt steht er da, schmatzt und spricht.
„Bist deppart?“
Und ich denke mir, es gibt doch noch einen Funken Gerechtigkeit auf dieser Welt. Dass es
ausgerechnet ein österreichischer Surflehrer aus der Karibik sein muss, egal. Dabei habe ich
es noch nie für möglich gehalten, dass Menschen mit österreichischem Dialekt richtig wütend
werden können. Denn diese Sprache hat für mich einen Unterton wie die Einladung zu einem
Kinderfasching, sehr sympathisch.
Doch scheinbar besitzt Ölberg tatsächlich wenige Sympathien für Kevin, der zwar für zwei
Sekunden die Luft anhielt, nur um dann wieder loszuquietschen.
„Na guck, der Arnold is‘ och da, der Freund von de Sandra!“
„Jetzt halt endlich deen Maul!“, zischt Rüdiger.
„Moanst die Sandy oder wos?“
„Ja Hilfe, soll der Arnold mal lieber seiner ‚Sandy ’nen Sonnenstich besorgen, wenn se noch
keenen hat...“
„Jetzt beruhigen wir uns alle mal und ich hol noch schnell drei von de Stella. Versöhnungsbierschen, juut?“, versucht’s Rüdiger ein letztes Mal. Aber seine Fähigkeiten als Streitschlichter
sind so erfolgreich wie Demokratie in China.
„Ich glaub, du brauchst a moi a Abkühlung.“
Und schon zappelt Kevin auf Ölbergs Schulter wie ein Aal. Tatsächlich ist auch Ölbergs Rücken
so geschmeidig durch die mehrfache Einbalsamierung mit Sonnencremes, dass Kevin davonglitscht und losrennt. Da erwischt Ölberg seinen Schopf, ein Büschel Wasserstoff-Strähnen
reißen, ein kurzer Schrei und das ganze Sonnendeck ist Zuschauer, als Ölberg so fest an Kevins
Ohrwaschel zerrt – als hätte er Widerhaken darin installiert – bis Kevin rücklings mit einem
lauten Schmatzer auf die Wasseroberfläche klatscht.
„Rechts cool, links schwul“, sagt Ölberg und betrachtet sein Werk. Ein Tropfen rot im weiten
Blau. Er hat ihm tatsächlich den Ohrring ausgerissen.
Als die Teenie-Mädels, die wohl an einer Studienfahrt teilnehmen, das Blut im Pool entdecken,
beginnen sie – natürlich – hysterisch loszukreischen und so schnell zu strampeln, so dass ein
gigantischer Whirlpool entsteht. Nur ein Mädchen, das ganz in Schwarz gekleidet ist und barfuß am Pool hockt, bleibt ganz ruhig, als hätte sie schon hundertmal das blutige Abschlachten
riesiger Wale vor Japans Küste miterlebt und kommentiert Kevins schmerzgetriebenen Abgang
aus der Sonnendeck-Welt mit einem schlichten „Arschloch“.
„Bei dir ist immer nichts dramatisch, solang es nicht die innere Sicherheit betrifft oder irgendwelche Kriege am Arsch der Welt!“, sage ich zu Julia. Ich weiß gar nicht, warum ich so wütend
bin. „Das stimmt doch nicht, Küken.“
„Na wohl!“
„Jetzt führ dich mal nicht so auf, weißt du, wegen wem ich hier bin? Wegen dir!“
„Was?!“ Ich glaube, Julia spinnt. „Wir sind hier, weil Oma sich das gewünscht hat! Außerdem
scheinst du hier super viel Spaß zu haben.“ Ich denke so fest an Hassan, bis es Julia auch
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denkt.
„Küken, was ich privat mache, kann dir schnurzpiepegal sein! Du führst dich auf wie ’ne Sechzehnjährige, die keinen Typen abkriegt, weil sie Pickel hat.“
Das sitzt. Ich wusste gar nicht, wie viel Julia über Luca wusste oder ob sie ihn schon wieder
vergessen hatte. Aber das war gemein.
„Und was ist mit Robert? Ist dir Papa jetzt auch schon völlig egal?“
„Küken, Robert und ich trennen uns. Das würdest du nicht verstehen...“
„Ach, echt?“
„Er fühlt sich einfach von mir übergangen, übertrumpft... Damit kommt er nicht klar, ist eben
auch nur ’n Mann.“
„Mann, du müsstest dich mal hören! Nur weil du zufällig eine viel bessere Stelle als er gefunden
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hast.“
Ich weiß, dass das nicht ganz stimmt. Denn Julia ist eine hervorragende Juristin, drittbestes
Staatsexamen Bayerns ihres Jahrgangs, UN in Wien und pipapo. Dagegen hat Papa sich auf
Strafrecht und Ausländer spezialisiert, „für eine gute Sache“. Kein sehr dankbarer Job. Irgendwie kann ich Papas Einstellung verstehen, ich finde sie sogar höchst idealistisch.
„Jetzt halt mal die Luft an, Küken! Robert und ich streiten uns einfach nur noch. Und in letzter
Zeit versucht er dem ganzen Konflikt aus dem Weg zu gehen, indem er plötzlich seinen Job
gekündigt hat und einen auf Gutmenschen macht.“
„Papa? Ja und?“
„Ja und, Küken. Menschen verändern sich eben doch manchmal. Und dein Vater verändert sich
gerade zum Irren.“
Mit was für einer unverschämten Selbstgenugtuung sie das sagen konnte, mit ihrer Gucci-Brille
auf einem Liegestuhl, einen eiskalten Gin Tonic in der Hand.
„Sag mal, wie kannst du so was sagen?“
„Küken, jetzt hör mir mal zu. Neulich ist ein Typ bei uns gewesen, der sich SonneZwei nennt,
ja, genau so wie diese ganzen Simplify-Your-Life, Eckart-von-Hirschhausen-Schmatz-Bücher. Ich
glaub, der hat wirklich ein Rad ab und der hat mit deinem Vater eine Gehirnwäsche gemacht,
sodass Robert jetzt der Meinung ist, Ausländer betreuen reiche nicht mehr, man müsse auch
mal etwas für die Gemeinschaft, die Obdachlosen tun. Nun hat er sich zum Beispiel ausgerechnet, wie viele Zimmer in unserer Straße zwar vermietet sind, aber noch leer stehen müssten,
wie viel gutes Essen man umsonst entsorgt und noch mehr so Quatsch. Und dann hat er einen Plan erstellt – zusammen mit diesem anderen Wahnsinnigen – für die Verbesserung des
Gemeinwohls und will den der Gemeinde Erding vorlegen. Ich mein, das ist doch irre?“
Ich bin erst mal baff.
„Klingt abgefahren.“ Das ist erst mal alles, was mir dazu einfällt. Und mir wird schlagartig
bewusst, wie wenig ich eigentlich von meiner Familie weiß, von Robert.
„Abgefahren? Das ist einfach nur krank, Küken!“, sagt Julia.
„Nu, weil du für die UN arbeitest, bist du nicht automatisch ein guter Mensch! Und nur, weil
Robert jetzt einmal besser als du bist in etwas, kriegst du gleich die Krise!“
Plötzlich ist es ganz still. Abgesehen vom Fahrtwind und dem dreckigen Motorengeräusch, das
eine riesige Hummel erinnert, die unter Deck gefangen gehalten wird.
„Und nenn mich nicht immer Küken, Mann! Wie oft muss ich dir das eigentlich noch sagen?“,
schreie ich fast. Selbst die dummen Kellner starren uns jetzt an, das erste Mal sehe ich ihre
ernsten Gesichter, die sonst immer nur widerlich lüstern auf meine Brust glotzen.
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Hieroglyphen tanzen auf den Händen der göttlichen Figuren von Papa Horus, Baby-Horus. Der
Nil steigt. Das Wasser kriecht bis zu meinen Füßen. Und Hussein, der gerade das erste Kreuz
der Welt aus vier gleichen Deltadreiecken erklärt, betet auf arabisch zu Jesus. Inshallah. Ich
versuche, mich an die dicken Säulen aus Kalkstein zu klammern, aber meine Finger sind kraftlos. Wie in einem Albtraum, in dem du loslaufen willst. So stark, wie du noch nie wolltest. Und
dennoch tippelst du auf der Stelle wie auf einem Jogging-Laufband. „Allet in bester Ordnung“,
grunzt der dicke, kahlköpfige Thüringer, dessen Wurstfinger-Griffel meinen Kopf vor einem Aufschlag auf dem harten Stein bewahrt haben.
Na toll, wieso stand da nicht George Clooney oder ein hübscher Spanier oder Luca, denke ich.
Die Gruppe besudelt mich mit kaltem Wasser im Schatten einer Batseba, als wollten sie mich
mit heiligem Wasser salben, nur um mich danach irgendeiner ihrer Gottheiten zu opfern. Ihr
Spinner! Und doch bin ich jedem einzelnen von ihnen dankbar für ihre Zuneigung. Leute, die ich
in München keines Blickes würdigen würde – nicht nur weil sie aus Leipzig, Kassel oder Chemnitz kommen, auch so – und die sich wegen der Hitze voller Grausamkeit über mich beugen wie
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über den Sarkophag von Tut Ench Amun. Mit dem Unterschied, dass mich kein Schwein kennt.
Zurück. Julia besorgt uns ein Taxi, damit wir schneller sind. Hassan will mit, aber Julia sagt dem
Fahrer auf Arabisch, er soll Gas geben. Sie hält meine verschwitzte Hand.
Plötzlich bin ich wieder sieben. Mamas Küken. Ihre Hände berühren mich am ganzen Körper,
wollen mir Energie schenken. Ein Finger verfängt sich in einer klebrigen Strähne wie in einem
Spinnennetz.
„Ich hab Oma dabei“, sage ich. Wie unter Drogen. Sie befühlt meine Stirn. Als sie mir nicht
Glauben schenken will, werde ich fast wütend, will aussteigen. Aber ich bin zu schwach. Ich
merke, wie mir Tränen in die Augen steigen. In meinem Kopf läuft ein Song von Lucas Band,
„Dear Layla“.
„Hier“, sage ich und ziehe die silberne Make-up-Dose aus meiner Tasche voller Buttons heraus.
Zitternd öffne ich die Dose und ein Teil der Asche wird durch den Sog des Fahrtwindes nach
außen gezogen.
„Alles gut“, sagt Julia und drückt mein Gesicht an meine Schulter wie in ein Kissen. Und ich
weiß nicht, ob ich träume.
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FRITZ-OLAF IN ÄGYPTENLAND – REISEJOURNAL EINES KEGELKÖNIGS
Mittwoch in Ägyptenland
Wir schippern auf dem bleigrauen Band des Nils dahin und es weht ein laues Lüftchen unter
dem Sonnendach, wo einstmals die Hitze stand und mir den letzten Nerv raubte. Maurice,
fettleibiger Sohn zweier frisch aus Deutschland eingeflogener Badenser, arschbombt fleißig in
den Jacuzzi; keine Ahnung, ob er wirklich Maurice heißt, aber er erinnert mich an einen Jungen
namens Maurice, den ich vor langer Zeit einmal gekannt habe. Er war der Sohn der blonden
Bademeisterin des Kiliani-Bades in Königsborn und genoss dort absolute Narrenfreiheit. Ich
erinnere mich an seine riesigen, weißen Arschbacken, die er jedes Mal entblößte, wenn er
rutschen wollte, auf dem blanken Arsch die Rutsche runter, irgendwann hatte er da einen Sonnenbrand und sah aus wie ein Pavian, alle nannten ihn fortan nur noch Affenarsch, hinter vorgehaltener Hand, damit seine prollige Bademeistermutter es nicht hörte und einen des Bades
verwies.
Was mag wohl aus dem fetten Maurice geworden sein? Vielleicht ist er gar auf diesem Schiff?
Zufälle soll es ja geben. Ist er am Ende der Vater des arschbombenden Knilches?
Oder die Mutter? Die Eltern gleichen einander wie ein Ei dem anderen, haben beide stoppeliges
Haar und Brüste. Die reinsten Schießbudenfiguren. Der eine ist gerade die Treppe runter, da
taucht der andere walrossgleich am Beckenrand auf und du denkst dir: Die Fleppe hab’ ich
doch gerade schon mal irgendwo gesehen.
Über die Liege neben meiner hat ein Mann mit Schirmmütze sein schwabbelndes Fett gegossen, er ist wohl mit seiner Frau unterwegs, denn ein Buch liegt aufgeschlagen neben ihm, ein
Buch mit dem Titel „Gibt es ein Leben nach vierzig?“, und so was lesen doch nur Frauen, sag
ich mir und komme ins Grübeln. Könnte auch zu mir passen, das Buch, was da wohl drinsteht,
SINA
FLAMMANG
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denke ich mir und ziehe meine kleine Wampe ein; eine dicke Wampe habe ich, obwohl ich sonst
so rank und schlank bin, keine Bauchmuckis und dann umgeben von dieser Schar attraktiver
ägyptischer Jungspunde.
Das Sonnendeck der M. S. Zeina ist ein prächtiger Ort. Wuchtige Liegebetten schmiegen sich
beschirmt von weißem Linnen aneinander und es ist heiß wie im Backofen. Zum Glück kann
man ab und an in den Pool hopsen und sich ein bisschen akklimatisieren, das hält ja kein
Mensch aus sonst.
Mein Klima ist das nicht hier. Ich hätte wohl doch lieber wieder an die Ostsee fahren sollen,
wie jedes Jahr, mit Erika und den Kiddis. Da weiß man, was man hat. Steife Brise um die Nase
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und abends ein leckeres Matjes-Brötchen am Strand. Das Brot, was die hier anbieten auf dem
schäbigen Kahn, das kannst du ja nicht essen. Das ist viel zu süß, das schmeckt mir nicht, das
mach ich nicht. Ist mir alles zu viel hier, da geht mir einiges gehörig gegen den Strich. Aber gehörig. Zum Beispiel diese drückende Luft, das ist, als würde dir einer einen Föhn ins Gesicht halten, aber die ganze Zeit, und ohne zwischendurch mal auf den „Kalt“-Knopf zu drücken, wie ich
das immer mache bei meinem schütteren, rotblonden Haar. Das muss ganz sensibel gepflegt
werden, da lass ich nichts drauf kommen. Kommt ja auch nie eine Mütze drauf, da könnte ich
mir ja gleich eine Pläte scheren. Wie sieht das denn aus hinterher, alles platt gedrückt. Nee, du.
Hab dann heute auch gleich die Rechnung dafür bekommen. Weil ich mir eingebildet habe, ich
könnte ohne Hut auf den Ausflug gehen. Hab mich gleich mal langgemacht im Tempel, Kreislaufkollaps. Mein Herz macht das alles nicht mit hier in diesem Land, hätte ich mal auf meinen
Freund und Leibarzt Rudi gehört.
Nach Kuffnukistan willste, in dein’ Zustand?, sagt der noch am Abend vor dem Abflug beim
Skat. Hätte ich mal auf den gehört, dann ging’s mir jetzt nicht so dreckig und ich könnte mit
Werner und Corinna Butte fischen bei Langeoog. Die würden wir uns dann am Strand überm
Feuerchen grillen und dazu gäb’s ein Pils. Herrlich wäre das.
Stattdessen lieg ich unterm Zelt auf dem Sonnendeck und guck mir die Palmenlandschaft am
Nilufer an, die sandigen Hügel und Felsplateaus, die aussehen wie große, beige Baumkuchen,
von denen sich ein Riese was runtergeschnitten hat. Am diesseitigen Ufer stehen quadratische
Häuser aus Backstein wie bunter Würfelzucker, sie scheinen unbewohnt, bergen wohl aber
Leben in sich. Hinter den Fenstern hängen Stores, wie bei uns zu Hause in der Küche. Aber die
Dächer sind oben offen und alles in allem sehen die Gebäude aus, als habe man plötzlich keine
Lust mehr gehabt, sie fertig zu bauen. Wie kaputte Zähne ragen sie aus dem fruchtbaren Boden
des Nilufers, rot, weiß, gelb, und Drähte zieren ihre Zinnen.
Häuser mit Zahnspange.
Erstaunliches Land, dieses Ägypten.
Donnerstag in Ägyptenland
Ich hatte eine Begegnung, heute, am Pool. Keine Frau, ein Mann. Ein Klassetyp obendrein. Wir
haben uns sofort unterhalten wie alte Kumpels. Thomas Ölberg heißt er, sagt er, als wir unser
drittes Stella-Bierchen zischen, und ich verschluck‘ mich fast:
Tommy Ölberch?, schrei ich und dann fällt es mir doch wie Schuppen von den Augen. Die blonde, leicht gewellte, schulterlange Surfermähne, der Goldkettenwust um seinen Hals (ein wahrer
Goldkettenkönig!), sein Kleidungsstil (eine knappe, glänzende und sehr rote Badehose), mein
Gott, sag ich mir, das ist Tommy Ölberg, der Schlagersänger! Hier auf meinem Schiff! Wenn das
die Erika wüsste, die würde am Rad drehen.
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Tommy und ich, du. Wir sind schon so zwei. Wir sind uns in vielen Dingen einig, richtige Seelenbrüder, oder wie man dazu sagt. Die Ischen an Bord zum Beispiel taugen größtenteils nichts,
bei denen ist das Haltbarkeitsdatum schon lange abgelaufen. Wenn die Hildegard aus dem
Schwarzwald oder die zickige Laura ihre faltigen, weißen Hängeärsche in den Pool schieben, da
kann ich kaum hingucken, und dem Tommy geht es da ähnlich.
Unfassbar, sagt er, wie man sich als Frau so gehen lassen kann! Tommy selbst lässt sich ja im
Übrigen überhaupt nicht gehen, der tut einiges für seinen Körper. Hat mir sogar verraten, dass
er manchmal morgens an den Geräten in diesem Glaskasten auf dem Zwischendeck trainieren
will. Muskeln hat der schon, sieht klasse aus für sein Alter, der Typ. Ist ihm auch wichtig, sagt er,
als wir im Pool an der Bar dümpeln, auf unter Wasser stehenden, festgeschraubten Barhockern,
er wolle nämlich noch ein bisschen länger als drei Jahre sein Sexleben aufrechterhalten, und
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da brauche man eben einen guten Body für, sonst gucken einen die Sahneschnitten nicht an.
Du kannst das auch schaffen, Ole, sagt er und guckt dabei so an mir runter.
Wie, sag ich, ich brauch doch keine neue Uschi mehr, ich hab doch meine Erika zu Hause! Beugt
der sich zu mir rüber:
Dat glaubste doch woll selber nich, Ker!, sagt er und die strahlenförmigen Lachfältchen um
seine zusammengekniffenen, blassblauen Augen graben weiße Rillen in sein sonnenrotes
Gesicht, alt sieht er aus, so von Nahem, alt und ledrig und verlebt; und ich denke an die Erika
und den ganzen Stress und plötzlich erschrecke ich, weil mir klar wird, dass ich mich nicht erinnern kann, wann wir das letzte Mal Sex hatten. Oder zusammen was Schönes unternommen.
Kino. Theater. War die Erika ja immer ein Fan von, hat mich in jedes Musical geschleppt und
sich danach ein Poster geklaut, weil zum Kaufen war es ihr dann doch zu teuer. Heimlich hat
sie das gemacht, hat das Plakat von der Litfaßsäule gelöst, es in ihre Handtasche gestopft, die
rote mit den goldenen Streifen, ihre „Gute“, und hat sich krank gelacht. Irrsinn fand ich das
immer. Ich konnte es auch nie leiden, wenn sie die hässlichen Teile an die Innenseite der Klotür
gepinnt hat. Wo ich morgens in Ruhe meine Zeitung lesen und kacken will, hängt da plötzlich
eine Katze oder ein oller Typ auf Rollschuhen in einem roten Kostüm, das hältst du ja im Kopf
nicht aus. Aber die Eri fand’s spitze. Wie lang ist das jetzt her, dass ich ihr zum Hochzeitstag
diesen Gutschein für Tarzan geschenkt habe? Tarzan, in Wuppertal, wie damals Miss Saigon.
Wo ich ihr danach so einen japanischen Seidenschirm kaufen musste, so was kam da gar nicht
vor, aber Erika hat darauf bestanden und da hab ich das Ding eben bei Ebay ersteigert. Wurde
leider ziemlich hochgeboten und musste dann bei Werners Geburtstagsgeschenk ein bisschen
zurückstecken. Eine Playstation wollte der, hat aber nur für eine Autorennbahn zum Auf-demTeppich-Aufbauen gereicht, das fand der dann gar nicht komisch. Kann manchmal ein ganz
schönes Blag sein, der Werner, schlägt auch eher nach Erikas Bruder Jochen, find ich persönlich, das erzähl ich auch dem Tommy und der lacht sich scheckig. Vergiss dat allet, sagt er und
schlägt mir auf die Schulter, auf der ich den Sonnenbrand habe, es tut höllisch weh, aber ich
zuck mit keiner meiner hellblonden Wimpern.
Vergiss dat allet und mach mal ’n bissken blau, sagt Tommy, Mach dir keinen Kopp, wat im
Urlaub passiert, dat bleibt im Urlaub, wie man so schön sacht. Hab Spaß, amüsier dich, kauf
der süßen Svenja ’n Stella!
Das sagt Tommy, und das löst was bei mir aus, ich muss an die blondgelockten Zwillingsmädchen denken, die früher in meiner Straße gewohnt haben, damals, als ich die Hose mit dem
größten Schlag und die längste Matte der Schule hatte, Stella und Swantje hießen die, und
spielen konnte man mit denen kein Stück. Die haben immer zusammengehalten und einen
verarscht, haben mir beim Spielen nach und nach all meine Legopiraten abgeluchst und ich
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hab das nicht gemerkt, hab ihnen immer geglaubt, dass sie die nur verloren haben, jedes Mal,
ich alter Esel.
Warum eigentlich? Warum lässt du dich immer verarschen, Fritz-Olaf, von jedem? Warum bist
du eigentlich derjenige, der die Familie entertaint und dafür nur lahmarschige und bräsige
Gesichter zu sehen bekommt? Undankbar sind die, alle drei! Wer bringt denn die Kohle nach
Hause? Und dann fährt man einmal weg und die Erika springt im Viereck und jammert, dabei
war die doch erst mit ihrer Canasta-Runde auf Korfu. Da durfte ich ja auch nicht mit. Nicht, dass
ich das gewollt hätte. Aber dann kann man doch auch mal Urlaub alleine machen!
Ich brauch das für mich, Erchen-Bärchen!, sag ich zu ihr, aber sie hört gar nicht mehr zu, weil
sie einen Mehlwurm im Mehl gefunden hat und eine ihrer Ekelattacken bekommt. Und wer fährt
hinterher nach Edeka und holt neues Mehl? Ich. Der Ole. Immer der Ole. Tommy hat Recht, es
wird endlich Zeit, loszulassen und das Leben in Angriff zu nehmen.
Ich bin jetzt 45, und was hab ich schon gesehen in all der Zeit? Mallorca, Kreta und einmal –
ganz verwegen – Kuba! Ein Höllentrip war das, die Fotos kann ich mir bis heute nicht anschauen, ohne mich schlecht zu fühlen. Erika hat die natürlich alle beim DM entwickeln lassen und
eingeklebt in das violette Fotoalbum mit dem Katzensticker, den die Corinni da mal draufgeklebt hat und der nie wieder abging. Da drin stecken all die Fotos von Kuba, und die überspringe
ich immer, weil es so schlimm war. Urlaub mit Erika war leider oft Stress. Meistens waren wir ja
im Bayerischen Wald. Oder eben mit den Kiddis an der See.
Aber Krach gab es immer.
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Ich bin jetzt 45 und hab mein ganzes Leben im Kreisverwaltungsreferat Niederpleiß gesessen,
hinter braunen Gardinen, neben einem verstaubten Gummibaum, unter dem seit Neunzehn-
hundertschlagmichtot ein rotes Eisschirmchen in der Erde steckt, das hat meine Kollegin Rita
irgendwann da deponiert, seitdem steckt es und erinnert an jenen legendären Sommer, in dem
der Chef der Abteilung Eis spendiert hat, und die Zeit verrinnt und man stellt Pässe aus und
Visa und kommt selber nicht vom Fleck. Einen Ausgleich hab ich mir durch das wöchentliche
Training der Handball-E-Jugend geschaffen, aber seit der ollen Bandscheibe geht das ja nun
auch nicht mehr. 45 und eine Bandscheibe, die hohldreht ... bin ich denn ein Oppa? Es wird
endlich Zeit, wieder zu leben. Es so zu machen wie der Tommy mit seinem braun gebrannten
Oberkörper („Latte Bronzate“ ist sein Geheimnis, damit ölt er sich jeden Tag mehrmals den Leib
ein.). Tommy weiß ja gar nicht, wie die Frauen an Bord ihn anstarren, oder vielleicht weiß er es
doch. Ziemlich wahrscheinlich sogar. Svenja und Rosemarie und wie sie alle heißen.
Die Erika war ja auch mal ein heißes Eisen, früher, als ich sie kennengelernt habe. War die
Zuckerrübenkönigin von Soest, und ich hab sie für die Schülerzeitung interviewt, war ein heißer
Sommer und ein heißes Gespräch, mein lieber Mann! Was hab ich geschwitzt! Danach haben
wir uns dann öfter in der Eisdiele von meinem Onkel Geuer getroffen, Walter Geuer, aber den
nannten alle nur Geuer, und der hat uns Pistazie spendiert, weil das weg musste, und dann
noch Vanille, weil ich das so gerne mochte. 5 Pfennige hat das gekostet, davon kannst du heute nur träumen. Wenn ich der Corinna einen Flutschfinger kaufe, das schlägt relativ gesehen
schon auf den Geldbeutel. So im Vergleich mit damals. 1,50 für so einen ollen Flutschfinger.
Das hätte es damals nicht gegeben.
Was ist eigentlich aus dem guten Ed von Schleck geworden, weiß mit roten Spiralen?
Das war wenigstens noch Eis.
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Freitag in Ägyptenland
Die Ägypter waschen ihre Autos im Nil, als ich das gesehen habe, ging mir das Herz auf und ich
musste sofort an Oppa Karl denken und die Sonntage, an denen wir in seiner Werkstatt all die
Opels und Audis mit dem großen Gartenschlauch abgespritzt haben. Ich wasche bis heute mein
Auto am Sonntag mit dem Schlauch, das lass ich mir nicht nehmen. Die Ägypter tun es ja auch
an ihrem Feiertag, der ist nämlich heute, am Freitag, und die sind wesentlich religiöser als ich.
Die werden mir immer sympathischer, die Ägypter. Auch wenn mir immer noch, bei aller Hitze,
ein kalter Schauer über den Rücken rinnt, wenn die Muezzine von den Minaretten mit schwankenden und klagenden Stimmen durcheinanderbeten. Schauriger Singsang. Aber doch irgendwie bewegend. Auch wenn das angeblich alles vom Tonband kommt. Ich bin in Afrika, sage ich
mir und lausche, zische dabei ein Bierchen und höre Tommy zu, der mir von seiner neuen CD
erzählt und der heißen Kroatin, die er als Backgroundsängerin engagiert hat, obwohl sie schief
singt. Tommy hat gerade eine Thai-Massage hinter sich und schwärmt von den zartfühlenden
Händen des Burschen, der seinen fettglänzenden, pickligen Rücken bearbeiten musste, bei all
dem Stress mit der neuen CD „Party – Wir singen alle mit“ habe er, Tommy, sich eine Auszeit
auch mal verdient. Massage, denke ich. Mensch. Das solltest du dir auch mal gönnen.
Samstag in Ägyptenland
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Heute Morgen war es so schweineheiß, dass ich mir die Hautlappen von der Nase pellen konnte
wie die Schale von einer frisch gekochten Kartoffel. Rot ist das Ding jetzt und glänzt, da kannst
du Zinksalbe draufschmieren, wie du willst. Und mit der Knolle im Gesicht wurde ich dann mitten in der Nacht ins Tal der Könige verschleppt – hat sich jedenfalls angefühlt wie mitten in der
Nacht, in Wahrheit war es ungefähr 4 Uhr früh und das Telefon hat mir ins Ohr geplästert wie
verrrückt, da wirst du bekloppt im Kopf.
Das Tal war in erster Linie sehr gelb und sehr staubig, erinnerte mich ein bisschen an den
Kohlebergbau im Pott und ich musste daran denken, wie ich mit dem Werner an seinem
sechsten Geburtstag hingefahren bin und Schutt eingesammelt habe für seine Modelleisenbahn, die ich zu spät fertig gemacht hatte; Werner hat in seinem Zimmer geheult und ich hab
den Fernseher lauter gestellt, weil ich es nicht hören konnte, aber auch nicht wusste, was ich
sagen sollte, und Corinna hat mich gehasst dafür, wie sie mich für vieles hasst; mein schwuler
Vater, so nennt sie mich Freundinnen gegenüber am Telefon, denn schwul ist bei den Kiddis
heutzutage ein Schimpfwort, das heißt so was wie: bekloppt.
Ich hab der Corinna beim Bazar am Hatschepsut Tempel eine kesse, lilafarbene Netzmütze
gekauft, so was tragen die Mädchen hier wohl, die hab ich hinterher im Nil versenkt, mit einem
Stock, damit sie nie mehr hochkommt, es kam mir plötzlich so heuchlerisch vor, der Corinna so
was zu kaufen, wo wir doch überhaupt nicht klarkommen.
Im Tal der Könige hab ich mir für einen kleinen Aufpreis das Grab von Tutenchamun angeschaut, diesem ollen Pharao, dessen pompöse Wanderausstellung letztes Jahr bei uns in der
Gegend unterwegs war. In Dortmund. Die Corinna wollte unbedingt hin, der Werner wollte lieber
nach Disneyland, der kleine Kulturbanause.
Tutenchamun, diese schwarze Moorleiche, ist ja schon mit 9 Jahren auf den Thron geklettert.
9 Jahre war der alt, wie mein Werner. Wenn ich mir vorstelle, der Werner würde Bundeskanzler
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werden, mein lieber Schieber, da bliebe aber nichts mehr stehen in Deutschland. Das wäre das
Ende. Da würden alle nur noch am Computer zocken oder was weiß ich, ich werd nicht schlau
aus dem Burschen, das wurde ich noch nie, der ist mir ein Rätsel, der Junge. Obwohl er meiner
ist, aber wie gesagt, oft fühlt er sich nicht wie meiner an.
Der schwarze, eingetrocknete Tut. Da liegt er in seinem klimatisierten Glaskasten, und ich stelle
mir vor, wie es wäre, wenn man eine Münze in einen Schlitz schieben und den Tutti tanzen lassen könnte wie eine Puppe, vielleicht würde sich dazu ein Lied abspielen, Tutti Frutti von Elvis
wäre doch passend, und dazu würde der alte Tut sich winden wie einer dieser auf ovale Bretter
genagelten, singenden Fische, die man bei Allerlei oder Nanunana kaufen kann. Die anderen
Touris würden gucken. Zum Piepen wäre das. Dann wäre Tut auch nicht mehr so unheimlich mit
seinen kleinen, verkrüppelten Zehen, wie die Zigarrenstummel von Oppa Karl sehen die aus.
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Jetzt noch gemütlich eine perzen und dann in die Heia!, hat er abends nach der Sportschau
immer gesagt und sich eine Zigarre angesteckt, breit wie ein Ofenrohr.
Ich muss in letzter Zeit oft an Oppa Karl denken, liegt wahrscheinlich daran, dass der Gott
Horus dem so ähnlich sieht. Hat die gleiche nach hinten gegelte Mähne, nur dass der Horus,
glaub ich, ein Geier ist oder ein Hahn, ist mir auch egal, er ist jedenfalls überall an den Wänden im Tal der Könige zu sehen, muss wohl ein ganz wichtiger Gott sein. Ab heute hat er einen
neuen Fan. Mich. Der Horus ist mir sympathisch. Es ist, als wäre Oppa immer noch bei mir und
würde über mich wachen, hier, im fernen Ägyptenland. Ägyptenland, das hätte er hierzu gesagt,
der hat sich ja immer so gewählt ausgedrückt, war ja auch mal Theologe und Priester, bevor
er in Kfz gemacht hat. „Go down, Moses, way down in Egypt’s land“ war sein Lieblingslied, das
hing der Gemeinde von Soest nach 15 Jahren auch irgendwann zum Hals raus. So wie Oppa
Karl sein sakraler Job. Er wollte einfach mal seinen Traum leben, hat er immer gesagt, wenn
man ihn auf seinen Berufswechsel angesprochen hat. Ich habe ihm seinerzeit oft in der Werkstatt geholfen und ihm die Schraubenschlüssel gereicht, die hat er dann zwischen seine gelben
Zahnstümpfe gesteckt und auf dem Rücken liegend an den Autos rumgezurrt. Hat dabei ein
Gesicht gemacht wie ein toter Fuchs mit Verstopfung, wie meine Tante Bärbel das ausgedrückt
hätte. Das Tantchen Bärbel, für das ich früher immer den Tanzbären machen musste, damit sie
sich freut. Hat die Männer zeitlebens ganz schön an der Nase herumgeführt oder ist ihnen auf
der Nase herumgetanzt, wie auch immer. Als wir in der Affenhitze zum Tempel der Hatschepsut
gestiefelt sind, um uns her in den Felsen überall Löcher, in denen sich Terroristen hätten verschanzen können, und unser Reiseführer Hussein erzählt hat von diesem verrückten Mädchen,
das als erste Frau den ägyptischen Thron bestiegen hat, da musste ich an den alten Besen
denken. Bärbel. Hatschepsut war quasi auch die erste Frau, die einen Minirock getragen hat,
was damals nur Männer durften.
Verkehrte Welt, dieses Ägypten.
Männer in Miniröcken. Unglaublich.
Das ist mir lange nachgegangen, auch später noch, als ich im Pool lag und mal so über alles
nachgedacht hab. Hab mich plötzlich dabei ertappt, wie ich dem Tommy auf seinen muskulösen Arsch in der glitzernden, roten Badehose starre und den Anblick gar nicht so übel finde.
Mensch, denke ich. Ich tauch tiefer ab und versteck meine Latte im trüben Wasser, da sieht
man nämlich vor lauter Ölfilm, Chemikalien und was weiß ich noch allem seine eigenen Füße
nicht mehr. Ich bin rot im Gesicht wie eine rote Rübe, wenn es das überhaupt gibt, rote Beete
ist ja das Lieblingsessen von Erika, womit ich wieder bei meiner Frau wäre. Was ist los mit dir,
Ole?, frag ich mich und schiel zu Tommy rüber, der sich gerade die strammen Waden mit Kokosöl einreibt, du glotzt gerade einem Kerl auf den Arsch, was ist los mit dir, du? Am Mittag noch in
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der Brüte zwei Papyrus’ mit Göttermotiv für die Gattin erstanden, und nun das. Muss wohl die
Hitze sein, die raubt mir den Grips und macht mich ganz wuschig in der Birne. Ich weiß doch
auch nicht mehr.
Was ich ganz vergessen habe zu erwähnen ist ja auch der kuriose Fakt, dass ich in Tuts bescheidener Behausung umgekippt bin und fast in sein Allerheiligstes reingeplästert wäre, hätte der
nette Typ, der Wache schiebt bei Tutti, mich nicht in letzter Sekunde aufgefangen mit seinen
starken Händen. Er hat mich ganz sanft auf die Rücken gelegt und mir zu Trinken gegeben und
mir dann mit seiner wohltönenden Stimme in gebrochenem Englisch was zu den Kartuschen an
der Wand erzählt. Ich habe kein Wort verstanden, Englisch ist ja nicht so meine Sprache, das
ist eher Holländisch. Aber seiner Stimme zu lauschen, das war was. Ich hab mich sicher gefühlt,
hatte das Gefühl, beschützt zu werden, heimzukommen, endlich, nach einer langen Reise. Dabei fängt die Reise gerade erst an.
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Auf ägyptischen Kneipen-Klos wird überall hingemacht, nur nicht in die Schüssel, da ziehen
nämlich Ratten ihre Jungen auf und dürfen nicht gestört werden. Wie ich in eine solche Kneipe
geraten und diese Erfahrung machen konnte, weiß kein Mensch. Gefühlte Stunden zuvor hatte
ich mich noch auf der M.S. befunden, wie ich sie scherzhaft nenne.
Die Nacht war hereingebrochen über dem wüsten Ägyptenland und am Ufer des Nils flackerten
Lichter. Ich war nachdenklich und ruhiger als sonst, Horst und Tommy machten sich fast ein
bisschen Sorgen um mich, überspielten das aber gekonnt. Gemeinsam haben wir uns mit sechs
Dosen Bier in den Pool gelegt und den Mädels zugeschaut, ein paar neue hatten auf dem Schiff
neben unserem eingecheckt, der „Fostat“, aber es war nicht so gemütlich wie sonst. Ich hab
mich nicht wohl gefühlt in meiner weißen Haut. Die Calmare zum Abendessen müssen mir wohl
auf den Magen geschlagen sein und das Bier wurde in Sekundenschnelle kochend heiß, wenn
man es etwas zu lang auf dem marmornen Beckenrand stehen ließ. Die Hitze hatte sich in alles
reingefressen wie die roten Bakterien in die Wände der Grabkammer von Tutenchamun, und
die Palmen vor den sandigen Bergen verschwammen vor meinen Augen. Es war beinahe, als
läge eine Staubschicht über meinem Blick, ein dünner Film, wie ein Fettfleck auf der Linse einer
Kamera; und so sehr ich auch blinzelte, die Welt wollte nicht Form annehmen. Es wurde spät,
und lange Zeit schwiegen wir uns an, kein ungutes Schweigen, trotzdem machte ich irgendwann
Anstalten zu gehen, mir war kalt und dann wieder heiß und ich fühlte mich schwindlig. Junge,
isch weiß jenau, wat du jetzt brauchst, sagte Tommy genau im richtigen Moment und schlug
mir mit der flachen Hand so fest aufs Knie, dass ich zusammenzuckte, mein langer, weißer Leib
sich krümmte wie der einer Krabbe, die in kochend heißes Wasser geworfen wird, und ich war
nicht fähig, ihn anzusehen.
Wat kann dat schon sein, du, murrte ich, halb grob, halb scherzhaft, und Minuten später trotteten wir durch die stehende Hitze der Nacht die schäbige Hauptstraße Luxors entlang. Hupende
Autos rasten vorüber, schreiende Taxifahrer boten uns ihre Dienste an, doch Tommy schien
genau zu wissen, wo es hingehen sollte und wehrte jedes Mal höflich ab.
„To be or not to be!“, blökte ein dürres Männlein vom Bock einer Kutsche herunter.
„Not to be!“, sagte Tommy, als sei es das Normalste auf der Welt.
Ich gruselte mich ein bisschen.
Wir bogen in eine kleine, von Läden gesäumte Gasse ein, in der ein Kind mit einem gelben
Hund Fußball spielte und ein Mann in hellblauer Galabeya aus unerfindlichen Gründen eine
Flasche Wasser auf dem heißen Pflaster ausgoss. Tommy sah das alles nicht, zielsicher steuer-
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te er auf eine Spelunke zu, in deren Eingang misstrauisch dreinblickende Männer an ihren Pfeifen zogen. Die Mundstücke der Pfeifen hingen an langen Kabeln, die in großen Kerzenständern
verschwanden, Schischa heißt so was, ich weiß es nicht genau, ich kenne mich nicht aus. Drinnen in der Bar lief der Fernseher, wir arbeiteten uns bis ganz nach hinten vor und fanden einen
Platz auf drei mit Teppichen bedeckten Korbstühlen. Über uns wölbte sich schwarzes Plastik,
und während der junge Kellner eine Wasserpfeife auf unserem Tisch installierte, tuschelten die
übrigen Gäste und sahen zu uns hinüber. Ich betrachtete die Darbietungen des sehr westlich
angehauchten Fernsehprogramms und musste plötzlich an die Erika denken, und an das Papyrusbild, dass ich ihr heute in einem Laden namens „Papyrusakademie“ oder so ähnlich gekauft
hatte. Erika liebt solche Bilder, sie puzzelt ja auch manchmal ganz gerne und klebt die Puzzles
dann auf Pappen, die sie an die Wand hängt. Im Schlafzimmer hängt schon so allerhand. Delfine im Sonnenuntergang, weiße Pferde vor glitzernden Wasserfällen, Hundewelpen mit Rosen
im Maul. Ich weiß, was Erika mag und hab ihr dieses schöne Bild mit dem Einhorn gekauft, sie
wird es lieben, denke ich, und dabei wird mir ganz traurig zu Mute. Ich habe beinahe das Gefühl... Ich weiß nicht, was für ein Gefühl ich habe, ich weiß nur, dass Erika mir immer ferner wird,
und das liegt nicht nur an der Geographie, das hat was mit meinem Inneren zu tun. Da regt sich
was. Wie ein Ungetüm, das zu lange geschlafen hat.
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Ich kollabiere auf dem ekelhaftesten Klo der Welt und wache käfergleich auf dem Rücken
liegend auf, sehe gerade noch, wie eine fette Ratte sich über die Rohre kriechend davonmacht
und beschließe, der spelunkigen Bar für heute Abend Lebewohl zu sagen.
Auf der Straße schlägt mir die Hitze entgegen, benebelt von den Dämpfen der großen Pfeife
torkele ich zum Schiff zurück und krieche über den schmalen Steg in die angenehm kühle Lob-
by, hinter der Rezeption hält Mustafa Wache, der attraktivste aller attraktiven Männer auf dem
Schiff, und nickt mir ernsthaft zu. Mustafa, denke ich, Mensch. Ach, Olaf. Was träumst du da
für Sachen. Du kannst dich doch hier in Ägypten nicht aufführen wie eine verkappte Schwuchtel, ausgerechnet hier, in einem Land, in dem Homosexualität strafbar ist. Bist du denn völlig
bekloppt? Merkst du denn nicht, dass der Mustafa dieser blonden Tussi aus der jungen Reisegruppe ständig auf die Titten starrt? Dieser Michelle oder wie die heißt? Das ist es, was er will.
Der Typ ist ein muslimischer Macho, nichts weiter, und du bildest dir ein, er könne was für einen
weißen, unsicheren, schlaksigen und rotverbrannten deutschen Touri aus Unna
Westphalen empfinden? Was soll das überhaupt, dieses schwule Getue plötzlich, du bist nicht
schwul! Du willst dich nur interessant machen, sonst nichts. Nur, weil du ab und zu von Sex
mit Kerlen träumst und dich in die Augen eines Schiffsboys verliebt hast. Der ist blutjung, sieht
sowieso fast aus wie ein Mädchen, wenn man es genau nimmt. Wenn du hier schon einen auf
Gaudi und neues Leben machen musst, was eine einzige Verarsche deiner selbst bedeutet
und dir und deinem verkrampften Naturell so gar nicht entspricht, dann halt dich an Mädchen
wie Svenja. Lass deine Träume da, wo sie hingehören. Denk beim Wichsen unter der Dusche
gefälligst an deine Erika und nicht an Mustafa. Erbärmliche Kreatur. Ich sehe dich geradezu vor
mir, wie du unter der Dusche stehst, deinen dürren, regenwurmartigen Schwanz bearbeitest
und dabei den Kopf zur Seite drehst, um ja kein Wasser zu schlucken, da könnten ja Bakterien drin sein, und den verpilzten, gelbstichigen Duschvorhang hast du vorgezogen, um dein
lächerliches Figürchen nicht im Spiegel sehen zu müssen, dein dürres Ärmchen, das sich an
dir selbst abrackert und das Ergebnis kann sich alles andere als sehen lassen; danach hast du
einen faden Geschmack im Mund und fühlst dich scheiße, weil du wieder einmal in Gedanken
deine Frau betrogen hast, die dich liebt und dir Stullen schmiert fürs Büro und sogar Nudelsalat
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macht für die Handballmeisterschaften von Kids, die nicht einmal ihre sind, denen teilt sie auf
Papptellern in der brütenden Julihitze Wurstsemmeln und Bluna aus und sagt kein Wort, obwohl
sie es hasst, als Trainerfrau eingesetzt zu werden. Und ich steh unter der Dusche und denk an
Mustafa.
Ich schleppe mich in die Kabine; das erste, was ich mache, ist mir mein Handy zu schnappen
und die Nummer von zu Hause einzutippen. Ich ruf bei Erika an, und seltsamerweise ist sie
nicht allein, Georg ist bei ihr, der eigentlich Hans-Georg heißt und von uns allen nur SchwanzGeorg genannt wird, weil er jeder Frau nachstellt, egal welchen Alters, zu meiner sechzehnjährigen Corinna ist er auch immer ganz ölig und die Erika fand er immer ein „heißes Stück“. Ich
spüre, wie mein Herz schneller schlägt, als ich seine quakige Stimme im Hintergrund höre, in
meinem Wohnzimmer, und die Erika lacht über irgendwas und hält dabei kurz den Hörer zu,
drückt ihn wahrscheinlich in ihren Hängebusen unter dem runzligen Dekolleté und der Busen
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zittert, weil sie so lachen muss über das, was der Georg gesagt hat, und mir wird plötzlich
schlecht. Ich lege einfach auf, warum, weiß ich selber nicht. Ohne ein Wort des Abschieds lege
ich auf, stelle mich auf meine Füße und kippe sofort nach hinten um. Ohnmächtig werde ich
nicht, liege nur auf der Stelle und starre an die rissige Decke, stelle mir dabei vor, wie ich ganz
hinten im Grab von Ramses III liege, da, wo die Touristen schon keinen Zugang mehr haben und
es grau und staubig ist und kein Licht hindringt, stelle mir vor, in der Kühle zu liegen, im ewigen
Schatten und nichts mehr zu müssen, und jegliches Zeitgefühl schwände dahin und alles, was
je geschehen ist in meinem Leben, wäre nicht geschehen. Gibt es ein Leben nach vierzig? Ich
habe eine Frau, die mich betrügt, wahrscheinlich schon seit Langem. Einen Kumpel, der unter
einem billigen Vorwand von unserer gemeinsamen Reise zurückgetreten ist und jetzt, anstatt
mit gebrochenem Bein im Hospital zu liegen, meine Frau auf meiner Couch im Landhausstil
vögelt, unter dem gerüschten Lampenschirm von Oma Klärchen. Ist mir schlecht! Meine Kinder
kann ich auch nicht leiden, fällt mir ein. Ich krabbel vom Boden hoch, taste mich an der Wand
entlang und fall aus dem Zimmer in den Flur, mir gegenüber tritt die greise Laura Belmonte aus
ihrer Kabine und schreit plötzlich und hält mir ihre faltigen Hände ins Gesicht, an denen Kacke
klebt, menschliche Kacke, und ich spüre, wie der Boden unter mir in die Tiefe sackt und ich
falle, schon wieder, und diesmal richtig.
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STEFAN MATTENDORF, 17 JAHRE
Der einzige Trost: Es ist das letzte Mal! Mantraartig beherrscht dieser Gedanke meinen Kopf.
Nächstes Jahr – um genau zu sein, ab dem 04.07.2011 – werde ich mich bei der Ankündigung
EVA
TROBISCH
des nächsten Urlaubs genüsslich zurücklehnen, meine Kaffeetasse abstellen und sagen: „Ich
fahre schon mit... nach...!“
Die Pünktchen müssen sich noch finden. Aber das ist jetzt zweitrangig. Ich werde ohne meine
Eltern in Urlaub fahren. Darum geht es. Und ich werde keine Postkarten schreiben. An niemanden! Es heißt nämlich „Passport“ und nicht „Pässpört“. So!
Endlich keinen Fünfmeterabstand halten müssen, um nicht mit ihnen in Verbindung gebracht
zu werden. Im Flugzeug allein sitzen und am Fenster! Nicht zwischen zwei Sommerhüten –
nachts im klimatisierten Flieger. Sie könnten ja knautschen im Gepäckfach, die guten neuen
Strohhüte. Ausschlafen. So lange ich will! Ich mache einen Schlafurlaub, allein, egal wo.
Hassan, unser Reiseleiter, hat ein gutes Namensgedächtnis und eine inflationäre Kumpelhaftigkeit. Er sagt, wir müssten wegen der Hitze so früh aufstehen. Ein fadenscheiniges Argument,
denn es ist schon jetzt unerträglich heiß. Ich bin mir sicher, wenn ich auf die heiligen Steine hier
in diesem Tal der Könige die nötigen Zutaten legen würde, hätte ich nach eineinhalb Minuten
einen vorzüglichen Toast Hawaii.
Da stehen wir nun, 25 schwitzende Käsetoasts, und spiegeln uns in den Tropfengläsern der
Fliegerbrille unseres zweiten Reiseleiters Hussein. Wieder stehe ich etwas abseits. Doch spätestens, nachdem wir in eine sandfarbene Bimmelbahn gesetzt werden, mit der wir 150 Meter
Wegstrecke zurücklegen, kann ich meine Zugehörigkeit zur Reisegruppe Phoenix nicht mehr
leugnen. Grüne Helme würden das Bild komplettieren. Hussein erklärt etwas – keine Ahnung
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was. Wahrscheinlich geht es um die alten Ägypter und ihre alten Pharaonen. Darum geht es
nämlich immer. Vielmehr bin ich damit beschäftigt, meine Mutter zu beobachten und im Erdboden zu versinken. Vielleicht lande ich ja direkt im Sarkophag eines unentdeckten Grabes.
Nur soll da ein Verwesungsgeruch herrschen, der schleichend die Lunge zersetzt. Also doch
lieber nicht über dem Boden verschwinden. In meiner Mutter hat Hussein den optimalen Adressaten gefunden, was sie ihm damit quittiert, zu nicken, und zwar ständig. Als wäre die Schnur
für den Kopf einer Marionette gerissen. Das Nicken wird akustisch von wissenden „Mmmhs“
untermalt. Der Gipfel ihres Strebertums ist aber der Ehrgeiz, den Satz, den Hussein gerade begonnen hat, synchron mit ihm zu beenden. Das gelingt nur selten. Das hängt weniger mit ihrem
mangelnden Wissen als vielmehr mit Husseins eigenwilligem Satzbau zusammen. Mit ihren
Lippenbewegungen verhält es sich so wie bei einem Mädchen im Vorschulalter, das versucht,
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einen Britney-Spears-Song in Lautsprache mitzusingen. Und dann dieses Nicken...! Ich kenne
diese Frau nicht!
Ich versuche, eine Position zu finden, die jeden Kontakt meiner Gliedmaßen zum Rest des
Körpers vermeidet und gleichzeitig lässig aussieht. Alles klebt. Ich bekomme einen Pickel, links
neben der Nase. Dieser Scheißstaub ist Schuld – ich weiß es genau. Ein sonnenmilchgesüßter Schweißtropfen läuft mir über die Lippe. Mit einer Froschzunge ziehe ich ihn in den Mund.
Ich glaube, es hat niemand gesehen. Obwohl!? Man kann es nie wissen, da unsere Gruppe
zum größten Teil aus 15 jungen Leuten besteht, die irgendwas studieren. Die wollen was ganz
Besonderes sein. Ständig stecken sie die Köpfe zusammen und schreiben Sachen in ihre pseudointellektuellen braunen Bücher. Meine Mutter glotzen sie auch die ganze Zeit an und kichern
dann. Wenigstens interessiert sie sich und fährt nicht nach Ägypten, um – Bier in der Rechten
und Zigarette in der Linken – den Pool zu belagern, sodass sich kein anderer Urlauber mehr
hineintraut. Sie schwächelt auch nicht bei 52 °C und vier Sehenswürdigkeiten am Tag. Die bleiben ja schon beim zweiten Programmpunkt im Bus. Arrogantes Pack!
Nach vielen sterbenslangweiligen und furchtbar aufgeräumten Grabkammern mit bunten Bildern, als hätte sie gestern eine Schulklasse als Projekttag mit Wasserfarbe ausgemalt (niemals
sind die 3000 Jahre alt!), kommt doch noch ein interessantes Grab. Es ist über eine steile,
stählerne Treppe zu erreichen, die in eine Felsspalte eingelassen ist. Wo sie hinführt, kann man
nicht erkennen – eine Himmelstreppe vielleicht, direkt ins unendliche Blau. Ich fühle mich wie
Indiana Jones. Konzentriert erklimme ich Stufe für Stufe – stets gewahr, dass der Feind hinter
jedem Vorsprung lauern, dass jede Stufe sich jederzeit in Bewegung setzen kann. Dennoch
laufe ich unerschrocken weiter. Es ist ein gutes Gefühl – aufregend und stark. Ich bemühe mich
meine Mission nicht auffallen zu lasen. Zum einen, weil es natürlich streng geheim ist, zum
anderen, weil ich ja kein Kind mehr bin. Habe ich nicht selbst zu Weihnachten empört das LegoPiratenschiff gegen einen I-Pod umtauschen lassen.
Eigentlich ist das doof mit dem Erwachsenwerden. Es macht einsam. Früher wäre ich zu Papa
gegangen, hätte ihn zum Tempelwächter gemacht, mit dem ich gemeinsam die unbesiegbare
Feuerschlange (Mama) bezwingen muss. Mama hätte nicht wissen dürfen, wer wir sind und
dass wir ihr auf den Fersen kleben. Sie dürfte uns auf keinen Fall berühren, weil sonst das
betroffene Körperteil sofort zu Staub zerfiele. Irgendwann hätte sie sich gewundert, warum ich
immer um sie herumschleiche und mich aus ihren Streicheleinheiten winde. Nach einer Weile
wäre es dann prustend aus Papa und mir rausgebrochen. Mama hätte dann mitlachen und
mich wieder streicheln können. Und jetzt!? Jetzt sind sie alt und uncool. Ich bin jung und will
cool sein. Sie langweilen und nerven mich. Ich fühle mich fremd und allein.
Als ich zurückkomme an den Ort, wo sich meine Gruppe treffen sollte, ist sie weg. Ich stelle mir
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vor, verloren gegangen zu sein. So sehr mir der Gedanke gefällt, macht er mich doch unruhig.
Meine Kopfdrehungen werden schneller.
Doch wie gut es sich anfühlen würde, nach Stunden mit der Kutsche vorm Schiff vorzufahren und beim Abendessen alles zu erzählen, wie ich allein den Weg aus dem Tal der Könige
zurückgefunden habe. Erst zu Fuß durch die Wüste, dann auf einem streunenden Kamel, das
ich zähmte. Ich musste meinen eigenen Urin trinken, um nicht zu verdursten. Aber ich wusste,
ich muss durchhalten – meinen Eltern könnte ich den Verlust nicht antun. Alle würden an meinen Lippen hängen und Hassan würde mir anerkennend auf die Schulter klopfen. Wieso fällt
denen nicht auf, dass ich fehle. Zählen die nicht durch? Warum suchen die mich nicht? Oder
warten? Tolle Reisegruppe! Fühlt man sich ja gleich in guten Händen. Was ist denn, wenn mal
son Rentner verloren geht, der weiß sich ja dann gar nicht zu helfen. Ich stehe allein im Vorhof
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des Tals der Könige in der sengenden Morgensonne. Reisegruppen ziehen vorbei.
Panik schwappt durch meinen Körper. „Stefan, Stefan!“, höre ich es rufen. Meine Mutter kommt
geblendet aus einem Grab-Entrée. Dann setzt sie vorwurfsvoll nach: „Wo warst du denn? Die
ganze Gruppe wartet auf dich!!“ Meine Erleichterung hält nur eine Sekunde an, dann weicht
sie einer großen, großen Genervtheit. „Is ja schlimmer als im Kindergarten...“, grummel ich ihr
entgegen. Während wir uns gemeinsam auf den Weg zur Bimmelbahn machen. Ich bin sauer.
Auf die und auf mich. Und aufs Leben. Warum kann es mich nicht einmal wirklich in so eine
Situation bringen. Ich würde bestehen. Das weiß ich!
Ich hab mir meinen Pickel aufgekratzt. Jetzt blutet er. Das beschert mir einen sorgenvollen Blick
meiner Mutter beim Mittagessen. Meine Eltern stochern beide in ihrem Essen herum. Als ob
sie den Dingen, die sie auf ihre Gabel piksen, ansehen könnten, ob sie ihnen Durchfall machen
könnten. Wir sollen auf keinen Fall Salat essen. Zuhause esse ich nie Salat. Hier schon. Aus
Protest. Zuhause essen wir Falafel und Thai-Curry und hier legen sie alles auf die Goldgabel.
Meine Eltern sind ängstliche Menschen. Das hasse ich. Ich bin auch ängstlich. Das hasse ich
auch. Ich will anders sein - also esse ich Salat! Mit jedem Bissen bilde ich mir ein, die Bakterien
schmecken zu können.
Auf dem Sonnendeck. Ich dusche mich zur Abkühlung ab. Denn mittlerweile haben die Studenten neben dem Pool auch das Jacuzzi belegt. Ich beobachte sie die ganze Zeit und sie beobachten mich. Ich habe keinen Bock, zu ihnen in den Pool zu gehen. Ich will ja die werte Gesellschaft
nicht stören, das Wasser nicht mit minderwertigem Pauschaltouristenschweiß vergiften. Außerdem hasse ich meine Brust. Tim und Max sagen, sie sähe aus wie zwei Zitzen. Wie toll wäre ein
Bier im Wasser. Abgeduscht lege ich mich auf eine Liege an die Reling. Ich creme mich nicht
ein. Sonne macht Falten. Die kann ich gut gebrauchen. Tim und Max sagen, ich hätte ein Milchgesicht. Busenberge mit Brustwarzen aus Stein ziehen vorbei. Wiesen satt wie Stempelkissen,
die grün auslaufen, wenn man draufdrückt. Zwei schlafende Boote im tuschelnden Schilf. Ich
glaube, ich habe ein poetisches Talent – vielleicht werde ich Schriftsteller.
Ich stelle mich an die Reling. Es überkommt mich die Sehnsucht zu springen. Irgendwie zieht
die Tiefe. Was würde wohl passieren, wenn ich einfach in den Nil springen würde? Sicher kämen
alle an die Reling und sähen entsetzt hinunter. Selbst die Studenten würden die Biere abstellen
und sich für kurze Zeit aus dem Pool begeben. Alle würden sich sorgen. Um mich! Alle würden
mich anschauen. Sehen! Wie würden sie mich retten? Zöge mich der Sog zur Schiffsschraube?
Zermetzelt, zerfleischt. Der Nil ruht von meinem Blut! Gibt es nun Krokodile? Hier ums Schiff?
Ein kleines Boot kommt uns entgegen. Eine Nussschale. Gerichtet von einem Kreuzerpanzer.
Das Segel rund gebläht, mehr ein Laken an zwei Stöcken. Die Jungs darauf winken mir zu! Soll
ich zurückwinken? Ich würde mir nicht winken. Es ist ein wenig wie im Zoo – die Frage nur, wer
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wen begafft. Ich winke kurz und ziehe mich zurück auf meine Liege.
Das Relief des Sandgebirges ist geteilt in Schichten und sieht aus wie ein Kuchen. Ein kalter
Hund – Keks und Schokoladencreme, immer abwechselnd. Ich hab nie verstanden, warum das
kalter Hund heißt. Genauso wenig habe ich verstanden, warum wir auf den Kindergeburtstagen
immer dieses Spiel mit den Luftballons am Bein, die man den anderen Kindern zertreten sollte,
spielen mussten. Ich hatte immer Angst vorm Knall.
Ich entdecke kleine, dunkle Punkte im kalten Hund. Vielleicht Gräber – geheime Eingänge.
Wenn ich sie entdecken würde, wäre ich berühmt. Dann müsste ich nicht mehr in den Nil springen. Vielleicht werde ich Archäologe. Das wollte Papa immer. Ging aber nicht. In der DDR gab
es nur vier Studienplätze für Archäologie. Er hat keinen abbekommen. Heute ist alles möglich.
Nix ist mehr verboten. Alles liegt in dir und an dir. Zum Kotzen, diese Freiheit. Manchmal sehne
ich mich nach Grenzen und Verboten. Dann hat man wenigstens was, wogegen man sein kann,
etwas, gegen das man aufbegehren kann. Oder denen man sich machtlos ergeben muss. Die
einem die Verantwortung abnehmen. Papa kann nichts dafür, dass er kein Archäologe geworden ist. Das System war schuld. Er ist entlastet. Wenn ich keinen Erfolg habe, bin ich selbst
schuld. Alles wäre möglich gewesen – ich bin nur zu blöd. Das macht mich unbeweglich und
starr. Und ohne Träume. Mein Gesicht brennt und mir ist schlecht. Der Salat!
Bei Mama klage ich über ich Kopfschmerzen und melde mich auf meine Kajüte ab. Sie meint,
es käme von der Sonne und empfiehlt mir ihren Sonnenhut für den nächsten Tag. Ich gehe
wortlos. Im plüschigen Zimmer liege ich auf meinem Bett und schaue durch das Schwarzglas
auf die untergehende ägyptische Sonne. Eine erschöpfte Palme neigt sich zum Wasser. Ich
werde müde. Morgen gehe ich in den Pool und trinke Bier und danach entdecke ich ein Grab!!!
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LETZTE TAGE UND ABSCHIEDE
Prolog
Sabine Fuchs ist 27 und das bin ich. Nachdem ich meine letzten Versuche, Tagebuch zu
schreiben, immer wieder aufgegeben habe, hab’ ich mir jetzt die Aufgabe gestellt, zumindest
GREGOR
KOPPENBURG
acht oder neun Tage mal durchgängig eins zu führen. Mal sehen, was daraus wird. Vielleicht
ein Roman. Haha, nein. Ich muss mich erst wieder daran gewöhnen, Tagebuch zu führen. Ist so
komisch zu wissen, dass das eigentlich nie jemand lesen wird. Vielleicht aber auch doch. Ist ja
auch so eine Art Reisebericht.
Ich habe mir den Auftrag gegeben, eine Fotoserie zu machen. Menschen auf einer Kreuzfahrt.
Erst wusste ich nicht, wo ich suchen soll, aber dann bin ich doch fündig geworden. Ich saß in
der U5 nach Hause und da ich hab ich das Ägypten-Werbeding gesehen. „Das ist es!“, hab ich
gedacht. Und dann hab ich das gebucht. Die Magisterarbeit ist fertig (oder zumindest fast) und
jetzt hab ich Zeit. Die Frist ist der 31. Juli. Bis dahin brauche ich eine Fotoserie, die Menschen
zeigt. Das hat mich ja schon immer interessiert und ich finde, Carla und Jule haben Recht, wenn
sie sagen, dass ich mich an der Kunstakademie mit etwas bewerben sollte, das mich auch
vorher schon interessiert hat. Menschen also. Genauer, Menschen in fremden Umgebungen.
Also Nilkreuzfahrt. Da hoffe ich auf eine große Ladung europäischer Touristen, die krampfhaft
versuchen, ihre eigene Lebensweise aufrechtzuerhalten und die fremde Kultur nur häppchenweise in sich aufzunehmen. So, dass es halt nicht wehtut. Mal sehen, was kommt. Davon erst
mal genug. Der Plan ist, dass ich nach der Woche mit genügend Fotomaterial wiederkomme,
dass ich meine Mappe um einen Themenbereich erweitern kann. Dann am 31.07. Abgabe. Ich
habe nicht die Illusion, dass ich das auch nur einen Tag vor der Deadline abgeben kann. Dann
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hab ich ein bisschen Freizeit und da mache ich die Magisterarbeit fertig. Dafür ist die Reise ja
eigentlich sogar auch ganz sinnvoll. Koloniales Ägypten. Toll. Trifft zwar nicht ganz mein Thema,
aber es wird schon irgendwie einflechtbar sein.
So, davon jetzt genug; ich erkläre den Prolog hiermit für abgeschlossen.
Jetzt gerade liege ich noch im Bett. Morgen geht’s los. Bin ein bisschen nervös. Aber alles ist
parat: der Koffer, der Pass, die Kamera, die Filme (altmodisch, aber auch schön...)
(Tage 1 bis 8 wurden hier nicht abgedruckt)
Letzte Tage und Abschiede
Der erste wichtige Abschied ist der von Johann-Martin. Ich habe ihm vor lauter Egozentrik nur
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sehr wenig Platz und Aufmerksamkeit gegönnt. Eigentlich schade, er ist ein sehr netter Mensch.
Es ist jetzt schon Ausschiffung gewesen und wir hatten verschiedene Ausschiffungstermine.
Deshalb haben wir uns am Abend vorher schon verabschiedet. Er ist früh schlafen gegangen.
Wir haben uns nicht mal umarmt oder so was. Ganz förmlich die Hand gegeben. Es war ein
bisschen wie zwei Freunde, die nur Freunde waren, weil keine besseren oder passenderen da
waren. Hier, in diesem kleinen Schiffskosmos waren wir Freunde, weil wir uns ein bisschen ähnlich waren, aber in der großen weiten Welt konkurriert er für mich mit so Leuten wie Carla und
Jule und da hat er keine Chance. Andersherum geht es ihm wahrscheinlich ähnlich. Er hat einfach Leute, die ihm wichtiger sind. Also ein relativ distanzierter Abschied. Ich hab eben gemerkt,
dass ich noch nicht mal ein Foto von ihm hab. Mit den Reiseleitern war’s ähnlich. Ich habe keine
Portraits gemacht. Mir fehlt der Grund dazu. Nach der Verabschiedung von Johann-Martin bin
ich erst noch auf dem Sonnendeck geblieben und habe mir die Sterne angeguckt. Meine Augen
können nicht auf einen einzelnen Stern fokussieren. Sie sehen ihn immer an verschiedenen
Stellen. Er verschwimmt irgendwie. Ich habe den Eindruck, dass ich nur klar sehe, wo er ist,
wenn ich ihn nur kurz anschaue und dann direkt zum nächsten. Schon komisch. Mir fällt das
jetzt beim Schreiben auf, dass das auch auf mich als Mensch passt. Fotografieren war immer
nur eine Sache von vielen. Hier habe ich versucht, mich nur darauf zu konzentrieren und es ist
mir entglitten. Es gibt ein Wort dafür: Verkrampfung. Aber ich glaube, ich hab’s hier geschafft,
einen Schritt davon wegzukommen und mich etwas zu entspannen. Ich werde wohl in Zukunft
mehr meine Augen benutzen, um zu sehen, ohne zu fotografieren. Hier laufen einem Ziegen
über den Weg. Mitten auf der Straße. Und ich werde versuchen, jetzt einfach die Ziegen anzugucken. Wenn man mit der Blende und der Schärfe so beschäftigt ist, passiert einem so was:
(Foto aus Sabines Tagebuch) Ziegen auf der Straße; schlecht festgehalten
Das ist einfach misslungen und den Moment hab ich auch nicht richtig gespürt. Der EntertainerAbend ist jetzt auch vorbei. Es kamen noch viele Songs. Einer war zum Beispiel von „Simon &
Garfunkel“. Und mein Lieblingslied aus der Schulzeit „Leaving on a Jet Plane“. Wenn ich Jule
erzähle, dass ich das hier gehört habe, flippt sie aus. Ich glaube, es wird sehr Zeit, dass Jule,
Carla und ich mal wieder einen bis zehn gepflegte Mädelsabende machen. Carlas Wohnung,
Carlas Holztisch, Carlas Kühlschrank mit Gouda-Würfeln, ein oder zwei Rotwein und der Rest
entsteht dann schon wie eine Fata Morgana. Die äußeren Umstände sind dann gegeben, da
wird die zauberhafte Mädelsenergie einfach gar nicht anders können, als zu entstehen. Was ich
jetzt nicht weiß, ist, ob ich ihnen von Linus erzählen sollte, aber ich denke, dass ich das wohl
sowieso machen werde. Rufe ich ihn an? Ich glaube schon. Ich will jetzt nicht darüber nachden-
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ken, ob er sich dann falsche Hoffnungen macht. Das Problem löse ich dann, wenn es wirklich
entstanden ist. Vorher nicht.
Epilog
Ich gehe jetzt ins Bett und morgen früh fliege ich zurück.
Zu den Vorsätzen aus dem Prolog ist zu sagen, dass sie allesamt entweder gescheitert sind
oder aufgegeben wurden. Es haben sich aber andere ergeben, die dann wichtiger wurden und
das finde ich in Ordnung. Die Tatsache (die ich gerade beim wehmütig-nostalgischen Durchblättern entdeckt habe), dass in diesem Buch auf Tag 5 direkt die Tage 7 und 8 folgen, beweist,
dass ich einfach nicht fähig bin, ein anständiges Tagebuch zu führen. Das einzige, das sich
bewahrheitet hat, ist, dass ich meine Fotoserie wirklich nicht vor dem 31. Juli abgeben werde.
Der Tag der Deadline wird der Tag der Abgabe. Vielleicht komme ich aber noch mal wieder. Es
ist schon sehr lebensbejahend hier. Lieber mache ich das aber in männlicher Begleitung. Ohne
ist es als Europäerin hier schon etwas beklemmend. Aber gut. Nächstes Mal bin ich darauf vorbereitet und passe mich noch ein bisschen an. Mir fällt leider kein poetischer Schlusssatz ein
außer: „Jule, Carla, ich hab euch lieb und schenke euch dieses Buch.“
Hier noch ein Platz für ein Foto. Vielleicht hab ich ja auch mal ein Foto gemacht, über das ich
nicht viel geschrieben hab.
(Foto aus Sabines Tagebuch) Irgendwas legendär Tolles.
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MICHAEL ALTMAYER – DER JACKPOT
Ein Boot auf dem Wasser.
Bilharziose. Die Leber von innen heraus zerfressen. Eine schreckliche Vorstellung in einer
malerischen Umgebung. Hussein beschreibt die Symptome. Unser Reiseführer Hussein trägt
DORIS
SEISENBERGER
lose einen weißen Schal um den Hals, den es hier an jeder Ecke für ein bis zwei Euro käuflich
zu erwerben gibt. Der Schal dient ihm weder als Kopfbedeckung gegen die Hitze, noch muss er
damit seine Schultern bedecken. Er trägt ihn zur Zierde über seinem roten Polohemd. Vielleicht
will er die Touristen auch unterbewusst zum Kauf anregen. Aus keinem anderen Grund hält er
jedenfalls die Foto-DVD über Ägypten stets zusammen mit seinem Brillenetui fest in der Hand.
Brillenetui und DVD unterstützen ihn bei seinen Geschichten. An ihnen hält er sich fest, wenn
er erzählt, und manchmal verwandeln sich die Gegenstände dabei. Sie werden dann zu Dingen,
die gerade Teil der Geschichte sind. Ein goldener Ring klebt dabei an seinem Zeigefinger und
hält die Stellung, egal was passiert.
Zuerst hat uns Hussein zu diesem Steinbruch geführt, an dem ein unvollendeter Obelisk zu
bewundern war. Dort begab sich Hussein in die Hocke und malte Dinge in den Sand, von denen
ich nichts verstand. Ich hörte ihm auch nicht genau zu. Obwohl es noch früh am Tag war, war
es schon wahnsinnig heiß in der Sonne. Hussein ist in etwa so alt wie ich – auf jeden Fall über
60. Seine monotone Art zu reden hat gestern all seine Zuhörer vergrault. Irgendwann stand er
ganz allein vor den Hieroglyphen und schmollte. Heute legte er sich dafür voll ins Zeug und es
war mir unangenehm mit anzusehen, wie er sich anbiederte. Das Alter. Mir fiel das Treppen steigen hoch zum Obelisken schwer. Ich versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte
nicht, dass sich jemand bemüßigt fühlt, sich um mich armen einsamen Rentner zu kümmern.
Ich wollte meine Ruhe. Bei diesen Temperaturen bin ich noch mundfauler als sonst. Das war
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heute Vormittag.
Jetzt sitzt Hussein am Bug eines Touristenbootes, das uns zum nächsten Tempel tuckern soll.
Mit seiner Beschreibung der hiesigen Krankheiten ist er immer noch nicht zu Ende. Mein Bruder
Karl hat ständig über Krankheiten gesprochen und darüber, was wäre, wenn ihm etwas zustoßen würde. Ich war mir sicher, wer ständig über den Tod spricht, lebt am längsten von allen. So
kann man sich täuschen.
Der Bootsführer in seinem blauen Kaftan steuert das Boot mit seinem großen Zeh. Die Sohle
seiner Flip Flops ziert ein Leopardenmuster und ich frage mich, ob das beim Kauf eine Rolle
spielte. Der Tempel an diesem Tag sieht nicht exzeptionell anders aus, als die Tempel, die wir
an den Tagen zuvor besichtigt haben. Hussein redet und redet und ich bedaure es, dass ich ihm
bloß so sporadisch folgen kann. Stattdessen kann ich nur auf die ausgemergelte Katze achten,
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die sich zu unserer Gruppe gesellt hat. Sie maunzt so schwach, dass selbst mir – der ich nie ein
großer Katzenfreund war – ganz anders ums Herz wird. Doch leider habe ich nichts dabei, was
ich der armen Kreatur – die wild aussieht mit ihrem angefressenen Ohr – anbieten könnte. Sie
würde die Wurst, die wir an Bord zu unserem kontinentalen Frühstück angeboten bekommen,
sicher nicht so verschmähen wie ich das Morgen für Morgen tue.
Wir betreten den Tempel. Hussein, der kleine schmale Mann mit seinem großen Wissen und
dem hart gerollten „R“, erzählt etwas über das Christentum. Währenddessen fotografieren einige Touristen ein Fledermausbaby, das sich hierher verirrt hat. Einer der Führer hier im Tempel
trägt ein Maschinengewehr um die Schulter. Ich weiß nicht, ob ich mich dabei sicher fühlen
soll oder ob es mir Angst macht. Draußen ist es windstill. Der Schweiß läuft an mir herunter
und sammelt sich in meinem Bauchnabel. Die Blätter mancher Palmen, die hier rings um den
Tempel stehen, sehen aus wie grünes Lametta. Andere Palmwedel machen den Eindruck, als
könnte man mit ihnen Brot schneiden, so scharf sehen sie aus.
Wir nehmen die Plätze auf dem Boot wieder ein. Eine Kaffeefahrt zurück zum Bus beginnt. Ein
junger Mann verkauft Ketten und Holzspielzeug. Ich betrachte die geschnitzten Kamele und
Nilpferde und überlege, ob ich meinen beiden Enkelkindern so etwas für ihren Bauernhof mitbringen soll. Ich entscheide mich dagegen. Warum, das kann ich nicht genau sagen.
Der gleiche Typ, der seine Waren bei uns Touristen an den Mann bringen will, klopft wenig
später auf einer Trommel zu der Melodie von „Von den blauen Bergen kommen wir“. Etwas lustlos klatsche ich dazu im Takt und höre schließlich ganz damit auf. Ich mag es, wie der Verkäufer
singt, auch wenn ich nicht mag, was er singt. Er hat ganz dunkle Haut und sehr helle Augen. Ein
Hexer, denke ich mir und bin froh, als ich das Boot verlassen darf.
Als Nächstes werden wir zu einem berühmten Staudamm gebracht. Hier weht zur Abwechslung
ein angenehm starker Wind. Der Aufenthalt dauert nicht lange und ich sitze etwas verloren auf
einer Bank unter einem blühenden Baum. Ich wünsche mir ein Eis, es gibt aber leider keinen
Kiosk. Ein Vater trägt seine kleine Tochter auf den Schultern. Sie trägt ein T-Shirt mit den Prinzessinnen aus Disney-Filmen. Die Zeit ist um und wir steigen in den Bus.
Die Besichtigung der Parfumfabrik streiche ich ganz bewusst aus meinem persönlichen
Programm. Ich kann Parfum nicht leiden. Und Nepper-Schnäpper-Bauernfänger-Aktionen schon
zweimal nicht.
Das Mittagessen auf dem Schiff verläuft unspektakulär. Ich freue mich auf meinen Freund,
den Koch, der aussieht wie ein Pizzabäcker aus der Werbung. Ich beteilige mich nicht an den
Gesprächen am Tisch und meine Tischnachbarn sind es bereits gewöhnt, dass ich von der
schweigsameren Sorte bin.
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In der Moschee am Nachmittag müssen wir unsere Schuhe vor der Tür ausziehen. Ganz wohl ist
mir nicht, mein einziges Paar Schuhe, das ich zur Reise mitgenommen habe, auf dem Holzgitter
zurückzulassen. Besonders, nachdem Hussein noch im Bus erzählt hatte, wie sein Sohn eines
Tages nach dem Moscheebesuch mit teuren nigelnagelneuen Turnschuhen nach Hause kam.
Hussein hat dabei so gekichert, wie ich es mir bei Mädchen in der Koranschule vorstelle. Ich
habe ihn nur dieses eine Mal lachen hören. In der Moschee bin ich leider im Sitzen eingeschlafen. Mein Mittagsnickerchen ist einfach so über mich hergefallen. Meine Mitreisenden haben
danach erzählt, dass Hussein ausnahmsweise sehr interessante Sachen von sich gegeben hat.
Tja, verpasst. Meine Schuhe sind zumindest noch an ihrem Platz.
Danach werden wir auf einen Bazar gelockt. Der Tag, der bis zu diesem Zeitpunkt ohnehin
schon anstrengend genug für mich gewesen war, nimmt nun noch mal Fahrt auf und beginnt
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mich regelrecht zu nerven. Ich hasse aufdringliche Menschen, und diese Gestalten hier sind
von der penetrantesten Sorte. Überall ziehen und zerren sie an meiner Aufmerksamkeit. Mein
Blick wird rastlos, denn egal, wo ich hinblicke, glauben diese Männer, einen Wunsch in meinen Augen lesen zu können. Sie denken, dass ich das, worauf ich blicke, besitzen möchte.
Also schaue ich von nun an in den Himmel, den will mir wenigstens keiner verkaufen. Wie ein
gealteter und genervter Hans guck ich in die Luft, bringe ich die letzte Strecke bis zu unserem
Treffpunkt hinter mich.
Dort angekommen treffe ich leider gleich auf ein Ehepärchen aus meiner Reisegruppe, das in
etwa in meinem Alter sein dürfte. Sie amüsieren sich gerade köstlich darüber, dass der Mann
an mehreren Ständen Potenz fördernde Mittel für „Hoppa Hoppa“ angeboten bekommen hat.
Ich denke an meine Potenz und bekomme schlechte Laune. Ich lache gekünstelt und möchte
einfach nur noch zurück in meine Kabine. Ruhe. Kühle. Ein Bett.
Der Abend steht zur freien Verfügung. So sehr ich mir die Einsamkeit am Nachmittag die meiste
Zeit über gewünscht habe, so fad wird sie mir nun, da ich ganz allein bin. Ich verlasse das Schiff
und schlendere den Nil entlang.
Ich sehe eine Hochzeitsgesellschaft. In der warmen Abendluft feiern sie ausgelassen. Ich denke
an meine eigene Hochzeit vor Jahrzehnten. Es war Mai und es hat geregnet. Nach der Feier sind
meine Braut und ich gleich weiter nach Südtirol. Meine Frau bekam auf der Fahrt einen eitrigen
Zahn und wir haben einige Zeit unserer Hochzeitsreise beim Zahnarzt verbracht. Ich hab mir
damals noch nicht viel dabei gedacht, hätte ich besser mal.
Ich verspüre Lust auf etwas Süßes. Bei einem schlaksigen Gauner – dem ich seine diebische Freude irgendwie gönne, als er glaubt, mich übers Ohr gehauen zu haben – kaufe ich
völlig überteuert eine Tafel englische Schokolade. Doch schon nach dem ersten Bissen ist mir
klar: Die bekomme ich nicht hinunter. Bei näherer Betrachtung ist die Schokolade schon seit
über vier Jahren abgelaufen und währenddessen schon mindestens dreimal geschmolzen und
wieder gekühlt worden. Ein kleiner Lockenschopf aus der Hochzeitsgesellschaft läuft an mir
vorbei und schaut mich alten hellhäutigen Narren neugierig an. Ich kann nicht viel mit Kindern
anfangen, obwohl ich selbst drei davon großgezogen habe. Ich biete dem Mädchen ein Stück
der Schokolade an, die ich sonst ohnehin weggeschmissen hätte. Mit ihren kleinen speckigen
Patschehändchen greift sie sich gleich die ganze Tafel. Ohne sich zu bedanken oder mich noch
einmal anzusehen, läuft sie los. Dabei streckt sie ihre Arme in die Höhe und jubelt laut. Ich
muss lächeln: der Jackpot dieses Abends.
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KARIN WINTERBERG – EINE GESCHICHTE AM NIL
Im kühlen Gebläse der Klimaanlage wache ich auf, der Bus wiegt mich in den Morgen, – die
Zeit vor der großen Hitze, im klaren, noch nicht grellen Tageslicht, die ersten Schritte mühsam,
ANATOL
SCHUSTER
als wir durch den Detektor geschleust werden, der bei jedem aufschrillt, was die Offiziere in
ihren matrosenweißen Uniformen, die Maschinengewehre wie Schoßhunde im Arm, gleichgültig
hinnehmen, als ob sie durch uns hindurchsähen, dann liegt diese gewaltige Granitsäule, wie
ein gefallener Riese, im Steinbruch vor mir, den Fotoapparatsaugen erlegen, ein mörderisches
Machtsymbol, das seinen Schöpfer, den Menschen, unter sich erdrückt, und der erdrückende Anblick steigert sich zu einem Ekelgefühl, als mich unter verachtenden Blicken, die mich
erniedrigen wollen, aus hungrig-gierigen Augen, die mich betatschen und fesseln wollen, ein
Ohnmachtsgefühl übermannt, erst im Bus wieder abgeschottete Stille, Glasglockenstille, nur
das Gebläse der Klimaanlage, – erneut sehe ich mich aussteigen, der Gruppe auf ein Boot folgen, fange etwas wie Stausee, Nasser, auf, sehe eine Frau, die sich beim Abfahren einen Finger
zwischen zwei Booten einklemmt, es muss höllisch wehtun, sie gibt keinen Laut von sich, aber
eine Träne zwängt sich aus ihrem Auge, zwei Männer neben ihr bemerken es nebenbei und
fotografieren sich, ich wünsche ihnen, dass Knipsfinger abgeklemmt zu Seeboden sinkt, reiche
ihr ein Taschentuch, schmerzvoll-dankbare Mundwinkelspitze, – plötzlich ist alles Ohr, der Motor tuckert, ein Stottern zwischen Schieben und Stocken, schwerfällig wie vor Altersschwäche,
eine Kreisbewegung, die vorantreibt, der Propellerrhythmus macht vergessen, lässt verzeihen,
die Gespräche verstummen, die Blicke fallen in den See, tauchen ab, die vorantreibende Kreisbewegung zwischen Loslösen und Ankommen, Abschließen und Anfangen, – ein Übergang zur
Insel, das Stauen flutete den Tempel, er wurde ab- und auf der kleinen Insel wieder aufgebaut,
ein Inseldasein, ich werde zur eigenen Insel, durchlaufe den Tempel alleine, die Luft steckt
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wie ein angehaltener Atem, feuchte Hitze und Verwesungsgeruch, eine fingergroße Fledermaus
hängt kopfüber vom Torbogen herab, spinnenverwebt, als schlafe sie einen tausendjährigen
Schlaf, den Schlaf der Isis, der Schönheitsgöttin, der der Tempel errichtet wurde, ein Ort zur
Heiligung der Schönheit, ein Ort, wo Götter und Menschen, Leben und Tod sich begegnen, ich
trete hinaus, unten am Wasser sehe ich sie mit verbundenem Finger winken, wir sitzen im Bus,
erstaunt höre ich mich über meine Trennung erzählen, und mir wird leicht dabei, wir stehen auf
dem Staudamm, der gigantische Wasserschätze speichert, der hier ein Reichtumsbad, anderswo Armutsdürre bedeutet, Unbewegtheit weit und breit, und höre ihre Geschichte,- vom Auswandern nach Deutschland, ihrer langjährigen Staatenlosigkeit, – sie erzählt von ihren Bruchlandungen und ihren Querentscheidungen, aller Logik und Sicherheit entgegen, der Mokkageruch
zwischen uns steigt in die lärmende Luft der dunstigen Hitze, grünlich-süßer Mangogeschmack
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auf den Lippen, zwei europäische Frauen in Assuan an einem Mosaiktisch, setzen Steinchen
ihres Lebens zusammen, die drängenden Gesten und dringlichen Stimmen werden zu einer
Hintergrundwelle, aus der einzelne Sätze und Gesichter auf- und wieder untertauchen, und
als wir nach Sonnenuntergang an Deck liegen, unter uns der Nil, denke ich an die Windschlagwelle der Ventilatoren in der Moschee, die die Stille der heiligen Stätte wie ihr Herzschlag füllt,
der einschläfernde Wellenton des Fremdenführers weht über unsere Ohren wie ein drehender
Ventilator, streut Grundfragen und -ansichten des muslimischen Glaubens in alle Richtungen,
weht über die Köpfe der Frauen hinweg, in ihrem kleinen, abgegrenzten Versteck, vor Ein- und
Ausblicken geschützt, und ich denke an die kreisende Motorwelle, an den anstauenden Damm
und den Fluss des Anvertrauens, als Gebetsgesänge ansetzen, die über die ganze Stadt wehen,
sie erfüllen, die wie eine Anklage an das Menschliche klingen und wie die Hingabe an das Göttliche, eine Welle des Schauderns und Verzauberns, wir lauschen, bis sie abebben.
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DIE GESCHICHTE VON SVENJA RAUBEIN …
Tag 1
Ich bin gerade dabei in mich zu gehen, aber ich fliege dabei eher heraus. Ägypten steht vor
der Tür, die hoffentlich dicht hält, bis das Flugzeug landet, Die Flugzeugbesatzung sieht nicht
ARTJOM
BARANOV
gerade kompetent aus. Der Horst und Fritz-Olaf machen mich die ganze Zeit an. Der Flug wird
die Hölle. „Süße“ haben sie mich genannt. Der Horst hat bestimmt Käsefüße und jetzt singt der
so ’ne Schnulze von der dritten Generation, „Der Sonne entgegen“, dabei glänzt seine verölte
Stirn und er gackert wie ein Huhn. Ausgerechnet gestern ist mir das Pfefferspray ausgegangen,
als dieser Pole an meinem Briefkasten rumgefingert hatte.
Jetzt haben wir gerade den Flugzeugfraß serviert bekommen. Ich schaue aufs Essen, die Flugtante schaut, ich schaue auf sie. Die geht einfach nicht. Was will die? Die sieht doch, dass das
nur Schweinen vorgesetzt werden kann. Soll ich zum Dank grunzen!? Horst hat schon alles
verschlungen. Ihm hängt der Camembert noch im Schnurrbart. Fritz-Olaf erzählt mir, aus welcher Südfrankreichregion der Camembert höchstwahrscheinlich dem Geschmack nach kommt.
Dabei steht auf der Verpackung „aus bayrischer Milch“. So so, die Bella würde der Horst nicht
von der Bettkante stoßen. Wollte das jemand wissen? Okay... überhaupt, Twilight... Fritz-Olaf
nickt Horst mit vollem Einverständnis zu.
Wie ein Sandwich sitze ich als angeschmorter Käse zwischen zwei alten Brotscheiben. Wenn
ich die Bella in Horsts Bett wäre, würd ich dem ein Messer ins Schienbein rammen, wenn er
mir zu nahe käme.
Die Flugzeugtür hat gehalten. Wobei der Pilot fast eine Bruchlandung hingelegt hätte. Es sind
nicht die versprochenen 35°C. Außerdem riecht es überall ziemlich, wie soll ich es sagen,
toilettig. Horst und Fritz-Olaf lauern im Duty-Free. Ich verstecke mich. Jetzt kann ich die ganzen
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Zigaretten gar nicht kaufen, die ich an die Kinder verteilen wollte. Und den Wodka für meine
Mutter.
So, jetzt sitz ich hier an so ’ner Bar und alles ist überteuert. Die mit mir im Flugzeug waren,
sitzen nebenan am Tisch, natürlich auch Horst. Der redet ein blondes Flittchen zu, aber die soll
ruhig alles schlucken, was der von sich gibt. In spätestens drei Stunden, wenn wir endlich – oh
Gott, jetzt sage ich schon wir – in Luxor sind, hat die ’nen Braten in der Röhre.
Endlich! Landung in Luxor. Ich sehne mich so nach meinem Bett. Wenn ich doch nur nicht nach
Ägypten gekommen wäre. Der ganze Plan ist schiefgegangen. Ein wenig Info-Talk für Dich, mein
Tagebuch, und für den Armseligen, der dieses Buch finden und sich über mich lustig machen
sollte – vorab: Schmore in der Hölle, du gefühlloser Sepp!
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Alles begann vor zwei Wochen, als dieser unglaublich schick und charmant wirkende Herr, 45
Jahre, das Reisebüro betrat. Wie entschieden er den Stuhl nach hinten rückte und so sein Revier markierte. So muss ein Mann sein! Ich war gerade zurück von meiner Mittagspause, bei der
mich meine Mitarbeiterin Erika zu Tode gelabert hatte mit ihrem Small Talk. Auf jeden Fall hat
der attraktive Herr, dem ich sofort verfallen war, eine Reise nach Ägypten gebucht. Was er nicht
wusste, eine Minute nachdem er das Reisebüro verlassen hatte, wurde der Platz direkt neben
ihm im Flieger auf den Namen Svenja Raubein gebucht. Dieselbe Stadt, dieselbe Kreuzfahrt,
derselbe verdammte Nil. Also Sepp, kommst du bereits drauf?
Es war Fritz-Olaf. Und als ich mich im Flieger neben ihn setzte, tat er so, als ob er mich nicht
kennen würde. Ich konnte natürlich nicht so tun wie „Oh hallo, was für ein Zufall, Sie!? Hier !?!?“
Also saßen wir da so zusammen, er schaute aus dem Fenster, ich auf seine fuchsroten Haare
und Horst in meinen Ausschnitt. Horst!?!? Als ich seinen Namen voll Schreck herausrief und
er sich aber ganz entspannt gab, durchblickte ich seinen Plan. Der Horst stellt mir schon nach,
seitdem ich bei ihm im Reisebüro arbeite, aber was kann ich denn schon als seine Tippse machen? Dass der Horst sich ein Ticket direkt neben mir bucht, um mich in Ägypten zu begatten,
fand ich zuerst, wie soll ich es sagen, romantisch!?
Versteh mich nicht falsch, Sepp. Horst ist dick, keine Haare (bis auf seine fünf Achselhaare, die
dadurch auffallen, dass sie besonders lang sind, und seine zehn Rückenhaare, die sich, wenn
er Gänsehaut bekommt – das tut er oft – aufstellen im rechten Winkel. Er spuckt, ist obszön
und riecht nach alten Kartoffeln. Und er ist anders. Vielleicht ist es das ja. Vielleicht bin ich reif
für die Klapse und lasse mich einliefern. Ich bin mir sogar sicher mit der Klapse. Ägypten ist das
richtige Pflaster dafür, da kann ich behaupten, die Sonne hätte mir das Hirn ausgegrillt.
Na ja, also setzte sich Horst hin, aber das Komische war, dass wir uns auf ein seltsames Spiel
einließen. Wir taten nach meinem „Horst!?!?“ so, als ob wir uns nicht kennen würden. Ich fand
es erst seltsam, dann dachte ich mir, dass mir die Situation viel mehr passen würde, bis Horst
seinen ersten Kommentar rausbrachte: „Ich hoffe, es ist in Ägypten heiß genug, dass ich mir
nicht nur mehr vorstellen muss, junges Fräulein, wie sie unter ihrer Kluft aussehen.“ Ich starrte
ihn fassungslos an, ich wollte doch vor Fritz-Olaf ein gutes Bild machen. Doch der Fritz, so charmant ich ihn mir bisher vorgestellt hatte, sagte: „Bei 90-60-90 kann isch auch nisch nee sajen,
ejal wie das Jesischt is.“
Tja, Sepp, lach ruhig ... jetzt sitz ich hier am Flughafen, habe Durst und die Cola kostet elf Pfund.
Meiner Reisetasche ist ein Rad abgefallen, jemand hatte versucht, das schlampig zu kleben,
aber mir ist das sofort aufgefallen, als die Tasche aufs Band fiel. Gleich rief ich so einen Ägypter
zu mir, aber der konnte mir nicht weiterhelfen, weil er anscheinend nur Passagier war. Er war
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ziemlich aufgebracht wegen der Ohrfeige, ich wollte ihm dann ein Trinkgeld geben, aber er rief
die Flughafenpolizei. Auf jeden Fall waren die beiden Polizisten ziemlich aufgebracht wegen
den beiden Ohrfeigen, dass sie mich ins Büro zerrten zu ihrem Chef. Als ich ihn ohrfeigen wollte,
überwältigten mich die zwei Polizisten hinter mir und legten mir Handschellen an.
Die Botschaft hat angerufen, die Ägypter wollen mich zwar immer noch ausweisen aus Ägypten,
aber bis das geklärt ist, darf ich auf die Kreuzfahrt. Ägypterlogik. Als ich zurück zum Band kam,
was gefühlte zwei Stunden später war, redete da ein Ägypter vor den Touristen und alle schienen sehr genervt zu sein. Horst und Fritz-Olaf entdeckten mich, zeigten aber keine Reaktion, da
das blonde Flittchen wieder da war. Sollte mir recht sein.
Endlich gingen wir zum Bus. Nach einer kleinen Auseinandersetzung mit einem kleinen alten
Ägypter, der meine Tasche in den Bus laden wollte, ich ihn aber nicht ließ, ohrfeigte ich ihn.
Trotzdem fragte mich der unverschämte Bengel nach zwei Euro. Ich holte mein Bein aus in
Richtung Schienbein, sodass ich in Ruhe den Bus betreten konnte. Dort war es viel zu kalt, viel
zu dunkel und der Leiter konnte nicht mal fließend Deutsch. Alles, was er sagte, war belanglos.
Ich wünschte mir so sehr, dass er mit seiner dicken, öligen Birne hinfallen sollte, doch leider, als
der Wunsch tatsächlich wahr wurde und er stolperte, verfehlte sein Schädel knapp die scharfe
Kante vorn im Bus.
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Ich sitze hier im Zimmer. Aus dem Fenster sieht man nichts. Kein Balkon. Den Feuerlöscher
fand ich erst nach zwei Minuten, das Abendessen, das mich auf dem kleinen runden Tisch
erwartete, war unzumutbar, das Bett war nicht ordentlich gemacht und das Bild beim Fernseher
griselte. Man will mir so spät, es ist zwei Uhr nachts, kein anderes Zimmer geben. Es ist keines
mehr frei. Nachdem ich auf eigene Faust losging und an allen Zimmern im Gang klopfte und
freundlich fragte, ob jemand mit mir das Zimmer tauschen wollte, kamen drei Pagen, die mich
fragten, ob ich die Verrückte vom Flughafen sei, die alle ohrfeigt. Bevor ich die dritte Ohrfeige
landen konnte, schubste man mich in mein Zimmer und hielt solange die Klinke nach oben, bis
ich aufgab an ihr zu rütteln und schlafen ging.
Tag 3
Im Tal der Könige war es entsetzlich heiß. Wenn ich einst sterben sollte, würde ich mir davor
auch so ein Grab bauen lassen und alle, die es gebaut haben, mit mir einsperren.
Jedenfalls darf man da keine Kameras mitnehmen, weil die ihre eigenen Fotos und Postkarten
verkaufen wollen. Ich schleuste eine Kamera durch und fotografierte alles, was es gab, jede
Hieroglyphe, jeden Stein, jeden Sarg, einfach alles, jetzt muss ich es nur noch online stellen.
Das blonde Flittchen hatte nicht mitbekommen, dass Kameras absolut verboten waren, sie
erfuhr es erst im Tal hinter den Kontrollen. Man konnte ihr förmlich ansehen, wie viel Angst
sie hatte, erwischt zu werden von den Wächtern, und vor 1000 Pfund Strafe. Sie vergrub ihre
Kamera so tief wie möglich in ihrer olivgrünen Tasche und traute sich nicht mehr reinzulangen. Ich ging zu einem Wächter und sagte ihm heimlich, dass er sie durchsuchen solle. Der
verstand aber kein Deutsch und kein Englisch. Also zeigte ich mit dem Finger auf das blonde
Flittchen, sagte „BOMBA! Ticktack, ticktack, Terroristi!“ und deutete dabei auf meine Tasche,
um zu zeigen, wo die Bombe bzw. die Kamera versteckt war. Der Wächter schrie wie ein Verrückter in sein Walkie-Talkie. Zehn Wächter stürzten sich auf das Flittchen, die aufschrie und
ständig „Sorry!“ rief, während sie auf den Boden gedrückt und mit zehn Kalaschnikows bedroht
wurde. Das Ganze nahm ich natürlich aus sicherer Entfernung auf meiner Kamera auf. Tolles
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Material. Besonders gefällt mir die Stelle, wo ein Wächter Horst eins mit seiner Kalaschnikow
überbrät, als er versucht die Blondie zu retten, und alle schreien und werfen sich vor Schreck
auf den Boden oder laufen weg. Als sich die Situation später beruhigt und geklärt hatte und
die Blondine 1000 Pfund Strafe gezahlt hatte, kam so ein älterer Typ zu mir und fragte mich,
wieso ich in Ägypten sei. Ich sagte, das wüsste ich auch nicht und dass ich diesen Fehler nie
im Leben wiederholen würde. Der schaute irgendwie beleidigt und fing an mir sein Leben zu
erzählen. Er kam aus der DDR und wollte schon sein Leben lang Archäologe werden, aber es
gab damals nur vier Studienplätze im ganzen Land, und als er mir erzählte, er hätte diesen trotz
eines 1,0-Abis nicht bekommen, unterhielt mich plötzlich seine Geschichte, ich wollte mehr
hören von seinem missglückten Leben, das stimmte mich irgendwie glücklich. Zwanzig Jahre
habe er gespart, um sich diese Reise für sich, seine Frau und seinen Sohn leisten zu können,
denn ihn hatte der Wunsch, Archäologe in Ägypten zu werden, nie verlassen, er hatte alle Büche-
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reien in seinem Landkreis was Ägypten betrifft, leergelesen und sogar Hussein oft korrigiert bei
seinen Führungen. Und jetzt war er hier, dem Ort, von dem er am meisten geträumt hatte, den
er in Gedanken schon hundertmal begangen hatte, dem Grab von Tutenchamun. Er hatte eine
kleine analoge Fotokamera hereingeschleust (noch aus der DDR) und bat mich nun ein Foto
von ihm gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn hier am schönsten Ort seines Lebens zu
machen. Und ein gutes, denn es würde das wichtigste Foto seines Lebens werden. Wir warteten
den passenden Moment ab, bis niemand da war, ich nahm die Kamera, positionierte die drei
vor dem Grab, sagte, sie sollten sich mehr ins Zeug legen, es sollte immerhin das beste Foto
werden. Ich sah in die funkelnden Augen des Vaters, den strahlenden Sohn, der fest den Arm
des Vaters umklammerte, und die Frau, die Tränen in den Augen hatte, ich stellte die Blende
auf möglichst dunkel (irgendwas mit 30), die Belichtungszeit auf 1/10000, zoomte auf das T-
Shirt des Sohnes mit dem tanzenden Bären, hielt heimlich das Objektiv mit meinem klebrigen
Zeigefinger zu und drückte ab. Ich empfing viel Dank und verließ das Grab.
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ÄGYPTEN-GESCHICHTE
Protagonist: Anton Schätzinger (48), verheiratet mit Hannelore
Samstag, den 26.06.2010
Das Fenster steht offen, es führt direkt auf den Nil und ist so breit und hoch, dass man leicht
ANNE M.
HILLIGES
hinaussteigen könnte.
Oder herein... Seit einigen Minuten schläft Hanne, doch ich komme wieder einmal nicht zur
Ruhe. Und nun ist auch das sanfte Schaukeln der Wellen nicht mehr da. Wir sind in den Hafen
eingelaufen. In den Hafen von Assuan.
Soll wohl eine nette kleine Stadt sein. Vor dem geöffneten Fenster regt sich etwas. Jemand
schleicht vorbei. Ein Mann, wahrscheinlich einer der Angestellten vom Schiff. Es ist dunkel im
Zimmer, das helle Gegenlicht zeichnet die Umrisse des Mannes scharf nach. Seine Knie sind
auf Höhe der unteren Fensterkante. Es wäre ein Leichtes für ihn einfach einzusteigen, um über
uns herzufallen.
Vorsichtig erhebe ich mich, gehe zu Hannes Bett hinüber und versuche, das Fenster
zuzuziehen. Sie bewegt sich nicht, vielleicht ist ein Stück Vorhang eingeklemmt. Doch ich will
nicht zu fest daran reißen, sonst wacht Hanne womöglich auf. Und das will ich auf keinen Fall
riskieren; ich genieße die freien Minuten ohne sie. Wenn ich nur endlich schlafen könnte!
Kaum sind meine Augen zugefallen, klingelt auch schon das Telefon. Weckruf. Nur dumpf dringen die Telefongeräusche an mein Ohr. Und umso schneller bin ich auf den Beinen.
5.30 Uhr, ich sprinte fast ins Bad. Wenn Hanne zuerst drin ist, komme ich bis heute Nachmittag
nicht mehr unter die Dusche. Mir dreht sich alles, als ich vor dem Spiegel stehe. Ist das eine
Hitze, auch mitten in der Nacht! Seit Tagen funktioniert der Ventilator in unserem Zimmer nicht
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mehr richtig. Als ich unter der Dusche stehe, nehme ich aus Versehen einen kleinen Schluck
Wasser. Oh, welch fataler Fehler! Da rumort mein Bauch auch schon, schlägt fast Purzelbäume,
ein unheimlicher Druck beginnt sich zu entwickeln... Das muss raus! Und zwar schnell! Doch
statt den Wasserhahn zuzudrehen, stelle ihn aus Versehen auf heiß. Raus aus der Wanne, ich
springe auf den Handtuchvorleger. Der rutscht weg und ich komme ins Schwanken. Gerade bevor ich ins Klo zu fallen drohe, erwische ich noch Hannes Aufladekabel für ihre Handy-Cam. Und
reiße die Kamera zu Boden. Wie soll ich meiner Frau erklären, dass ich ihr Lieblingsspielzeug
geschrottet habe? Wobei, wenn ich mir’s recht überlege: Etwas Besseres hätte mir ja gar nicht
passieren können. Endlich wird Hanne wieder Augen für mich haben!
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Beim Frühstück krieg’ ich einfach nichts runter. Mir wird schon bei der Vorstellung von den
trockenen Brötchen und dem weißen, fetten Käse ganz mulmig. Seit gestern esse ich auch
keinen Salat mehr, die Salatblätter bewegen sich ja schon fast, so viele Bakterien bewegen sich
darauf. Und so esse ich vor unserem Ausflug wieder nur die trockenen Brötchen.
Um 6.45 Uhr brechen wir auf. Heute sind wir mit zwei Touristenbussen im Konvoi unterwegs.
Aus Angst vor terroristischen Anschlägen. Die Busse stoppen vor einer Felsenlandschaft; graue,
teilweise scharfkantige Felsblöcke, alle miteinander verbunden. Mal kleinere, mal größere
Steine. Und Hussein, unser Reiseführer, stellt sich wie immer dorthin, wo die ersten heißen
Sonnenstrahlen auftreffen. Er hat ein unglaubliches Talent dafür; während sich die anderen
Reisegruppen in den Schatten verziehen, stehen wir kurze Zeit später mitten im Sonnenschein.
Und dann beginnt Hussein, unser spindeldürrer, alter ägyptischer Reiseführer wieder, sich den
Mund fusselig zu reden. Irgendwann sehe ich nur noch, wie sich sein Mund auf und zu bewegt,
aber ich höre ihn nicht mehr. Er spricht Deutsch in demselben Sprachrhythmus, in dem er auch
Arabisch spricht, hängt überall ein langes „E“ an die Worte. Aus den Augenwinkeln beobachte
ich die Gruppe, gerade hat meine Frau ihre Kamera aus der Hülle genommen und versucht,
nun die ersten Fotos zu schießen. Doch das typische Knipsen ist nicht zu hören. Vielmehr
schaltet sich die Kamera immer wieder aus. Hanne versucht, die Kamera zu benutzen, doch
sofort hört man das Surren beim Ausgehen. Dieses Spiel wiederholt sich einige Male und ich
kann ein Grinsen fast nicht mehr unterdrücken; statt wie üblich wie ferngesteuert zu nicken,
um Hussein in seinem Redeschwall emotional beizustehen, ist sie mit der Kamera beschäftigt. Doch irgendwann kann ich mir das Trauerspiel nicht mehr mit ansehen, denn ganz so
herzlos bin ich nun auch wieder nicht. Sie kann ohnehin nicht die Felsen hinaufklettern wegen
ihrer Knieprobleme. Die Kamera war ihre einzige Beschäftigung. Gerade erzählt Hussein von
dem unfertigen Obelisk, der halb ausgearbeitet in seinem Bett aus Stein liegt. Tatsächlich ist
der Obelisk gigantisch; erinnert irgendwie an einen gestrandeten Wal. Schwer und staubtrocken. Hanne geht schon zurück zum Bus, doch ich will mich bewegen. Ständig ist man auf
dieser Reise eingepfercht. Sowohl auf dem Schiff als auch im Tempel oder im Reisebus. Es gibt
keine Individuen, wir sind nur kleine Lemminge unter einer All-Inclusive-Käseglocke. Und nichts
kommt an uns heran, selbst die nervigen Händler prallen ab. Nach einem Urlaub wie diesem
weiß der Durchschnittstourist wahrscheinlich genauso wenig von Ägypten wie zuvor. Mit großen
Schritten klettere ich jetzt die Felsen hoch, überspringe die Lücken zwischen den Steinen und
fühle mich dabei wie ein kleiner Junge. Am liebsten sitze ich auch heute noch auf dem höchsten Felsen, ganz oben auf der Spitze und genieße die Aussicht. Schon immer liebte ich es, auf
Bäumen und großen Steinen herumzuklettern, besonders nach einem Streit mit meinen Eltern.
Dort saß ich wie ein König und sah sie als Ameisen unter mir.
Nun stehe ich am höchsten Punkt der Steinlandschaft, da berührt mich eine Hand am Oberarm.
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Verdutzt blicke ich mich um. Neben mir steht die hübsche blonde Frau, die mir gleich am ersten
Tag der Reise aufgefallen ist. Doch nun habe ich sie schon ewig nicht mehr gesehen.
„Was tun Sie denn hier? Ich hatte schon den Verdacht, dass sie von Krokodilen gefressen
wurden“, versuche ich zu scherzen, um an unsere letzte Begegnung anzuknüpfen.
„So leicht frisst mich hier niemand – weder die Krokos noch die Muslime“, entgegnet sie.
Was für eine Frau, nach so einer muss man ja verrückt werden. Aber vielleicht wäre mein
Verlangen nach ihr sogar noch größer, wenn sie einen Schleier tragen würde. Ein verborgener
Diamant, wer weiß, vielleicht sind die Frauen unter den Burkas nackt. Wenn das mal nicht sexy
ist! Man sieht nur die Augen und bekommt sofort Lust, mehr zu sehen. Wenn Hanne wüsste,
dass ich so denke, wäre sie sicherlich angewidert. Schon seit Monaten schlafen wir nicht mehr
miteinander. Gestern war so eine Bauchtänzerin bei uns auf dem Schiff – wie die ihre Hüften
geschaukelt hat. Mir wurde vom Zuschauen schon ganz schwindelig!
„Wie wäre es, hätten Sie Lust auf eine Runde Tischtennis und ein Bierchen auf Deck heute
Abend?“, schlage ich der Blonden vor. Ein Augenzwinkern kann ich mir nicht verkneifen.
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Als Nächstes steht eine Bootsfahrt zu einer größeren Tempelanlage an, die sich auf einer Insel befindet. Zu zwanzigst werden wir in kleine Boote gequetscht, die in einer tropischen NilBucht vor Anker liegen. Der Himmel ist strahlend blau und es geht ein angenehmer Wind auf
dem Wasser; alle schweigen andächtig. Dann läuft der Motor an und wir versuchen unser Boot
freizukriegen, denn es ist eingeparkt. Mit einem Knall stößt unser Boot das davor liegende aus
dem Weg. Die altbewährte Rambo-Technik der Ägypter.
Plötzlich heult jemand auf. Dem Schrei folgend, sehe ich eine mitreisende junge Frau, die sich
am Bug sitzend den Finger hält. Sie hat die Augen geschlossen, krümmt sich vor Schmerzen.
Hatte ihren Finger zwischen den Booten, als diese zusammenstießen. Zerquetscht zwischen
zwei schweren Booten mit je 20 Menschen an Bord. Das erinnert mich an die Entrümpelung unserer alten Wohnung, bei der mir ein Nutellaglas auf den Zeh fiel. Damals musste ich sofort ins
Krankenhaus, wo der kaputte Zeh pausenlos gekühlt und anschließend mit einer desinfizierten
Nadel angestochen wurde, damit das gestaute Blut herausfließen konnte. Am liebsten würde
ich jetzt der jungen Frau am Bug zurufen, dass sie die Wunde kühlen muss, um eine Schwellung
zu verhindern. Denn irgendwie reagiert und hilft ihr keiner. Da tätschelt ihr ein junger Mann, der
neben ihr sitzt, den Oberschenkel. Wie mitfühlend. Ist der Typ etwa ihr Freund?! Lange kann sie
ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Zumindest glaube ich das, weil sie ihre Sonnenbrille aufgesetzt und sich umgedreht hat, um aufs Wasser zu schauen. Der Typ lässt sie in der Situation
allein. Ein paar Minuten später beginnt er sogar, Fotos von sich selbst zu machen, er hält die
Kamera mit einer Hand vor sich, grinst wie blöde und drückt dann ab. Ist solchen Leuten denn
gar nicht peinlich, wenn andere sich später die Urlaubsfotos angucken und immer nur sein
Schädel zu sehen ist, der das Bild zu zwei Dritteln ausfüllt? Zumindest fragt er seine Freundin
nicht auch noch, ob sie die Fotos schießen könnte.
Nach einer etwa viertelstündigen Fahrt kommt unser Boot vor einer Insel zum Stehen, auf der
ein weiterer ägyptischer Tempel steht. Der Inseltempel erinnert an die Akropolis in Griechenland und kaum, dass wir dort richtig angekommen sind, zücken unsere „Vorzeige-Touristen“
schon fleißig ihre Kameras und halten auf alles, was irgendwie altertümlich aussieht. Als hätten
sie noch nicht genug Tempelanlagen in diesem Urlaub geknipst. Alle fotografieren. Bis auf mich.
Und natürlich Hanne, die ohne ihre Kamera recht verloren dasteht.
Irgendwie gibt es hier ja doch ganz nette Motive. Viele blühende Sträucher, das hellblaue Meer,
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die Touristenschiffe, die wie Nussschalen um die Felsbrocken im Wasser schippern, uralte
Tempelsteine, Säulen, durch die Sonnenstrahlen fallen und Hieroglyphen. Plötzlich kann ich
mir nichts Schöneres mehr vorstellen, als hier zu fotografieren! Im Kopf male ich mir bereits die
Fotos detailliert aus. Doch Hannes Apparat funktioniert ja nicht mehr. Also mache ich mich von
der Gruppe los, höre Husseins Vortrag nicht mehr.
Zwischen den Tempelsäulen sitzen Ägypter in langen traditionellen Gewändern. Sie wollen von
den Touristen fotografiert werden, damit sie Geld bekommen. Wenn sie sehen, dass sie jemand
heimlich fotografiert, werden sie aggressiv. Denn sie wollen Geld. Fotos für umsonst gibt es
nicht.
Ich schlendere durch die Gänge, hier ist es angenehm kühl und erfrischend, aber die Touristenmassen nerven. Ständig steht jemand vor meiner Nase, sodass ich mir die Zeichen an den
Wänden nicht anschauen kann. Doch dann entdecke ich meine Lieblingshieroglyphe wieder:
Ein komisches Ding mit vier Schmetterlingsflügeln und vier dünnen Beinchen, die an die Beine
eines Säugetiers erinnern. Es ist eine Mischung aus Nagetier, Vogel und Insekt. Wenn ich es nur
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fotografieren könnte, dann könnte ich zuhause seine Bedeutung nachschlagen.
Da springt plötzlich die blonde Frau hinter einer Säule hervor, puh, die kann einen echt erschrecken.
„Sie Angsthase“, sagt sie und lacht mich an. Ihre Augen funkeln hämisch. Ob ich auch auf Erkundungstour wäre, um ein paar Fotos zu schießen? Nein, gestehe ich, ich würde leider keine
Kamera besitzen und die Kamera meiner Frau hätte heute Morgen aus Versehen Schaden
genommen.
„Das ist aber traurig, denn ihre Frau liebt doch das Fotografieren so“, meint die junge Frau.
„Vielleicht manchmal ein bisschen zu sehr“, entgegne ich.
„Das hat meinen Freund früher auch immer sehr gestört, aber dann hab ich ihm meine Kamera
überlassen, als ich mir eine neue gekauft habe. Und mittlerweile macht er eine Ausbildung zum
Fotografen.“
Sie lächelt ihr Strahle-Lächeln.
„Wenn Sie wollen, nehmen Sie heute mal meine Kamera. Probieren Sie ruhig ein bisschen
damit rum.“
Die blonde Frau drückt mir ihre Spiegelreflexkamera in die Hand. Und bevor ich protestieren
kann, ist sie wieder verschwunden.
Also ziehe ich los, um mich zum ersten Mal in meinem Leben wie ein typischer Tourist zu verhalten, bewaffnet mit einem Fotoapparat.
Als wir abends zum Boot zurückkommen, ist es bereits dunkel und Hanne ist so müde, dass sie
sich nach dem Abendessen schlafen legt. Eigentlich könnte ich mich jetzt mit der blonden Frau
treffen, um ihr die Fotokamera wiederzugeben und zu sehen, was der Abend für mich sonst
noch bereithält. Doch irgendwie will ich das nun nicht mehr. Ich war noch nie ein großer Fan von
Affären und Hanne ist heute die letzte Person, die ich betrügen wollen würde.
Und so treibt es mich stattdessen vom Schiff, in die belebten Straßen der Stadt. Schließlich ist
dies die letzte Gelegenheit, Assuan zu besichtigen, bevor wir heute Nacht um 3 Uhr wieder ablegen und zurück nach Luxor fahren. Auf meinem Spaziergang treffe ich verschleierte Frauen,
die mit ihren Freundinnen um die Häuser ziehen und ihre Töchter dabeihaben, die wie kleine
Prinzessinnen gekleidet sind. Ich lächele die Frauen an, doch sie weichen meinem Blick aus
oder kichern, wenn sie meinem Blick begegnen. Innerlich freue ich mich über die Aufmerksamkeit, schließlich gefallen sie mir.
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In einem Park setze ich mich an einen Tisch und beobachte die Gruppen, die mitten in der
Nacht Picknick machen. Frauen und Männer mischen sich nicht, jede Gruppe scheint auf ihre
Art zufrieden zu sein. In der Nähe läuft arabische Popmusik, und plötzlich weiß ich, dass diese Reise ein wunderbares Geschenk ist. Und dass ich Hanne zu ihrem Geburtstag eine neue
Kamera schenken werde. Vielleicht lässt sie mich dann ja auch ab und zu Fotos damit schießen.
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DIE GEDANKENFETZEN DER KIM „ROCKY“ S
(Damals, 14 Jahre jung.)
Es ist lange her, vieles ist verschwommen, vieles verschwunden, aber manche Details werde
ich nie mehr vergessen.
DAVID
ONUORA
Die ersten Strahlen der ägyptischen Morgensonne drangen durch die Gardine meiner Kabine.
Es muss der fünfte oder sechste Tag gewesen sein, denn an den allmorgendlichen Weckruf der
Rezeption hatte ich mich bereits gewöhnt. Reflexartig und mit geschlossenen Augen brachte
ich den Telefonapparat zum Schweigen. Etwa zehn Minuten später öffneten sich meine Augen
dann von selbst. Eine Wahl hatte ich sowieso nicht. Weitere zehn Minuten später stünde eine
Stoßtrupp der Schiffsbesatzung vor meiner Tür, um mich schlaftrunken zum Frühstücksbuffet
zu zerren. Ich stand also auf. Und wie jeden morgen widmete ich meinen ersten Blick dem
dicken Wesen auf dem Bett neben mir.
Als einzige meiner Klasse wurde ich mit einer fremden Touristin in eine Kabine gesteckt. Eine
ältere Dame aus der Profi-Pauschalreise-Liga. Ihr sechster Trip „auf’m Nil“. Glücklich war sie,
dass Sie all die Ruinen, Tempel und Gräber schon besichtigt hatte. Während also der Großteil
der Passagiere an den Ausflügen teilnahm, machte sie es sich Tag für Tag auf dem Sonnendeck
gemütlich und sah ihrer Haut beim Altern zu.
Um meiner Außenseiterrolle gerecht zu werden, sprach ich seit Beginn unserer Klassenfahrt
nur in Ausnahmefällen mit meinen Mitschülerinnen. Nicht, dass es jemandem aufgefallen
wäre. Anders als ich waren die meisten meiner Mitschülerinnen mit akuten Hormonschwan-
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kungen beschäftigt. Ein Phänomen, welches glücklicherweise an mir vorüberzog.
Also stand ich auf und schleppte mich träge in das kompakte Badezimmer. Hier konnte man,
wenn man wollte, mit minimalem körperlichem Aufwand sämtliche sanitären Geschäfte erledigen. Dem beißenden Chlorgeruch, der aus allen Ecken strömte, konnte ich immer noch nichts
abgewinnen, weshalb sich der Waschvorgang meist auf das Nötigste reduzierte. Ich bemühte
mich, nicht allzu laut zu sein. Primär, weil ich Laura, den circa sechzig Jahre alten Schnarchsack, nicht aus dem wohlverdienten Schlaf reißen wollte. Sie hatte die seltsame Eigenschaft,
ihre eigenen Schnarchgeräusche mit gelegentlichen Furztönen zu kommentieren. Für mich natürlich, damals wie heute, ein soziales K.o.-Kriterium. Unter anderen Umständen wären wir
vielleicht best friends geworden. Wahrscheinlich aber eher nicht.
Jedes Mal, wenn sie ihren kugelrunden Körper in den trägerlosen Badeanzug drängte, fragte
sie mich, ob ich nicht auch Lust hätte, mit in den Pool zu hüpfen. Man sollte meinen, meine Einstellung zur freien Körperschau und dem chlorhaltigen Bakteriensumpf auf dem Sonnendeck
wäre ihr mittlerweile klar geworden. Aber sie gab einfach nicht auf.
Die Kleiderwahl beschränkte sich an diesem Tag, wie für mich damals üblich, auf schwarze
Hose, schwarzes T-Shirt. Passend zu den schwarzen Haaren und den schwarzen Fingernägeln.
„Bei so viel Ignoranz kann die Sonne einpacken!“ Laura kam mit meinem Style ganz gut klar,
zumindest sprach sie das Thema nie an.
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An besagtem Tag stand nur ein Ausflug auf dem Programm. Ein Tempelbesuch in Esna, Esana
oder Esnara. Die Klasse sammelte sich zögerlich in der Lobby des Möchtegern-Traumschiffs.
Als die Herde dann beisammen war, stampften wir versammelt, ich als letzte, von Bord. Kaum
hatte ich die wohlklimatisierten Innenräume verlassen, schlug mir eine humide Hitzewand ins
Gesicht. Die anderen Gäste waren den Temperaturwechsel bereits gewohnt, aber da ich das
Sonnendeck nur am ersten Tag der Kreuzfahrt kurz betreten hatte, war mein Körper immer
noch auf deutsche Temperaturen geeicht. Nach etwa 100 Metern Fußweg spürte ich dann
auch schon, wie die Schweißteppiche unter meinen Achseln schwerer wurden. Dass uns dieses
Mal (das einzige Mal) kein Bus abholte, wurde mir auch dann erst bewusst. Auch wenn der
Tempel nur etwa 500 Meter vom Ufer entfernt lag, war jeder Schritt eine Qual. Der Weg führte
kerzengerade durch einen kleinen Bazar, auf dem die meisten Geschäfte glücklicherweise geschlossen waren. Die Straße und die Gebäude waren heruntergekommen. Mehr als in irgendeinem anderen Ort, den wir bisher besucht hatten. Am Tempel angekommen, bestätigte sich
die bittere Vorahnung: Der pharaonische Schlammklotz sah genau so aus, wie alle anderen
Tempel zuvor. Und so kam es, dass ich, nicht zuletzt aufgrund der quälend unverständlichen
Aussprache unseres Reiseführers Samir, die Flucht ergriff. In hastigen Schritten lief ich zum
Boot. Mein Verschwinden blieb scheinbar unbemerkt.
Alleine kamen mir die 500 Meter zurück zum Boot wesentlich länger vor. Heißer war es plötzlich
auch. Natürlich ließ ich mir von meinem erhöhten Puls nichts anmerken und die Zurufe der
Verkäufer blendete ich schon fast automatisch aus.
Auf dem Schiff angekommen, verkroch ich mich dann direkt in die frostige Kabine. Mein durchgeschwitztes T-Shirt wurde innerhalb weniger Sekunden zum Eisklotz. Da lag ich nun in meinem
Bett. Regungslos an die Decke starrend. Dann begann mein Blick zu wandern. Auf der einen
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Seite war durch das Fenster direkt die nächste Kreuzfahrtlinie zu sehen, auf der anderen Seite
an der Wand hing die hässliche Zeichnung eines ägyptischen Bazars von C. Werner aus dem
Jahre 1877. Wer auch immer C. Werner war, einen ägyptischen Bazar hatte er wohl noch nie
von Nahem gesehen. Nach einer Stunde rumliegen verging mir die Lust. Auch mein Walkman
gab nach drei Tagen Dauereinsatz den Geist auf. Zum ersten Mal während der gesamten Reise
zog ich in Erwägung, freiwillig das Sonnendeck zu betreten. Hin und her gerissen zwischen unmenschlichen Temperaturen auf der einen und der tödlichen Langeweile auf der anderen Seite,
entschied ich mich tatsächlich für das Sonnendeck.
Erneut stellte sich die Frage der Kleiderwahl. Dieses Mal sollte ich das Sonnendeck für mich
alleine haben. Die meisten Gäste mussten zu diesem Zeitpunkt immer noch im Tempel Fotos
knipsen. Ausnahmsweise wählte ich eine kurze Hose und ein ärmelloses Top. Schwarz.
Ich machte mich auf den Weg. Die Treppen waren endlos lang. Herzklopfen. Mit strahlend
weißer Haut und natürlich ohne jeden Sonnenschutz erreichte ich das Deck. Trotz der sommerlichen Kleidung konnte ich es nur wenige Minuten in der Sonne aushalten. Im Schatten legte
ich mich dann auf eine der zum Wasser gerichteten Liegen und betrachtete ein paar herrenlose
Esel, die auf der anderen Uferseite herumflanierten. Die Hitze ließ sich gerade so aushalten und
nach wenigen Minuten war ich weg. Sonnendeck-Koma.
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Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist ein Tischtennisball, der wohl über das halbe
Deck geflogen und direkt auf meiner Stirn gelandet sein muss. Jedenfalls wurde ich unsanft
aus dem Schlaf gerissen. Ein Junge, ungefähr 16, stand plötzlich vor mir und griff verschämt
unter meinen Arm, um an den Ball zu kommen. Mit gerunzelter Stirn, zugekniffenen Augen und
nach unten gezogenen Mundwinkeln kam ich ihm zuvor und warf den Ball in Richtung Tischtennisplatte. Unbeeindruckt wandte er sich daraufhin ab und ging zu seinem Gegenspieler, einem
dickbäuchigen Mann Mitte 30, der definitiv zu viel Zeit in der Mittagssonne verbracht hatte und
ständig seine eigenen Spielzüge kommentierte. Quasi ein Idiot.
Jedenfalls hatte die Sonne bereits stark die Position gewechselt und ich lag bestimmt schon
eine Weile nicht mehr im Schatten. Ein gewisses Brennen auf der Haut konnte ich nicht leugnen. Betont lässig suchte ich mir einen Platz im Schatten, auf einem Barhocker. Ich beobachtete die zwei beim Tischtennisspiel. Bis auf uns drei war das Deck noch immer menschenleer.
Als ich langsam aus der Traumwelt zurückkehrte, fiel mir dann auch der leuchtend rote Glanz
meiner Arme auf. Der Schmerz rückte langsam nach.
Es stand 16 zu 14 für den 16-jährigen Jungen und der lederhäutige Dickbauchmann schien
sichtlich frustriert. Die Kommentare wurden weniger. Unauffällig musterte ich den Jungen vom
Tresen aus. Er war schlank und groß gewachsen. Seine Haut war gleichmäßig braun und seine
schwarzen Haare wuchsen ihm wild um Ohren und Nacken. Er hatte starke, elegante Gesichtszüge und einen treuen, selbstbewussten Blick. Häuptling Dickbauch war er durch sein präzises
Spiel überlegen und er reagierte auf dessen Sprüche nur durch das dezente Pfeifen von Popsongs.
Irgendwann gab der dicke Toast dann endlich auf und verzog sich kommentarlos unter Deck.
Der Junge stand alleine vor der Tischtennisplatte und begann nach einer Weile den Ball mit
zwei Schlägern zwischen der linken und rechten Hand hin- und herzuspielen. Dabei bewegte er
sich langsam und über Umwege immer mehr in meine Richtung. Mein Blick war während seines
Heranpirschens stets auf das Wasser gerichtet.
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Dann kullerte der Ball unter meinen Stuhl und der Junge stand in meinem Blickfeld. Quasi
direkt vor meiner Nase. Er lächelte und sah mir tief in die Augen. Ich muss irgendeine Grimasse
gemacht haben, denn er begann mich nachzuäffen. Er verzog die Augenbrauen. Er streckte mir
die Zunge raus. Dann stand er nur noch regungslos da und schaute mich an. Plötzlich, aus dem
Nichts, gab er mir einen Kuss. Auf den Mund. Ich war versteinert. Komplett überfordert.
Im gleichen Augenblick stürmte Frau Steiner, meine Erdkundelehrerin, durch die Tür aufs Deck
und sah sich hektisch um. Ihr Blick blieb auf uns beiden stehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Hinter ihr die Schiffscrew und einige meiner unliebsamen Klassenkameraden. Mein Blick
wandte sich zurück zu dem Jungen, der mich immer noch anstrahlte.
Dann war alles schwarz.
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LAURA BELMONTE IM LAND DES GRÜNEN SKARABÄUS
Die Nachtstunden waren kurz, zu kurz, Wecker, was? Telefon. Bin nicht zuhause. Kann es nicht
hören. Muss es hören. Muss es hören! Kann es nicht überhören. Einmal wach, keine Chance
JAN
LINNARTZ
mehr einzuschlafen. Verfluche den Tag als solchen.
Ich bin zu spät; zu spät. Liegt mir nicht. Muss mich beeilen. Gruppe um Gruppe, Mann um
Mann. Dann auch Frau um Frau, wo sind wir denn hier?
Wartezeit. Merde. Laura fehlt und muss fehlen. Stopfe zwei Toasts und eine Tasse billigen
Kaffee in mich hinein. Zack, zack, la puta vieja, que quieres pendejo?
Bushaltestelle. Anlegeplatz für die zweite Heimat in diesem Land; come in and look out. Nicht
mein Ding. Widerwillen. Ich ziehe das Los. Die Neunzehn. Schnell, schnell, einreihen in die
Ameisenstraße der Schaulustigen, angleichen, möglichst keine Ecken und Kanten zeigen.
Rausfällt, wer auffällt.
Stelle mir das napoleonische Himmelbett als angenehmen Kontrast vor. Natürlich ganz in
Blau, Königsblau. Königssee. Angenehme Frische, die Alpenkämme spaltend. Trompetenstöße
schallen mit ihrem Echo zwischen den Steilwänden.
Hussein, der geschäftstüchtige Reiseguru, weckt mich aus meinen Träumen: „Rosen’e Granit’e
Stein’e Bruch’e“, irgendwas mit „Gathedralen“, „Elefantinen“ und ’ner Menge Nubier. Ein Friedhof. Gleich einem Schrottplatz, nicht des Schrottes, vielmehr der chaotischen Ordnung wegen,
die sich hieraus ergibt.
Wünsche mir Kaffee. Und zwar den guten. Aus der Zanzibar Espressokanne, viel Milch, viel
Zucker. Darin könnte ich baden wie Kleopatra in Milch und Honig. Honigmilch. Der Obelisk. Der
Obelix, Riesen-Hinkelstein-Sortiment, bereit zum Export.
Suche nach Sandstreifen, die den Stein durchschneiden wie die sanfte Marmorierung ein gutes
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Stück Fleisch.
Hier jedoch: Qualitätsverlust bis hin zum Totalschaden.
Ägypten hatte Gold, viel Gold sogar. Dann war da Holland. Und die Holländer. Die feine Gesellschaft der Holländer verlangte nach Gold. Gold hatte Ägypten. Also musste der Holländer nur
nach Ägypten fahren und das Gold holen. Das taten sie. Auch heute noch. Eine halbe Tonne
fördern sie pro Jahr. Yassir, Yusuf, Ahmed & Co KG dürfen wenigstens mithelfen. Ist ja schließlich ihr Land.
Abschätzender Blick auf den Obelisken. Gibt so einen auf der Nueve de Julio. Ist in Buenos
Aires. Buenos. Recoletta. San Telmo. Boca. Riquelme. Chimichuri. Messi. Demichelis. Mano
de dios. Passende Shirts: „Papa es aleman pero dios es argentino!“ Ära Ratzinger. Da hatten die Katholiken noch keine Probleme. Keine weltlichen jedenfalls. In Argentinien wird ein
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Wohnblock „la manzana“ genannt, der Apfel. Warum dieses Bild? Eine Schale, ein Kern oder
Gehäuse. Merkwürdig.
Wasser, sprengen, Baumstämme, rollen...
Bin wieder in Ägypten. Bin wieder hier, war nie wirklich fort. Flintstones. Jabadabaduuu.
Wir dürfen die Steine nun fotografieren. Das darf ich zuhause niemandem erzählen. Oder vielleicht doch? Als Pointe der Reise? Drücke gleichgültig ein Dutzend Mal ab. Ziehe halbwegs
ernüchtert Richtung Ausgang, Richtung Händler, Richtung Hölle, Inferno. Uro links, Uro rechts.
Ein-Euro-Mentalität wie bei McDonald’s. Tunnelblick, Scheuklappen. Augen zu und durch. Natürlich nicht ganz zu. Will nicht zwischen Postkartenstapeln und Anubis-Statuen hängenbleiben.
„Sexy, sexy.“ Schmatz, schmatz. Blicke einen durch die sepiafarbenen Gläser meiner Sonnenbrille an. „Du hast so schöne Augen, Frau.“
Bin schwer enttäuscht, ziehe mein Halstuch zurecht, um ja nicht zuviel Haut zu zeigen, wähle
den kürzesten Weg durch den Moloch und betrete den Bus. Die Hitze drückt auch hier. Will die
Klimaanlage über mir starten, kann jedoch nur einen Stop-Knopf finden.
Insel-Tempel
Blabla Daten, bla Fakten, bla; mache es mir einfach, höre nicht hin. Nehme mir jedoch fest
vor, zuhause das Lexikon zu befragen. Hat noch nie funktioniert. Säulen im Vatikan. Schweizer
Garde steht still wie Säulen. Säulenschützer, Salzsäulen, Rosen’e’granit’e...
Würde mich über den Staudamm freuen, fahre aus Höflichkeit auch noch mit auf den gefühlten
x-ten Tempel, diesmal auf einer Insel, in einem See, in einem Land, auf einem Kontinent usw....
Basta!
Einer Mitreisenden wird beinahe der Ringfinger zwischen zwei Booten zerquetscht. Ihr Kerl, ein
Macho – Arschloch vor dem Herrn – beschließt daraufhin, Selbstportraits zu schießen, während
andere Passagiere sich um seine enttäuscht blickende Freundin kümmern. Man (bis auf ihn
natürlich) merkt ihr deutlich an, dass sie sich nach dieser Reise von ihm trennen wird. Bene,
ragazza, bene!
Passieren auf der Insel ausnahmslos die unbesetzte Sicherheitsschranke. Eine piepende Sinfonie, getragen von ihrer eigenen Nutzlosigkeit.
Piepe mit, gehe durch und stehe mal wieder in einem Tempel!
Lasse mich gar nicht erst von unserem Reiseführer aufhalten. Entdecke zwei spanische Zwillingsschwestern, von Kopf bis Fuß einheitlich gekleidet. Ich muss schmunzeln. Ein ausgemergelter Kater streicht uns schreiend um die Beine. Schreie stumm zurück. Hilde läuft gerade mit
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mir die Tempelmauer entlang, als ein Sicherheitsmann ein paar Brocken Deutsch von uns auffängt. Er deutet grinsend auf sein Maschinengewehr der Marke Heckler & Koch und fügt hinzu:
„Is good. German, good!“ Finde das allgemein schwierig und kehre ihm den Rücken zu. Merke
beim Herumwandern in der Hitze, dass ich nicht mehr zwanzig bin. Überall stehen einzelne,
verlorene Touristengruppen, die wirken, als müssten sie krampfhaft etwas entdecken.
Napoleonische Truppen haben während ihrer Besatzung Ägyptens eigene Phrasen neben die
Hieroglyphen in die Tempelmauern gesetzt. Stelle mir den schirmbemützten Jungsoldaten vor,
der dies vielleicht als Strafdienst bewerkstelligen musste.
Nasser Staudamm
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Mich haben industrielle Großprojekte von klein auf fasziniert. Erst wenige Jahre zuvor habe
ich mir einen ähnlich großen Staudamm in Paraguay angesehen. Man kann sich also meine
Enttäuschung vorstellen, als ich höre, dass wir auf dem für mich vermeintlichen Höhepunkt
der Reise ganze 15 Minuten auf einem kleinen Parkplatz eingeräumt bekommen. Mache 17
Minuten daraus und versuche die Zeit für mich bestmöglich zu nutzen. Genieße den Ausblick
auf das technische Wunderwerk und den angrenzenden Stausee. Entdecke beim Einsteigen
die versteckte Info-Tafel, die ich mir gerne angesehen hätte. Hussein kündigt uns den Besuch
einer wundervollen Parfümfabrik an, „wo man’e kann’e auch kaufen’e fur gunstig’e.“ Die Revolte bricht aus, Streik! Nach erfolgreichen Verhandlungen dürfen wir bereits in Richtung Schiff.
Wer will, guckt Parfüm. Hilde will. Ich nicht. Hilde kommt zurück und hat sich erwartungsgemäß
ein Fläschchen Anti-Schnarch-Mittel für ihren Mann andrehen und sich fachgerecht übers Ohr
hauen lassen.
Boot, Kabine
Falle erst einmal in tiefen, losgelösten Schlaf. Träume von einer europäischen Touristin, die in
einem thailändischen Dorf mit einem Soldaten in Streit gerät. Der Soldat prügelt sie zur Strafe
brutal nieder, während sie die anderen Soldaten festhalten. Wache schweißgebadet auf und
muss jetzt dringend an die frische Luft.
Assuan Stadt
Besuch einer Moschee. Eine Teilnehmerin hat Hosen bis kurz unters Knie. Ein besonders
gläubiger Moslem wirft uns beim Hinausgehen einen Blick zu, streift sie, bleibt bei ihr hängen
und Hass und Begierde mischen sich in einem mir bis dahin unbekannten Verhältnis.
Ramadanallahallahdannundwann.
Draußen grinsen mich zwei Jungens an. Grinse möglichst dämlich zurück. Darauf gehen zwei
Händchen auf und „Bakshish, bagshish“ schallt mir um die Ohren. Drücke entnervt den Bengeln ein Pfund in die Pratzen und steige wieder ein.
Koptische Kirche. Kitschkirche. Kitschklickklick. Ein Plastik-Jesus an der Kuppeldecke, der ge-
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nauso gut das Schultertattoo eines Knackis sein könnte. Die Kirche strahlt in Dottergelb, werde
verleitet zur Frage: „Henne oder Ei?“
Die Diaspora im heiligen Land, finanziert durch minderheitliche ägyptische Amerikaner im
amerikanischen Minderheitsindianerland. Das Kreuz mit Sonnenscheibe als Refinanzierungsbestseller im angehörigen Kirchenshop. Kitsch und Religion, Hand in Hand, Bein an Bein.
Kaufe auf der Straße eine Stange Marlboro. Handle einen fairen Preis aus, gebe einen großen
Schein und bekomme viel zu wenig Kleines zurück. Zeige dem Kerl, was es heißt, sich mit Laura
Belmonte anzulegen.
Reiße die Stange sofort auf und schüttle den Inhalt vor Hildes verblüfften Augen auf die Straße.
Mein Patenkind kaufte sich in Hongkong ein neues Autoradio. Als er sich eines schönen Sonntagnachmittags mit Freunden traf, um das Gerät einzubauen, rieselte nur Mehl aus der geöffneten Packung. Erfahrung macht misstrauisch!
Ein einäugiger, zahnloser Araber will uns zu einem verdächtig günstigen Preis zum Schiff
zurückkutschieren. Hilde zögert bereits, doch ich packe sie am Arm und zerre sie von der furchteinflößenden Nervensäge fort!
„Nix fahren. Andiamo by Fuß!“
Ziehe mich in meine Kabine zurück, reflektiere, setze mich hin und schreibe diesen Text.
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Es klopft an der Tür. Eine aufgeregte, angespannte Svenja steht vor mir. Sie ist ein sehr sympathisches, eher unscheinbares junges Mädchen aus unserer Gruppe. Sie bittet mich, sie unbedingt auf die Kapitänsbrücke zu begleiten. Mehr will sie nicht verraten. Versuche gerne ihr zu
helfen. Muss los, bis morgen, liebes Tagebuch!
Ciao!
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HORSTS FEUCHTJEBIET
Also, dat muss ich erzählen. Wie ich in Äjypten jewesen bin. Kannste dat überhaupt sehen
Äjypten oder jehört dat diesem Allah? Na ja, is ja auch ejal, super Jeschichte jedenfalls.
Also. Heiß isset jewesen. Scheiße heiß. Ich hatte Dünnschiss ohne Ende, weißte. Schon bevor ich ins Fluchzeuch jestiegen bin. Meine Haut is irjendwann volljewesen mit roten, fetten
Pickeln. Überall, wo auch nur nen bissken Sonne draufjepisst hat. Vor allem auf meinem Schä-
MADELEINE
FRICKE
del hat sie sich ausjelassen. Da hab ich echt jeden Tach jedacht, ich verreck. Irjendwann hab
ich mir so nen Kleid jekauft, so wie die dat alle trajen und so nen Araber-Schal für den Kopp.
Dann die janzen Schwuchtel-Araber da. Kaum nen Weib auffer Straße. Die Männer halten
Händchen und küssen sich und tatschen sich andauernd an. Dat sollte mit dem Tod bestraft
werden, sollte dat! Da sind wir uns ja einich, du! Und wenn dann mal Weiber auffer Straße sind,
dann sieht man nur nen schwarzen Kleidersack mit Aujen rumkriechen. Weißte, keine Titten,
keine Ärsche. Nee, dat is nichts für mich. Ob die jetzt ne Hackfresse hat. Nee, von Ekel-Beißern
will ich mir meinen Schwanz nicht lutschen lassen. Et heißt – jeile – Fresse auf für Kobraspiele!
Wat mich jerettet hat, sind die Weiber auffem Schiff jewesen.
Diese Pamela. Und wenn ich Pamela saje, dann meine ich dat auch. Also dat war nich der ihr
Name. Nen kleiner Porno-Engel war dat, du! Erst hab ich ja jedacht, ich bin tot und dat is dat
Paradies und die Pamela is meine Eva. Wie so ne Erscheinung. Jeleuchtet hat die. Blondet
wallendet Haar. Weißer Bikini. Blutjung. Die schönsten Titten der Welt. Ein Ärschken, du! Von
sowat hab ich nie zu träumen jewagt. Da hab ich jedacht, da will mich doch einer in Versuchung
führen! Haste aber nicht jeschafft, du! Dat is am ersten Tach auffem Sonnendeck jewesen, die
Sonnenpickel sind noch nich dajewesen und da bin ich eben jrade aufjewacht vonner Siesta!
Weißte, jibbet da auch. Ich hätte schwören können, ich bin tot, wenn da nich meine Blähungen
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jewesen wären und dat Brennen im Arsch, als ich jemerkt habe, dat ich mir im Schlaf mein
schönet Leoparden-Badehösken volljekackt hab.
Da hab ich von Laura jeträumt jehabt. Laura Belmonte, dat is so ne alte Donna jewesen, janz
jeil von meinem Zijarrenrauch. Altherrenjeruch, sach ich bloß! Da hab ich jeträumt, dat die
Laura und ich ordentlich ficken, ne! Und dann kackt die mich voll. Und ich denk erst: „Alte, hackt
et!?“, aber dann hab ich sie irjendwie auch volljeschissen. Sie ist drauf abjefahren, du! Und ich
dann auch! Aber sowat von! Wir haben uns inner Scheiße jewälzt, uns überall einjeschmiert
damit, dat wir aussahen wie Nejer. Nejerfick. Dat hat mich so anjemacht, da hab ich inner Nacht
der Laura meinen Dünnschiss unter die Türklinke jerieben. Hab jehofft, sie steicht drauf ein und
et wird wahr! Isset leider nich. Aber jut, der Traum is mir jeblieben. Die Laura erinnert mich an
Mutti. Auch wenn sie janz andert aussieht. Aber dieset Jrundjefühl. Und die riechen jleich, die
beiden.
112
Und dann is die Svenja auffem Schiff jewesen. Wie die dahin jekommen is und ich eben auch,
dat muss Schicksal sein, hab ich mir jedacht. Die arbeitet ja bei mir im Reisebüro. Hab versucht, den Chef nich raushängen zu lassen und dat Wort „Arbeit“ jar nich erst in den Mund zu
nehmen, um sie nich abzuschrecken. Die Svenja is ja ne janz feine und würd nie wat mit ihrem
Chef anfangen. Also dat hat sie mir auf jeden Fall detöfteren klar jemacht, dat die nichts von mir
will. Also Freundschaftsschiene jefahren. Und tatsächlich. Einmal hat sie sojar Tischtennis mit
mir jespielt! Bei der Bullenhitze war die trotzdem komplett schwarz anjezojen – ich in meinem
Leopardenhösken, verbrannt und voller Hitzepickel im Schatten. Als würd sie sich selber für
irjendwat bestrafen wollen. Tischtennis, dat is ja eijentlich mein Spocht, aber ... wat tut man
nich allet. Also freiwillig verloren, dat die Svenja sich ab und zu bücken muss. Lecker!
In der letzten Nacht hab ich aber jeträumt, dat die Svenja und ich zusammen sind und dat ich
so richtig verliebt bin. Sowat hab ich noch nie jeträumt. Verliebt sein. Komisch, na wat sollet.
Auf jeden Fall lajen wir zusammen auffem Sofa zu Hause in Wanne-Eickel und haben jekuschelt
und über Äjypten jeredet. Da hat die Svenja erzählt, dattet richtig schlimm für sie jewesen is.
Wejen den Männern, den ägyptischen und auch diesem Ole und dem Ölbersch, dat die sich verhalten haben wie Affen im Streichelzoo. Dat die sich jefühlt hat wie ein Stück Fleisch, und dat,
obwohl sie ja nich wirklich viel zeicht von ihrem jeilen Körper. Dat die sich irjendwie kopfjefickt
jefühlt hat. Weil anjefasst haben die die Svenja ja nicht. Oder sowat ählichet hat sie da jedenfalls erzählt. Und dat die so froh jewesen is, dat ich dajewesen bin und sie behandelt habe, wie
man Frauen eben behandelt. Mit Respekt, weißte. Und dat hat mir irjendwie wehjetan, weil
Ölbersch, Ole und ich uns ja so super verstanden haben und die einfach mein Mädchen anjemacht haben. Dieset Jefühl hat den janzen Tach anjehalten und auch dieset Jefühl irjendwie für
die Svenja und dat hat mir Angst jemacht irjendwie.
Der Ole und ich, wir haben uns dann besoffen am letzten Abend auffem Schiff in dem Teeraum
mit Stella-Bier und allem. Und der Ole hat irjendwat jeredet vonwejen wenn Transen schon
Titten haben, aber noch ihren Schwanz, dann können die sich selber die Titten ficken. Dat fand
ich total ekelig und da hat der Ole jesacht, ich muss mal wat von der Welt sehen, rausjehn und
erleben, spontan sein und sowat, wieder jung sein, meinen Jelüsten nachjehn. Und irjendwie
sind wir dann nackt im Pool jelandet und haben Arschbombenwettstreit jemacht. Und dann hab
ich irjendwann am Beckenrand jelejen. Arsch noch im Wasser, weißte. Aber Arme halt draußen
und hab mir den Vollmond anjesehen und daran jedacht, wie ich Svenja meine Jefühle jestehen
kann und wollte jrade ansetzen und den Ole frajen, wie der dat früher bei seiner Erika jemacht
hat. Da isset passiert. Der Ole, die schwule hinterfotzije Sau hat mir in den Arsch jefickt. Dat
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war dat Ekelhafteste, wat ich in meinem janzen Leben erlebt habe. Dat hat sich anjefühlt, als
würd ich rückwärts kacken! Ich bin aufjehechtet, aussem Pool jesprungen und jerannt, einfach
nur jerannt und hab dem Ole noch zujeschrien, dat er ne Scheißschwuchtel is. Und dann bin ich
irjendwie jestolpert oder ausjerutscht oder so. Und dann schwarz. Und jetzt hier. Die Pamela
hab ich noch nicht jesehen.
Dat ich den Ole Schwuchtelsau jenannt hab, tut mir leid. Jetzt isset ja zu spät und nen Kumpel
is er ja schon jewesen. Ich hoff, ich hab ihm wenigstens helfen können mit seinem Schwuchtelsein, dat der jetzt weiß, wat er will und so. Und vielleicht muss er sich jetzt nicht mehr an
seinen Kumpels reiben, sondern kann dat mit Leuten machen, die dat auch wollen. Die Araber
zum Beispiel.
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RONNY
Als das Telefon klingelte, hatte ich keinen Plan, wo ich war beziehungsweise wusste nicht, in
wessen Bett ich mich befand. Ich tastete mit der Hand nach meinem Handy, ohne den rest-
KAROLIN
WANGER
lichen Körper zu bewegen – die Augen ließ ich geschlossen, um die nackte Mieze, die sich in
meinem Traum gerade auf meinem Schoß rieb, nicht zu verscheuchen.
„Wo hackt der BH?“, grummelte ich in den Hörer. Am anderen Ende war nur ein Tuten zu hören, während das Telefon weiterklingelte. „Was, zum Klabautermann?“ Ich öffnete die Augen
nur einen Spalt weit und entdeckte ein Telefon neben dem Nachtisch. Ich nahm den Hörer ab.
„Gute Morgen, Sir – Frühstück gibt es in halbe Stunde um 7 Uhr 30. Der Bus zum heutigen
Ausflugsziel ‚Der unfertig Obelisken’ fährt um 8 Uhr 30. Ich wunsch ihnen eine gute Tag.“ Wat?
Frühstück? Bus? Obelix? Schlagartig wurde mir klar, dass ich mich nicht im Bett von irgend so
einer Nutte befand.
Ich ließ den „Hallo? – Hallo, Sir!“ sagenden Hörer neben das Bett fallen und richtete mich langsam auf. Ein nicht enden wollender grüner Streifen aus riesigen Palmen zog vorbei, der ab und
zu von sandfarbenen Häusern, die wie lose Schuhkartons wahllos aufeinandergestapelt schienen, unterbrochen wurde. Ohne den Blick vom Fenster zu lösen, griff ich nach meiner Packung
Kleopatra und steckte mir eine an. Dem ersten tiefen Zug folgte ein Husten. Ein widerlicher
Geschmack, als würde man Kamelscheiße inhalieren, erfüllte meine Mundhöhle. Abartiges
Zeug – dat is doch keinen Euro wert. Jedem Zug folgte ein Hustenanfall. Ich rauchte die Kippe
fertig und warf den Stummel in die halb ausgetrunkene Stella-Dose neben meinem Kopfende.
Mein Körper war feucht und schwitzig wie nach einer richtig guten Nummer. Das Laken klebte
an mir fest. Umständlich befreite ich meine Beine von dem Bettlaken und stand auf. Sofort ließ
ich mich wieder aufs Bett fallen. Mein Kopf war dumpf und hinter den Augen pochte es. Ver-
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dammter Fusel!! Wo war ich hier nur gelandet. Zigaretten, die nach Scheiße schmecken, überall
beschissene alte Gemäuer und ein Schiff voll mit alten Leuten, Schwuchteln und flachbrüstigen
verklemmten Schulmädchen.
Im Speisesaal waren schon alle Tische besetzt. Ich setzte mich zu einer Gruppe, die nicht
ausschließlich aus Rentnern bestand. „Wat is eigentlich dieser unfertige Obelix? Hat der wat
mit Asterix und den Galliern zu tun?“ Ein kahlköpfiger Mann namens Manfred räusperte sich
kurz und antwortete dann: „Ja, der hat in der Tat was mit den Galliern zu tun. Ein römischer
Künstler hat ca. 600 v. Chr. begonnen, eine Obelix-Statue zu erschaffen. Leider verlor er in
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einem Schwertkampf seinen rechten Arm, weshalb diese nie fertig gemacht wurde und bis
heute kopflos ist.“ „Und Asterix?“ Manfred begann zu lachen, alle anderen stimmten mit ein.
Bis auf eine junge, südländisch aussehende Frau – die bis jetzt von Manfreds dickem Bauch
und wuch-tigem Körper verdeckt wurde. Sie schaute mir in die Augen, ohne eine Regung zu
zeigen. Ich stimmte in das Lachen mit ein. Als kleiner Junge hatte ich die Comics von Asterix
und Obelix gerne gelesen. Ich nahm einen Schluck Kaffee und spuckte ihn sofort wieder aus.
„Wäh! Wat is dat für eine Plörre – da trinke ich ja lieber Hafenwasser. Ich dachte, dat hier is
ein verdammtes 4-Sterne-Schiff, wat is mit diesen verfickten Ägyptern los – kann doch nich so
schwer sein,
einen anständigen Kaffee zu machen. Und diese Brötchen – um die runterzuschlucken, braucht man ja mehr Speichel.“
Nach einer kurzen Busfahrt hielt der Bus mitten in der Stadt an einem Platz mit lauter Steinen.
Ein alter Mann mit Cap und Pilotenbrille drückte mir eine Karte in die Hand. Vor einem Plastikrahmen, der jedes Mal piepste, wenn jemand durchging, stand ein Typ in Uniform. In der
Hand hielt er ein Maschinengewehr. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, während ich durch das
Piepsding ging. Mitten auf dem Platz blieb die Gruppe stehen. Meine Goldkette brannte auf
der Haut und Schweiß lief mir über das Gesicht. Im Zentrum stand der Mann mit der Fliegerbrille, um seinen Hals trug er einen weißen Schal – so wie diese Dinger, die die Pfarrer tragen.
Sein Gesicht erinnerte mich an Sandro Senza. Er besaß auf dem Kiez ein paar Nachtclubs. Er
war dafür bekannt, dass er jeder seiner Nutten, die nicht spurten, mit einem Messer ein S ins
Gesicht schnitt. Anfangs hielt ich es für ein Gerücht. Eine Drohung, damit die Mädchen nicht
auf dumme Gedanken kamen. Doch als ich eines Tages einen Botengang machte, wurde ich
Zeuge seiner Bestrafung. Zwei von Sandros Männern hielten die Schlampe fest, während er
ihr langsam ins Gesicht schnitt. Ihr Schreien und Betteln schien er nicht mal wahrzunehmen.
Am Ende spuckte er ihr in die offene Wunde, drehte sich um und nahm mit einem Lächeln das
Paket von mir entgegen.
Obwohl ich nicht hinhörte, ging mir das Geschwafel des Alten tierisch auf die Eier. „Hätten uns
ma ein Bierchen mitnehmen sollen – würde dat hier ein bisschen erträglicher machen, oder
Manni?“ Wortfetzen drangen an meine Ohren: „Häusere, nähere, Ägyptere.“ Ein lautes Lachen
entfuhr meinem Mund. Ich beugte mich zu Manfred: „Sach ma, is der alte Sack betrunken oder
hat der ’nen Sprachfehler?“ Manni blickte mich mit weiten Augen an und stellte sich näher zu
seiner Frau.
Verdammter Pantoffelheld!
Nach einer Ewigkeit setzte sich die Gruppe endlich in Bewegung – endlich! Doch die Menschen
bewegten sich Richtung Steinhang. Verdammt!!! Ich drehte mich um. Der Bus war nirgends
zu sehen. Wieso war ich zu diesem beschissen Ausflug überhaupt mitgekommen. Die Sonne
brannte auf meinen Schädel und der Penner mit dem weißen Schal schaffte es nicht, einen
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richtigen Satz rauszubringen. Lustlos schleppte ich mich den kleinen Berg hoch. Ich erinnerte
mich an das Gespräch vom Morgen und suchte nach der Obelix-Statue, aber da war nichts. Die
Leute blieben Stehen, um einen Steinblock, der rechts des Weges in einer Vertiefung lag, zu
fotografieren. Auf einmal ein Kreischen vor mir. Ich starrte hoch und sah zwei der Studentinnen.
Die blonde kleine und die brünette. Sie hielten sich an den Händen und quietschten. Ich schaute an Ihnen vorbei und sah zwei abgemagerte Straßenköter, ein paar Meter von ihnen entfernt.
Schnell versuchten sie, die zwei Hunde zu passieren, doch ohne Erfolg. Die Hunde sprangen
sie an. Die Mädchen wichen zurück. Panisch bewegten sie die Arme. Die Hunde umkreisten sie.
Jetzt schauten diese kleinen Flittchen gar nicht mehr so arrogant. Blöde Weiber, wollen doch
nur Aufmerksamkeit. „Kann mal irgendjemand diesen verdammten Hunde wegtun!?“, kreischte eine hysterisch. Ich musste lachen. Diese dummen Hennen machten einen Aufstand wegen
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diesen Kötern. Plötzlich kam Manfred, gab dem einen Hund einen Tritt und beendete damit
die kleine Show. „War mir gar nicht bewusst, dass du so ein Beschützertyp bist. Hoffst wohl,
dass die klenen Schulmädchen sich dafür bei dir bedanken!?“ Er starrte mich an. „Du kleiner
Widerling!“ „Sachte, sachte, Manni! Ich verstehe dich – würde diese jungen Dinger auch deiner
Frau vorziehen.“ Er hob die Faust, doch bevor er überhaupt die Möglichkeit hatte zuzuschlagen,
hatte ich ihm schon eine verpasst und er ging zu Boden. „Versuch das bloß nich noch mal, Fettsack, sonst mach ich dich fertig!! Ist das klar?!“
Mannis Frau kam und half ihm wieder aufzustehen. Die paar, die um uns herum standen,
machten keinen Mucks. Wieder im Bus setzte ich mich nach hinten und schlief ein.
Der Bus hielt an der Hauptstraße. Am Straßenrand saßen alte Frauen. Dick. In schwarze Laken
gewickelt. Bei der Vorstellung, wie es wohl unter diesen Stoffen ausschauen und riechen würde, nach dem sie seit Stunden in der Sonne vor sich hingarten, stieg mir ein bitterer Geschmack
in den Mund. Haarige Mösen, umschlossen von fetten Beinen. Titten, die bis zum Bauchnabel
hingen, die Nippel saßen wie Warzen am Ende dieser formlosen Hautlappen. Der Körpergeruch
eine Mischung aus strengen Gewürzen, Knoblauch und tagealtem Schweiß. Wie gut, dass die
Frauen sich hier verschleiern mussten. „Liebe Gäste, bitte bleibet auf de Hauptstraße. Gehen
Sie auf keinen Fallen in de kleinen Seitenstraße.“ Die Leute aus der Reisegruppe schauten sich
an. Die Platinblonde rückte ein Stücken näher an ihren Mann ran. Er legte seinen haarigen Arm
um ihre Schulter. Diese Idioten. Wer sollte einem denn hier schon was tun. Die ägyptischen
Männer trugen Kleider. Dünne Gerippe in Kleidern. Sollte einer nur versuchen mich anzupöbeln
oder über den Tisch zu ziehen, dann würde ich ihm die Fresse polieren. Hatte mich ja eben
schon warmgemacht. Ich tastete in meine Hosentasche und fühlte das kalte Metall schwer in
der Hand. Es gibt keinen Trick, den ich nicht kenne. Die müssen eher aufpassen, dass ich sie
nicht abziehe. Diese Knoblauchzwerge. Wie es Kalle wohl gerade ging? Ich musste lachen, als
ich mich an sein blödes Gesicht erinnerte – sein Betteln – „Ronny, bitte, ich werde dir das Geld
sicher geben. Ich verspreche es dir. Aber das Ticket gehört meiner Mutter. Sie hat ein Leben
lang für diese Reise gespart. Bitte Ronny, ich tue alles, was du willst, aber bitte lass mir das
Ägyptenticket.“ Der kleine Penner – als Nächstes hätte er mir bestimmt angeboten, mir den
Schwanz zu lutschen. Dreckiger, kleiner Wichser. Hätte er halt mal geglaubt, dass ihn jemals
jemand auf dem Kiez im Pokern besiegen konnte. Kalles Mutter konnte ihm dankbar sein. Er
hatte sie vor dieser grauenvollen Reise in ein Land voller Schwuchteln, hässlicher Frauen und
grässlichem Bier bewahrt. Bestimmt saß die alte Dame jetzt in ihrem Schaukelstuhl und sah
den ein- und ausfahrenden Schiffen im Hamburger Hafen zu. Ich dachte, vielleicht bekomme
ich auf diesem Bazar was Anständiges zu trinken. Jedenfalls sind die ganzen Idioten nicht mehr
um mich rum. Und ging eine kleine Gasse entlang.
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Überall lag Müll auf der Straße. Kleine dreckige Kinder wühlten darin herum. Der Gestank war
nicht auszuhalten. Die scheißen bestimmt auf die Straße. Ich bog um die Ecke und befand
mich auf einer breiten Straße. Voll mit Menschen. Rechts und links waren kleine Läden. Kästen mit Pulver in verschiedenen Farben. Vertrocknete Pflanzen. Obst und Gemüse. Plakate
mit komischen Symbolen. Was war das für ein Scheiß. Wo sind die Geschäfte? Überall saßen
diese schwarz gekleideten Frauen. Daneben standen Männer in Kleidern und riefen „English?
Deutsch? Español? „Mister, komm, komm, kaufen, kaufen, gute Gewürze, ganz günstig, komm
kaufen!“ Gewürze? Sehe ich etwa aus wie ’ne Fotze, du kleiner Dreckskerl? Was soll ich mit
Gewürzen? Ich will was zu trinken. „Gut Gewürz, gut Gewürz.“ Hast du mich nicht verstanden,
ich will deine verdammten Gewürze nicht. Ich schlug seine Hand weg. Er wich zurück. Duckte
sich. Blickte mich kurz wie ein eingeschüchterter Straßenhund an. Dann ging er schnurstracks
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auf einen anderen Mann zu: „Mister, komm, komm, kaufen, kaufen, gute Gewürz!“
Ein paar Meter weiter entdeckte ich eine kleine Bar. Überall saßen Ägypter in weißen Kleidern und mit komischen Hüten. Ich setzte mich an die Bar und bestellte einen Schnaps. Der
Barmann stellte mir eine Glas mit einer milchigen Flüssigkeit hin. „Wat soll dat sein – ich will
Schnaps und keine Milch.“ Langsam war es mit meiner Geduld am Ende.„Das Anisschnaps,
Spezialität.“ „Is mir latte, ich will kein Pussygetränk. Gib mir gefälligst was Anständiges, Wodka!“ Er drehte sich um, griff nach unten und stellte mir ein neues Glas hin. „Geht doch.“ Ich
trank das Glas in einem Zug leer. Meine Kehle brannte und ich hatte einen Geschmack von
Kloreiniger und Essig im Mund. Ich warf das Glas auf den Boden. „Du kleiner Wicht, meinst
wohl, du kannst mich verarschen? Das ist kein Wodka!“ „Doch, doch Wodka, Mister, Wodka.“ Er
griff hinter sich und hielt mir eine halb leere Flasche hin. Auf dem verblichenem Etikett stand
in geschwungener Schrift „Wodka“. Kurz spürte ich den Impuls, ihm eine zu verpassen, aber
dann stand ich auf und ging zur Tür. „Warte, zahlen, Mister, zahlen.“ „Zahlen, pah, kannst froh
sein, dass ich dich nicht fertigmache. Hättest mich beinahe vergiftet.“ Ich ging aus dem Laden.
Dieses verfickte Scheißland. Keinen Tag werde ich hier mehr bleiben. Sobald ich wieder auf
diesem Kahn bin, packe ich meine Sachen und verschwinde. Und dann suche ich Kalle auf. Der
wird sein blaues Wunder erleben.
Ich bog in eine kleine Seitenstraße ein. Dreck, wo man nur hinschaute. In einem Käfig saßen
zwei abgemagerte Hennen. Daneben angebunden ein zerzauster Hahn.
Auf einmal hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um und sah den Jungen aus der Bar.
In der Hand trug er ein Holzbrett. Ich musste grinsen. Dieser kleine dürre Kerl meinte tatsächlich, er könnte sich mit mir anlegen. Ich hielt an. Der Junge lief gerade auf mich zu. Barfuß in
seinem zerschlissenen Kleid. Die Knochen seines ausgemergelten Körpers zeichneten sich ab.
Ich griff in meine Hosentasche. Er war nur noch ein paar Meter von mir entfernt. Da traf mich
etwas in den Rücken. Ich taumelte und ging zu Boden. Vor mir schmutzige Füße. Ich versuchte
sie zu greifen, da traf mich schon der nächste Schlag. Diese Wichser. Auf einmal kamen die
Schläge von allen Seiten. Tritte. Dann wieder ein harter Gegenstand. Mein Körper krümmte sich
zusammen. Blut lief mir warm über das Gesicht. Ich schloss die Augen und versuchte meinen
Kopf zu schützen. Mein Magen verkrampfte sich. Ich schmeckte Galle im Mund. Mein Herz
schlug rasend schnell. Mein Körper war schon ganz taub. Die Schläge hatten aufgehört. Ich
verweilte noch eine Zeit, dann versuchte ich, die Augen zu öffnen. Neben mir saß eine alte Frau
und schälte Kartoffeln. Sie grinste mich hämisch an. Plötzlich traf mich etwas hart ins Gesicht.
Schwarz.
123
124
ABU SIMBEL
Figur: Linett von Gemmingen (28)
Mein Körper ist unbeweglich und steif, ich liege irgendwo im Sand. Warmer Wind weht mir ins
SIMON-NIKLAS
SCHEURING
Gesicht. Ich blicke in den dunklen schwarzblauen Himmel. Der helle Halbmond ein gekippter
lächelnder Mund. Aus der Ferne höre ich ganz leise eine Flöte erklingen. Die Melodie kommt
mir irgendwie bekannt vor, kann mich aber nicht erinnern. Sie wird immer lauter und schwillt zu
einem ohrenbetäubenden Krach an.
Mein Handywecker klingelt. Ich bin hellwach. Geträumt. Blick auf die Uhr: 3 Uhr morgens. Alles
dunkel. Heute der fakultative Ausflug zu den Tempeln von Abu Simbel. Hab mir 85 Euro dafür
abknöpfen lassen. Hoffe, es lohnt sich. Aufstehen, duschen, Zähne putzen, anziehen. Das Frühstücksbuffet ist so spärlich wie immer. Wenigstens ist der Tee gut und ein Lächeln von Ahmed
bekomm ich auch noch dazu. An den Tischen sitzen vereinzelt nur wenige. Schlaftrunken, mürrisch, ernst. Ich habe kaum Hunger. Mache mir nur ein Päckchen für unterwegs. Dieser weiße
Streichkäse ist am besten. Und dazu das Weißbrot mit den schwarzen Körnern. Eine große
Flasche Wasser nicht vergessen!
Der kleine alte Hussein wartet schon bei der Rezeption. „Los, los! Auf, auf! Yalla, yalla! Zum
Bus!“ Oh Mist, vergessen mit Sonnenmilch einzucremen. Schnell ins Zimmer zurück gerannt.
Aber nein! Schlüssel schon abgegeben! Erst zurück zur Rezeption, dann zum Zimmer: Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor 45 geschnappt. Hab doch so empfindliche Haut... Sonnenhut,
weißer Schal, Foto, ok. Bin gerüstet. Kann losgehen. Schnell die Tür abgeschlossen und dem
Phoenix-1-Mob hinterher gehechtet. Zack, rein in den Bus, hingesetzt, und schon fährt er los.
Pünktlichkeit heute ganz wichtig, weil wir gemeinsam mit anderen Bussen in einer Kolonne fahren sollen. Aus Sicherheitsgründen! Aber wo sind die anderen Busse? Ich sehe keinen einzigen.
125
Vielleicht stoßen sie später hinzu…
Bin hundemüde. Jetzt noch ein Nickerchen bis zum Sonnenaufgang... So ein Mist! Das Kissen
vergessen! Oh nein! Es wurde extra noch mal gesagt! Ärgerlich! Es ist superunbequem. Der
Bus schaukelt und wackelt. Mein Kopf rollt von links nach rechts. Bumm! Knallt an die Scheibe
und hinterlässt einen Fettfleck. Ich rolle die Augen, lehne meine Stirn an den Vordersitz. Ja, ich
glaube so könnte es gehen...
Jemand klopft mir auf die Schulter, ich erwache. Meine Stirn klebt an der nassen Rückenlehne
des Vordersitzes, mein Nacken tut höllisch weh! Ich bemerke, dass mein Mund wohl die ganze
Zeit offen stand. Oh nein, wie peinlich! Ein Sabberfaden hängt mir aus dem Mundwinkel bis
zum Boden hinunter. Zwischen meinen Füßen eine Pfütze. Wieder klopft mir jemand auf die
Schulter und krächzt mit heiserer Stimme im tiefsten Leipziger Dialekt: „Sonn’äufgang! Äuf-
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stehn!“ Schnell mit dem Ärmel den Mund abgewischt, Kopf angehoben und mit Drehung des
gesamten Oberkörpers den steif gewordenen Nacken samt Kopf zum Fenster geworfen. Toll,
denke ich mir! Wüste und eine aufgehende Sonne. Ja, super. Irgendwie doch schön so mit den
rötlichen Farben und so, aber wenn ich recht überlege, sind die Sonnenaufgänge in der Rheinebene doch viel schöner. Während die anderen mit ihren digitalen Kameras knipsen und so ca.
5000 Fotos von Wüste & Sonne schießen, sacke ich wieder in mich zusammen und versuche
weiterzuschlafen. „Kost doch nix“, sagt jemand auf Sächsisch und knipst fieberhaft weiter. Ich
versuche mir vorzustellen auf wie viele unterschiedliche Arten man einen Sonnenaufgang aus
einem Bus schießen kann, der irgendwo in Ägypten durch die Wüste fährt. Langsam schlummere ich wieder ein...
Plötzlich bremst der Bus stark ab. Ich fliege vor und pralle gegen die Sitze vor mir. „Huch!“
„Ups!“ „Was’n nu los?“ „Boa, was geht’n?“ „Aaah!“ „Nööö!“ „Kamel?“ Wie aufgescheuchtes
Wild springen alle auf und glotzen nach vorne auf die Straße. Militärposten mitten auf einer
Kreuzung irgendwo im Nirgendwo. Was soll das denn jetzt? Ich habe keine Ahnung, was da
vor sich geht und bevor ich irgendetwas in Erfahrung bringen kann, geht’s auch schon wieder
weiter.
Viele holprige Wüstenkilometer später... Ankunft! Endlich! Drei Stunden sind seit der Abfahrt
vergangen. Aussteigen. Strahlende Gesichter. Der Nassersee gibt wirklich ein wundervolles Bild
ab. Blau, fast türkis. Die Sonne steht noch tief im Osten und wirft ihr gleißendes Licht über den
glitzernden See und die ockerfarbenen Felsplateaus. Die Landschaft zieht mich voll und ganz
in ihren Bann. Ich vergesse alles um mich herum und atme für einen Augenblick die Schönheit
dieser Welt tief in mich hinein. Ich sehe mich an der Klippe stehen. Mein weißer Schal und
meine Haare tanzen im Wind. Ich bin ganz allein, der einzige Mensch an diesem magischen Ort.
„Phönix 1, Phönix 1“, höre ich Hussein monoton rufen und erwache aus dem schönen Traum.
Schnell schieße ich noch einige Fotos und eile dann zur wartenden Phoenix-1-Gruppe, die sich
im Halbkreis um Hussein versammelt hat. Er bemüht sich wirklich, der kleine viel wissende
ägyptische Reiseführer, aber es ist so wahnsinnig anstrengend ihm zuzuhören. Nach fast jedem
Wort hängt er ein kurzes kehliges „e“ dran und erwirkt dadurch eine überdeutliche Betonung.
Das kann einen mit der Zeit verrückt machen. „Ramses-e II-e und-e seine Frau-e.“
Dreieinhalb riesige Ramses-II-Statuen starren mich an. Sitzend. Erhaben. Etwas steif. Fotos,
mal weit weg, mal nah. „Maximilian, Herzog in Bayern.“ Was ist das denn? Mitten auf die Brust
einer Statue in Stein gemeißelt. „Graffiti“, sagt Hussein. Alles voll davon. Ob außerhalb oder
innerhalb des Tempels. Die meisten Jahreszahlen sind aus dem 19. Jahrhundert. Erst denke
ich mir, wie blöd man eigentlich sein muss, um auf diese Jahrtausende alten Statuen seinen
eigenen Namen zu ritzen. Aber irgendwie finde ich es dann doch recht amüsant. Hat etwas
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Rebellisches. Außerdem sind die Pharaonen nun mal aus der Mode. Hieroglyphen hatte ich
in den letzten Tagen an die Hunderttausende gesehen. Das hing mir ja langsam schon zum
Halse raus. Und plötzlich: Graffiti aus dem 19. Jahrhundert. Ich suche alle Statuen und Wände
danach ab und mache mir einen Spaß daraus, sie zu fotografieren. Der Tempel ist tief in den
Fels hineingehauen. Wie eine Höhle. Je tiefer ich komme, desto wärmer und dicker wird die
Luft. Eigentlich hab ich schon gar keine Lust mehr. Will raus, frischen Sauerstoff tanken. Aber
der Gedanke an die 85 Euro lässt mich zum eisern disziplinierten Tourist werden! Jede Ecke
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schaue ich mir an. Jeden Quadratmeter schreite ich bewusst ab. Vor mir eine Gruppe uralter
Amerikaner. Mumienexpress, würde meine Schwester dazu sagen. Alle fett, alle in Shorts, alle
in weißen Tennissocken und Joggingschuhen. Langsam tippeln sie im Gänsemarsch vor mir in
den engen Gängen entlang und hinterlassen den Geruch eines ganzen Altenheims. Ich glaube,
sie haben die Orientierung verloren. Ich auch. Kurz überlege ich, ob ich an einer breiteren Stelle
des Gangs schnell überholen soll, entschließe mich aber dann doch dagegen, da Körperkontakt
nicht auszuschließen gewesen wäre. Also tipple ich den US-Greisen so lange hinterher, bis wir
endlich wieder nach draußen kommen.
Licht! Luft! Durchatmen. Die wundervolle Aussicht auf den Nassersee. Ich setze mich unter ein
paar Schatten spendende Bäume und genieße die Aussicht. Der Wind streichelt mir sanft übers
Gesicht. Ich fühle mich wohl. Entspannt. Ausgeglichen. Eine halbe Ewigkeit sitze ich so da...
Plötzlich trifft mich der Schlag! Wie viel Uhr ist es? Wie viel Uhr? Hastig krame ich mein Handy
aus der Tasche. Natürlich ist es ausgeschaltet. Knopf drücken. Sekunden später PIN eingeben,
dann noch Begrüßungslogo abwarten... Das dauert ja immer... Und... Zwei Minuten nach zwei!!
Sch... Scheibenkleister!! Um zwei Uhr soll die Kolonne wieder abfahren. Wie von der Tarantel
gestochen springe ich auf und renne wie eine Irre los. Meine Haare peitschen mir immer wieder
ins Gesicht. Nach wenigen Metern ist mein Mund so trocken wie der Sand der Wüste. Mir wird
schwindelig. Zu wenig getrunken heute! Weiter! Schnell! Will nicht allein in der Wüste zurückbleiben. Schnell hechelnd wie ein ausgemergelter Straßenköter, mit bis zu den Knien herunterhängender Zunge komme ich halbtot am wartenden Bus an. Hussein schimpft. Alle sind schon
im Bus und schauen mich wie Schafe an; kurz davor ein Blök-Konzert zu starten. Wie peinlich!
Schnell eile ich durch den Gang an den Sitzreihen vorbei. Alle starren mich an. Ein Augen-Wald
voll stummer Vorwürfe. Beschämt blicke ich zu Boden. Diese vielen Augen! Wie ein Albtraum!
Ich halte es kaum aus! Schnell verschwinde ich in der letzten Sitzreihe, drücke mich ins hinterste Eck an die Scheibe, rutsche im Sitz ganz weit runter und tue so, als würde ich schlafen.
Langsam setzt sich der Bus in Bewegung und beginnt seine lange Rückfahrt durch die Wüste.
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ERINNERUNGEN VON HILDEGARD BORKAMP
München, den 17.07. 2021
Es war in Ägypten im Frühsommer 2010. Ich stand in der sengenden Hitze und hörte Hussein
PHILIP
GRABOW
zu, wie er seit gefühlten Stunden vom ägyptischen Totenkult im Reich der Pharaonen erzählte.
Hussein war unser Reiseführer bei den Besichtigungen, ein kleiner knochiger Araber, unter
dessen ausgewaschenen grauen Baseballcap lockige graue Haare hervorschauten. Er trug ein
rotes Poloshirt mit einem weißen Schal darüber, wohl weniger aus modischen Gründen, als um
sich vor der Hitze und Sonne zu schützen. Das Tal der Könige ist ein Ort, an dem der Tod auf
ganz seltsame Weise allgegenwärtig ist. Zusammen mit Linett, einer „von und zu“ aus unserer
Reisegruppe, besichtigte ich einige Grabstätten. Die Farbe der vielen Hieroglyphen, mit denen
die Wände der Gräber flächendeckend verziert waren, sah aus, als ob sie erst wenige Tage vor
unserem Besuch daraufgepinselt worden war, so frisch und klar erschien sie. Ich spielte mit
dem Gedanken, ob man aus der Notwendigkeit heraus, den Touristen etwas Außergewöhnliches zu bieten, die Farben nach den Ausgrabungen der Gräber von Ramses I, Ramses III,
Ramses IX und so weiter einfach ausgebessert und nachgemalt hatte, bis mir Linett erzählte,
dass dies mit der geringen Luftfeuchtigkeit zusammenhänge. Während sie sich sofort wieder
in die Tiefen ihres Reiseführers verlor, strich ich mit meiner Hand über den heißen Stein und
versuchte, die antiken Rätsel zu lösen, als mich plötzlich eine schweißnasse Hand brutal von
hinten an der Schulter packte. Ein Ägypter in typischem Gewand und mit einem weißen Tuch,
das auf dem Kopf zu einem Turban gebunden war, stand hinter mir. Ein ekeliger Schauder
fuhr mir durch den ganzen Körper. „Take photo?“, schallte es mir entgegen, während mich
der Mann intensiv musterte und mir seine nach Geld verlangende Hand entgegenstreckte. Ich
drehte mich, ohne ihn zu beachten, um und machte mich aus dem Staub.
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Ich hatte schon lange nicht mehr so sehr über den Tod nachgedacht, verspürte das aber in
diesem Moment nicht als etwas Negatives. Was ist das wohl für eine Kultur gewesen, deren
ganzes Leben sich ausschließlich auf den Tod ausgerichtet hatte. Ein Pharao hatte sein gesamtes Leben damit zugebracht, eine aufwendige Grabesstätte zu schaffen. Ich empfand es
erstmals als etwas durchaus Beruhigendes, sich mit dem Tod zu beschäftigen. Erklären könnte
ich aber nicht mehr, warum mir dieser Ort für den Moment die Angst vor dem Tod nahm. Ich
wusste, dass ich zu Hause wohl nicht in der Lage sein würde, dieses Gefühl an Walther weiterzugeben, aber ich hatte ihn einfach nicht überzeugen können, mit nach Ägypten zu kommen.
Walther und ich wollten schon immer in die Toskana, doch was erwartet man von einem Mann,
der auch mit 67 noch mit seiner Arbeit verheiratet ist. So fand ich mich also ohne Walther in
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Ägypten wieder, denn in die Toskana wollte ich dann doch nicht alleine. Man muss einfach da
gewesen sein, um das Tal der Könige zu begreifen, schoss es mir durch den Kopf. Auf dem Weg
zur Grabesstätte des berühmten Tutenchamun nahmen meine Gedanken an Walther zu. Ich
schlürfte hinter Linett über den steinigen Boden und blickte auf meine vom Wüstensand verstaubten Sandalen. Meine Wut darüber, dass er nicht bereit gewesen war, nach all den Jahren
mehr in unsere Ehe zu investieren, vermischte sich erstmals mit Gleichgültigkeit. Mir war plötzlich ganz egal, was Walther machte, während ich all diese grandiosen Erfahrungen durchleben
durfte. Ich erinnere mich noch genau, wie ich im ersten Moment vor diesem Gefühl erschrak
und versuchte dagegen anzukämpfen, doch die Hitze lähmte mich. Wie konnte es sein, dass
mir der Mann, mit dem ich seit über 30 Jahren verheiratet bin, gleichgültig war.
„Das ist doch Blödsinn“, dachte ich mir. „Es liegt bestimmt nur an der Entfernung und den
Eindrücken aus diesem fremden Land und ist völliger Blödsinn!“
Am Nachmittag hatte ich mich von Laura, einer sehr netten, in Deutschland lebenden Italienerin aus der Reisegruppe, überreden lassen, an Deck unseres Nilkreuzfahrtschiffes Tischtennis
zu spielen. Das Schiff namens „Zeina“ – was auf Deutsch soviel heißt wie „die Schöne“ – hatte
das Flair eines richtigen kolonialen Nilkreuzfahrtschiffes mit Holzvertäfelungen an den Wänden, schweren staubigen Sesseln und einem Sonnendeck. Auch wenn man sagen muss, dass
die angegebenen fünf Sterne wirklich in Landeskategorie zu verstehen waren. Doch nachdem
ich meine gesamte Kabine mit Sagrotan und anderen Haushaltsmittelchen bearbeitet hatte,
fühlte ich mich wohl. Ich hatte seit Jahren nicht mehr Tischtennis gespielt, aber es machte
einen Riesenspaß, auch wenn ich nach wenigen Minuten einen hochroten Kopf hatte und
schweißgebadet war. Ich sah mich den befremdeten Blicken jüngerer Mitreisender ausgesetzt,
doch Laura – mit der ich mich in den letzten Tagen immer mehr angefreundet hatte – schien
das egal zu sein. Also war es mir auch egal. Überhaupt war Laura Bellmonte eine bewundernswerte Person. Nach dem kleinen Spiel erzählte sie mir bei einem kühlen, erfrischenden Bier ein
wenig von sich und was sie nach Ägypten verschlug. Sie ist also auch aus München, stellten wir
begeistert fest und war noch nie verheiratet. Sie nehme eben was kommt, meinte sie locker. In
jüngeren Jahren hatte sie scheinbar viele Männer gehabt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass
das glücklich macht, aber Laura vermittelte den Eindruck, als sei sie sehr zufrieden.
Am Abend verließen wir das Schiff gemeinsam für eine Kutschfahrt durch die engen, versteckten Gassen Luxors, die wir bis jetzt von unserem klimatisierten Reisebus aus bei keinem Landgang zu Gesicht bekommen hatten. Bei der Abfahrt der Kutschen, vor die jeweils ein Pferd
gespannt war, fand ich mich mit Laura und Linett zusammen und wir beschlossen, uns eines
der Gefährte zu teilen. Das erste Pferd, welches am Straßenrand mit seiner schweren Last hielt,
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brachte mich fast dazu, wieder in Richtung Schiff umzukehren. Eine bemitleidenswerte abgemagerte Kreatur, deren Fell eng um das deutlich hervortretende Gerippe spannte, sodass fast
jeder einzelne Knochen zu sehen war, stand schwer schnaubend vor uns. Doch das Pferd, das
die Kutsche zog, zu der wir gewunken wurden, sah um einiges gesünder aus und zitterte nicht,
als würde es jede Sekunde zusammenbrechen. Laura, ganz ihrer offenen Art entsprechend,
setzte sich neben einen Araber in einem Leinengewand auf den Kutschbock. Sein Gesicht war
von der Sonne gegerbt und glich altem Leder. Er erschien mir bestimmt 10 Jahre älter als er
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wahrscheinlich war. Der Mann schaute sie etwas verstört an. Unsere Fahrt begann, eine unglaubliche Reise in eine andere Welt. Noch nie zuvor hatte ich so etwas gesehen. Wir fuhren
durch schmale Gässchen, die auch zu später Stunde noch überfüllt und belebt waren. Zu Beginn fuhren wir durch eine hell erleuchtete Gegend, in der sich Geschäfte wie auf einem Bazar
aneinander reihten. Arabische Männer, Frauen und Kinder saßen vor ihren Läden auf der Straße. Sie boten haufenweise Obst, bunte Gewänder und warme Speisen an, die mir größtenteils
fremd waren, oder rauchten Shisha. Ich fühlte mich ein wenig an eine Fahrt in einem Wagon
durch eine verruchte, dreckige Piratenwelt voller Leben und fremder Stimmen in Disneyland
erinnert, die ich vor Jahren mit einer Nichte von Walther gemacht hatte. Auch wenn mir dieser
Vergleich sofort peinlich gewesen wäre und unangemessen erschien, hätte ich ihn fast ausgesprochen. Diese Kutschfahrt und diese komplett neue, fremde Kultur, die an mir vorbeizog,
hatte tatsächlich etwas von dieser surrealen Piratenbahn in Disneyland. Wir bogen um eine
schmale Kurve und die bazarartige Gasse ging in eine viel dunklere und furchteinflößendere
Straße über, die nur von flackerndem Kerzenlicht aus den offenen, verfallenen oder unfertigen Häusern erleuchtet war. Viele Augen aus allen Richtungen starrten uns an, überall waren
arabische Stimmen zu hören, es wurde gerufen, das Leben tobte. Wir blieben kurz stehen, ich
sah von der Kutsche aus einen Mann, dessen Gesicht direkt neben mir auftauchte. Er schlang
eine Art Obst in sich rein, das ich nicht kannte, das aber auch ein etwas zu oval geratener,
geschälter Apfel hätte sein können. Der Furchtsaft tropfte dem Mann von seinem Kinn, doch
es schien ihn nicht zu stören. Ich nahm ihn als erfüllt und glücklich wahr, auch wenn er mich,
als Frau auf einer Kutsche, zu ignorieren schien. Es fiel mir allgemein auf, dass die Menschen
hier trotz ihrer Armut und Lebensumstände auf ihre ganz besondere Art glücklich wirkten. Sie
lachten sehr viel, während wir an ihnen vorüber fuhren. Ich fing an mich zu fragen, was dieses
einfache Leben denn unserem entgegenzusetzen hatte und wie Walther die Menschen hier eingeschätzt hätte, ob er die Leute hier zu verstehen versucht hätte. Langsam begann ich, mir fast
selber Angst zu machen und mich beinahe nicht wiederzuerkennen. Nie zuvor hatte mir eine
derart reale, echte Erfahrung mehr gegeben als Pauschalreisen-Sightseeing. Kann man sich
so schnell ändern? Beim Abendessen hatte Laura mir erklärt, dass man, wenn man ein Land
wirklich kennenlernen will, mitten hinein muss und nicht mit Kutsche oder Bus von oben herab
schauen soll. Und ich dachte, wir wären bereits mittendrin gewesen! Sie überzeugte mich also,
mit in eine Shisha-Bar zu gehen. Wir waren eine kleine Gruppe, darunter auch Linett und eben
Laura und auch zwei etwas einfach gestrickte Männer aus unserer Reisegruppe namens Ole
und Horst. Nach kurzem Durchfragen mit „Shisha, Shisha?“ wurde uns der Weg zu einer kleinen Bar mit runden, niedrigen Tischen und Sesseln, über die Teppiche gelegt waren, gezeigt.
Auch die Wände waren mit braunen ausgewaschenen, fransigen Teppichen verkleidet. Unsere
kleine Gruppe bestellte Cola, Tee und vier Shishas. Das Ganze sollte uns später 35 ägyptische
Pfund kosten, was umgerechnet etwa sieben Euro entsprach. Wir waren die einzigen Ausländer
in der Bar und jeder von uns spürte die Blicke der anderen. Auch wenn es bei Ole und Horst,
die direkt Kontakt mit den arabischen Männern – Frauen waren keine in der Bar – aufnehmen
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konnten, anders als bei uns war. Wir sahen uns nur den teils anzüglichen Blicken ausgeliefert,
aber niemand schien sich für uns als Personen zu interessieren. Eine wahrhaft fremde Kultur.
Nach nur wenigen Zügen von der Wasserpfeife wurde es mir leicht schwindelig. Anfangs
bereute ich meine Entscheidung, noch hierher gekommen zu sein. Doch bald stellte ich fest,
dass es eine angenehme Benommenheit war und für mein Alter von 65 Jahren doch eine sehr
lustige, ungewohnte Erfahrung. Der Apfelduft des Tabaks stieg mir in Nase und Kopf und ich
musste immer wieder einen großen Schluck von meiner Cola nehmen, um mich zu erfrischen
und um die Wirkung der Shisha zu schwächen.
Als wir bezahlten, bat der junge Mitarbeiter der Bar Ole und Horst noch um ein gemeinsames
Foto, was mir endgültig klar machte, wie selten es Ausländer wohl hierher verschlug. Walther
hätte mich wohl hier nicht wiedererkannt und wäre nahezu entsetzt von meinem fahrlässigen,
nächtlichen Verhalten gewesen. Shisha und eine Bar voller Araber. Ich jedoch war letzten Endes
stolz auf mich, und dass ich mit Laura mitgegangen war.
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Außen vor der Bar spielten, mitten in der Nacht, ein paar ägyptische Jungs Fußball. Ihr Tor war
ein dreckiges altes Garagentor, von dem bereits der blaue Lack abplatzte. Ole und Horst gesellten sich dazu und spielten barfuß mit. Insgeheim bin ich ein wenig neidisch auf die beiden
gewesen, diese Möglichkeit der Kontaktaufnahme gehabt zu haben, obwohl ich beide nicht
sehr mochte.
Für Frauen ist es viel, viel schwerer, mit der arabischen Kultur in Kontakt zu treten. Nun war
ich schon nicht mehr die Jüngste und wusste eine solche Reise plötzlich sehr zu schätzen.
Vielleicht, weil ich so viele Erfahrungen noch nie gemacht hatte. Vor allem durch Laura hatte
ich in diesen wenigen Tagen gelernt, wie man neue Dinge entdecken kann. Mit Walther war
das in den wenigen gemeinsamen Urlauben, die wir zuvor hatten, nie möglich gewesen. Dieser
Gedanke versetzte mir einen Stich und tat weh, sehr weh. Lange hatte ich nach diesem Urlaub
überlegt, ob das alles - diese Ehe - noch eine Zukunft hat. Doch man trennt sich nicht so einfach
in diesem Alter. Manchmal bereue ich es, dass ich wieder in meinen Alltagstrott zurückfiel, den
ich für wenige Tage abgelegt hatte. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, selber nie wieder zu
kurz kommen. Doch Walther und ich blieben verheiratet.
Ich habe ihm nie etwas von diesen Gedanken erzählt, als ich damals aus Ägypten zurückkam.
Es hatte sich seitdem einfach schleichend zwischen uns verändert und die Distanz wurde durch
das viele Unausgesprochene immer größer, bis zu seinem Tod vor fünf Jahren.
Hildegard Borkamp
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Ägypten-Reise 22. bis 29. Juni 2010
IMPRESSUM
Hochschule für Fernsehen und Film München
Lehrstuhl Creative Writing Prof. Doris Dörrie
Frankenthalerstr. 23 | 81539 München
Edition No. 29 | Juni 2010
Lektorat | Alexandra Michelis
Layout | Nora Ahrens
Fotos | Jan Linnartz, Sebastian Stojetz
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