Untitled - Nachmann.com

Transcription

Untitled - Nachmann.com
6
58
nachmann news
my germany
8
Ora et labora et lege
Dr. Notker Wolf
my neighbourhood
Edelsteinzeit
68
Stefan Hemmerle
visions
18
Ideen sind gut –
Ideen umsetzen ist besser!
philosophy
Dr. h.c. Walter Smerling
Entering the Painting –
Das Bild betreten
78
James Turrell
my europe
30
Dr. Gottfried Langenstein
Ars Arte
my munich
Der MINI-malist
90
Dr. Wolfgang Armbrecht
my world
40
Gebäude wie
gelandete Wolken
my bavaria
Prof. Wolf D. Prix
Immer der Nase nach
Prof. Hanns Hatt
98
competence
48
Saugut
Warum machen
Sie so ein Magazin,
Herr Nachmann?
Karl Ludwig Schweisfurth
Josef Nachmann
Impressum
Herausgeber: Josef Nachmann
Beratung und Supervision:
Andreas Lukoschik
Chefredaktion: Jens Magers
Art Director: Janis Birznieks
Textredaktion: Amadeus AG, Schwyz
Anschrift
Nachmann Rechtsanwälte
Theatinerstraße 15
80333 München
www.nachmann.com
Telefon +49 89 2420740
nachmann project
Liebe Leser,
der inhaltliche Faden durch alle Gespräche, die Andreas
Lukoschik für diese Ausgabe führte, ist Nachhaltigkeit. Besonders
tritt das bei Karl Ludwig Schweisfurth hervor, der mit seiner
„symbiotischen Landwirtschaft“ seit vielen Jahren auf die
Notwendigkeit einer Umkehr beim Umgang mit den Ressourcen
unserer Natur aufmerksam macht. Aber auch der Abtprimas
der Benediktiner, Dr. Notker Wolf, entstammt der Tradition
eines Ordens, in dem Arbeit, geistige Haltung und Glauben
nach dem Grundsatz „ora et labora et lege“ zu einem Ganzen
zusammengeführt werden. Die „terra benedicta“ verbindet Dr.
Notker Wolf übrigens mit Karl Ludwig Schweisfurth. Denn die
Selbstversorgung mit landwirtschaftlichen Produkten steht im
Mittelpunkt der Ordensphilosophie.
Das Thema Nachhaltigkeit prägt die aktuelle öffentliche
Diskussion in Politik, Wirtschaft und fast allen anderen Fragen
des gesellschaftlichen Lebens. Mit der Wirtschaftskrise 2008
ist den Menschen wieder bewusst geworden, dass dauerhafte
Werte nur geschaffen werden können, wenn die materiellen Ziele
der Wirtschaft und Finanzindustrie so verantwortungsvoll verfolgt
werden, dass sie im Einklang mit Mensch und Natur stehen. Eine
schwierige Aufgabe, die nur durch maßvolles Handeln zu erfüllen
ist.
Nachhaltige Lösungen von Problemen sehen wir als die
zentrale Aufgabenstellung unserer Arbeit an. Nicht der kurzfristige
Erfolg zählt, sondern tragfähige Vereinbarungen und Strukturen,
die unseren Mandanten Sicherheit und langfristige Perspektiven
eröffnen.
Am Lebensweg der Menschen, die wir in diesem Magazin
vorstellen, imponiert uns die Konsequenz und der Idealismus
mit der sie ihre Ziele verfolgen. Daraus erschließt sich die
Ausstrahlung der Werke dieser Personen.
So ist diese Publikation wieder das Spiegelbild von Leistungen
für unsere und in unserer Gesellschaft, die wir als vorbildhaft
ansehen und an denen wir uns gerne orientieren.
Mit besten Grüßen,
Ihr Josef Nachmann
KLAGEN BEI FALK-IMMOBILIENFONDS
VOR DEM BUNDESGERICHTSHOF
Nachmann Rechtsanwälte vertreten den Insolvenzverwalter
mehrerer Fonds der Falk-Gruppe. Sie sind damit beauftragt,
Rückforderungsansprüche gegen Kommanditisten dieser FalkFonds durchzusetzen, die von den Fondsgesellschaften so genannte
Ausschüttungen erhalten hatten. Diese Ausschüttungen waren nicht
durch entsprechende Gewinne gedeckt und wurden somit letztlich
aus dem Vermögensstamm der Fonds ausbezahlt. Es besteht daher ein
Rückzahlungsanspruch, weil durch die Auszahlungen das festgesetzte
Haftkapital unterschritten wurde. Nach den handelsrechtlichen
Vorschriften waren die Kommanditisten auf Wiederauffüllung
ihrer Hafteinlagen und damit auf Rückzahlung der erhaltenen
Ausschüttungen in Anspruch zu nehmen.
Gegen Kommanditisten, die eine angebotene vergleichsweise
Einigung nicht annehmen wollten, mussten bundesweit mehr als 2000
Gerichtsverfahren anstrengt werden. Die erstinstanzlichen Gerichte
haben den Klagen dabei ganz überwiegend stattgegeben. Nachdem sich
nunmehr in den in der Folge geführten Berufungsverfahren bundesweit
17 unterschiedliche Oberlandesgerichte mit dem Sachverhalt
beschäftigt und fast durchgängig die von Nachmann Rechtsanwälte
vertretene Rechtsauffassung bestätigt haben, stehen derzeit mehrere
Revisionsverfahren zur Entscheidung beim Bundesgerichtshof an.
Der Bundesgerichtshof hat in der mündlichen Verhandlung
über acht dieser Falk-Revisionsverfahren am 22.11.2010 seine
vorläufige Einschätzung zu einigen der in diesen Verfahren
diskutierten Rechtsproblemen geäußert. So sei – nach vorläufiger
Wertung – eher nicht davon auszugehen, dass die geltend
gemachten Ansprüche verjährt sind. Auch sei wohl die Auffassung
von Nachmann Rechtsanwälte zutreffend, dass die eingesetzte
Beteiligungstreuhänderin bei der Übernahme ihrer Aufgaben nicht
gegen das Rechtsberatungsgesetz verstoßen habe. Seine Entscheidung
beabsichtigt der Bundesgerichtshof am 22.3.2011 bekannt zu geben.
Die anstehende Entscheidung hat nach Auffassung von Nachmann
Rechtsanwälte Auswirkungen deutlich über den zu entscheidenen
Einzelfall hinaus und wird möglicherweise die Entwicklung und die
Struktur zukünftiger geschlossener Fonds beeinflussen.
my
neighbourhood
Seite 8
Stefan
Hemmerle
Edelsteinzeit
Wenn man die sehr elegant gestaltete
Sicherheitsschleuse im Eingang
des Hauses Hemmerle passiert hat,
steht man zunächst vor einem in
Bordeauxtönen gehaltenen Kissenbild
von Gotthard Graubner. Nicht die
einzige Kunst, der man in diesem
Raum begegnet. In den Vitrinen liegen
edle „Kleinplastiken“ aus seltenen
Edelsteinen, für die Damen aus aller
Welt anreisen, um sie sich an den Hals
zu werfen. Gestaltet wurden sie von
Stefan Hemmerle, dem Inhaber und
kreativen Kopf dieser feinen Adresse
aus dem Jahre 1893 auf Münchens
Maximilianstraße. Seit geraumer Zeit
sind er und seine Arbeit auf edelste Art
geadelt.
? Herr Hemmerle, das Victoria &
Albert Museum in Londons Stadtteil
Kensington beherbergt die wichtigste
Schmucksammlung der Welt. Diese
Sammlung ist unlängst etwas größer
geworden. Wodurch?
! Das ist nett formuliert: Im Victoria &
Albert Museum wurde ein Stück von uns
in die ständige Kollektion aufgenommen.
Das ist eine außergewöhnliche Ehre. Es
handelt sich dabei um diesen Armreif. Das
Herausragende daran ist die Patinierung
des Kupfers, die wir nach alten Rezepten
unseres Hauses angefertigt haben, außerdem
die Materialkombination: auf der sichtbaren
Außenseite das Kupfer, auf der fühlbaren
Innenseite das Weißgold. Diese ist so
gearbeitet, dass sie sich auf dem Handgelenk
wie eine zweite Haut anfühlt. Genial ist auch
die Technik des unsichtbar eingebauten
Drehmechanismus. Ohne die Mechanik zu
sehen, dreht man den Armreif auf und kann
ihn so über das Handgelenk ziehen. In so
einem Stück steckt außergewöhnlich viel
Know-how drin, weshalb das Victoria &
Albert Museum genau dieses Stück für seine
Sammlung ausgesucht hat.
? Der Teufel lauert ja gerne im Detail,
deshalb interessiert mich: Wenn einem
das Victoria & Albert Museum diese
große Ehre angedeihen lässt, bezahlen
die das auf diese Weise einbehaltene
Stück auch? Oder muss man es ihnen
schenken?
! Man muss es ihnen nicht schenken,
aber wir haben es selbstverständlich getan –
kommerzielle Gedanken spielten in diesem
Fall keine Rolle. Der Wunsch der Kuratoren
dieses Stück in ihre Sammlung aufzunehmen,
war einfach zu stark – unsere Arbeiten
werden als einzigartig und als „contemporary
interpretation“ des heutigen Schmuckdesigns
angesehen.
Im Victoria & Albert Museum finden
Sie ja Schmuck von den Etruskern bis
zu zeitgenössischen, sehr spektakulären
Arbeiten, die zwar sehr schön sind, aber die
man oftmals überhaupt nicht anziehen kann.
Unsere Schmuckstücke haben dagegen den
Vorteil, dass sie zeitgenössisch und tragbar
sind. Sozusagen „everyday-tauglich“ (lacht).
? Falls jeder Tag Sonntag sein sollte.
! Ja genau, mit unserem Schmuck fühlt
sich jeder Tag wie Sonntag an.
Der schöne Sch(t)ein
? Dieser Armreif ist mit Spinellen
besetzt. Was sind Spinelle?
! Spinelle sind Edelsteine, welche in
früheren Jahrhunderten vielfach in den
Paruren hoher Adelsfamilien verarbeitet
wurden – so dass es hieß: Spinell sei der
Edelstein der Könige. In dieser Zeit besaß der
rote Spinell einen höheren Stellenwert als
der Rubin. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
geriet er ein wenig in Vergessenheit vor
allem im europäischen und amerikanischen
Schmuckdesign in der Zeit als Saphir,
Rubin und Smaragd als die Könige der
Farbedelsteine angesehen wurden ... Spinelle
findet man in Burma, Tadschikistan und
Afrika.
? Haben Sie den Spinell neu entdeckt
oder lag diese Wiederentdeckung
einfach in der Luft?
Illustration: Peteris Lidaka
! Wir gehören ja zu den Neuentdeckern
vieler Materialien in der Juwelierskunst. Wir
sind deshalb auch eine der Ersten gewesen,
die den Spinell gekauft und in unseren
Schmuck integriert haben. Wichtiger Grund:
Spinelle haben eine einzigartig schöne
Farbpalette, sind naturfarben und können
nicht behandelt werden. Bei Rubinen und
Saphiren hingegen kann man die Farbe
durch Erhitzen verbessern. Dabei wird der
Rohstein – also der noch ungeschliffene
Stein – erhitzt. Diese Techniken sind nicht
neu, sondern es gibt sie schon seit mehr als
100 Jahren, allerdings haben wir uns auf die
Fahne geschrieben, nur Naturprodukte zu
verarbeiten.
? Sozusagen „Bio-Steine“.
! (lacht laut auf) Ja genau!
? Kaufen Sie solche Steine vor Ort ein?
! Wir fahren zweigleisig. Wir kaufen
einerseits unsere Steine vor Ort bei
denjenigen ein, die den direkten Zugang zu
den Minen haben. Andererseits kaufen wir
sehr gerne secondhand oder Dritthandstücke
ein, die die Tresore wieder verlassen oder aus
Familiennachlässen kommend auf dem Markt
angeboten werden. Das interessiert uns
sehr, weil dabei oft sehr besondere Stücke
angeboten werden. Nicht immer aufgrund
ihrer Wertigkeit, sondern speziell aufgrund
der Farbtöne und der Struktur.
Steine haben oftmals das gleiche
Leben, obwohl sie aus den verschiedensten
Fundorten stammen. Wie die
unterschiedlichen Steine dann miteinander
kombiniert werden können, ist eine Frage des
Erkennens. Ein sehr spannender Vorgang.
? Was bedeutet „Steine haben
manchmal das gleiche Leben“?
! Das meint die gleiche Brillanz. Wenn
Sie einen geschliffenen orangefarbenen
Opal nehmen und daneben einen ebenso
orangefarbenen Topas halten, dann geht das
nicht zusammen. Der Opal ist einfach zu
matt, während der Topas Brillanz hat.
Von außen sehen Sie bei einem Rohstein
ja nur so eine Art Kruste. Dann schleifen Sie
eine kleine Fläche an, schicken mit einem
starken Punktstrahler Licht hinein und
dann können Ihnen erfahrene Schleifer
sagen, welche Schliffform, ob rund, oval oder
rechteckig entstehen kann.
Wir haben zwar immer versucht, uns aus
dem Rohsteingeschäft herauszuhalten, aber
je tiefer man in die Materie eindringt, umso
mehr muss man sich auch damit befassen.
Vor zwei Jahren habe ich zum Beispiel
einen wunderschönen, großen, grünen,
burmesischen Peridot-Tropfen gekauft. Wir
haben diesen auf mehrere Einkaufsreisen
mitgenommen und uns immer nach
einem passenden Stein umgesehen. Aber
nirgendwo gab’s was. Bis wir eines Tages
einen Rohsteinhändler getroffen haben, der
einen Stein hatte, von dem er meinte, dass
er passen könnte, aber nicht sicher war, ob
er als geschliffener Stein dann auch halten
würde, was er jetzt verspräche. Das war ein
Risiko – zumal er richtig viel Geld kosten
sollte. Aber ich hab es gemacht. Und es
wurde ein Traumpaar. Man muss manchmal
einen solchen Schritt wagen. Wagt man
ihn nicht, ärgert man sich ein Leben lang,
weil solche Chancen nur selten kommen.
Dieser Rohstein ist inzwischen bearbeitet
und in eine unserer typischen, grünen
Kupferpatinierungen eingearbeitet.
? Wie viele hilfreiche Mitarbeiter
haben Sie in Ihrer Werkstatt?
! Unsere Werkstatt umfasst inzwischen
ein mehrstöckiges Stadthaus. Wir haben dort
eine „Zen-Atmosphäre“ geschaffen – es ist ein
Ort der Kreativität entstanden und wir haben
ein großartiges Team von 15 Goldschmieden.
Wem der große
Wurf gelingt...
? Und die Entwürfe sind von Ihnen?
! Alle sind von mir. Viele sind aber in
Zusammenarbeit mit meiner lieben Frau,
meinem Sohn, meiner Schwiegertochter und
unserem Goldschmiedeteam entstanden.
Unsere Schwiegertochter stammt aus
Ägypten und hat von dort ganz neue
Einflüsse mitgebracht. So ist zum Beispiel das
neueste Ohrclippaar „Anubis“ – altägyptische
Tempelhunde – entstanden. Ich hatte zuerst
Angst, dass das zu kitschig wird, aber unser
Goldschmied hat sehr viel historische
Literatur gewälzt, um herauszufinden, wie
man diese Tempelhunde am schönsten
und möglichst pur herausarbeiten
kann. Wir haben sie dann aus Kupfer
gefertigt. Der Rahmen ist ausgefasst mit
champagnerbraunen Diamanten und ist
komplett beweglich gearbeitet. So ein
Entwurf dauert zwar nur kurz, aber bis er
dann Gestalt annimmt (lacht), ist das dann
noch ein mühsamer Prozess. Aber er ist
letztendlich hoch gelungen und war dann
auch nur wenige Tage im Haus, weil er sofort
gekauft wurde.
? Wie ist das, wenn so eine Arbeit
raus ist. Tut das dann weh oder sagt
man sich, jetzt wissen wir, wie es geht,
jetzt machen wir das noch einmal?
! Ein wenig tut´s weh ... Aber wenn die
richtige Trägerin gefunden ist, bin ich sehr
glücklich.
? Es gibt bei Ihnen also jedes
Schmuckstück nur einmal?
! In dieser Form und diesem Material ist
es ein Unikat.
? Wie kommen Sie zu Ihren
Inspirationen?
! Aus der Kunst. Aus der Literatur. Aber
auch in der Natur finde ich sie. Ich habe zum
Beispiel eine Zeit lang besonders schöne
Blätter von Bäumen gesammelt, die mir
gefallen haben.
Außerdem zeichne ich, wo immer
mir etwas einfällt. Das kann auf ganz
merkwürdigen Trägern sein. Zum Beispiel
hoch über den Wolken auf Zeitungspapier.
Ich liebe aber auch Papiertischdecken auf
Bistrotischen. Wenn ich bei einem schönen
Essen darüber nachdenke, wie ich das, was
ich gerade an Steinen eingekauft habe,
verarbeiten könnte, fällt mir zum Beispiel ein
schöner Ohrring ein. Den bringe ich dann auf
der Bistrotischdecke zu Papier.
Eine andere Idee kam mir, als ich
eine Freundin in Luzern besuchte. Sie
selbst ist auch Goldschmiedin und hatte
Steine vergoldet, die sie beim Tauchen im
Vierwaldstättersee gefunden hatte. Hier in
München bin ich dann in den Hofgarten,
Die Maximilianstraße
? Nun sind Sie ja hier auf der
Maximilianstraße umgeben von
Worldbrands wie Cartier, Chopard oder
Bulgari. Hemmerle aber gibt es nur in
München.
! Hemmerle gibt es nur in München!
Brosche machen kann – zusammen mit
einem schönen Stein. Mal sehen, ob da etwas
entsteht...
? Dann gehen Sie immer mit einem
Notizbuch durch die Welt?
habe ein paar graue Steine aufgelesen –
wahrscheinlich Isarkiesel – bin damit in die
Werkstatt gegangen und habe meine Meister
gebeten, einen fantastischen 7-karätigen
Kaschmirsaphir in einem weichen Blauton –
den ich gerade gekauft hatte – in einen dieser
großen Kieselsteine einzusetzen. Mit einer
Fassung so grau wie der Kieselstein selbst. Es
wurde ein großartiges Stück – und war der
Talk der Maastrichter Messe tefaf, wo ja die
gehobene Kunstwelt zusammenkommt.
So was zu entwerfen, das macht mir
Spaß. Ich habe mir jetzt gerade ein paar
der geschmiedeten Eisennägel von 1893
rausgelegt, die man beim Umbau unseres
alten Ladens aus dem Holz gezogen hatte.
Ich überlege, ob ich daraus nicht eine tolle
! Wenn ich durch Museen gehe, habe ich
immer mein Skizzenheft dabei.
Mal entstehen neue Ideen auch im
Gespräch mit Kunden. Hierzu hat mich
zum Beispiel eine Kundin angeregt, weil
sie gerne etwas im Westernlook suchte. Da
hatte ich gerade prähistorische WalrossZähne von einem Inuit auf einer Messe
gekauft. Das war ganz spontan gewesen,
ohne eine Idee, was ich damit machen
wollte. Die habe ich dann der Kundin
gezeigt und vorgeschlagen, dass man ein
Walross-Zahn-Armband daraus machen
könne.
Die Zähne wurden untereinander mit
Kupferelementen verbunden und diese mit
naturfarbenen braunen Brillanten besetzt.
Dieses Armband hat unsere Kundschaft
tüchtig polarisiert. Die einen sagten: „Das
passt gar nicht zu Ihnen, Herr Hemmerle.“
Und andere waren hellauf begeistert. Die
Kundin selbst war selig – und danach
kamen Anfragen, ob ich nicht noch eins
machen könnte. Aber da sind wir dann
konsequent.
? Ist diese „kleine Größe“ ein
Vorteil oder ein Nachteil? Ein Vorteil,
weil man bei Ihnen etwas entdecken
kann, was es anderswo nicht gibt
– oder ein Nachteil, weil man eine
gewisse wirtschaftliche Größe braucht,
um bestimmte Qualitätsstandards zu
halten?
! Ich sehe darin ausschließlich Vorteile.
Ich glaube im Gegenteil, dass wir durch
unsere Unternehmensgröße in der Lage
sind, kompromisslos bestmögliche Qualität
anzufertigen. Sowohl in Ein- und Verkauf
als auch im Service können wir sehr schnell
reagieren und dadurch auf individuelle
Wünsche eingehen. Wenn wir in München
sind, besuchen wir täglich unsere Werkstatt
und können den Entstehungsprozess
eines jeden Schmuckstücks begleiten. Dort
werden vor Ort ausschließlich unsere Stücke
produziert – dies ist ein einmaliger Luxus...
? Wirtschaftlich?
! Wirtschaftlich, aber auch aus NachfolgeGründen. Das ist ja kein unanstrengender
Beruf, den wir hier machen, denn wir sind
ständig unterwegs auf der Suche nach
interessanten Materialien und auch bei
individuellen Kundengesprächen. Unsere
Kunst zu verstehen, vor allem mit unseren
seltenen Steinen, ist manchmal ein längerer
Prozess.
Das Thema „Schmuck als Kapitalanlage“
sehen wir folgendermaßen: Für uns steht
mehr die Schönheit und Ästhetik im
Vordergrund. Aber wir achten dennoch
unglaublich darauf, dass auch eine hohe
Wertigkeit in den Stücken steckt. Das macht
sowohl das Design als auch die Fertigung
erst richtig spannend.
Ein Beispiel: Aus einem besonders
seltenen naturfarbenen dunkelbraunen
orangefarbigen Diamanten mit 18 Karat
im Kissenschliff habe ich einen schlichten
Kupferring designed – nur wenige vermuten,
dass der Mittelstein kein Topas, sondern ein
Diamant ist. Dies nenne ich tiefstapeln und
so etwas macht mir große Freude.
? Ist diese Form des
Understatements nicht extrem
unmünchnerisch?
! Sehen Sie, nach außen hin wird eine
bestimmte Ausprägung der Gesellschaft,
Stichwort „Schickeria“, gerne als Teil von
München kommuniziert. Meine Erfahrung
ist, dass es in dieser Stadt sehr viele, sehr
ernsthafte Sammler und Kenner gibt.
? Kommt Ihre puristischästhetische Linie aus einer BauhausPrägung?
! Genau. Ich habe bei einem Bildhauer/
Goldschmied gelernt – einem Schüler
von Professor Rickert, der in den 30er
Jahren hier in München an der Akademie
gelehrt hat. Dieser Goldschmied hat mir
das dreidimensionale Sehen beigebracht,
weil es bei der Goldschmiedearbeit ja
um Kleinplastiken geht, während es
beim Silberschmied um das Arbeiten am
Korpus geht, was mehr ein bildhauerisches
Arbeiten ist. Von ihm habe ich gelernt, dass
Goldschmiedearbeiten nicht zu flach sein
dürfen, sondern wie eine Skulptur sein
müssen. Und – ganz wichtig – er hat mir die
Kunst des Weglassens beigebracht.
Als ich dann fertiger Goldschmied
war, bin ich nach Paris in ein Atelier
gegangen, das für Van Cleef & Arpels und
Cartier gearbeitet hat. Danach ging´s zu
Georg Jensen nach Dänemark. Da habe
ich die traditionelle Goldschmiede- und
Silberschmiedekunst kennen gelernt. Alle
diese Erfahrungen hatten ihren Einfluss auf
meinen Schmuckstil. Es dauert ja durchaus
lange, bis sich der eigene Stil herausgebildet
hat.
Edelstein
und Eisen spricht
? Wie sind Sie auf die Idee
gekommen, das für einen Goldschmied
„gewöhnliche“ Metall Eisen in Ihre
Kreationen einzuarbeiten?
! Es gibt ja diesen Spruch von 1813
„Gold gab ich für Eisen“, mit dem Prinzessin
Marianne von Preußen die Frauen des
Landes aufrief, ihr Gold zu spenden, damit
die Preußen die Mittel zusammenbekamen,
um Napoleon nach seinem missglückten
Russlandfeldzug den Rest zu geben. Die
Spenderinnen bekamen als Ersatz für ihren
Goldschmuck damals einen Ring oder ein
Schmuckstück in geschwärztem Eisen.
Daraus ist eine ganze Stilrichtung geworden,
der so genannte „Berliner Eisenschmuck“.
Vor ungefähr 15 Jahren kam ein
Sammler zu mir und sagte: Ich bin´s jetzt
leid, dass meine Frau immer nur diesen
Berliner Eisenschmuck trägt. Entwirf doch
mal was, damit sie auch mal was anderes
hat. Zu dieser Zeit hatte ich gerade einen
naturfarbenen grauen Diamanten gekauft.
Einen 7-Karäter – unglaublich schön in
der Wirkung und sehr geheimnisvoll in
seinem Farbspiel. Und den habe ich in
einen schwarz-brünierten Eisenring gesetzt.
Das sah unheimlich schön aus und war die
Initialzündung für dieses Material. Zuerst
konnte sich diese Kundin übrigens damit
nicht so recht anfreunden, aber inzwischen
liebt sie unsere Ideen.
? Gibt es Materialien, die Sie in
Ihrer Werkstatt zusammengebracht
haben, obwohl Sie eigentlich gar nicht
zusammengehen?
! Ja, Edelstahl und Weißgold lassen
sich nicht verlöten, weil sie verschiedene
Schmelzpunkte haben. Als wir den ersten
Armreif gemacht haben – innen Weißgold,
außen Edelstahl...
? ... Wow, das nenne ich echtes
Understatement...
! (lacht) Ja genau – das edle Metall
auf der Haut und das Unedle außen. Als
wir also diesen Armreif machen wollten,
waren unsere Goldschmiede zuerst ratlos,
weil sie beide Materialien einfach nicht
zusammenbringen konnten. Aber dann
hat sich unser Werkstattleiter dieser Sache
angenommen – ein genialer Mann übrigens
– und hat die beiden Materialien mit
Lasertechnik verschweißt – höchst aufwändig,
aber so konnte der Armreif entstehen.
? Karl Lagerfeld hat einmal zu
mir gesagt, es sei für seine Arbeit
ganz wichtig, dass seine Handwerker
seine Zeichnung richtig verstehen.
Sie machen ja sicherlich auch keine
technischen Zeichnungen, sondern eher
„Anmutungsskizzen“, oder?
! Ja genau. Und mein Team versteht
meinen Kugelschreiberstrich ganz
vortrefflich. Dadurch aber, dass ich gelernter
Goldschmied bin, weiß ich, wo die Grenzen
sind. Wobei ich – das muss ich gestehen –
gerne bis an die Grenzen des Machbaren
gehe. Weil ich nichts langweiliger finde als
Stagnation.
Aber das ist nicht nur für mich wichtig.
Denn, wie kann man junge Menschen besser
an einen Beruf binden, als wenn man ihnen
immer neue Herausforderungen stellt. Dann
geht es bei ihnen nicht mehr um das Materielle,
diesen Beruf auszuüben, sondern sie lieben
die Herausforderung. Das ist auch der Grund
für mich, nicht kommerziell zu denken. Denn
wenn ich das täte, wäre ich heute kein so
glücklicher Mensch.
? Das ist wohl Berufung.
! Oder so. Wie auch immer: Ich sehe es als
eine Leidenschaft an, diesen steinigen Weg zu
gehen (lacht von Herzen).
•
N6 Stefan Hemmerle ist mit seinen
Schmuckkunstwerken zu einem Kulturrepräsentanten Münchens geworden.
philosophy
Seite 18
Fotos: Florian Holzherr
Andreas Lukoschik im Gespräch mit
James
Turrell,
der 1943 in Los Angeles geboren
wurde und heute zu den bedeutendsten
Künstlern der Gegenwart gehört,
studierte in Los Angeles Kunst und
Kunstgeschichte, Mathematik und
Psychologie. Er hielt sich immer fernab
von Trends und Moden und nahm sich
Zeit, um sein ganz eigenes Verständnis
von Kunst und Licht zu entwickeln.
So stehen heute gerade seine radikale
Beschäftigung mit dem Licht und
seine aufwändigen „architektonischen
Laboratorien“ einzigartig in der Welt
der Kunst da.
Zentrum des Lebenswerkes von James
Turrell ist der Roden Crater, ein 150
Meter hoher erloschener Vulkan in der
Wüste von Arizona, den er seit 1974 zu
einem künstlerischen Observatorium
umbaut, in dem die verschiedensten
Phänomene des Himmelslichts studiert
werden können.
Anknüpfend an dieses kosmische
„Licht-Observatorium“ entstand
in diesem Jahr im Kunstmuseum
Wolfsburg „The Wolfsburg Project“.
Es handelte sich dabei um das größte
Ganzfeld Piece, das James Turrell je
für ein Museum konzipiert hat: Ein
begeh- und erfahrbarer Raum aus Licht.
Auf 700 qm Fläche und mit 11 m Höhe
entstanden zwei ineinander gehende
Räume – ein Betrachterraum, der
so genannte Viewing Space, und ein
Erfahrungsraum, der Sensing Space.
Beide Räume waren vollkommen leer
und wurden mit langsam sich änderndem
Farblicht geflutet. Dabei kam neueste
Lichttechnologie zum Einsatz.
Wer es nicht geschafft hat, im
Kunstmuseum Wolfsburg diese wahrlich
überwältigende Arbeit Turrells
anzuschauen, findet im Zentrum für
Internationale Lichtkunst in Unna zwei
große Arbeiten von ihm in der ständigen
Ausstellung.
Vom 13.10. bis 12.12. findet
außerdem in der Gagosian Gallery, 17-19
Davies Street, London W1K 3DE, eine
Ausstellung mit Arbeiten von James
Turrell statt.
Im deutschsprachigen Raum wird
James Turrell von der Galerie Häusler
Contemporary in München und Zürich
vertreten.
Entering
the Painting –
Das Bild
betreten
James Turrell, Bridget’s Bardo
Seine Arbeiten sind wohl die elegantesten
aller zeitgenössischen Künstler. Elegant,
weil er sich keiner Symbole bedient und
auch kein symbolisch assoziatives Denken
fördern will. Er zeigt keine Gegenstände
oder Abbilder und auch keine abstrakten
Zeichen. Er zeigt nur eins: Licht. Seine
bestechende Logik dabei: „Wenn man
weder einen Gegenstand noch ein Bild noch
einen zielgerichteten Blick hat, worauf sieht
man dann? Man sieht sich selber.“
Eine nette Theorie? Mit „Bridget’s
Bardo“ im Kunstmuseum Wolfsburg
hat James Turrell nicht nur das größte
Lichtprojekt seiner bisherigen Arbeiten
geschaffen – immerhin 8500 Kubikmeter
flutendes Licht – sondern er hat damit
auch die letzten Zweifler überzeugt.
Was heißt überzeugt – überwältigt!
Den ganzen Sommer über ließ er tagaus
tagein Hunderte von Besuchern aus ganz
Europa erst Schlange stehen und dann
staunen. Denn hier sah man tatsächlich
Licht als Gegenstand. Man tauchte ein in
einen anfassbaren Raum aus Licht. Man
schaute in eine Wand aus Licht, verlor
die Orientierung und das Raumgefühl.
Farbiges Licht quoll einem entgegen, fiel
wie Rauch von oben herab, stand wie eine
physische Mauer vor einem. Aber so ist
es bei James Turrell: Man kann in seinen
Lichträumen die Augen bewegen, ohne
dass das Gesehene wie bei einem Nachbild
verschwindet. Man schaut und schaut
und sieht tatsächlich das, was hinter den
eigenen Augen ist. Eine Erfahrung, die
nicht esoterisch gemeint ist, und dennoch
solche Perspektiven eröffnet. Einfach nur,
indem man schaut.
Leider ist diese spektakuläre
Lichterfahrung nun vorbei. Das
Kunstmuseum Wolfsburg zeigt einen
anderen Künstler. Aber man kann
trotzdem erfahren, was Turrell mit seinen
Arbeiten meint. Zum Beispiel in einem
Raum ... ganz ohne Licht – im „Dark Space
– thought when seen“ im Hannoverschen
Sprengel Museum: Ein fast völlig dunkler
Raum, dessen Windungen man zunächst
nur mit Hilfe eines Geländers betreten
kann. Am Ende des dunklen Ganges setzt
man sich auf einen Stuhl und schaut ins
Dunkel. Erst nach einiger Zeit lässt sich
an dem Gesehenen feststellen, ob die
Augen geschlossen sind oder offen. So
dunkel ist es dort im ersten Augenblick.
Und erst viel später stellt man fest, dass
der Raum doch nicht ganz dunkel ist,
sondern schimmert. Doch da sieht man
schon wieder mit den eigenen Augen – ein
mildes Licht aus dem Nichts kommend.
Wem es weder im Licht noch im
Dunkeln dämmert, schaut bei Turrell in
den Himmel. In seinen überall auf der
Welt errichteten „Skyspaces“.
Den größten hat er in Arizona
errichtet, in einem erloschenen Vulkan –
Roden Crater –, den er sich gekauft
hat und seitdem zu einer gigantischen
Himmelsbetrachtungsanlage ausbaut.
Bei einem Glas von Turrells
Lieblingswhiskey „Old Quaker“ sprach
Andreas Lukoschik mit James Turrell
über seine Erfahrungen und dessen
Arbeit. Oder besser gesagt, Turrell
begann das Gespräch mit einem
bemerkenswerten Hinweis:
! Wussten Sie, dass man vor kurzem im Eis
der Antarktis die Whiskeyflaschen gefunden
hat, die dort einst Shackleton bei seiner ersten
Expedition in einem Unterstand deponiert und
zurückgelassen hatte? Er ist immer noch in
perfektem Zustand. Das Eis konnte ihm nichts
anhaben. Er verändert sich nicht sehr stark in
der Flasche. Er ist nicht wie Wein. Und wussten
Sie, dass Shackleton Quaker war?
Ich mag den Bourbon „Old Quaker“. Meine
Frau hat es fertig gebracht, einige Flaschen
davon über das Internet zu besorgen, weil ich
gesagt hatte, Quaker haben niemals Whiskey
gemacht, bis ich die Flaschen sah und gekostet
hatte. Jetzt habe ich etwas mehr als drei
Flaschen davon zuhause.
? Haben Sie schon mal Whiskey mit
echtem Gletschereis gekostet? Es gibt
dem Whiskey eine fantastische Note.
! Der beste Weg ist überhaupt kein Eis. (lacht)
? Als ich im Sprengel Museum im
„Dark Space“ auf dem Stuhl saß und
sich meine Augen an die Dunkelheit
anpassten, sah ich hunderte von grafischen
Mustern vor meinen offenen Augen
auftauchen und ich fragte mich, ob Sie
auch so einen Dunkelraum zuhause
haben, um sich sozusagen wieder auf
Null zu kalibrieren, wenn Sie lange mit
farbigem Licht gearbeitet haben.
! Ja natürlich. Es ist für mich die visuelle
Ruhe, durch die ich runterkommen kann
und wieder zum wesentlichen Punkt
finde. In gewisser Weise ist diese Arbeit im
Sprengel Museum sehr ähnlich meinen
Erinnerungen an meine Kindheit als ich
ins Bett zum Schlafen ging. In einem solch
dunklen Raum lässt man die Bilder des Tages
frei. Das sind alles Nachbilder im eigenen
Auge und Gehirn. Es ist wie zu Beginn
einer Meditation, wenn alle diese visuellen
Informationen hochkommen. Wir müssen
sie regelrecht löschen. Diese Art zu sehen
ist eine Zwischenform zwischen dem Sehen
mit offenen Augen und dem Sehen mit
geschlossenen Augen. Sehen Sie, wir haben
im Traum volle Sicht trotz geschlossener
Augen. Es gibt keine Stimulation der Augen.
Es ist nur die Vision, die aus der Vorstellung
kommt. Es ist keine Erinnerung, denn oft
haben wir Träume, die wir noch niemals
zuvor hatten. Manchmal kann es sogar
eine Vor-Erinnerung sein wie bei einem
Déjà-vu-Erlebnis. Was soviel heißt wie eine
Erinnerung an etwas, das noch kommen
wird. Ein sehr interessantes Phänomen.
Wir wissen um das Licht im Traum. Aber
wir neigen dazu, es zu vergessen. Und der
Traum verschwindet vom Moment an, da wir
aufwachen.
James Turrell, Roden Crater, Plaza
? Wenn das Tageslicht kommt,
vergessen wir das innere Licht?
! Genau.
? Sie erwähnten gerade Meditation.
! Ja, wir haben die Tradition der Meditation
ja auch im Westen. Sie ist zwar traditionell
mehr im mönchischen Bereich zuhause aber
auch im Judentum, in der Kabbala, finden wir
sie. Ich komme aus der Religion der Quaker,
die diese Form der Meditation während
ihrer Zusammenkünfte ebenfalls pflegen. Im
christlichen Glauben folgen wir dieser Tradition
weniger, weil das Christentum mehr den Weg
des Paulus geht als den des Jakob. Jakob war der
Bruder von Christus und war tatsächlich das
erste Oberhaupt der Jerusalemer Kirche.
? Jakob?
! Nun, die katholische Kirche spielt das
ein wenig runter, weil sie die Bedeutung der
Jungfräulichkeit Marias betonen will. Maria
hatte mehrere Kinder nach Christus. Wir
kennen mindestens vier davon. Sie stehen in
der Bibel. Aber alles, was ich sagen will, ist:
Meditation ist tatsächlich eine langjährige
westliche Tradition.
? Wollen Sie den Betrachtern Ihrer
Arbeiten einen Weg zur Meditation
eröffnen?
! Nun, das ist ein guter Weg, die Macht
des Lichts zu spüren. Aber in einer Arbeit wie
dem „Wolfsburg Project“ brauchen Sie nicht
zu meditieren, um die Kraft des Lichts zu
fühlen. Dort erleben Sie eine überwältigende
Präsentation davon.
Normalerweise nutzen wir ja Licht,
um andere Dinge zu beleuchten. Wir
schenken dem Licht selbst eher weniger
Aufmerksamkeit. Aber ich liebe die Idee,
Licht so zu schätzen, wie wir Gold und Silber
schätzen.
Ich bin an dieser Dinghaftigkeit des
Lichts selbst interessiert. Und genau diese
Dinghaftigkeit des Lichts auszuzeichnen, ist
das Thema meiner Arbeit. Es plastisch sichtbar
zu machen. Zu zeigen, dass Licht ein Material
ist. So wie ich Licht als Mittel einsetze, ist
es Material, um unsere Wahrnehmung zu
beeinflussen. Denn Wahrnehmung hat eine
Menge damit zu tun, wie wir die Wirklichkeit
erschaffen. Deshalb ist meine Arbeit eine Art
von behutsamer Frage, wie wir die Wirklichkeit
erschaffen, in der wir leben.
Ihr Besuch im „Dark Space“ war übrigens
eine gute Vorbereitung auf Wolfsburg. Für
mich ist es eine Art Vorbereitung oder VorAufladung. In gewisser Hinsicht war es in
Wolfsburg eine Schwierigkeit, dass es dort
keinen solchen Platz gab, die Besucher voraufzuladen. Denn das hilft ungemein.
? Sehen Sie sich eigentlich eher als
Künstler oder als Naturwissenschaftler?
! Ich sehe meine Arbeit heute mehr als
Kunst an als zu der Zeit, in der ich jung
war. Ich wollte schon immer mit dem Licht
selbst arbeiten. Dabei nutze ich natürlich
die Naturwissenschaft, aber als Künstler. Ich
denke, dass man mit so einer Arbeit wie dem
„Wolfsburg Project“ sehen kann, was ich immer
wollte.
? Sind Sie eigentlich zufrieden mit
der Arbeit von Florian Holzherr, der
alle Ihre letztlich nicht fotografierbaren
Arbeiten ablichtet, auch die für unser
Magazin?
! Ja sehr. Florian kommt dem Kern meiner
Arbeiten sehr nah. Er musste ja erst lernen,
das Licht selbst zu fotografieren, und das als
Architekturfotograf, der ja sonst Fotos von
sehr konkreten Objekten macht. Aber ich
denke, er holt das Beste raus, was man kann.
? Sie haben Psychologie und
Mathematik studiert. Mich hat
die Mathematik bei meinem
Psychologiestudium sowohl
gelangweilt als auch angestrengt.
James Turrell, Roden Crater, Crater’s Eye
! Vielleicht haben Sie ein bisschen mehr
Arithmetik gemacht als ich. Ich habe mich
um die Boolesche Algebra oder die moderne
Fuzzy-Set-Theorie gekümmert. Eine eher
elegante Suche nach mathematischen
Beweisen. Ein mathematischer Beweis ist
dabei dann und nur dann elegant, wenn er
einige eindeutige und wirklich wunderbar
präzise Schritte hat, um zum „quod erat
demonstrandum“ zu kommen. In der Kunst
geht es nicht darum, was man macht, sondern
um die Eleganz, wie man es ausdrückt. Das
ist eine Art von Erscheinung und Einfachheit.
Ein ziemlich komplexes Thema. Aber diese
Eleganz ist für mich sehr wichtig. Es geht
darum, eine Qualität zu erreichen, dass man
nicht auf eine Wand sieht, sondern das Licht
zwischen den Wänden sieht. Es geht um
den Moment der Epiphanie. Nichts hat sich
geändert, aber alles ist danach anders. Das ist
die Macht, die Kunst hat.
? Wie messen Sie die winzigen
Unterschiede in den Lichtintensitäten,
die Sie ausgleichen, so dass diese
übergangslosen Lichtwände entstehen?
Mit Messgeräten? Oder sehen Sie sie
durch Ihre eigene Sensibilität?
! Jetzt, nachdem ich genug Arbeiten
gemacht habe, sehe ich sie durch meine
eigene Sensibilität. Früher musste ich viele
unterschiedliche Dinge einstellen. Die größte
Veränderung tritt zum Beispiel auf, wenn Sie
den Maßstab der Arbeit verändern. Das Licht
fällt ja ab mit dem Quadrat der Entfernung.
Wenn Sie also die Größe ändern, funktioniert
es nicht mehr. Und wenn ich beim Aufbau
im Museum versuche, dass eine Installation
funktioniert, denkt jeder, ich wüsste genau, was
ich tue. Dabei kämpfe ich um die Lösung. Auch
bei dem „Wolfsburg Project“ ging es mir so.
Heute kann man allerdings sehr raffinierte
und delikate Lösungen mit dem Computer
und einzeln zu steuernden LEDs erzielen.
Davon gab es in Wolfsburg Tausende! Früher
habe ich Glühbirnen und Tapes verwendet.
Es kam mir vor wie „Bulbs & Bondage“: Mehr
Tapes um die Birnen wickeln, damit das Licht
weicher wurde.
? Machen Sie diese Computersteuerung
selbst oder haben Sie dafür Spezialisten?
! Ich habe zwei Spezialisten. Der eine
macht ansonsten die Lightshows bei Broadway Musicals und der andere bei Rock’n’RollKonzerten. Gerade bei Rock’n’Roll-Konzerten
gibt es ja oft keine Proben, eben weil es
Rock’n’Roll ist. Und deshalb sind die beiden
für Echtzeitprogrammierungen exzellent.
? Sind Sie ein Rock’n’Roller?
! Nun, ich mag Rock’n’Roll, aber
ansonsten ist meine Arbeit das Gegenteil
von Rock’n’Roll. Alles, was ich tue, ist, zu
entschleunigen, anstatt Gas zu geben.
? Ein wichtiger Begriff für Ihre
Arbeiten ist „Entering the Painting“, also
das Bild betreten. Wie meinen Sie das?
! Wenn Sie nach Den Haag oder Luzern
fahren, finden Sie dort eines der letzten
Panorama-Gemälde. Das war eine sehr
interessante Kunstform, die ein Bild sein
wollte, aber tatsächlich eine Installation
war. Zum Betreten. Als ich mich damit
beschäftigte, löste es etwas aus, was ich
„Revision meines Denkens“ nenne. Daraus
? Was passierte mit dem „Wolfsburg
Project“ nach der Ausstellung?
! Es wurde abgebaut.
? Wie ist das für Sie, wenn eine so
großartige Arbeit abgebaut wird und
verschwindet?
! Oh, es ist eine Tragödie. (lacht) Aber
ich bin an dieses Drama gewöhnt. Das
passiert mir ca. sechsmal im Jahr. Nach jeder
Ausstellung eben.
? Das ist aber einzigartig, oder?
Normalerweise erschafft ein Künstler
doch eine Arbeit auf Leinwand oder in
Marmor und dann bleibt diese Arbeit
für immer im Museum.
! Richard Serra hatte dieses große Objekt
„Tilted Arc“ vor einem Bundesgebäude in New
York gehabt. Dann entschied die Verwaltung,
es abzubauen. Da sagte er, dass er sofort nach
Lorem
dolor
consectEuropa ipsum
zöge, wenn
sie sit
dasamet,
machen
würde.
etur
adipisicing
elit,
sed
do
eiusmod
So sauer war er darüber. Sehen Sie,
meine
tempor
Arbeiten incididunt.
kommen und gehen. Jedes Jahr.
? Was bekommt eigentlich ein Sammler,
wenn er eine Ihrer Arbeiten kauft? Der
große Schweizer Sammler Donald Hess
sagte: „Ich kenne James Turrell seit 30
Jahren. Die Kunstwerke, die ich von
ihm gekauft habe, waren Bücher mit
Farbbeispielen, wie die Wände aussehen
würden. Ich hatte neun von diesen Büchern.
Und eines Tages hatte ich keine andere
Chance als diese Räume zu bauen.“
! Ja, er sagte: „Verdammt, ich habe
nur diese Bücher. Jetzt will ich endlich
diese Kunst.“ Und dann baute er diesen
fantastischen Skyspace hoch oben in den
Bergen Argentiniens, in Colomé, wo er ein
Weingut besitzt. Und wir werden auch noch
einen bauen im Nappa Valley, wo er ein
weiteres fantastisches Weingut hat. Er hat
übrigens eine sehr schöne Sammlung von
Rothko’s, Baselitz’s und Francis Bacon’s.
Ich habe in meinem Leben immer an den
Fortschritt geglaubt. Aber jetzt verstehe ich,
dass ich eine Kunst mache, die ins Nirgendwo
führt. Wenn Sie also das nächste Mal im
Nirgendwo sind, werden Sie dort meine
Kunst finden. Und mit Nirgendwo meine
ich nirgendwo wie Colomé (Argentinien),
Bentonville (Arkansas) oder das Chichu Art
Museum auf der japanischen Insel Naoshima.
Ich hatte immer die Idee, überall
auf der Welt Orte zu haben, wo ich die
Dämmerung, die ja überall je nach Jahreszeit
unterschiedlich lang ist, beobachten kann. Ich
habe jetzt einen in Tasmanien, einen am Kap
der Guten Hoffnung und einen in Norwegen,
wo ich jetzt hinfahre, um mit dem Polarlicht
zu arbeiten. Sie sehen: Ich bin der Typ mit der
Kunst in the Middle of Nowhere!
(lacht aus vollem Herzen)
•
N6 James Turrell verkörpert mit seiner
Kunst einen Stil, den Nachmann Rechtsanwälte
sehr schätzen, nämlich nach Lösungen zu suchen,
die in ihrer Klarheit elegant sind. Sein exklusiver
Fotograf, Florian Holzherr, ist seit langen Jahren
Mandant von Nachmann Rechtsanwälte.
James Turrell, Roden Crater, East Portal
resultiert die Arbeit, die ich mache. Es ist
das Betreten eines Bildes, das mehr aus dem
Schauen kommt als aus der Skulptur. Denn
meine Räume sind hypothetische Räume,
allerdings in drei Dimensionen. Deshalb sind
es eher Malräume oder Räume, die plastisch
gemacht worden sind, als Ersatz von Räumen,
wie man sie bei der Bildhauerei schafft.
Bei meinen Arbeiten möchte ich, dass
man das Licht fühlen kann, als ob man
es berühren könnte. Als etwas, das einen
physisch beeinflusst. Fast körperlich. In das
man eintauchen kann. Man ist nicht länger
außerhalb, sondern mittendrin. Der Anfang
zu diesem Bildverständnis kam mit diesen
Leuten, die die Dioramas und Panoramas
gemalt haben. Es ist wie die imaginären
Räume in unseren Träumen. Ich erschaffe sie
in meinen Arbeiten – betretbare Visionen.
Seite 30
Der
mini
malist
Ein Jungs-Gespräch mit Dr. Wolfgang
Armbrecht, General Director Brand
Management Mini, über das erste Auto
im Leben eines Mannes, den legendären
Mini, seine Fahrerinnen und Fahrer
und die Lust an der Ökologie.
? Herr Armbrecht, Sie waren ja auch
mal achtzehn und haben sich Ihr erstes
Auto zugelegt. Was für eine Marke war
das?
! Kraftfahrzeuge fand ich schon weit vor
dem achtzehnten Lebensjahr gut. Mit etwa
zehn lenkte ich zum ersten Mal ein Auto. Es
war ein Mercedes 190 D und ich saß auf dem
Schoß meines Vaters. Richtig selbst Fahren
habe ich mit etwa zwölf Jahren auf einem
alten Normag-Traktor gelernt. Wir lebten
damals auf dem Land und auf den Wiesen
und Feldwegen ging so etwas... Mit achtzehn
bekam ich mein erstes eigenes Automobil,
einen Volkswagen 1200 in Orange. Ein tolles
Auto! Nur im Winter war es manchmal
schwierig. Die Heizung hatte so ihre Launen.
Oft vereisten die Scheiben innen. Dann fuhr
man mit nur einer Hand und kratzte mit der
anderen. Und wenn es den Kratzer nicht gab,
dann musste die Hülle einer Musikkassette
herhalten.
? Sie hatten einen Kassettenrekorder im Auto? Davon habe ich mit
achtzehn nur geträumt!
Illustration: Peteris Lidaka
my munich
! Ja, der Kassettenrekorder war damals
wichtiger als das Radio. Ein guter Sound
gehörte einfach zum Fahren dazu. Heute ist
der Rekorder zwar ein mp3-Player. Sonst
aber hat sich in punkto Sound nicht viel
geändert. Die Krönung war ein 1302 S. Mit
immerhin 50 PS.
? Gigantisch. Da war ja dem
Geschwindigkeitsrausch Tür und Tor
geöffnet.
! (lacht) Ja und wie! Bis es einen Punkt in
Flensburg gab. Dann war es vorbei mit dem
Rausch.
? Hatten Sie auch mal ein Cabrio?
! Ja, aber erst viel später. Cabriolets
passten damals noch nicht in mein Budget.
Beim Stahlschiebedach war Ende. Immerhin
war das ja auch schon mal was.
? Danach sind Sie auf bmw
umgestiegen?
! bmw gab es schon recht früh. Denn
neben dem Auto lief, zumindest im Sommer,
ein Zweirad. Am Anfang war es ein Moped,
eine Hercules K 50, dann ein Oldtimer, eine
wunderbare nsu Fox, Viertakt, mit 98 cm3.
An diesem Motorrad habe ich sehr viel über
Motoren gelernt. Mein Vater, ein Landtierarzt,
hat mir da viel gezeigt. Später dann kam
die erste bmw, eine bmw R 90/6. Dieses
Motorrad war ein echter Traum. Halb Europa
haben wir mit der R 90/6 bereist. Später stieg
ich auf die Sportversion, die bmw R 90 S,
um. Das war noch einmal ein ordentlicher
Sprung. Immerhin lag die Nsu Fox bei etwa
6 PS und die R 90 S bei knapp unter 70 PS.
Sie war original in Orange und hatte eine
kleine Sportverkleidung. Das war Anfang
der achtziger Jahre und während meines
Studiums. Eine tolle Zeit!
? Und jetzt fahren Sie einen Mini.
Ist das Motorradfahren für Feiglinge?
! (lacht laut) Nein, nein, wirklich nicht!
Mini ist einfach ein starkes Statement.
Ein tolles Design, ein außergewöhnliches
Fahrerlebnis und zudem ein klares Signal,
die Zeichen der Zeit erkannt zu haben.
Nehmen Sie etwa den Mini John Cooper
Works. Das ist angenehmes Understatement,
Technik und Wertigkeit vom Feinsten, 211
PS und die Fahrdynamik eines Sportwagens.
Gleichwohl bleibt es ein Mini, dem man
bis in jedes Detail die Leidenschaft seiner
Kreateure anmerkt. John Cooper hatte bereits
Ende der 50er Jahre das sportliche Potenzial
des Minis entdeckt und dieses dann immer
wieder sehr pfiffig, etwa über den mini
Cooper, ausgebaut. Ursprünglich war der
mini ja nicht als ein Automobil für den Sport
geplant. Es sollte ein gutes Auto für die breite
Masse werden. Sir Alec Issigonis, der später
dafür geadelte Chefkonstrukteur, sah im
mini die Antwort auf die Energiekrise in den
Fünfzigern. Er wollte vor allem eines, nämlich
möglichst viel Platz auf möglichst wenig Raum
und das bei günstigem Unterhalt. Issigonis‘
Credo hieß „Creative Use of Space“ und führte
zu einer Revolution im Fahrzeugbau, dem
erstmals quer eingebauten Motor. Dadurch
konnte er, wie wir sagen, das Package
optimieren, also eine Karosserieanordnung
hinbekommen, die einfach mehr Platz im
Innenraum bot.
? Was war so kompliziert daran, den
Motor quer einzubauen?
! Nichts. Es hatte zuvor nur keiner daran
gedacht, den Motor um 90 Grad zu drehen.
Konvention war bis dato der Motorenverbau
in Reihe, vom Fahrgastraum in Richtung
Kühlerspitze und darüber dann eine schöne
lange Motorhaube. Mit dem Querverbau
war der mini das erste Fahrzeug und der
Wegbereiter dieser Bauart. Gleichzeitig
rutschten die Räder ganz weit nach außen. Wir
nennen das das Ein-Rad-an-jeder-Ecke-Prinzip.
Dazu entstanden absolut kurze Überhänge, die
wiederum zum mini-typischen Fahrverhalten,
dem Gokart-Feeling, führten. mini-typisch
ist aber auch, um beim Exterieur zu bleiben,
die steiler gestellte Windschutzscheibe. Wir
behalten auch sie bis heute bei, weil sie dem
Fahrzeug einfach einen attraktiveren Auftritt
gibt. Nur so bleibt der mini ein „Face in the
Crowd“ und unterscheidet sich von anderen
Kleinwagen. Es sind also kleine, aber wichtige
Feinheiten außen wie innen, die den mini zu
etwas Besonderem machen.
! Es sind auf jeden Fall Menschen, die
etwas fahren wollen, das unterscheidet. Etwas,
durch das man sich aus dem Meer eher
gleichförmiger Fahrzeuge abheben kann. Dazu
möchte der Kunde sein ganz persönliches
Automobil konfigurieren können: in Farbe,
Materialität und sonstiger Ausstattung. miniKunden sind im Durchschnitt zwischen 35
und 45 Jahre alt. Sie sind Singles oder in
jungen Familien und sie sind selbstbewusst,
kommunikationsstark und vertreten engagiert
ihre Meinung. Zudem haben sie ein gutes
Gespür dafür, was angesagt ist und was
kommt. mini-Kunden erkennen und setzen
Trends. Sie arbeiten häufig in den kreativen
Nischen der Gesellschaft, etwa in Agenturen
oder im Medienbereich oder sie sind im
freiberuflichen, aber auch im künstlerischen
Umfeld unterwegs. Wir pflegen ein enges
Verhältnis zur mini-Community. Denn
genauso aktiv wie hier über Gegenwart
und Zukunft gesprochen wird, wird über
Automobile diskutiert, und das wird uns oft
genug über unsere Online-Plattformen direkt
mitgeteilt. Wie gesagt: mini-Kunden sind sehr
aktiv, und das ist für uns eine große Chance.
Ein anderes Beispiel: Wir bringen im
Herbst den neuen mini Countryman auf
den Markt – der erste mini mit vier Türen,
vier Metern Länge und Allradoption. Neu im
Interieur ist ebenfalls eine multifunktionale
Schiene, in die man vom Cupholder oder
Brillenetui bis zum iPhone verschiedene
Features einklipsen kann. Nun haben wir
dazu einen kleinen Wettbewerb auf unserer
Community-Page ausgeschrieben. Thema:
Schlagt uns vor, was Ihr dort installieren
würdet. Bisher sind mehr als 800 richtig gute
Vorschläge gekommen inklusive skurrilwitziger Dinge wie etwa einen Hundenapf
für den mitfahrenden Vierbeiner. Anlässlich
des Pariser Automobilsalons im Oktober
prämieren wir die besten Vorschläge und
setzen sie dann um.
Noch ein Beispiel: Unser aktueller
Jahreskalender minimalism zum Thema
Nachhaltigkeit und mini ist ausschließlich
von Community-Membern gestaltet worden.
Das alles sind Chancen, aber natürlich
auch Risiken. Denn, was immer wir tun, muss
glaubwürdig sein. Wo Erwartungen geweckt
werden, ist diesen zu entsprechen. In Summe
ist das aber auch gut. Denn wir machen ja
Produkte für unsere Kunden. Marketing ist
insofern tatsächlich Führung vom Markt her.
Eine schöne Aufgabe, vor allem mit einer
anspruchsvollen Klientel.
? Und was passiert dann mit diesem
Feedback?
? Das muss für Sie als Markenchef ja
geradezu ein Vergnügen sein?
! Es fließt etwa in unsere Produktentwicklung mit ein. Oder wir nutzen das
Feedback für neue Angebotsvorschläge, zum
Beispiel die Gestaltung des mini-Dachs. Wer
heute ein besonderes Dach-Design möchte,
kann dies selbst gestalten. Der Vorschlag
geht dann über die Community-Page an den
Handel und von dort via spezieller Folien
direkt aufs mini-Dach. Eine tolle Form der
Individualisierung. Der gesamte Prozess
ist das Ergebnis immer wieder geäußerter
Kundenwünsche.
! Entscheidend ist, zu verstehen, wie hier
kommuniziert wird und wie hier soziale
Beziehungen entstehen. Die elektronischen
Medien und vor allem die sozialen Netze
bieten sicher den Vorteil, einfach direkter und
enger mit Menschen verbunden zu sein. Wir
bedienen im Wesentlichen Facebook, Twitter
und YouTube. Dazu kommt noch die mini
Space, unsere eigene Plattform. Direkter
und enger heißt aber auch, schneller zu sein.
Wenn wir Kommentare oder Anfragen nicht
kurzfristig beantworten, werden wir im Netz
? Liebt der mini-Fahrer solche
Feinheiten? Oder anders gefragt, gibt es
eine Charakterisierung der Menschen,
die mini fahren?
regelrecht niedergemacht. Wobei ich das
nicht weiter verwunderlich finde. Denn wer
etwas wissen will und sich an uns wendet,
hat eine Antwort zu bekommen. Wie oft
versickert heute Kundenkommunikation im
Cyberspace? Das Netz arbeitet hier gegen den
gelegentlichen Vorwurf der Arroganz großer
Organisationen. Es zwingt quasi zu neuer
Verbindlichkeit, und das ist, positiv verstanden,
eine enorme Chance.
? Ist der mini vielleicht selbst ein
fahrbares soziales Netzwerk?
! Ja, in gewisser Weise schon. Immerhin
bewegen sich auf unseren Plattformen etwa
500 000 an mini interessierte Menschen.
Stellen Sie sich nur vor, jeder zweite würde
über die Zeit zu einem Kunden. Fahrbar ist das
Netz im Übrigen auch. Die mini-Community
schätzt Vernetzung überaus. Und deshalb wird
es ab der Modellüberarbeitung im Herbst in
allen minis mini Connected geben. Das ist
Facebook im mini. Das ist Webradio im mini
– übrigens als erster Hersteller überhaupt. Und
das ist „Text-to-Speech“, das Vorlesen von
Nachrichten oder E-Mails im Auto.
? Der mini-Mensch will ja
offensichtlich mehr von seiner Marke.
Wie steht er denn zur Ökologie?
! Etwa ein Drittel der mini-Community
sind sogenannte lohas, also Menschen,
denen ein „Lifestyle of Health and
Sustainability“ wichtig ist. Themen der
Nachhaltigkeit spielen hier eine besondere
Rolle, auch im Feld der Mobilität. Speziell
dieser Klientel bieten wir unter dem Begriff
minimalism Technologien an, durch die
ökologischen Bedürfnissen entsprochen
werden kann. minimalism heißt, mit
möglichst wenig möglichst viel zu erreichen.
Darum ging es beim mini von Anfang an,
denken wir nur an das erwähnte Credo vom
„Creative Use of Space“. minimalism ist
aber auch Motorentechnik. So bieten wir
den mini Cooper Diesel mit 110 PS, einem
Verbrauch von 3,9 l auf 100 km und einem
CO2-Wert von 104 g an. Technisch geht es da
um Start-Stop-Automatik, um BremsenergieRückgewinnung oder um die GangWahlanzeige. In Kürze bieten wir zudem ein
speziell ökologisch ausgelegtes Fahrzeug, den
mini Minimalist, der insbesondere im CO2Ausstoß noch einmal besser wird. Er kommt
unter 100 g.
? Nun haben Sie für Ihre Feldstudie
mit dem Elektro-mini ja sogar
600 Autos im Dauertest. Welche
Erkenntnisse ergeben sich daraus?
! Durchgeführt wird das Projekt in den
USA, in England, in Deutschland und bald
auch in Frankreich und sogar in China. Die
Fahrzeuge werden in Kundenhand gegeben
und insofern unter Alltagsbedingungen
erprobt. Wir wollen daraus lernen. Denn
nach wie vor gibt es mehr offene Fragen
als Antworten. Die ersten Erkenntnisse
sind vielversprechend. Kunden, die dieses
Fahrzeug länger fahren, unterscheiden
zum Beispiel nicht mehr zwischen einem
konventionellen und einem elektrisch
betriebenen Fahrzeug. Soll heißen, für
die meisten Kunden ist der Umstieg kein
Problem. Im Durchschnitt fahren die Nutzer
zwischen 20 bis 30 km am Tag. Bei einer
Reichweite des mini E von je nach Fahrweise
150 bis 180 km sind das gut fünf Tage. Erst
danach muss er wieder ans Netz.
anzunehmen, nämlich uns mit dem mini e auf
dem Nürburgring zu messen. Das Ergebnis
lag bei 9.50 min für die gut 20 km lange
Distanz der Nürburgring-Nordschleife. Mit
einer Spitzengeschwindigkeit von 187 km/h.
Das ist Rekord für ein Elektrofahrzeug auf
dieser Strecke.
Noch läuft der Großversuch, aber wir
wissen schon jetzt, dass das ein wichtiger
Schritt nach vorne ist. Und wir sind
zuversichtlich, dass der mini e einen
wichtigen Beitrag leistet.
? So ein Projekt kostet ja richtig
Geld?
! Ja, nehmen Sie zum Beispiel die
Batterien. Sie können heute vergleichbare
Energieträger erwerben für etwa 30 000
Euro pro Einzelstück. Insofern wäre
das elektrische Fahren aktuell ein eher
aufwändiges Unterfangen. Bliebe es dabei,
wäre eMobilität wirtschaftlich nicht sinnvoll
darstellbar. Erst der weitere technische
Fortschritt und die Durchsetzung auf
breiter Front führen zu deutlich niedrigeren
Economies of Scale. Dies bedarf weiterer
Zeit und erheblicher Anstrengungen von
verschiedenster Seite.
? Der ehemalige Sap-Vorstand Shai
Agassi ist ja gerade dabei, als Erster
weltweit in Israel ein landesweites
Netz an Batteriewechselstationen
aufzubauen. Ist so etwas für den mini
auch im Fokus?
? Wie lange dauert das?
! Mit Kraftstrom bei einer Leitung von
50 Ampere geht das inzwischen zwei bis drei
Stunden. Mit normalem Haushaltsstrom
dauert es etwa zehn Stunden, geht also
über Nacht. Wichtig war uns aber auch,
den Fahrspaß zu erhalten. Der mini e
beschleunigt in acht Sekunden auf 100 km/h.
Das ist doch erstaunlich und hat uns dazu
ermutigt, eine noch größere Herausforderung
! Der mini e verfügt derzeit über eine
stationäre Batterie, die im Fahrzeug wieder
aufgeladen wird. Für den Kunden sollte die
Fahrzeugnutzung so einfach wie möglich
sein. Was sich letztlich durchsetzt, entscheidet
der Markt. Klar ist auch, dass wir vor einem
Paradigmenwechsel stehen. Mobilität wird
in den nächsten 15 bis 20 Jahren eine
grundlegende Veränderung erfahren.
? Das Schöne an Ihrem Feldversuch
scheint die Erkenntnis zu sein, dass man
auch bei ökologisch rücksichtsvollem
Handeln Spaß am Fahren haben kann.
Denn der deutsche Mensch neigt ja
gerne dazu, anzunehmen, dass Ökologie
gleichbedeutend mit mönchischer
Enthaltsamkeit ist.
! Ja, ein mini e ist in keiner Weise eine
Verzichtserklärung. Das Fahren bereitet
genau die Begeisterung, die wir mit allen
unseren mini-Produkten vermitteln wollen.
? Werden Sie als Chef der Marke denn
auch in Designänderungen gefragt?
! Designvorschläge verantworten
die Design-Kollegen. Die letztendliche
Entscheidung hat dann das Managementboard. Wir sind aber bei jeder
Entscheidung mit einbezogen. Denn als
Markenmanagement sind wir die Anwälte
für Kunde und Markt und vermitteln
Anregungen oder Vorstellungen aus Sicht der
mini-Community.
? Dann können Sie mir ja sicherlich
die Frage beantworten, wie knuddelig
der mini sein muss, um bei Frauen
anzukommen und wie rasant, damit die
Herren ihn auch fahren wollen?
Die Fotos zeigen die Eröffnung von Xiao Hui Wangs Ausstellung „2010 Dream Plan”, die
sie zusammen mit Tausenden von jungen Chinesen als interaktives Projekt anlässlich der
Weltausstellung in Shanghai gestaltet hat. Die Ausstellung fand im Shanghai Sculpture
Museum statt und wurde von bmw mini gesponsert.
! Der mini muss in der Tat auf jeden
Fall freundlich sein und ein wenig lächeln.
Es geht hier zwar um ein Produkt. Für viele
mini-Freunde ist da aber ein wenig mehr,
eine Art emotionale Beziehung. Wir haben
letztes Jahr zum fünfzigsten Geburtstag des
mini Kunden befragt, was denn der mini
für sie sei. Da kam zum Beispiel: Unser
mini ist das Familienmitglied, das in der
Garage wohnt. mini-Design muss also in
der Lage sein, eine emotionale Beziehung
aufzubauen einerseits durch die Form und
andererseits durch das Material. Das ist eine
anspruchsvolle Aufgabe. Es ist aber auch ein
Teil des Geheimnisses des Erfolgs. Der mini
ist „like a Friend“. Das gilt für alle miniModelle.
? Wenn Sie dann neue Entwürfe
sehen, woher wissen Sie, dass die auch
tatsächlich diesen Nerv treffen?
! Das ist Know-how und subjektives
Empfinden. Gefühl! Dazu kommt die
Rückkopplung mit der mini-Community.
Wir stellen erste Concept Cars zum Beispiel
auf Messen, auf Community-Treffen vor und
hören dann zu. Medien, Blogs oder miniFans äußern sich zuverlässig. Wir bekommen
auch hier Feedback, ob etwas funktioniert
oder nicht. Das werten wir dann kritisch aus.
Wie gut die Formensprache eines Produktes
tatsächlich ist, zeigt sich zudem oft erst
nach Jahren. Dann aber auch richtig und mit
der großen Chance, ein echter Klassiker zu
werden.
? Gelingt Ihnen das auch mit dem
aktuellen mini?
! Letztes Jahr haben wir den fünfzigsten
Geburtstag des minis gefeiert mit 25 000
Community-Membern in Silverstone in
England. Das war wie ein großes Familienfest
mit mini-Clubs aus aller Welt. Allein 1300
classic minis waren dabei und über 2000
neue minis. Wir hatten Motorsport, die
mini-Challenge und Paul Weller mit einem
Konzert. Es war eine tolle Atmosphäre. Und
wenn man dann sieht, wie mini-Freunde
miteinander, aber auch mit ihren minis
umgehen, dann kann ich nur sagen: mini ist
schon etwas ganz Besonderes. Die Marke hat
Mythos-Qualität.
? Auch für das aktuelle Programm?
! Ja, das gilt auch für das aktuelle
Programm.
? Sie haben letztes Jahr auf einer
Oldtimer Rallye einen mini mit der
Werksnummer zwei gefahren...
! ... ein besonderes Erlebnis. Speziell
die allerersten minis aus dem Jahr 1959
sind faszinierend pur. Da ist außer dem
Speedometer nicht viel mehr drin. Es
gibt keine Irritationen. Da ist nichts zu
verwechseln. Sie haben lediglich drei
Schalter zur Bedienung. In diesem Fahrzeug
konzentriert sich alles auf allein eines, das
Fahren. In gewisser Weise ist das MobilitätsWellness.
? Aber ein bisschen laut, oder?
! ... fürs Telefonieren bei 80 km/h vielleicht
nicht immer geeignet. In solchen Fahrzeugen
möchte ich aber den Motor hören. Das
Abrollgeräusch darf da sein. Ich möchte auch
die Straße ein Stück weit spüren. Für mich ist
der classic mini kein Sofa auf Rädern, sondern
ein authentisches Erlebnis.
? Holen Sie sich aus diesen miniKlassikern noch die eine oder andere
Inspiration?
! Wenn wir mal nicht mehr
weiterkommen, nehmen wir am Original
Maß. Der classic mini ist der Ursprung.
Manchmal ist es gut, den Kopf auf diese
Weise freizuräumen und dann noch einmal
von vorne anzufangen. Gleichzeitig ist
dies ein wichtiger Weg, um Bewährtes in
die Zukunft zu transferieren und so die
Konsistenz der Marke über die Jahre zu
entwickeln.
! Ich fahre einen mini Clubman, John
Cooper Works, in British Racing Green.
? Und Ihre Frau?
! Einen mini Cabrio.
? Da stellt sich natürlich auch eine
betriebswirtschaftliche Frage. Die
vielen kleinen Design-Spielereien in
individualistischster Mannigfaltigkeit
müssen ja alle produziert werden und
das kostet natürlich eine Menge Geld.
Die erste Zeit hat der mini deswegen
wohl nicht soooo viel Geld verdient.
Verdient er inzwischen?
! Keine Frage! Der mini ist profitabel.
Rein rechnerisch kommen wir mit etwa
220 000 verkauften Autos aus dem Jahr
2009 in die Größenordnung eines daxUnternehmens.
? Okay, darüber denken wir jetzt
alle nach, was das wohl bedeuten
könnte. Und Sie als Marketing-Chef
in diesem latenten dax-Bau haben
deswegen auch keine Angst mit einem
einzigen Autotyp in der heutigen
Autowelt zwischen den Großen
zerrieben zu werden?
! Wieso ein einziges Fahrzeugmodell? Ich
sehe da sechs Modelle. Mit dem mini Hatch
haben wir angefangen. Das ist sozusagen der
Kern-mini. Dann haben wir sehr schnell den
mini Cabrio gebracht. Und dann den mini
Clubman. Jetzt steht der mini Countryman
an, mit vier Türen, Allradoption und vier
Metern Länge, dazu die etwas höhere
Sitzposition. Auf der letzten IAA standen
Konzepte zu mini Coupé und mini Roadster.
Für beide Fahrzeuge gab es grünes Licht. Sie
werden in Kürze kommen.
? Aber Sie persönlich fahren nur
einen?
? Und Ihre Tochter?
! Einen mini Hatch.
? Haben Sie neben den drei minis
auch ein Langstreckenfahrzeug in Ihrer
Garage?
! Ja natürlich meinen mini Clubman! Wir
fahren damit zum Beispiel in die Ferien…
? Dann fahren Sie aber mit zwei
Autos in den Urlaub. Oder? In einem
fahren die Koffer mit und in dem
anderen die Familie.
! Sie wissen wohl nicht, was in einen
mini Clubman alles reingeht. Dieser mini
ist für meine Frau und mich ideal. Zudem
haben wir einen Hund und Gepäck haben
wir auch.
? Das verbindet dann den Clubman
mit dem Ferrari?
! Vielleicht. Mit einem Augenzwinkern
würde ich sagen, nehmen wir doch
einmal die Liter-Leistung. Da ist der mini
Clubmann John Cooper Works auf jeden Fall
auf Augenhöhe.
? Nun denn, dann lassen wir das mal
so stehen: Das Thema, nicht das Auto!
•
N6 Mit Dr. Armbrecht teilen Nachmann
Rechtsanwälte die Liebe zur Oper, die sie wie
BMW und MINI sponsern – jeder in seiner
Größenordnung.
my bavaria
Seite 40
Professor
Hanns Hatt
Immer
Der Nase
Nach
Ein Gespräch über die Erforschung
der ältesten und emotionalsten
Sinnesqualität, des Geruchssinns, mit
Prof. Dr.rer.nat., Dr.med., Dr.med.
habil. Hanns Hatt. Er zählt weltweit zu
den bedeutendsten Geruchsforschern,
wurde im Jahr 2004 für den Nobelpreis
in Medizin nominiert und wird
allgemein als Riechpapst angesehen.
Auf Riechpapst steht er eigentlich nicht
so, weil ihm das viel zu pathetisch klingt.
Aber mit einem Achselzucken erträgt er es,
wenn ihn andere auf diesen Thron hieven.
Nicht ganz zu Unrecht. Denn er hat seit
vielen Jahren die Nase vorn, wenn es darum
geht, im internationalen Wettbewerb der
Universitäten die Geheimnisse des Riechens
zu ergründen. So war Professor Hatt weltweit
der Erste, dem es gelang, aus einem der 350
Gene, die für Riechrezeptoren zuständig
sind, einen Riechrezeptor real entstehen zu
lassen und an ihm nachzuweisen, welchen
Duft er erkennen kann. Und zwar nicht
bei irgendwelchen Ratten, sondern beim
Menschen. Zu allem Überfluss gelang
ihm diese Pioniertat sogar gleich zweimal
hintereinander: Hatt und sein Institut fanden
die Riechrezeptoren für „frische Meeresbrise“
(Helional) und „Maiglöckchen“ (Cyclamal).
Eine wissenschaftliche Sensation. Nicht
Made in USA, sondern Made in Germany.
Genauer gesagt, Made in Bochum, denn dort
lehrt und forscht der Bayer Hanns Hatt seit
1992.
Deshalb liegt mir zu Beginn unserer
Unterhaltung die Frage auf der Zunge,
ob er sich inzwischen an die nordrheinwestfälische Umgebung gewöhnt habe.
Die Antwort gibt mir denn auch gleich zu
denken: „Wenn Sie aus dem Fenster schauen,
dann sehen Sie an diesen wunderbar grünen
Feldern und Wäldern, dass es schlimmere
Orte als Bochum auf der Welt gibt. Aber
am Wochenende waren wieder einmal
bayerische Freunde bei mir und da kam
schon eine gewisse Wehmut auf. Auf der
anderen Seite: Wissenschaftlich gibt es
keinen besseren Ort als die Ruhr-Universität
Bochum. Ich habe schon so viele Angebote
zu wechseln bekommen, aber keines war
auch nur annähernd vergleichbar mit den
Bedingungen hier. Wir haben Platz für 60
Mitarbeiter und das Budget, um die besten
Geräte zu kaufen. Das ist absolut perfekt.
Das Münchner Ministerium dagegen denkt
zum Beispiel, dass es allein eine Gnade ist,
in dieser wundervollen Stadt sein zu dürfen,
weshalb es meint, dass es sich für ihre
Forscher nicht besonders engagieren muss.”
Dazu sei angemerkt, dass Prof. Dr. Dr. Dr.
Hatt seine erste Professur an der Münchner
TU innehatte und weiß, wovon er spricht.
Das bedeutet wohl, so die Erkenntnis des
Berichterstatters, dass die gute bayerische
Erkenntnis: „Wer ko, der ko!“ auf nordrheinwestfälisch heißen müsste: „Wer Hatt, der
hat!“
Themenwechsel. Ich will von ihm
wissen, ob man sagen kann, dass er eine
„Schlüsselloch-Wissenschaft“ betreibe. Er
schenkt mir einen ratlosen amüsierten
Blick. Ich präzisiere: „Sie befassen sich doch
mit Rezeptoren, die zusammen mit dem
passenden Duft nach dem Schlüssel-SchlossPrinzip wie Schlüssellöcher funktionieren
und eine neuronale Informationsleitung in
Gang setzen, die wir als Duftwahrnehmung
registrieren.“ Lachend antwortet er: „Richtig!
Wobei wir als Alleinstellungsmerkmal in der
Riechforschung versuchen, die Breite vom
Molekül bis zur Wahrnehmung abzudecken.
Es gibt ja viele Forscher, die nur wissen
wollen, welcher Rezeptor welches Molekül
riecht. Das würde uns aber nicht befriedigen.
Wir kommen eher von der Anwendungsseite
her und verfolgen von der physiologischen
Reaktion schrittweise den Weg bis zum
auslösenden Molekül zurück.
Zum Beispiel die Frage: Wie kann man
bei einer Tumorerkrankung der Prostata
therapeutisch in die zellulären Prozesse
eingreifen? In diesem Fall vergleichen wir
tumoröses mit gesundem Prostatagewebe
und entlang eines steigenden Gradienten
dieses Duftstoffes zu dessen Quelle, dem
zu befruchtenden Ei, vordringen können.
Chemotaxis nennt man diesen Vorgang.
Und Professor Hatt fand heraus, wie er
funktioniert, nämlich über den Duft des
Maiglöckchens.
Darüber hinaus entdeckten die Forscher,
dass es für jeden menschlichen Riechrezeptor
nicht nur einen Aktivator gibt, sondern auch
einen blockierenden Duft, sozusagen einen
Antiduft. Einem solchen Blockierer des
Maiglöckchenduftes wurden im nächsten
Schritt die Spermien ausgesetzt, wodurch
unter den Spermien sofort große Ratlosigkeit
ausbrach. Keiner wusste mehr wohin. Wer
Woody Allens Film „Was Sie schon immer
über Sex wissen wollten“ gesehen hat, kann
sich diese Situation gut vorstellen. Wie auch
immer. Erneut hatte Professor Hatt einen
völlig neuen Weg aufgezeigt. In diesem Fall
zum Thema Kontrazeption, der nun von
anderen Einrichtungen weiter verfolgt wird.
Beim Thema Geschlechteranziehung
liefern Düfte übrigens nicht nur bei
der Befruchtung höchst unterhaltsame
Einsichten, sondern auch bereits im Vorfeld,
also dann, wenn sich Männer und Frauen
kennen lernen.
Der Mensch denkt,
die Nase lenkt!
So entscheiden Frauen auf olfaktorischer
Basis, ob sie einen Mann sympathisch oder
sexy finden. Im Sympathiefall riecht er
nämlich eher wie ein männliches Mitglied
ihrer eigenen Familie, also Bruder oder
Vater. Findet sie ihn dagegen attraktiv, muss
er vollkommen anders riechen als ihre
eigene Familie. Denn der Eigengeruch eines
Menschen hängt unabhängig vom Geschlecht
mit seiner Genausstattung, genauer gesagt,
mit seinem Immunsystem zusammen.
Anderer Geruch heißt andere Immunabwehr.
Und wenn sich zwei unterschiedliche
Illustration: Peteris Lidaka
und untersuchen, ob im tumorösen
Prostatagewebe die Riechrezeptoren
verändert sind. Wenn das der Fall ist, sagen
wir: Das ist der Riechrezeptor, der uns
interessiert. Als nächsten Schritt erzeugen
wir diesen Rezeptor aus dem menschlichen
Genom heraus und versuchen, in einem
langwierigen Prozess herauszufinden,
welchen Stoff er riechen kann. Wenn wir
das wissen, nehmen wir Prostatazellen und
prüfen, ob sie auf diesen Duft reagieren
und was physiologisch genau in den Zellen
passiert, zum Beispiel, welche Signalwege
aktiviert werden, oder ob sie sich vielleicht
nicht mehr teilen oder was auch immer der
Duft bewirkt. So sind wir übrigens tatsächlich
vorgegangen und haben in den Prostatazellen
einen Riechrezeptor gefunden, der auch
in der Nase vorkommt und der durch
Veilchenduft aktiviert wird. In der Prostata
macht er allerdings etwas Besonderes, er
unterdrückt das Zellwachstum. Er stoppt
also die Proliferation der Zellen. Die erste
Serie der Tierexperimente ist inzwischen
abgeschlossen und es gibt erste Hinweise,
dass die Möglichkeit existiert, das Wachstum
von tumorösem Prostatagewebe nicht nur im
Reagenzglas durch Veilchenduft zu stoppen,
sondern auch in vivo, also im Lebewesen. Wir
müssen jetzt eine zweite Serie starten und
wenn die ebenfalls positiv verläuft, worauf
einiges hindeutet, dann können die Versuche
am Menschen beginnen. Aber das können
wir nicht mehr selbst leisten, sondern das
delegieren wir an spezialisierte Institutionen.“
Mit dieser eher ganzheitlich zu
nennenden Vorgehensweise hat Professor
Hatt viele Zusammenhänge entdeckt, die
auf den ersten Blick unglaublich wirken. So
fand er heraus, dass menschliche Spermien
ebenfalls über einen Riechrezeptor aus
der Nase verfügen und zwar für den
Duft Bourgeonal, eine Komponente des
synthetischen Maiglöckchenduftes. Das
weibliche Ei verströmt einen chemisch
verwandten Duft, damit sich die Spermien
in ihrer dunklen Umgebung zurechtfinden
Immunabwehren zusammentun, kommen
dabei widerstandsfähigere Kinder heraus.
Dieser Orientierungsmechanismus wirkte
nicht nur in der Steinzeit, sondern wirkt bis
heute. Ob wir wollen oder nicht!
Aber nicht nur das. Frauen, die auf der
Suche nach einem Partner sind, bevorzugen
immer Männer, die in ihrem Körpergeruch
unterschiedlich zu ihrem eigenen sind.
Vorausgesetzt die Frau nimmt nicht die Pille.
Doch dazu später.
Während der Schwangerschaft ändert
sich die weibliche Duftpräferenz. Die
Frau fühlt sich dann mehr zu Männern
hingezogen, die so ähnlich wie sie selber
oder ihre eigene Familie riechen. Denn jetzt
ist Brutpflege und Aufzucht angesagt. Und
dabei ist auf die eigene Familie meist mehr
Verlass als auf zeitweise zeugungswillige
Vertreter des männlichen Geschlechts.
Einen Vorgang, den man mit Fug und Recht
Sinneswandel nennen kann und den man als
Hinweis deuten kann, dass Frauen eigentlich
zwei Männer brauchen: einen für die
Zeugung (fremder Geruch) und einen für die
Aufzucht (vertrauter Geruch).
Gemeinhin stößt dieser Gedanke in der
Damenwelt auf nicht uninteressiertes Nicken.
Wenn nicht, kann das etwas mit der Pille zu
tun haben. Die Pille ist ja eine hormonell
induzierte, künstliche Schwangerschaft,
während der die Frau lieber Männer
riecht, die duften wie ihre eigenen
Familienmitglieder. Doch was passiert,
wenn sie ihren Ehemann kennen und lieben
gelernt hat, während sie bereits die Pille
nahm? Und
was geschieht, wenn sie nun die Pille
absetzt? Riecht ihr Mann dann
noch hinreichend attraktiv
für eine Zeugung? Oder
will sie einen ganz anderen
Geruch und Mann? Nun, die
Gefahr besteht zumindest
und zeigt, ... nein, nicht wie
kompliziert die Frauen sind,
sondern wie Düfte uns an der
Nase herumführen. Zumindest
wenn wir nichts über sie wissen.
Riechforschung dient also der
intellektuellen Emanzipation bei
Frauen und Männern.
Deshalb noch ein interessantes
Detail zur weiblichen Riechleistung, die
wir Männer besser kennen sollten: Frauen
riechen, wenn ihr Mann Angst hat. Ein
Blindvergleich von zwei T-Shirts, von
denen der Liebste eines trug, als er Bungee
gesprungen ist, und das andere, als er sich
eine Komödie im Fernsehen angeschaut
hatte, konnten alle (!) befragten Frauen
richtig zuordnen. Meine Herren, versuchen
Sie deshalb nicht, Ihrer Frau den großen
Helden vorzugaukeln, wenn Ihnen
tatsächlich das Herz in die Hose gerutscht ist.
Die Gemahlin riecht den Braten. In diesem
Fall falscher Hase.
Diese Faktenlage nährt die Vermutung,
dass Frauen besser riechen können als
Männer. Dazu Professor Hatt: „Das stimmt
nicht, zumindest nicht physiologisch.
Eher mehr psychologisch. Jeder Mensch
hat in seinen Genen die gleiche Anzahl
Riechrezeptoren. Jeder kann also gleich gut
riechen. Wenn einer dennoch eine bessere
Geruchswahrnehmung
hat,
liegt es immer
daran, dass Er oder Sie
mehr trainieren. Frauen scheinen
sich traditionell mehr mit duftenden Dingen
beschäftigt zu haben. Zum Beispiel beim
Kochen, mit den Blumen im Garten, Parfüms,
den schönen Sachen im Leben sozusagen.
Sie hatten dadurch beim Thema Duft mehr
Erfahrung. Jetzt machen sie den gleichen
Quatsch mit, den wir Männer auch machen,
weshalb sie sich im Riechen den Leistungen
der Männer angleichen.“
Interessanterweise wird bei jedem
Menschen übrigens hauptsächlich ein
Nasenloch benutzt, so dass man von rechtsund linksnasigen Typen sprechen kann.
Untersuchungen zeigen, dass rechtsnasige
Zeitgenossen ca. 80% des Tages das rechte
Nasenloch nutzen und nur zu 20% das linke
Nasenloch. Und umgekehrt.
Und wie beeinflussen Polypen die
Riechleistung? „Wenn jemand eine krumme
Nasenscheidewand hat oder eben Polypen,“
so Professor Hatt, „dann kann er in der Tat
nicht so gut riechen wie andere, weil er
dann weniger Luft aufnehmen kann. Denn
nur 10% der Luft, die man einatmet, kommt
durch die Nase an die Riechschleimhaut.
90% gehen direkt in die Lunge. Und auch
da gibt es ganz neue Erkenntnisse. Es gibt
nämlich Düfte, die gar nicht über die
Nase wirken, sondern über die Lunge.
Sie kommen von da ins Blut und
kursieren dann im Körper. Man kann
zum Beispiel nachweisen, dass viele
Duftstoffe nach 10 bis 15 Minuten im
Blut erscheinen.“
„Was wir in diesem Bereich vor
kurzem zeigen konnten“, fährt
der Professor fort, „ist, dass
ein jasminähnlicher Duft im
Gehirn wie Valium wirkt. Wir
konnten nachweisen, dass
der Wirkmechanismus dieses
Duftmoleküls im Gehirn exakt
der Gleiche ist wie der von
Benzodiazepinen oder Barbituraten. Er
setzt nämlich an den GABA–Rezeptoren an,
den Schlafrezeptoren im Gehirn. In dem
Mäuseexperiment sind die Mäuse in wenigen
Minuten eingeschlafen, wenn man ihnen den
Duft in die Käfige gegeben hat. Und zwar
nicht, weil sie ihn durch die Nase gerochen
haben, sondern weil sie ihn inhaliert haben.
Diese Wirkweise der Düfte über die Atmung
und Inhalation wird oft in der Forschung
vernachlässigt. Nicht unbedingt in der Praxis,
wenn man sich die Aromatherapie anschaut.“
Wie sieht es denn mit den von uns
allen am meisten eingesetzten Düften, den
Parfüms, aus? Die entfalten ihre Wirkung ja
erst so richtig auf der Haut?
„Richtig. Aber unsere Forschung zeigt,
dass wir überall Riechrezeptoren haben,
nicht nur in den Riechzellen der Nase,
sondern zum Beispiel auch in den Zellen
der Haut. Und wir wissen noch nicht, was
diese Riechrezeptoren da machen. Also
welche Reaktion sie im Organismus auslösen.
Über die Beispiele Tumorregulation in der
Prostata und Chemotaxis bei Spermien
haben wir ja gesehen, dass Riechrezeptoren
teilweise Zusammenhänge steuern, die uns
bis zu ihrer Erforschung völlig unbekannt
waren. Ähnlichen Überraschungen können
wir bei den Riechrezeptoren in der Haut
begegnen. Solange keine genaueren
Forschungsergebnisse vorliegen, würde ich
mir selbst keine hochkonzentrierten reinen
Parfümdüfte auf die Haut sprühen.“ Stellt
sich die Frage, wohin man denn dann seine
duftigen Essenzen applizieren soll? Dahin,
wo es auch der Gentleman-Großvater immer
hingesprüht hat, auf das Taschentuch oder
Hemd. Denn merke: Nicht alles, was die
Alten wussten, ist grundsätzlich obsolet.
Das Thema Riechen am wenigsten.
Da nickt Professor Hatt und fügt lachend
hinzu: „30 Jahre lang hat sich kein
Mensch für dieses Thema interessiert. Bei
Physiologenkongressen war meist der letzte
Tag, an dem alle schon auf dem Heimweg
waren, überschrieben mit „andere Sinne”.
Und da durfte man dann vor fast leeren
Reihen seine Ergebnisse zu Geschmack und
Geruch vortragen. Inzwischen ist für diese
Sinne aber ein richtiger Hype ausgebrochen.
Weil viel Nachholbedarf herrscht. Und
weil in den USA einige sehr große Labore,
die sich vorher mit Sehen beschäftigt
haben, umgestiegen sind auf Riechen oder
Schmecken, wie Charles Zuker, der vom
berühmten Sehforscher zum berühmten
Schmeckforscher geworden ist.“ Nomen est
omen!
„Außerdem kommt inzwischen auch
die Industrie darauf, dass es mit dem
Riechen ein Sinnesorgan gibt, das noch
nicht hinreichend ausgeschöpft ist. Es gibt
ja Unternehmen, die sich inzwischen einen
eigenen Corporate Scent zugelegt haben.
Singapore Airlines zum Beispiel. Aber nicht
nur im Marketingbereich werden Düfte
gezielt eingesetzt. Auch und besonders im
emotionalen Bereich, im Wellness-Segment
und im Aufmerksamkeitsbereich. So hat man
zum Beispiel Düfte in Schulen eingesetzt
und bei mehreren Hundert Schülern die
Auswirkungen auf Konzentrationsfähigkeit,
Wohlbefinden und Lernen wissenschaftlich
sehr seriös untersucht. Die Daten zu dieser
duften Schule sehen überzeugend aus
(siehe auch http://dufteschule.de). Dabei
wurden nicht nur die Konzentrations- und
Lernleistungen der Kinder besser, sondern
es hat den Kindern auch mehr Spaß
gemacht, da zu lernen, wo es angenehm
nach Orangen, Zitronen und Lavendel
roch. Wir sind übrigens auch an einigen
solcher Projekten beteiligt und tragen durch
Kooperationen mit Firmen bei, indem wir
Hunderte von Duftstoffen durchscreenen, um
die wirkungsvollsten für sie herauszufiltern.“
Woran man sieht, dass der Ausdruck
Naseweis nicht unbedingt von Etwas-weißmachen kommen muss, sondern von Wissen.
Zum Schluss will ich vom Riechpapst
noch einen konkreten Ratschlag für die
trüben Tage des Herbstes wissen. Was tun,
wenn sich bald die trüben Schleier des
Novembers über uns senken?
Professor Hanns Hatt wäre nicht
er selbst, wenn er nicht auch darauf
eine Antwort wüsste: „Bergamotte
ist ein wahrer Lichtbringer für trübe
Stunden in nebligen Tagen. Es hilft gegen
depressive Verstimmungen und wirkt
angstlösend. Wem das nicht reicht, der
greife zu Muskatellersalbei mit seiner leicht
euphorisierenden Wirkung oder zu Neroli
aus der Bitterorangenblüte. Lauter Begleiter,
um etwas beschwingter durch düstere
Novembertage zu wandeln. Doch verwenden
Sie diese Düfte nur in milder Verdünnung.
Sonst sind sie nicht stimmungsaufhellend,
sondern bereiten Kopfschmerzen.“
Dufte dieser Doc!
Halt: Doc Doc Doc – so viel Zeit muss sein.
Wer mehr zu diesem Thema
erfahren möchte, dem sei das
Buch „Niemand riecht so gut wie
du: Die geheimen Botschaften der
Düfte“ empfohlen. Autoren: Unser
Professor Hanns Hatt und die
Wissenschaftsredakteurin Regine Dee.
Ein genial unterhaltsames Taschenbuch
mit höchst Interessantem aus der Welt
der Düfte. 9,95 Euro bei Piper
•
N6 Professor Hanns Hatt hat mit seiner
Forschung völlig neue Türen aufgestoßen, wie
es auch Nachmann Rechtsanwälte mit ihrer
Arbeit anstreben.
nachmann project
Seite 48
Fotos: Hans-Günther Kaufmann
Saugut
Ein Gespräch mit Karl Ludwig
Schweisfurth, dem Begründer der
ökologischen Landwirtschaft auf Gut
Herrmannsdorf, über das Essen und
Gegessenwerden, die Kunst der Bodenhaftung und darüber, warum wir uns
mehr Gedanken über Gott und die Welt
machen sollten.
? Herr Schweisfurth, in Ihrem ersten Leben waren Sie Europas größter,
erfolgreichster und innovativster
Fleischproduzent. Mit dem Slogan
„Wenn´s um die Wurst geht“ war Ihr
Unternehmen Herta unangefochten die
Nummer 1. Mit 54 Jahren haben Sie
dann nicht nur gewagt, alles nochmal
in Frage zu stellen, sondern Sie haben
auch den Mut besessen, vor sich selber
einzugestehen, dass Sie Ihren Beruf
ganz anders machen müssten. Was ist
passiert, damit Sie vom SAUlus zum
Paulus wurden?
! Um bei Ihrem Bild zu bleiben: Es
gab nicht das Schlüsselerlebnis auf dem
Weg nach Damaskus. Das war ein längerer
Prozess. Wann der begann, weiß ich nicht.
Vielleicht begann er schon als ich 25 Jahre
alt war und die Schlachthöfe von Chicago
gesehen und dort gearbeitet hatte. Vielleicht
ist mir da der Virus bereits unter die Haut
gegangen. Aber mit 25 hat mich ganz
etwas anderes beeindruckt, nämlich die
technische Perfektion, die Fließbänder, die
Größe. Die andere Seite, das, was mit den
Menschen an den Fließbändern passiert
und was mit den Tieren, hatte eine längere
Inkubationszeit, bis sie mich umtrieb. Dafür
aber umso nachhaltiger. Angestoßen auch
durch sehr kritische Fragen von meinen
Kindern, nicht speziell zu den Tieren oder
meinen Fabriken, sondern eher: „Papa, wie
lebst du eigentlich? Immer schneller? Immer
größer? Immer mehr? Und hier noch ne
Fabrik in Südamerika? Und hier noch eine
in Äthiopien? Macht das denn Sinn?“ Die
haben mir richtig den Spiegel vorgehalten.
Anfangs war ich natürlich ärgerlich. Da
rackert man von früh bis spät und dann
stellen einen die eigenen Kinder in Frage!
Denn die hatten mir sehr deutlich gesagt:
„Nee Papa, wir führen Herta nicht weiter. Wir
haben andere Vorstellungen!“ Das hat dazu
geführt, dass ich genauer hingeguckt habe.
Und da kamen dann Zweifel.
Sehen Sie, als Metzger ist es mein
Beruf, Tiere zu töten, damit die Menschen,
die Fleisch essen wollen, Fleisch essen
können. Da redet zwar keiner so gern
drüber, aber es ist so. Und so habe ich sehr
genau hingeguckt und gespürt: Du kommst
mit dem, was du hier tust, vom rechten
Weg ab.
? Wozu eine gewisse Aufrichtigkeit
sich selbst gegenüber gehört?
! Richtig. Und dann waren wir in unserer
jährlichen Fastenkur, wo man ja bekanntlich
nicht nur den Bauch leer macht, sondern
auch den Kopf, damit Stille eintrete. Und wo
man den ganzen Müll, den man durch das
Alltagsgeschäft im Kopf hat, wegwirft.
In dieser Fastenzeit war es eines Morgens
so, dass ich aufgewacht bin und meiner Frau
gesagt habe, „Dorothee, ich habe eine Idee!“
Ich erzählte sie ihr und fing an zu schreiben
und zu schreiben und zu schreiben. Nicht
weil ich gerne schreibe, sondern um – ganz
wörtlich – auszudrücken, was ich im Kopf
hatte. Ich sagte zu ihr: „Ich bin ganz sicher,
dass wir diesen neuen Weg gehen. Aber dazu
muss ich mich erst von meinem großen
Laden trennen.“ Neun Monate später hatte
ich das Kapitel Herta beendet.
? Weil die Firma Nestlé Ihr
Unternehmen gekauft hatte?
! Ja, aber meine Mitarbeiter haben das
nicht verstanden. Warum verlässt uns der
Alte? Denn Herta war ein ganz persönlich
geführtes Unternehmen. Und ich war
als Unternehmer immer präsent. Ganz
unmittelbar. Meine Entscheidung konnte
die ganze Branche natürlich nicht verstehen.
Wie so oft in meinem Unternehmerleben.
Denken Sie nur an das Projekt „Kunst geht in
die Fabrik“ mit Joseph Beuys. Aber wenn ich
denen genau erklärt hätte, was ich vorhatte,
hätten die mich für komplett verrückt erklärt.
Über dem neuen Anfang standen nämlich
drei Worte: Das erste war „ökologisch“. Das
hatte ich von meinen Kindern gelernt. Ich
wusste ja nicht, was Ökologie war. 1985 war
das was für Spinner.
Das zweite Wort war „handwerklich“. Ich
bin als Metzger sehr handwerklich geprägt.
Ich wollte wieder verwirklichen, was ich
als junger Mann mit 18 gelernt hatte: die
Warmfleischtechnologie, das heißt, die Tiere
selber schlachten und aus dem noch warmen
Fleisch Wurst machen. Richtig von Hand.
Und die dritte Säule war „regional“.
Ich wollte nicht mehr global, nicht mehr
national sein. Meine neuen Lebensmittel
sollte man nicht überall kaufen können,
sondern nur hier in der Region. Ich wollte
sie nicht mehr transportieren, weil ich sie
sonst verpacken musste. Dafür muss man
sehr viel aufwenden für Transporte, Kühlung
und Verpackung. All das wollte ich nicht
mehr. Ich wollte auch nichts mehr mit
dem normalen Lebensmitteleinzelhandel
zu tun haben. Also mit dem, was ich heute
die „Lidlisierung“ nenne und was die ganze
Wirtschaft erfasst hat: Druck, Druck, Druck!
Druck auf die Mitarbeiter. Druck auf die
Lieferanten. Druck auf die Bauern. Denn
sonst kommen die billigen Preise nicht
zustande. Dem wollte und will ich mich
nicht mehr aussetzen. Deshalb war mir klar:
Ich muss selbst zum Verbraucher gehen und
ihm erzählen, was ich anders mache. Das
kann ich nicht über die Packungen im Regal.
Das war nicht leicht.
Als ich anfing, haben die Kunden gesagt:
„Wieso? Ein Kotelett ist doch ein Kotelett!“
Und da musste ich sagen: „Aber nein lieber
Kunde. Es ist wichtig, woher das Kotelett
kommt. Wie das Tier gelebt hat. Was es
gefressen hat. Wie es getötet wurde.“
Krone oder
Krise der Schöpfung?
? Für die meisten kommt die Wurst
nach wie vor aus dem Kühlregal.
! Wir sechs Milliarden Menschen sind
von zwanzig Milliarden landwirtschaftlich
genutzten Tieren umgeben, die bis in die
jüngste Zeit unter uns waren. Wir konnten
sie sehen und anfassen, als Zug- und
Nutztiere. Heute sind die Tiere hinter
den Toren der hochintensiven Land- und
Tierwirtschaft verschwunden. Und damit
auch unsere Beziehung zu ihnen als
Mitgeschöpfe für die wir Verantwortung
haben, wenn wir sie schon töten. Denn wir
sollten nicht vergessen: Ehrfurcht vor dem
Leben begründet und rechtfertigt unseren
moralischen Anspruch als kultivierte
Menschen zu gelten. Nur dann dürfen wir
darauf bestehen, „Krone der Schöpfung“ zu
sein. Tun wir das nicht, sind wir deren Krise.
? Sie haben bei Ihrem neuen Weg
damals als Überzeugungsstrategie
weniger auf Einsicht, sondern darauf
gesetzt, dass Kunden schmecken, wie
viel besser das neue Fleisch ist?
! Ja, das ist ganz wichtig. Ich habe nicht
das allgemeine Blablabla über Qualität
gemacht: „nach Großmutters Rezept“ und
all diese Sprüche. Sondern ich habe erzählt,
warum wir machen, was wir machen. Immer
wieder. Das hatte mit der normalen Werbung
gar nichts mehr zu tun. Das war und ist eine
andere Art der Kommunikation. Und dabei
haben mir die Medien sehr geholfen. Das
sage ich auch deutlich. Denn als ich hier
anfing, fragten sich alle: Macht der jetzt eine
Fleischfabrik auf dem Bauernhof auf? Und
ich habe jede Gelegenheit genutzt, wenn mir
ein Mikrophon entgegengestreckt wurde,
meine Geschichte zu erzählen. Immer
und immer wieder. Wissen Sie, wenn die
Menschen merken, dass das nicht irgend so
ein Werbegequatsche ist, sondern dass wir
tun, was wir sagen, dann entsteht für ein
Unternehmen Vertrauen. Das ist zwar ein
weiter Weg. Aber auch ein unglaubliches
Kapital.
? Und macht eine Marke richtig
wertvoll?
! Die Marke „Herrmannsdorfer“ ist
verbunden mit dem Wort Achtsamkeit.
Immer wieder Achtsamkeit. Im Umgang
mit dem Boden, mit dem Wasser, mit den
Pflanzen, mit den Tieren, mit den Menschen.
Mit der Natur, die uns ernährt.
Bodenhaftung oder „der
Boden auf dem wir stehen“
? In Ihrem Buch „Tierisch Gut:
Vom Essen und Gegessenwerden“ aus
dem Westend Verlag erklären Sie den
Zusammenhang zwischen moderner,
hochtechnisierter Landwirtschaft
und Bodenqualität: Je mehr schwere
Maschinen auf dem Boden herumfahren, desto mehr wird der Boden
durch das Gewicht zusammengestampft. Je mehr Kunstdünger und
Pestizide, die beschönigend Pflanzenschutzmittel genannt werden, auf den
Boden geworfen werden, desto ärmer
wird der Boden an natürlichem Leben.
Der Boden wird durch all das weniger porös, es können immer weniger
Mikroorganismen darin leben und der
Boden kann immer weniger Regen und
Kohlendioxid speichern. Kurzum, all
das ist nicht „bio-logisch“. Denn das
griechische Wort „bio“ heißt ja Leben
und „logos“ Wissen wie auch Verstand?
! Wenn regelmäßig die 8 bis 10-jährigen
Kinder aus einer der Schulen zu uns in
unser „Dorf für Kinder“ kommen, das ich
mit sehr großem Aufwand aufgebaut habe
und für das ich jetzt eine zweite Schulter
vielleicht sogar einen Sponsor suche, wenn
die Kinder also in dieses Dorf kommen und
dort für eine Woche leben, dann nehme ich
sie an einem Nachmittag an die Hand, grabe
mit dem Spaten ein Stück Boden aus der
Erde und sage: „Kinder, riecht mal. Schaut
euch das mal genau an. In dieser Hand voll
Boden leben mehr Kleinlebewesen als es
Menschen auf der ganzen Erde gibt. Daraus
wachsen die Pflanzen, die wir und die Tiere
essen. Davon leben wir. Nicht vom Handy.
Darauf darf man nicht achtlos rumtrampeln.
Darauf darf man keinen Müll werfen. Und
kein Gift. Kinder, vergesst das nicht. Erzählt
das Papa und Mama.“ Das kapieren Kinder
sofort: Dass das das Kostbarste ist, was wir
haben. Und das ist wichtig. Denn wenn das
nicht mehr da ist, gibt es kein Leben mehr!
Unter der Erde nicht – und auf ihr auch nicht!
Symbiotische
Landwirtschaft
? „Symbiotische Landwirtschaft“
ist ja noch mal etwas anderes als die
rein ökologische Landwirtschaft. Was
machen Sie da anders?
! Unsere Landwirtschaft ist innerhalb von
200 Jahren zur reinen Monokultur geworden.
Ein Feld – eine Frucht, ein Stall – eine Tierart.
Immer intensiver. Das hat man im Griff,
denkt man. Aber Natur ist keine Monokultur.
Natur ist immer ein Miteinander!
Als ich mit Anfang 70 alles hier in
Herrmannsdorf endgültig und unwiderruflich
auf meine Kinder übertragen hatte, wie sich
das für einen alten Bauern und Unternehmer
gehört, habe ich mich gefragt: „Und was
mache ich jetzt?“ Ich muss mir ja für jeden
Abschnitt meines Lebens etwas Sinnvolles
aussuchen. Ich kann doch nicht meine
letzte Lebensphase mit Brötchenholen,
Golfspielen und Kreuzfahrten beenden. Also
habe ich meinem Sohn Karl gesagt, der
Herrmannsdorf leitet: Ich habe euch Kindern
jetzt alles übertragen, aber die vier Hektar
Land da hinten, da mache ich was ganz
Verrücktes und keiner redet mir rein.
Und dann habe ich gesagt: Raus mit
den Schweinen aus dem Stall auf die Weide.
Wenig später hab ich Hühner dazu getan.
Mich haben zwar alle für verrückt erklärt,
weil die Schweine die Hühner fressen
würden. Aber: Nichts derartiges ist passiert.
Im Gegenteil. Die Schweine beschützen die
ängstlichen Hühner und passen auf, dass
Fuchs und Marder ihnen nichts tun. Und
die Hühner picken den Schweinen die
Schädlinge von der Pelle. Die Schweine
wiederum wühlen die Erde auf, aus der die
Hühner ihre Würmer holen, die ich ihnen im
Stall nicht geben kann. Und dann habe ich
die Wiederkäuer dazu gelassen in Form von
Schafen. Und dann die Gänse, Perlhühner
und Truthähne. Und dann ist mir der Begriff
„Symbiose“ aus dem Biologieunterricht
eingefallen: „Symbiose – das Miteinander
verschiedener Arten zum gegenseitigen
Nutzen.“ Ein besseres Leben kann ich den
Tieren aus meiner ethischen Verpflichtung
den Geschöpfen gegenüber nicht geben als
dieses Miteinander in der freien Natur. Und
als ich dann die ersten Koteletts gegessen
habe vom www.weideschwein – das heißt bei
mir Weide Wühlen Würmer –, war das eine
Offenbarung. Das war noch auf die Qualität
der ökologisch aufgezogenen Tiere oben eins
drauf. Und der Beweis, dass man das Gute
immer noch besser machen kann.
? Die Offenbarung des Karl Ludwig
Schweisfurth?
! Genau. Außerdem war mir klar:
Ich mache daraus die „Erste private
landwirtschaftliche Versuchsanstalt für eine
symbiotische Landwirtschaft“. Ich würde
ja keinen Pfennig Geld dafür kriegen von
der Politik oder von den Universitäten.
Die müssen doch forschen, dass sie noch
mehr produzieren. Da geht es nicht um
das Geschöpf. Genforschung ist angesagt!
Andererseits habe ich keine Zeit in
Amtsstuben rumzusitzen, um vielleicht ne
Subvention abzukriegen. Also finanziere
ich das alles privat und sehe: Da stecken
Chancen drin gerade für kleinere Bauern
an schlechteren Standorten, die mit der
kapitalintensiven Landwirtschaft nicht mehr
mitkommen. Denn das gängige Modell
lautet ja: Riesenmaschinen, große Felder,
Monokulturen, 80 000 Schweine in einer
Fabrik. Da kommt der kleine Landwirt nicht
mehr mit. Ich habe aber in Russland gesehen,
was es bedeutet, wenn es keine Bauern mehr
gibt: Dann verlieren wir nämlich den Boden,
auf dem wir stehen, unter den Füßen.
Ein Schlachtfesthaus
Außerdem braucht der kleine Bauer
seinen Kollegen Metzger, der sein Schwein
nimmt, es achtsam tötet, nach den
Hygienevorschriften der Europäischen Union
schlachtet, zerlegt und Wurst und Schinken
daraus macht. Nur: Es gibt nur noch ca.
28 000 Metzger in unserem Land. Und
die sind vom Aussterben bedroht! Deshalb
war mir klar: Hier muss etwas geschehen.
Also habe ich ein Schlachtfesthaus auf
der Höhe der Zeit entwickelt, das alle
gesetzlichen Vorschriften erfüllt. Es ist
so klein wie möglich und bescheiden in
der Verwendung von Technik. Man muss
ja nicht zum Räuchern einer Wurst einen
prozessgesteuerten Apparat haben. Das kann
man auch einfacher haben. Und dann kostet
so ein komplettes Haus nicht mal so viel wie
ein großer Traktor mit Zubehör.
Ich nenne es das Schlachtfesthaus, um an
die alte ländliche Kultur des Schlachtfestes
anzuknüpfen. Die Menschen auf dem Land,
die früher ihre Sau ein Jahr lang gefüttert
haben, haben sie doch auch nicht einfach
auf einen Lastwagen gehievt und ab zu
Südfleisch geschickt. Die haben gesagt: Das
Schwein bleibt hier. Das schlachten wir
selbst. Und machen daraus ein Fest.
? Herr Schweisfurth, Sie haben
sicherlich das Buch „Tiere Essen“ von
Jonathan Safran Foer gelesen...?
! In einem Rutsch! Obwohl darin
an Daten und Fakten nichts Neues für
mich steht. Aber er hat die industrielle
Fleischproduktion in einer Weise geschildert,
dass es mir an die Nieren gegangen ist. Ich
habe deshalb mit meinen 80 Jahren gesagt:
Ich beziehe nochmal bewusst Stellung und
werde in einem Hotel oder Wirtshaus kein
Fleisch, keinen Schinken, keine Wurst und
kein Ei mehr anrühren, es sei denn, es ist
ökologisch zertifiziert! Und das sagt ein alter
Metzger wie ich.
? Sie sind also ein „aushäusiger
Vegetarier“ geworden?
! (lacht) Genau das. Irgendwie müssen
wir nämlich sehen, dass wir dieses
agroindustrielle System verändern, das wir
uns in den letzten 50 Jahren zugelegt haben.
Dafür setze ich meine Kraft und Energie ein.
Nicht um das System zu verändern. Das kann
ich mit meinen 80 nicht mehr. Aber um noch
einige Leuchttürme zu errichten, mit denen
ich den Menschen zeige, dass man alles auch
anders machen kann. Mein Buch „Tierisch
Gut“ ist sozusagen die Ergänzung zum Buch
von Jonathan Safran Foer. Er klagt an. Ich
sage: „Hört auf zu jammern, wie schlimm
alles ist. Krempelt die Ärmel hoch, spuckt in
die Hände und macht das anders.“
Mission is possible
In dieser Mission bin ich viel unterwegs. Ich
war gerade drei Tage in Polen – für mich
eine anstrengende Reise –, um im Norden
Polens eine Stiftung beim Aufbau einer
symbiotischen Landwirtschaft und beim
Bau eines Schlachtfesthauses zu beraten. So
wie ich Ende Oktober in der Südsteiermark
bin und dort einem Unternehmer helfe, es
„richtig zu machen“. Und wie ich in Ägypten
beim wundervollen Projekt von Ibrahim
Abouleish Sekem war, um auch in einem
muslimischen Land einen Leuchtturm zu
errichten.
Das Projekt in Russland wird jetzt
langsam fertig. In Russland! Wo ein Herr
Stalin Bauern und Handwerker mit Haut
und Haaren ausgerottet hat. Da versuche
ich es wieder zurückzubringen: das RichtigBauer-Sein, das Richtig-Metzger-Sein und das
Richtig-Bäcker-Sein. Um dort den Menschen
zu zeigen, dass man keine Millionen braucht,
um es richtig zu machen und wirklich gutes
Fleisch von natürlich lebenden Tieren zu
bekommen.
? Jeder Hobbykoch weiß, dass eine
Speise nur so gut werden kann wie die
Lebensmittel, die er hinein tut. Und
bei Tieren und deren Ernährung ist das
auch so?
! Absolut. Und wenn ich so Fleisch,
Schinken und Würste mache, dann brauche
ich nicht die tausend Sachen, die klein
gedruckt auf den Packungen stehen.
Die Erzeugung von Lebens-Mitteln, also
Mitteln zum Leben, ist eine Angelegenheit
von Menschen für Menschen. Nicht von
Apparaten und Maschinen für AutomatenMenschen. Damit stehe ich allerdings
ziemlich alleine. Denn Menschen, die
wissenschaftlich geprägt sind, wissen gar
nicht, wovon ich rede, weil sie meinen, man
könne alles messen, zählen, wiegen. Aber
je mehr wir meinen, alles entschlüsselt zu
haben, um so mehr Geheimnisse tun sich auf.
Das Brot der Armen fressen
die Tiere der Reichen
? Ihre Einstellung hat die
Konsequenz, dass wir alle weniger
Fleisch essen sollten?
! Ganz genau! Es ist etwas so Wertvolles
und Kostbares, dass man es nur ab und
zu genießen sollte. In kleinen Dosen.
Denn wenn wir weiterhin so viel Fleisch
fressen wie bisher, dann haben wir in 20
Jahren, bei dann 9 Milliarden Menschen
auf der Erde wahrscheinlich doppelt so
viele landwirtschaftlich genutzte Tiere wie
heute – nämlich 40 Milliarden. Und die
fressen unsere Erde endgültig kahl. Wir sind
dazu ja jetzt schon auf dem besten Wege:
Derzeit machen wir den Regenwald kaputt.
In Argentinien pflügen wir in der Pampa
das Grünland um. In Sibirien auch. Und in
Nordamerika haben wir das schon erfolgreich
getan.
Noch ist ein Großteil der Erde Grünland.
Noch! Dort grasen Rinder und essen etwas,
was wir nicht essen können. Dafür schenken
sie uns Milch und Fleisch. Deshalb müssten
wir die Rindviecher eigentlich jeden Morgen
aufs Maul küssen. Doch was machen wir?
Wir wollen mehr. Statt 4000 Liter Milch
sollen es 8000 sein. Deshalb mischen wir
zusätzlich Soja in ihr Futter, was eigentlich
„Menschenfutter“ ist.
Ich habe miterlebt, wie in Brasilien das
Grünland umgewandelt wurde in Sojafelder.
Innerhalb von drei Jahren, waren die Bauern
und Viehhalter verschwunden. Vertrieben,
verhungert oder anderswie ruiniert. Da gab´s
nur noch Soja. Weil man daraus in Europa
und in den USA Viehfutter macht. Dort
stopfen wir damit die Rinder voll und die
Schweine und Hühner und Enten und Gänse.
Und fressen sie nachher auf. Das Brot der
Armen da unten fressen die Tiere der Reichen.
Glauben wir denn allen Ernstes, dass sich die
Menschen da unten das noch lange gefallen
lassen? Und ist uns nicht klar, dass die
Heerscharen von wiederkäuenden Rindern
gigantische Mengen an Treibhausgasen
produzieren, während sie unser „Brot“
verdauen und damit kontinuierlich unser
Klima verändern? Da müssen wir ganz
erheblich umdenken. Ich hoffe immer noch,
dass wir die Kurve kriegen. Für mich ist
das nicht mehr wichtig. Ich bin 80. Aber für
meine Kinder und Enkel hoffe ich das!
ein gutes, langes und tapferes Leben. Die
Reihenfolge ist dabei egal.
? Würden Sie diese drei Punkte allen
Noch-nicht-80-jährigen mit auf den Weg
geben?
geht in die Fabriken“. Aber als ich dann noch
mal ganz von vorne anfangen sollte und es
gemacht habe, da merkte ich, wie schwer
Umdenken ist, und wie sehr man Sklave
seines eigenen Denkens ist.
? Wie wichtig war Ihre Frau dabei?
3 Geheimnisse + 2
? 80 Jahre, Weitblick und eine
Energie, die ihresgleichen sucht. Wie
machen Sie das?
! Ganz einfach. Ich habe drei Grundregeln.
Die erste ist: „Gute Lebensmittel essen“,
in denen noch alles Natürliche drin ist.
Zweitens: „In Bewegung bleiben.“ Körperlich
und geistig. Diese Reise nach Polen, die
sehr beschwerlich war, ist ein Beispiel dafür.
Außerdem wandere ich viel. Und geistig
nehme ich gerne neue Herausforderungen
an. Und das Dritte ist: „In Beziehung bleiben.“
Also sozial bleiben. Ich habe es durch meine
Arbeit ja mit jungen Menschen zu tun, die
alle im Alter meiner Kinder und Enkel
sind. Das sind meine drei Geheimnisse für
! Da kommen noch zwei Sachen
dazu. Viertens: „Such dir immer das aus,
was deinem Alter gemäß ist.“ Mit 60 hat
man eigentlich nichts mehr verloren im
„Wettbewerb der Unternehmer“. Mit 80
sowieso nicht. Da denke man lieber über die
Zukunft nach. Weil man da einen anderen
Überblick hat als mit 20. Plus die Erfahrung
eines gelebten Lebens. Mein Vater ist schon
mit 64 Jahren gestorben. Ich bin inzwischen
16 Jahre älter als er. Und was konnte ich in
diesen 16 Jahren noch alles machen?!
? Ist da inhaltlich vielleicht das
Wesentlichere passiert?
! Hmh. Aber immer dem Alter gemäß. Ich
möchte nicht die Zeit missen, als ich jung
war, ungewöhnliche Dinge tun konnte, und
Beuys begegnet bin mit dem Projekt „Kunst
! So etwas geht nur (!) aus einer guten
Partnerschaft heraus. Und meine Frau weiß,
wie dankbar ich ihr für all das bin.
Zum Schluss empfehle ich als kleines
Hilfsmittel, damit das Befolgen der vier
Geheimnisse gut funktioniert, noch mein
fünftes Geheimnis: „Einmal im Jahr fasten.”
Zieh dich zurück aus dem ganzen Getriebe
und Getriebenwerden. Mach den Bauch leer,
denn dann wird auch der Kopf leer. Dann ist
da wieder Platz für Neues.
•
N6 Karl Ludwig Schweisfurth hat seine
Vision von einer symbiotischen Landwirtschaft
nicht als rosarote Utopiewelt zusammengedichtet,
sondern sie unter dem Postulat der wirtschaftlichen Machbarkeit zur nachhaltigen
Wirklichkeit werden lassen. Eine Leistung vor der
Nachmann Rechtsanwälte den Hut ziehen.
my germany
Seite 58
Fotos: Hans-Günther Kaufmann
Ora et
labora et lege
Auf eine Pfeife „Early Morning Pipe“
traf unser Autor Andreas Lukoschik
den obersten aller Benediktiner, den
Abtprimas Dr. Notker Wolf, auf einem
Zwischenstopp in München, ehe dieser
am nächsten Morgen um sechs wieder
in sein Kloster Sant´Anselmo nach Rom
weiterflog. Der Abtprimas sprach mit
ihm über den Papst, was man am Islam
nicht außer Acht lassen sollte, die 68er
und was ihn reizt, auch heute noch
in einer Rockband zu spielen – mit 70
Jahren!
? Vater Abtprimas, Sie haben beim
Eintritt ins Kloster St. Ottilien den
Ordensnamen Notker bekommen. Was
ist das für ein Name?
der Sequenzen erfunden und vertonte seine
Gedichte selbst. Er hat auch sehr menschliche Briefe an zwei ausgetretene Mönche
geschrieben. All das hat mir gefallen.
! Das war der Name eines Mönchs aus
St. Gallen im 9. Jahrhundert. Er war der
„Balbulus“ in seinem Kloster, der Stammler
und Stotterer. Reden konnte er also nicht so
gut, aber er war ein großer Sänger, er war
ein Gelehrter, Leiter der Schule, der Bibliothek und des Skriptoriums. Deshalb konnte
er vermutlich auch malen, wenn wir an die
Buchmalereien denken. Er hat die Gattung
? In der Süddeutschen Zeitung stand
über Sie zu lesen:
„Es gibt Kirchenleute, die heikle
Themen mit sehr viel Diplomatie
umschiffen. Und es gibt solche, die
gerade bei heiklen Themen ihre Stimme
erheben. Zur letzten Sorte gehört
Abtprimas Notker Wolf. Er hält mit
seiner Meinung nicht zurück, sondern
fordert den Disput manchmal geradezu
heraus. Er ist unbequem und klar im
Wort, selten aber vergreift er sich im
Ton. Managern, Gewerkschaftern,
Arbeitslosen, ja sogar dem Papst hat
der heute 70-jährige Mönch schon
die Leviten gelesen. Er verschont
keinen und er bricht Tabus.“ (www.
sueddeutsche.de/geld/ludwig-erhardmedaille-fuer-geistlichen-derfurchtlose-abt-1.1002694)
Fühlen Sie sich damit richtig
beschrieben?
Benedikt genannt hat. Das dürfte für
die Benediktiner doch eine gewisse
Wertschätzung ausdrücken.
! Ja – mit einer Ausnahme: Ich habe dem
Papst nicht die Leviten gelesen. Aber ich
habe sicherlich – was vielleicht für manche
Kirchenmänner etwas ungewohnt ist –
durchaus mal gesagt: „Ich sehe das anders
oder das passt mir nicht recht.“ Ich habe zum
Beispiel einmal in einem Interview gesagt:
„Ich glaube, der Papst hat Angst vor der
individuellen Freiheit des Menschen.“ Das
glaube ich wirklich. Er kommt nicht zurande
mit dem modernen Freiheitsdrang des
Individuums. Er war zu sehr geschockt von
der brutalen Art der 68er. Aber auch wenn
ihm die Entwicklung unserer Gesellschaft
in seiner Haltung Recht gibt, bleibt dennoch
für mich die Eigenverantwortlichkeit des
Individuums das schönste Geschenk, das
Gott uns gegeben hat. Denn wir sind nach
dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen
– und nicht eines Papstes oder von sonst
jemandem.
? Das sind frische Worte.
! Ich lasse jedem seine Meinung. Unser
Papst hat mir auch meine gelassen – was
zum Beispiel meine Rockmusik angeht. Als
er seinen 75. Geburtstag feierte, war er bei
uns in Sant´Anselmo eingeladen. Unser
damaliger Rektor spielte Violine und ich die
Querflöte. Und so haben wir Renaissanceund Barockmusik bei Tisch vorgetragen. Als
ich dann an den Tisch zurückkehrte, lächelte
er mich ganz verschmitzt von der Seite an
und sagte: „Nicht wahr, Vater Abtprimas, Sie
spielen aber auch andere Musik.“ Und darauf
sagte ich: „Das kann man wohl sagen. Und
wenn Sie wüssten, wie viel Freude es bereitet,
mit jungen Menschen Musik zu machen.“
Damit hatten wir das Thema behandelt.
(lacht)
Haltung und Eigenständigkeit behalte.
? Kann es sein, dass unser Papst
einen gewissen Schalk im Nacken hat?
? Hat es denn eine Auswirkung
gehabt, dass der damals neue Papst...
! Ja, absolut. Aber ich wollte das nur
kurz als Beispiel geben, dass ich mir auch
gegenüber dem Papst meine kritische
? Wie ist denn überhaupt das
Verhältnis zwischen Ihnen beiden
– also nicht menschlich, sondern
organisatorisch? Sie sind nicht dem
Papst unterstellt, oder?
! Ich bin ihm letzten Ende natürlich
unterstellt. Als Katholik und Mönch. Weil
er ja das Oberhaupt der Kirche ist. Das ist
überhaupt keine Frage. Aber ansonsten läuft
alles, was ich als Mönch mit ihm zu tun
habe über die Ordenskongregation. Und was
die Hochschule Sant´Anselmo betrifft, geht
alles über die Studienkongregation. Das ist
dasselbe wie hier das Kultusministerium.
! ... Deutscher ist? Nein.
? Nein, nein, sondern dass er sich
! Er ist den Benediktinern sicher
zugeneigt. Auch dem Stil, nichts zu
übertreiben und den Gottesdienst ins
Zentrum zu stellen, was er ja auch immer
wieder unterstreicht. Aber ich denke, er
hat auch unseren Common Sense. Das hat
er selbst im Umgang mit den Muslimen
gezeigt. Sie hat er zwar zuerst sehr geärgert,
aber eigentlich hat er nur den Common
Sense eingefordert. Vielleicht ist das aber
auch eine bayerische Tugend, dieses Lebenund-leben-lassen. Was ja nicht heißt Laisserfaire, sondern den anderen herauszufordern:
„Du bist mir nicht gleichgültig.“
Kurz und gut, wir verstehen uns von
daher gut. Ich halte es im Übrigen mit dem
Motto: „Gehe nicht zu deinem Fürst, wenn
Du nicht gerufen wirst.“ Das weiß er auch.
Aber wenn wir uns sehen, ist das immer
sehr schön. Letztes Jahr hat der damalige
Bundespräsident Köhler dem Papst Johann
Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium in
der Sixtinischen Kapelle geschenkt. Ich
war – wie üblich – zu spät, weil der Flieger
Verspätung hatte. Deshalb saß ich in der
letzten Reihe und hatte damit eigentlich die
beste Reihe erwischt, weil ich mich richtig
gut anlehnen konnte, während die anderen
auf unbequemen Stühlen saßen. und ich
konnte während des Konzerts die ganze
Sixtinische Kapelle auf mich wirken lassen,
mit allen wunderbaren Bildern. Es war
herrlich!
Am Ende des Konzerts gingen der
Bundespräsident und der Papst dem
Ausgang entgegen. Da sieht er mich hinten
in der Ecke, kommt auf mich zu und fragt:
„Wie geht´s Vater Abtprimas? Schön,
dass Sie da sind.“ Mit einer spontanen,
natürlichen Herzlichkeit – das empfand ich
einfach liebenswert.
Mit dieser Herzlichkeit öffnet er viele
Herzen.
Ich selbst bin ja kein einfacher
Kandidat. So ist ihm das, was die
„Süddeutsche“ geschrieben hat, sicherlich
zugetragen worden. Es ist sowieso
unglaublich was ihm alles zugetragen
wird. Ich habe kürzlich in „Il Sole 24 Ore“
ein Interview gegeben, das die unter dem
Titel veröffentlicht haben: „Die Kirche muss
lernen, die Wahrheit zu sagen.“ Mir hat
dann einer aus dem Vatikan gesagt, dass
am nächsten Tag mein Interview in allen
Büros auf den Tischen lag. „Und“, hab ich
ihn gefragt, „hat´s gewirkt?“ Sozusagen
als Missionar in eigenen Reihen. (Lacht
verschmitzt)
? Wenn man den Benediktinerorden
erwähnt, wird ja gerne zitiert „ora
et labora“. Aber den dritten Teil
vergessen die meisten „et lege“.
! Ja, Lesen – also Fortbilden –, Arbeiten
– also Handeln und nicht nur Reden – und
etwas Spiritualität. Kann ja alles nicht
schaden.
? Sie sind 1968 zum Priester
geweiht worden, während die anderen
auf den Straßen demonstrierten, um
danach den langen Marsch durch die
Institutionen zu unternehmen. Ich
frage jetzt bewusst provokant: Ist
Ihre Entwicklung vom Mönch zum
Abtprimas auch ein Marsch durch die
Institutionen gewesen?
wissen. Die ersten Schauprozesse gegen
Christen fanden ja schon 1951 statt.
Sie haben also unserer Vätergeneration
vorgeworfen, die hätten wissen müssen, was
in den Lagern gelaufen ist – und haben es
selbst nicht anders gemacht.
Das Zweite war, dass sie mir vorschreiben
wollten, was Freiheit ist. Da ging ja eine
Political Correctness los, die erschütternd
war. Man wurde bei Diskussionen
niedergeschrien und konnte keine eigene
Meinung mehr äußern. Freiheit bedeutete,
nur das denken zu dürfen, was die
Rädelsführer dachten. Da habe ich mich
sofort ausgeklinkt. Da bin ich einfach ein
alter Sokratiker. Sokrates ist für mich
ein enormes Vorbild – dieser ewig alles
hinterfragende Mann.
Und der dritte Schock kam – wesentlich
später – als dann Schröder und Fischer
an die Regierung kamen. Nicht dass ich es
ihnen nicht vergönnt hätte. Sie waren ja
demokratisch gewählt worden und deshalb
hatte das alles seine Ordnung. Aber das
Faktum, dass es Leuten, die die Macht haben
wollen, tatsächlich gelingt, die Leute so übers
Ohr zu hauen, dass sie sie ihnen geben – das
hat mich schon erschüttert.
? Sie betonten eben, dass man eine
Meinung haben soll.
! Man soll sie haben – aber man muss sie
auch sagen dürfen.
? Darf man es heute?
! Ein klares Nein! Zunächst einmal: Ich
hatte dasselbe Anliegen wie die Studenten auf
den Straßen damals, nämlich die Befreiung
aus sämtlicher Bevormundung. Aber was
mich erschüttert hat, war, dass sie damals
durch die Straßen gerannt sind und „Ho,
Ho, Ho Chi Minh“ gerufen haben, obwohl
man wissen konnte, wer Ho Chi Minh war.
Und man hat Mao-Bibeln verteilt in der
Zeit der brutalen, Menschen verachtenden
Kulturevolution. Auch das konnte man
! Nein. Nicht alles.
? Was darf man zum Beispiel nicht?
! Ich darf beispielsweise nicht sagen,
dass der Islam eine Gefahr werden könnte.
Ich darf auch nicht sagen, dass im Koran die
Wurzel für Gewaltbereitschaft liegen kann.
? Kann?
! Ja, kann! Damit sie nicht ausbricht,
braucht der Koran eine Exegese, die er noch
nicht durchgemacht hat. Ich vergleiche das
mit der Gewalt im Christentum. Was immer
Christen taten, es konnte und kann kein
Theologe sagen: „Im Namen der Heiligen
Schrift müssen wir gegen Andersgläubige
Gewalt anwenden.“ Dagegen ist im Koran
veranlagt, dass die Nichtgläubigen Bürger
zweiter Klasse sind. Und wenn sie nicht
gehorchen, dann kann Gewalt angewendet
werden.
? Was mich am Islam massiv stört,
ist, wie die Frauen behandelt werden.
! Ja. Es ist nach unseren Vorstellungen
ganz sicher unter der Würde der Frau, dass
ein Mann mehrere Frauen haben kann.
Das entspricht aus meiner Sicht nicht dem
christlichen Verständnis von Mann und Frau
als Abbilder Gottes im Miteinander. Dann der
Zwang zur Verschleierung. Auch das kann ich
nicht im Sinne der Würde der Frau verstehen.
und – um das auch gleich anzusprechen
– die muslimische Verschleierung kann
nicht mit dem Gewand einer Ordensfrau
gleichgesetzt werden. Es braucht keine
christliche Frau den Schleier einer
Ordensfrau anzulegen. Und wenn sie in den
Orden geht, ist das freiwillig. Der Schleier ist
ein Zeichen der freiwilligen Unterwerfung
unter Christus.
Diesen bedeutsamen Unterschied können
Mannheimer Richter aber anscheinend nicht
verstehen. Ich meine damit die Richter, die
das Ordensgewand einer Nonne gleichgesetzt
haben mit der Burka. Es geht ja sogar so weit,
dass ich – wenn ich heute mein Brustkreuz
trage – damit rechnen muss, angezeigt zu
werden, weil ich ein christliches Symbol in
der Öffentlichkeit trage. Das empfinde ich als
eine Unterdrückung sondergleichen.
Es ist auch „politically incorrect“ zu
sagen, wie es in 50 Jahren bei uns aussehen
könnte. Dann könnte uns nämlich der
Muezzin jeden Tag wecken. Denn die
Muslime werden in der Mehrzahl sein. Allein
schon weil sie mehr Kinder bekommen. Es
besteht auch die Gefahr, dass eines Tages
sogar die Scharia kommt.
Ich möchte damit nicht den Teufel an
die Wand malen. Ich schätze die Muslime
als gläubige Menschen. Und für mich gibt
es immer nur den Dialog. Der muss nicht
immer intellektuell erfolgen. Er kann auch
existenziell durch das Zusammenleben
geschehen – indem man sich im täglichen
Leben kennen lernt und merkt, dass die
eigenen Vor-Urteile nicht stimmen. Das
kann sich aber nur ereignen, wenn nicht ein
Imam dasitzt und diese Menschen bewusst
abschottet.
? Spielt der Koran dabei eine Rolle?
! Er ist im Islam bei allen Richtungen –
von den sehr dogmatischen Wahabiten bis
zu fast schon säkularen Richtungen – die
totale Autorität. Und damit die totalitäre
Autorität, die Norm des individuellen,
gesellschaftlichen und politischen Lebens.
Das ist das Problem. Ich glaube, wir müssen
als Erstes diesen Sachverhalt einfach mal
anerkennen.
Was ich in unserer Gesellschaft kritisiere,
ist dieses ständige Abwiegeln à la: „Die
meinen das ja nicht so ernst!“ Nein, die
meinen das sehr wohl ernst. Abgesehen
davon, dass es eine Verhöhnung eines
anderen ist, wenn ich von ihm sage, er meine
es nicht so ernst.
Wir müssen die Muslime in unserer
Gesellschaft ernst nehmen. Und das auch
aussprechen dürfen. Denn erst wenn wir
es ausgesprochen haben, können wir uns
darüber verständigen.
Sehen Sie, ich saß vor einiger Zeit mit
Ayyub Köhler, dem damaligen Vorsitzenden
des Zentralrats der Muslime, bei einer
Diskussion auf dem Podium. Wir haben
uns gut verstanden, weil wir uns anerkannt
haben. Auch in unserer Verschiedenheit.
Am nächsten Morgen begegneten wir uns
nochmal am Flughafen und redeten weiter
über die gegenseitige Anerkennung und
Wertschätzung. Er war auch so freundlich
und begleitete mich bis zum Gate – aber
am Schluss sagte er mir etwas, was mir zu
denken gab. Er sagte: „Aber Recht haben
doch wir!“ Ich habe mit ihm natürlich
darüber gelacht. Aber ich muss akzeptieren,
dass das eine verbreitete Einstellung ist.
fundamentalistisch genommen.
Ich glaube, die größte Gefahr für den
Islam ist nicht der westliche Porno, ist nicht
der Materialismus, sondern eine mit einer
Exegese beginnende Aufklärung.
? Setzen wir uns für unsere Position
zu wenig ein?
! Das ist ein gut gemeinter Schritt. Aber
wer bestimmt, wer die Professoren sind?
Einer wurde von den eigenen Leuten in
Münster bereits abgesägt.
Ich nehme zur Zeit mit dem Institut
für Philosophie und Mystik in Ghom,
einer der heiligen Städte der Schia im
Iran, Beziehungen auf. Denn das ist
genau die Spezialisierung, die wir auch in
Sant´Anselmo haben. Wir wollen damit
sehen, was wir an Dialog anstoßen und
durchführen können. Ich war letzte Woche
in London bei der Jahresversammlung
unseres interreligiösen monastischen
Dialogs. Da haben zwei muslimische
Theologen über die Barmherzigkeit
Gottes als Wesensmerkmal Gottes im
Koran gesprochen. Das war wunderbar.
Da sprach der glaubende Mann und
Religionswissenschaftler zugleich.
! Ja. Wir sind alle geprägt von der
Aufklärung, auch von Lessing her. Für uns
ist jede Religion ein abstraktes Konzept.
Und diesen Religionsbegriff projizieren wir
auf den Islam und meinen, wir könnten mit
seinen Gläubigen genau so einen Dialog
führen, wie wir ihn jetzt hier untereinander
führen.
Für uns ist Religion zu einer Weltanschauung geworden und damit zu einer
Theorie. Damit bekommt sie aber auch ein
Stück Beliebigkeitscharakter. Ob ich dann
ein Platoniker oder Aristoteliker bin, spielt
keine so bedeutende Rolle mehr. Es ist alles
Philosophie. Und da hat Benedikt XVI.
reingestochen. Und zwar meines Erachtens
zu Recht.
Für mich ist Christentum nicht eine
Religion, sondern eine Lebensform. und
eine Denkform, die aber aus der Lebensform
entspringt – nämlich aus der Botschaft Jesu.
Und beim Islam ist gar keine Denkform
da – sondern nur die reine Existenzform,
weil der Koran auf Handlungsanweisungen
ausgerichtet ist. Dazu kommt, dass viele
gläubige Muslime den Koran auswendig
lernen. Sie lesen ihn naiv – ohne den
Wunsch nach Exegese. Ja, für viele ist
Exegese sogar eine Verfälschung des Textes,
eben weil er durch die Exegese nicht
wörtlich genommen wird. Das hat aber
etwas von Blindheit. Und ich denke, es fehlt
in breitesten Schichten das, was wir Bildung
nennen. Deshalb wird der Koran auch so oft
? Jetzt werden bei uns ja Imame an
Universitäten ausgebildet. Ist das der
richtige Schritt?
? Es gibt also durchaus gute
Bestrebungen im Islam, die man guten
Herzens unterstützen kann. Wissen
wir einfach zu wenig?
! Einerseits wissen wir zu wenig.
Andererseits ist es aber – wie gesagt – unsere
abstrakte, rationalistische Religionstheorie,
die wir auf den Islam übertragen wollen und
der er sich entzieht.
? Sie entstammen ja dem Kloster St.
Ottilien – in der Nähe von Landsberg –,
dessen Schwerpunkt die Missionsarbeit
ist. Was sagen Sie aus Ihrer Sicht,
was die vordringliche Aufgabe für die
christliche Mission ist?
! Schlichtweg die Botschaft Jesu zu
verkünden. Ohne jeglichen Zwang. Als
Angebot. Und zwar in einer Sprache, die
man heute versteht. Das wird kirchlicherseits
noch viel mehr Mut brauchen. Denn
was sage ich jenen Menschen, die nicht
nach den traditionellen Prinzipien der
Kirche leben können. Beispielsweise die
wiederverheirateten Geschiedenen. Die kann
ich doch nicht links liegen lassen. Für die
muss ich eine Botschaft haben. Da gibt es
bisher noch keine Lösung. Oder was sage ich
hier in München den 50 oder 60% Singles?
Was sage ich den Kindern in den PatchworkFamilien? Da fehlen uns pastorale
Anweisungen noch und nöcher. Damit muss
sich die Kirche auseinander setzen – ohne
die wesentlichen Prinzipien zu ändern.
Aber vielleicht geht es jetzt endlich mal
los. Ich habe unlängst mit einem Bischof
gesprochen und der sagte mir einige Dinge,
die ganz gut klangen. Mal schauen.
? Hat das was mit unserem neuen
Papst zu tun?
! Ich denke schon!
? Gehört zur Missionsarbeit auch
Ihre Kolumne in „Bild der Frau“?
! Ja natürlich. Es ist das Weitertragen der
Botschaft Jesu zum Heil und zur Freude des
Menschen.
? Und Freude ist jetzt kein
philosophisch-kontemplativ
abgehobenes Konzept, sondern darf
„Lachen“ bedeuten...
! Natürlich! Jesus hat vermutlich viel
gelacht oder geschmunzelt und auch sehr
gerne gut gegessen und getrunken. Denn er
wurde als Fresser und Säufer gescholten.
? Kommen wir zu Ihrer Musik. Sie
spielen Querflöte und E-Gitarre in
der Rockband Feedback. Stehen Sie da
richtig in Ihrer Kutte auf der Bühne?
! Ja, klar. Sogar mal mit Deep Purple, was
sicherlich zu den Highlights meines Lebens
gehört. Unter den jungen Menschen zu sein
und ihnen zu vermitteln: Es gibt einen Gott,
der mag euch. Und das sollt ihr spüren. Das
ist sehr, sehr schön.
Ich wurde ja von den Musikern der
Gruppe Feedback – damals noch als Abt von
St. Ottilien – gefragt, ob ich nicht bei ihnen
mitspielen wollte. Ich hatte das erst für einen
Gag gehalten. Aber im Laufe der Zeit bin ich
sehr stark mit der Gruppe verwachsen. Ich
habe sie getraut, ihre Kinder getauft und habe
auch sehr viele leidvolle Stunden mit ihnen
gemeinsam geteilt. Manches Mal, wenn der
eine oder andere nicht mehr weiter wusste,
dann haben sie mich angerufen und ich habe
mich abends in den Wagen gesetzt, bin als
„der flitzende Erzabt“ zu ihnen nach Erlangen
gefahren, nachts wieder zurück und war in
der Früh wieder im Chor gestanden. Das sind
die eigentlich wichtigen Dinge, weshalb ich
mit ihnen auf der Bühne spiele.
? Es geht also nicht nur um den
musikalischen Klang, sondern auch um
den Gleichklang der Seelen in Ihrer
Band?
! Ja.
? Es gibt in der journalistischen
Berichterstattung über Sie zwei
unterschiedliche Lieblingslieder. Der
„stern“ berichtet, es sei „Highway to
Hell“ von AC/DC. Die „Süddeutsche“
schreibt, es sei „Stairway to Heaven“
von Led Zeppelin. Was ist denn jetzt
richtig?
! Weder noch, sondern „My best Friend“.
der Normandie, gestern in Überlingen,
heute in München, morgen in Rom und
übermorgen geht´s nach Togo. Sie sind
in diesem Jahr 70 geworden und sitzen
jetzt hier, rauchen eine Pfeife, was ja
auch nicht so gesund ist...
! Das ist sehr gesund. Seelisch! Und
damit wirkt sich das körperlich wieder aus.
! Von unserer Band Feedback. Das erste
Lied unserer CD Rock my Soul.
(In diesem Augenblick klopft´s an der Türe
und es wird ein Paket abgegeben, das seinen
Lieblingspfeifentabak „Early Morning Pipe“
enthält. Mit großer Freude nimmt er das Paket
entgegen.)
? Spielen Sie jetzt als oberster
Benediktiner immer noch in der Band
mit?
? Das passt ja dramaturgisch
hervorragend. Halten Sie sich neben der
Pfeife noch anderweitig fit?
! Ja, ja, ich habe jedes Jahr meine vier bis
fünf Konzerte. Dieses Jahr haben wir sogar
auf dem ökumenischen Kirchentag gespielt.
! Oh ja. Ich mache jeden Morgen meinen
Frühsport. Der ist genau durchdacht – vom
Kopf bis zu den Füßen. Es ist ein leichtes
Training, das auf Beweglichkeit ausgerichtet
ist. Manchmal muss ich natürlich den
inneren Schweinehund überwinden, aber das
Bewusstsein, dass es mir danach gut geht,
? Von?
? Cool! Sie nannten sich eben
den „flitzenden Erzabt“. Das klingt
realistisch: Vorgestern waren Sie in
lässt mich die Übungen doch immer wieder
machen. Und dann – Pfarrer Kneipp lässt
grüßen – in der Dusche hinterher heiß-kaltheiß-kalt-heiß-kalt. Mir hat ein Internist
einmal erklärt, wie sehr das die Arterien
und Venen stärkt. Und wie dadurch die
Immunabwehr angeregt wird. Die anderen
liegen in den Betten, aber ich halte die
größten Strapazen aus und grins mir eins.
? Wenn man Sie sieht, unseren
Papst und die Kurie dann hat man den
Eindruck – um beim Bild des Sports zu
bleiben –, dass man in der katholischen
Kirche ein Langstreckenläufer sein
muss und nicht ein Sprinter. Stimmt
das?
! Ja, würde ich schon sagen. Man muss
was aushalten können.
(Sagt´s mit ernstem Gesicht. Schaut noch
mal – und lacht laut auf!)
•
N6 Dr. Notker Wolf ist als eigenwilliger
Denker Vorbild für Nachmann Rechtsanwälte.
visions
Seite 68
Ideen sind gut –
Ideen umsetzen
ist besser!
? Herr Dr. Smerling, wissen Sie
noch wie Ihre Leidenschaft für die
Kunst entstand?
! Durch einen Herrn mit Hut. Als ich
mit 18 eine Banklehre machte, besuchte
ich die Klee-Ausstellung im Rheinischen
Landesmuseum hier in Bonn. In der
Ausstellung waren überhaupt keine
Besucher – bis auf einen Menschen mit
Hut, flankiert von zwei, drei Studenten.
Dieser Herr war Joseph Beuys. Ich kannte
ihn damals nicht, kam aber mit ihm ins
Gespräch und er erklärte mir Paul Klee.
Einfach so. Und er eröffnete mir dabei den
Wirkungsanspruch der Kunst. Das hat
mich sehr fasziniert. Er lud mich danach zu
einer Abendveranstaltung ein mit dem Titel
„Kreativität = Volksvermögen“. Das war für
mich die Initialzündung. Ich weiß nicht,
ob ich ohne Beuys zur Kunst gekommen
wäre. Ich habe nach der Beuys-Begegnung
Betriebswirtschaft studiert und sogar vier
Semester Kunstgeschichte angeschlossen,
dann aber ein Fernsehvolontariat beim
Südwestfunk gemacht. Währenddessen
war ich immer von dem Wunsch beseelt,
Ausstellungen zu machen und Kunst zu
zeigen. Und so habe ich 1986 mit Freunden
die Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn
gegründet, in deren Räumen wir heute sitzen.
? Was hat Sie an der Kunst so
fasziniert?
! Die Wirklichkeit der Kunst war eine,
die ich zwar erkannte, die sich mir aber ad
hoc nicht vollständig erschlossen hat. Ich
wollte sie gerne noch besser, tiefer gehender
spüren, empfinden, verstehen. Das war
der eigentliche Motor: diese Wirklichkeit
zu begreifen, den Wirkungsanspruch des
Künstlers und dessen Vorstellung von
Wirklichkeit.
Illustration: Peteris Lidaka
Das ist der Claim der Stiftung für
Kunst und Kultur e.V. Bonn, dessen
Vorsitzender Dr. h.c. Walter Smerling
in einem Gespräch mit unserem Autor
Andreas Lukoschik über einige der 280
Kunstprojekte spricht, die er in den
letzten 25 Jahren realisiert hat.
? Ich war damals mit 20 einer der
vielen hundert Studenten in Joseph
Beuys` Düsseldorfer Akademieklasse
und habe ihn nicht verstanden –
ehrlich gesagt. Ich habe mich zwar
darum bemüht, aber es waren
böhmische Dörfer für mich. Da waren
Sie mir offensichtlich weit voraus...
! Halt. Ich habe das auch nicht
verstanden, aber ich wollte es
verstehen. Was ich begriffen hatte, war
diese wunderbare Vorstellung von der
Gesellschaft als einer sozialen Skulptur, die
sich permanent verändert, die also nicht
den festen Aggregatzustand einer normalen
Skulptur aus Blei, Plastik oder Holz hat.
Mir ist das erst später klar geworden, als ich
mich intensiv für meine Filme mit Beuys
beschäftigte.
Meine Begeisterung für die Kunst
bekam weitere Nahrung durch die
Begegnungen mit Immendorff, mit dem ich
30 Interviews gemacht habe. Und dann der
permanente Dialog mit Anselm Kiefer, mit
dem mich seit unserem gemeinsamen Film
„Volkszählung“ eine lange Freundschaft
verbindet.
Sie müssen sich vorstellen, da
sagt Ihnen ein Künstler: Ich gehe in
die Vergangenheit und in die Zukunft
gleichermaßen, um daraus die Sinnlosigkeit
des Daseins zu entschlüsseln, mitsamt der
Mythologie und der Schuldfrage. Das muss
man erst einmal verstehen.
Ich denke, ich habe durch diese
Dialoge im Sinne des „Learning by Doing“
vielleicht mehr gelernt als durch ein
Kunstgeschichtsstudium an der Universität.
Zumindest habe ich den Eindruck.
? Wenn Sie einen Film über einen
Künstler machen, haben Sie dann
vorher ein klares Bild von dem, was er
will, oder verstehen Sie ihn eigentlich
erst im Dialog? Beim Drehen?
MKM Installationsansicht: Markus Lüpertz, Foto: Georg Lukas, Essen
! Wenn Sie einen Film über Hanne
Darboven machen, dann müssen Sie Hanne
Darboven begriffen haben, sonst können
Sie es gleich lassen. „Mein Geheimnis ist,
dass ich keins habe“ – ein 45-minütiger
Film, den ich das Vergnügen hatte, zwischen
1989 und ’91 mit ihr zu drehen – war ein
hochinteressantes Projekt für mich. Ihr
Sichtbarmachen von Zeit in räumlicher und
bildlicher Hinsicht, in dieser ihr eigenen
Schreibweise, das war etwas, was mich
schon 1982 auf der documenta 7 sehr, sehr
fasziniert hatte. Ich fragte mich: Wie kann
das gehen? Als ich dann das erste Mal
in ihr Atelier gekommen bin und Hanne
mir ihre Blätter zeigte, mir erzählte, wie
sie entstanden sind, dabei ihren Anspruch
und ihre Besessenheit vermittelte, da war
ich noch mehr fasziniert. Und als sie mir
schließlich 1985 den „Regenmacher“ zeigte,
da war mir klar: Diese Arbeit, die Kunst,
Wissenschaft, Politik, Zivilisation über 150
Jahre darstellt, ist so fantastisch, die müssen
wir zeigen. Da sagte Hanne nur, „wenn du
sie zeigen willst, dann zeig sie“, und wir
mieteten einen Raum an und zeigten sie.
Eine sehr erfolgreiche Ausstellung.
dann wollen Sie Ihre Begeisterung mit
anderen teilen und sie ihnen zeigen?
? Wenn Sie also von einer Arbeit
oder einem Künstler begeistert sind,
! Ich bin immer sehr gerne nach
Salzburg gefahren, habe diese wunderbare
! Ich bin sehr am Dialog interessiert. Ich
glaube, dass der Dialog über die Kunst, also
über etwas, was man nicht immer sofort
versteht, aber verstehen möchte, immer
interessanter ist als das, was sowieso alle
verstehen.
? Sie sind künstlerischer Leiter der
Salzburg Foundation. Was macht die?
? Wie muss man sich einen solchen
Prozess vorstellen? Sie haben eine Idee.
Dann brauchen Sie erstens das Nicken
der Stadtväter und zweitens treiben
Sie zur Realisierung den einen oder
anderen Euro auf?
! Das ist die falsche Reihenfolge. Sie
brauchen zuerst die Künstler, die das
Konzept realisieren wollen. Da hatten einige
zugesagt, weil ihnen mein Gesamtkonzept
plausibel erschien – nämlich eine Stadt im
Zeitraum von zehn Jahren mitzugestalten.
Wir alle sind ja – wieder nach Josef Beuys´
Modell der Gesellschaft als sozialer Plastik –
Mitgestalter am Ganzen.
So wie sich Salzburg damals
präsentierte, lud die Stadt geradezu ein,
Künstler zu holen, um neben dem Bereich
der Musik noch eine weitere Säule der
Kultur zu etablieren: die zeitgenössische
Kunst. Natürlich gab es 2001, als wir das
Projekt starteten, das Rupertinum und den
wunderbaren Thaddaeus Ropac mit seinen
hochkarätigen internationalen Kontakten.
Dennoch war zeitgenössische Kunst kein
öffentlich greifbares, wirklich präsentes
Thema in der Stadt Salzburg. Und ich
nehme für mich in Anspruch, einen Beitrag
geleistet zu haben, dass es heute ein Thema
ist.
? Haben Sie Kiefer als Ersten
angesprochen, weil Sie ihn damals
schon gut kannten?
? Welche Künstler haben
inzwischen mitgemacht?
! In der Reihenfolge wie ihre Arbeiten
entstanden: Anselm Kiefer (2002), Mario
Merz (2003), Marina Abramovic (2004),
Markus Lüpertz (2005), James Turrell
(2006), Stephan Balkenhol (2007), Anthony
Cragg (2008), Christian Boltanski (2009)
und in diesem Jahr ist Jaume Plensa
dazugekommen.
Joseph Beuys: Infiltration homogen für Konzertflügel 1966, Installationsansicht “60 Jahre. 60 Werke.”,
eine Ausstellung der Stiftung für Kunst und Kultur e.V., Berlin 2009 (c) VG Bild-Kunst, Bonn, Foto: Stefan Lucks, Berlin
Stadt gesehen, mir die Musik dort angehört.
Aber es war so ... bieder. Durch einen Zufall
wurde ich gefragt, ob ich mir denn nicht
vorstellen könnte, dort etwas zu zeigen. Da
habe ich gesagt: „Ja, lassen Sie uns Kunst im
öffentlichen Raum machen.“ Und daraus ist
die Salzburg Foundation entstanden.
! Nein. In erster Linie bin ich fasziniert
von seiner Kunst. Kiefer langweilt mich nie!
Zweitens war er ein Künstler, der Erfahrung
mit Kunst im öffentlichen Raum hatte.
Wenn Sie in einer Stadt wie Salzburg, in
der damals sowieso jeder dagegen war, mit
öffentlicher Kunst etwas gestalten zu wollen,
dann können Sie nicht mit Künstlern
starten, die dem öffentlichen Druck nicht
standhalten können.
Nach immerhin fünf langen
Überzeugungsgesprächen kam Anselm
Kiefer schließlich nach Salzburg – mit viel
Literatur bewaffnet – und ließ die Stadt auf
sich wirken. Wenig später suchte er sich
den Platz aus, wo er seine Arbeit A.E.I.O.U.
Gestalt annehmen lassen wollte. Es war der
Furtwänglerplatz an der Kollegienkirche, wo
die Salzburger gerne flanieren und damals
ihre Hunde ausführten. Ein sehr zentraler
Ort, direkt gegenüber dem Festspielhaus.
In Kiefers Arbeit muss man ebenso
hineingehen wie ins Festspielhaus: Tür
auf, Vorhang auf und dann erblickt man
das Gemälde „Wach im Zigeunerlager“ mit
einem Zitat von Ingeborg Bachmann und
gegenüber das Symbol des Wissens: das
Buchregal. Jeder Besucher ist frei, den Raum
zum „Leben zu erwecken“, wie Anselm Kiefer
sagt, und die einzelnen Elemente, die sich
mit der menschlichen Existenz zwischen
Vergangenheit und Zukunft beschäftigen,
miteinander in Beziehung treten zu lassen.
Wir hatten ihm damals gesagt: „Du
machst die Kunst, wir bringen das Geld und
die Genehmigung.“ Der Prozess allerdings,
um diese Genehmigung zu bekommen, war
bizarr: 23 Sitzungen innerhalb von drei
Monaten mit Ausschüssen, Politikern und
Gegnern. 23 – in drei Monaten.
Wir haben alle nicht mehr geglaubt, dass
wir Kiefers Arbeit ein Jahr später eröffnen
könnten, weil der Widerstand so massiv war.
Und der hat sich dann sogar noch gesteigert.
Aber wir haben immer gesagt: „Gebt uns die
Chance, das zehn Jahre lang zu machen, und
die Salzburger werden beginnen, das Projekt
zu lieben.“ Am 9. Oktober 2010 haben
wir die bislang neunte Skulptur enthüllt:
„Awilda“ von Jaume Plensa, die sich mit der
Kraft beschäftigt, die ein einzelner Mensch
hat, um die tägliche Geschichte zu gestalten
– obwohl natürlich immer gesagt wird, dass
das nur große Namen und die hohe Politik
leisten könnten.
Wie auch immer: Inzwischen kippt die
Salzburger Meinung ins Positive.
Wir haben damit etwas in Salzburg
geschaffen, was es so noch nie gab:
Kunstwerke, die sich mit der Stadt
auseinander setzen, auf Plätzen, die von
den Künstlern ausgewählt wurden – und
das ganz ohne öffentliche Mittel, ohne
Steuermittel. Das ist weltweit einzigartig!
? Chapeau! Arm in Arm mit der
Wirtschaft?
! Mit der Wirtschaft oder mit
Privatleuten. Das Phänomen ist ja, dass
wir für das Salzburg-Projekt von der
österreichischen Wirtschaft vielleicht
10% der Mittel bekommen haben. Der
Löwenanteil kam von der Credit Suisse
– DEM wesentlichen Anchorsponsor. Ein
anderer wichtiger Freund und Förderer der
Salzburg Foundation ist Reinhold Würth.
? Wem gehören eigentlich die
Kunstwerke?
! Der Salzburg Foundation.
? Und was haben die Sponsoren
davon?
! Es geht dabei natürlich um eine gewisse
Werbewirkung bei einer gehobenen Klientel.
Es hat ja seine Wirkung, wenn die Vertreter
der Credit Suisse bei einer 100-Jahr-Feier
im Centre Pompidou in Paris feststellen
können: „Oh, drei der Künstler, die hier
gerade ausgestellt werden, präsentieren
wir ja auch in Salzburg!“ Nämlich
Boltanski, Cragg und Kiefer. So was schafft
Kommunikationsanlässe. Für Sponsoren ist
es auch interessant, wenn der Bankvorstand
Kunden nach Salzburg zu einem Empfang
ins Kiefer-Haus oder in James Turrells
sky-space oder zu einem Rundgang zu den
Projekten durch die Stadt einladen kann.
Die wichtigste Voraussetzung für
Sponsoring ist, dass man sich gegenseitig
als Team versteht und die Wünsche klar
definiert sind. Ebenso wichtig ist, dass ganz
klar verabredet ist: Keine Einmischung in
die Ausstellung, keine Einmischung in die
Konzeption. Das wissen die Sponsoren
zwar meistens, aber es ist dennoch eine
wesentliche Voraussetzung.
? Sie erwähnten gerade James
Turrell. Für das Interview in dieser
Ausgabe unseres Magazins habe ich
sein „Wolfsburg Project“ erlebt und
war von der meditativen Kraft seiner
Arbeiten fasziniert.
! Ja, und wenn Sie die Salzburger Arbeit
sehen, dann spüren Sie auch den sakralen
Charakter. Gehen Sie in die Salzburger
Kirchen und schauen Sie sich diese
elliptischen Heiligen-Darstellungen an den
Decken an. Wenn Sie dann in den skyspace von Turrell gehen, wiederholt sich
diese Ellipse in der Decke. Sie sehen dort
keine Heiligen, sondern den realen Himmel.
Nach einer Weile der Betrachtung verändert
sich der Himmel durch Lichteinwirkung
und Wolkenbildung und wird zu einem
abstrakten Bild.
? Haben das die Salzburger
verstanden?
! Sie bieten jetzt – im Rahmen ihrer
Tourismus-Arbeit – den „Walk of Modern
Art“ an, der immer mehr angenommen wird.
Und das ist ein deutliches Zeichen dafür,
dass man etwas verstehen will.
? Nun sind Sie ja nicht nur in
Salzburg, sondern auch in Duisburg
tätig. Als Direktor des Museum
Küppersmühle, das mit 5000 qm
Ausstellungsfläche ein recht großes
Haus ist, und das derzeit sogar noch
mit einem Erweiterungsbau von Herzog
& de Meuron versehen wird.
! Ja, wir sind in der glücklichen Lage,
dass die Freunde dieses Museums, das
Sammlerehepaar Sylvia und Ulrich Ströher
aus Darmstadt, von der die „zeit” sagt, dass
sie von allen deutschen Großsammlern die
stillsten sind und die wichtigste Sammlung
deutscher Kunst nach 1945 haben, mit uns
einen Dauerleihvertrag gemacht haben, der
bis 2025 geht. Deshalb kann ich in aller
Klarheit sagen: Ohne Sylvia und Ulrich
Ströher würde dieses Projekt nicht laufen.
Denn sie finanzieren beachtlich viel und
stellen uns ihre Sammlung zur Verfügung.
? Herr Dr. Smerling, kann es sein,
dass umtriebige Leute wie Sie der
Kunstszene suspekt sind?
! Ob ich der Kunstszene suspekt bin,
weiß ich nicht. Es gibt dort jedenfalls viele
Freunde. Gleichzeitig gibt es auch viele Leute,
die mich nicht mögen. Mittlerweile ist es aber
so, dass immer mehr Museumskolleginnen
und -kollegen nach Kooperationen fragen.
Immer mehr Künstlerinnen und Künstler
sind erfreut, bei uns ausgestellt zu werden.
So hat sich bei sehr vielen die Einstellung zu
mir und meiner Arbeit in den letzten zehn
Jahren gewandelt. Ich weiß, dass morgen
alles wieder anders sein kann. Genau
deswegen muss man die Dinge, die man
macht, verlässlich und wahrhaftig tun. Man
muss zu dem stehen, was man macht und
davon überzeugt sein. Authentizität ist sehr
wichtig. Dann kann man auch ertragen, dass
andere manchmal die eigene Arbeit nicht
so toll finden wie man selbst. Aber das ist ja
eigentlich auch normal.
? So zu leben, ist aber ein
aufreibendes Sein!
! Routine ist viel aufreibender, weil sie
furchtbar langweilig ist. Ich finde es schön,
wenn man jeden Tag so lebt wie – na ja,
vielleicht nicht gleich wie Markus Lüpertz als
wär´s der letzte – aber doch so, dass man ihn
proaktiv und neu gestaltet.
Wir arbeiten jetzt zum Beispiel an
einem neuen Projekt: „Kunst und Zeitung“,
das wir in Berlin ausstellen werden. Ich
bin der festen Überzeugung, dass es
ein ganz wichtiges Projekt ist. Dahinter
steckt folgende Überlegung: Die Zeitung
ist ein wesentlicher Impulsgeber unserer
Demokratie. Meinungsvielfalt wäre ohne
Zeitung vermutlich nicht denkbar. Um zum
Meinungsbildungsprozess beizutragen, soll
die Presse so objektiv wie möglich berichten
und informieren, aber allein die Auswahl
der Nachrichten ist natürlich schon eine
Manipulation, weil dadurch Gewichtung
entsteht. Dem Rezipienten wird letztlich
eine mediale Version der Wirklichkeit an
die Hand gegeben – nicht mehr und nicht
weniger.
Den Medien gegenüber steht der
Künstler, der die Wirklichkeit reflektiert und
aus seiner Sicht darstellt. Er kreiert damit
eine rein subjektive Version von Realität. Ich
behaupte nun, dass diese Subjektivität viel
authentischer und wahrhaftiger ist als das,
was die Medien in vermeintlich objektiver
Absicht darstellen können. Denn sie
kommt immer nur aus dem Künstler selbst
heraus. Vor diesem Hintergrund finde ich es
interessant, wie Künstler mit dem Medium
Zeitung und der Presse umgegangen sind.
Wenn wir die Geschichte aufblättern,
dann stellen wir fest, dass es seit dem
Beginn der Moderne ab etwa 1870 zahlreiche
Künstler gibt, die die Zeitung aus inhaltlichen
Gründen in ihr Werk integrieren. Ob sie nun
collagieren oder decollagieren wie Braque,
Picasso oder Schwitters oder politische
Gründe haben wie Heartfield, Hausmann
oder Beuys. Oder sie machen Kunst mit den
Vorlagen der Massenmedien wie Warhol.
Wir können also sagen: Von Cézanne bis
Beuys haben wir zehn, fünfzehn Positionen
von Künstlern, die in der Vergangenheit das
Medium Zeitung aus den verschiedensten
Gründen in ihr Werk integriert haben.
Soweit der Rückblick – aber wie machen
das die zeitgenössischen Künstler? Deshalb
wollen wir ergänzend zum historischen
Teil etwa 30 Künstler einladen, zum Thema
„Kunst und Zeitung“ auf ihre Weise Stellung
zu nehmen. Das zeigen wir 2012 im Berliner
Martin-Gropius-Bau für drei Monate.
Parallel zur Ausstellung wird jeder dieser
zeitgenössischen Künstler für einen Tag eine
Doppelseite in der Bild-Zeitung bekommen.
Das bedeutet, dass an einem einzigen Tag
Millionen von Menschen seine Arbeit, seine
Auseinandersetzung mit der Presse sehen
werden. Das ist grandios.
? Kann man dann sagen, dass 2012
– nach etlichen Jahren Tätigkeit in der
Kunst – die Themen des Journalisten
Walter Smerling, nämlich Journalismus
und Kunst, in einer Ausstellung
aufeinander treffen und sich der Kreis
schließt?
! Kann man.
? Ist das Zufall?
! Es gibt keine Zufälle.
? Richtig, aber wenn es einem
zu-fällt, muss man es auch auffangen.
Sonst ist es ein Moment wie jeder
andere, der vergeht.
? Bei so viel Initiative und so viel
„Kunst der Geldbeschaffung“ – denn
das ist ja auch eine Kunst – stellt sich
die Frage, wie wählen Sie die Künstler
für Ihre Projekte aus?
! In Salzburg war es mir wichtig, dass
alle Kunstwerke unabhängig voneinander
funktionieren, eine starke Aussage haben
und in den verschiedenen Bereichen
der öffentlichen Installation angesiedelt
werden können – also als Skulptur, als
Environment, als Meditationsraum, als
sakraler Raum –, aber dennoch insgesamt
Interdependenzen aufweisen und ein
Beziehungsgeflecht entwickeln. Das macht
den „Walk of Modern Art“ interessant. Die
Künstler habe ich dabei durchaus subjektiv
ausgesucht nach meinen Vorstellungen.
Im Museum Küppersmühle
achten wir zunächst darauf, bei den
Wechselausstellungen einen Kontext
zur Sammlung herzustellen. Wenn wir
also in der Sammlung Arbeiten von Jörg
Immendorff, Stephan Balkenhol, Gerhard
Richter, Peter Brüning und anderen haben,
dann zeigen wir mit einer Werkschau die
gesamte Bandbreite des jeweiligen Künstlers.
Wichtig bei der Programmgestaltung ist mir
aber auch, diese renommierten Positionen
mit denen noch eher unbekannterer
Künstler abzuwechseln.
? Wen würden Sie von den jüngeren
Künstlern als viel versprechend oder
spannend einschätzen? Nicht im Sinne
von Marktwert, sondern in Hinsicht
auf seine künstlerische Aussage?
! Interessant finde ich – wenn auch
nicht unbedingt als jünger einzustufen
– den Daniel Richter, und natürlich Neo
Rauch, auch Abraham David Christian oder
Norbert Schwontkowski. Erwin Wurm ist
sehr spannend, auch Brigitte Kowanz und
Richard Prince.
Harland Miller, ein relativ unbekannter
Künstler aus England, finde ich
hochinteressant, weil er Literatur und
bildende Kunst miteinander verknüpft. Und
dann fällt mir noch Katja Pfeiffer ein, die
extrem viel versprechend ist. Sie ist zwar
meiner Meinung nach noch auf der Suche,
aber – wenn sie findet, was sie sucht, und ich
glaube, dass sie es findet – wird es spannend
werden.
•
N6 An Dr. Smerlings Arbeit schätzen
Nachmann Rechtsanwälte sein Geschick,
private und industrielle Gönner der Kunst
dafür zu gewinnen, Werke einem breiten
Publikum zugänglich zu machen.
Jaume Plensa: Awilda 2010, Foto: Wolfgang Lienbacher, Salzburg
! Für „Kunst und Zeitung“ haben wir
rwe als Hauptsponsor und die BildZeitung als Medienpartner. Der Bild-Chef,
Kai Diekmann, ist ein großer Gewinn für
die Kunstvermittlung. Ohne ihn gäbe es die
Popularisierung des Feuilleton vielleicht
gar nicht. Mit solchen Freunden arbeiten
zu können, macht einfach Spaß! Weil wir
gestalten können. Dasselbe hat mich auch
am Museum Küppersmühle so gereizt: Wir
können gestalten!
Wenn man einmal den Kontakt zu
einem Sponsor wie Jürgen Großmann hat,
dem ceo von rwe, dann kann man den
nur überzeugen, wenn man authentisch ist.
Überzeugung und Verbindlichkeit sind das
A und O. Denn wenn man nicht selbst an
sich glaubt – wer soll´s denn dann tun? Und
noch etwas ist wichtig: die Nachhaltigkeit.
Natürlich sind langfristige Engagements
interessanter als einmalige oder kurzzeitige.
Kurzzeitiges Engagement bindet keine Kraft
und die Sponsoren haben auch nicht so
viel davon. Wichtiger ist aus meiner Sicht
Sponsoring über lange Perioden. Die SEB
Hypothekenbank (früher BFG) hat mit
uns 18 Jahre lang zusammengearbeitet, die
Deutsche Bank/die Deutsche Bank Stiftung
macht es seit 12 Jahren und die Essener
National-Bank seit sechs Jahren.
my europe
Seite 78
Ein Gespräch mit dem Präsidenten von
Arte, Dr. Gottfried Langenstein, über
gutes Fernsehen, die Vorteile, mit beiden
Beinen in zwei verschiedenen Ländern
zu stehen, den Fehler der Politik, das
Tafelsilber der Mediengesellschaft zu
verhökern, die glorreiche Zukunft der
öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten
durch die demografische
Herausforderung der Babyboomer
und warum wir in der kommerziellen
Nutzung kultureller Inhalte noch sehr
viel besser werden müssen.
? Wie muss ich Sie als Präsident
von Arte und Ritter der Ehrenlegion
korrekt anreden? Monsieur le
Président-directeur générale?
! Langenstein. Gottfried Langenstein.
? Herr Langenstein, wie fühlt
man sich, wenn man der Chef eines
Fernsehsenders ist, der bei den
führenden Gehirnträgern des Landes
als Lichtblick in der Medienlandschaft
angesehen wird?
Binationalität als Chance
! Ich fühle mich dort sehr wohl – und
auch herausgefordert. Denn man hat bei
Arte ein Klima, das man in keinem rein
deutschen Unternehmen aber auch in
keinem rein französischen Unternehmen
vorfindet. Eine Hälfte des Arte-Vorstandes
ist deutsch, die andere französisch. Wir
führen alternierend, das heißt, wer vier Jahre
Präsident ist, weiß, dass er die nächsten vier
Jahre Vizepräsident sein wird, und umgekehrt.
Da stellt sich automatisch die Weisheit ein,
den anderen gut zu behandeln, denn nach
vier Jahren ist die andere Seite wieder dran.
Wer sich in Deutschland an die
konsequenten Abläufe und Entscheidungsprozesse von Vorstandssitzungen gewöhnt
hat und dann auf die deutlich informellere
Entscheidungskultur Frankreichs trifft – wie
alles informell geht, wie alles vorbesprochen,
wie alles vorgefühlt sein will –, der erlebt
eine Führungswelt mit völlig anderen
Koordinaten. In Deutschland ist ein
Projekt, wenn es im Vorstand ankommt,
komplett durchgeprüft – auf Finanzen, auf
rechtliche Fragen, auf technische Probleme.
In Frankreich steht die Begeisterung am
Anfang und man kommt mit den Problemen
möglicherweise erst zwei, drei Monate
später. Wenn man bei Arte den Hut aufhat,
weiß man, dass bei einem neuen Projekt die
Deutschen alle Risiken abprüfen – sehr solide,
sauber, gut planend. Man weiß aber ebenso,
dass die Franzosen ein sehr gutes Gefühl
haben für Marketing, für eine neue Idee, für
das Besondere in einem Projekt. Wirkung
wird von vornherein mitgedacht. Und dass
Illustration: Peteris Lidaka
Ars
arte
sie mit unheimlichem Drive hinter einem
Projekt stehen. Diese Mischung beider Stile
ist ausgesprochen fruchtbar und belebend
für beide Seiten.
? Nun hört man immer wieder, dass
es in französischen Unternehmen für
Deutsche sehr mühsam zugeht.
! In Frankreich gibt es in
Ergänzung des Fantasiestroms und der
Begeisterungsfähigkeit auch ein ganzes Stück
höfische Hierarchie. In Paris hörte ich einmal
die humorvolle wie aufrichtige Bemerkung:
„Nous avons tué le roi pour conserver la
cour.“ Das heißt, man hat zwar den König
umgebracht, aber das höfische Verhalten
erhalten. Diese höfische Struktur ist in
Deutschland durch die Umbrüche, die wir im
20. Jahrhundert hatten, völlig verschwunden.
Zentralistische Machtstrukturen und
herrschaftliche Haltung waren durch die
historischen Abgründe gänzlich diskreditiert.
Wir sind außerdem – vielleicht deshalb
– am Ende pragmatischer. In Frankreich
verhält sich ein Präsident durchaus präsidial
und will in die Details des Arbeitsprozesses
überhaupt nicht eindringen. Denn er
betrachtet das als die Aufgabe seiner
Mitarbeiter. In Deutschland kann man
hingegen erleben, dass ein Präsident sich
auch um das kleinste Detail kümmert
und die Arbeitsebene aufsucht, um aus
der Kenntnis aller Produktionsprozesse
eine umfassende und gute Unternehmensentscheidung zu treffen. Wir Deutschen
beziehen unsere Beschlusskraft aus
der Materie. Der französische Manager
bezieht die Beschlusskraft aus der Vision
und der Struktur. Das muss man beim
Umgang, bei der Kommunikation und den
Entscheidungen immer berücksichtigen. Für
den so wichtigen informellen Kontakt ist
die Kenntnis der Sprache unabdingbar. Und
wenn es um Interessengegensätze geht, ist
es entscheidend, dass man sehr, sehr früh
ventiliert und die Dinge sortiert. Wer meint,
so etwas in einer Vorstandssitzung im Wege
eines strittigen Disputs zu lösen, kommt
nicht weit.
? Wird bei Arte nur Französisch
gesprochen?
! Und Deutsch. Wir haben die Regel,
dass der Vertreter eines französischen
Abteilungsleiters deutsch sein sollte und
umgekehrt. Jeder kann sich in seiner
Sprache artikulieren und für die anderen
wird es übersetzt. Oder von diesen
ohnehin verstanden, weil die meisten
bei uns bilingual sind. Gerade in der
Führungsposition sollte man die Sprache
des anderen perfekt beherrschen. Denn die
eigentlichen Entscheidungen fallen – wegen
der informellen französischen Arbeitskultur
– nicht in der offiziellen Sitzung mit
Dolmetscherkabinen, sondern auf dem
Korridor, in einem Restaurant, an einem
Telefon, in einem Café. Dort ist man – in
der Regel – nicht von einem Dolmetscher
begleitet. Wenn man es mit einer Gruppe
aus beiden Ländern zu tun hat, ist es für
das Kohärenzgefühl wichtig, die Fragen
jeweils in der Sprache zu beantworten, in
der sie gestellt werden. So verfahre ich
auch in der Mitgliederversammlung. Das
hat ein Stück Statur, erweist Respekt und
generiert Bindung an das Gemeinschaftliche.
Die Spitze wird so nicht mehr einem Land
zugeordnet.
? Dann ist die Binationalität also
weniger ein Nachteil als ein Vorteil?
! Sie ist bei manchen Themen sogar
ein großes Geschenk. Wir unterliegen
zum Beispiel nicht den einschränkenden
Regularien, denen die deutschen
Rundfunkanstalten bei ihrem Internetauftritt
ausgesetzt sind. Denn die französische Seite
vertritt genau die gegenteilige Politik. Dort
werden wir ausdrücklich zum InternetEngagement aufgefordert. Die Entwicklung
der Netzwelt gilt als notwendige Aufgabe,
um auch das junge Publikum für Themen
der Kultur und des Wissens zu begeistern.
Niemand käme in Frankreich auf die Idee,
uns dabei zu bremsen.
Was das Arte-Programm
zu Arte macht
? Inspirieren Sie Ihre Töchter in
dieser Hinsicht?
! Man nimmt natürlich viel von
seinen Kindern mit und lernt von der
Aufteilung ihrer Medienzeit viel über neue
Nutzungstrends im Netz. Über sie bin
ich darauf gestoßen, dass es bei Facebook
zahlreiche Communities gibt, die sich mit
Arte beschäftigen. Es macht für die Nutzer
wie den Sender Sinn, solche Initiativen mit
Inhalten anzureichern und sie proaktiv zu
nutzen.
Die Nutzer spielen auch für den
Transport von Inhalten eine immer
größere Rolle. Erinnern Sie sich noch an
den Kennedy-Mord 1963? Das war noch
das klassische Radioereignis. Wir Kinder
saßen mit unserem Vater vor einem großen
Röhrenradio und hörten auf der Kurzwelle
mit der ganzen Familie bei Norddeich Radio
die Nachrichten aus Amerika.
Die Mondlandung, nur sechs Jahre später,
am 21. Juli 1969, war bereits ein komplettes
Fernsehereignis.
Der Anschlag auf das World Trade
Center 2001 markiert den Übergang
zur Internet-Information. Der Sturz der
Flugzeuge in die beiden Türme war zum
einen ein Fernsehereignis, zum anderen aber
auch schon ein bedeutendes Internetereignis.
Die Menschen wollten immer wieder
die unglaubliche Katastrophe sehen und
gingen dazu auf die Websites der großen
Fernsehanstalten cnn, bbc, ard oder zdf,
um den Zusammenbruch beider Türme zu
verfolgen.
Acht Jahre später, als am 21. Juni
2009 die Studentin Neda Agha-Soltan
bei den Teheraner Protesten gegen
die Präsidentenwahl 2009 erschossen
wurde, verfolgten Millionen Menschen,
wie sie blutend auf der Straße lag und
starb. In Frankreich hatte man den mit
diesen tragischen Bildern verbundenen
Internet-Traffic gemessen und festgestellt,
dass nur noch 20% auf den klassischen
Nachrichtenwebsites erzeugt wurde, dass
sich aber über 80% der Nutzer über
kommunikative Netzwerke wie Twitter,
YouTube, Facebook und MySpace informiert
hatten.
Dies war für uns Anlass, die
Internetstrategie neu zu überdenken. Es
war für uns klar, dass wir denjenigen,
die interaktiv im Netz unterwegs sind,
ermöglichen müssen, ebenso interaktiv mit
Arte zu kommunizieren. Wir lassen deshalb
heute auch zu, dass junge User Content
von uns auf ihren Websites als „embedded
content“ nutzen.
? Was antworten Sie, wenn man Sie
fragt, was Arte ist?
! Arte ist von seiner Bestimmung her
ein europäisches Programm, das sich vor
allem um Kultur-, Wissens- und Wertefragen
kümmert. Es ist ein Sender, der sich
nachhaltig darum kümmert, unterschiedliche
Kulturen miteinander vertraut zu machen.
Dazu gehört die Erkenntnis, dass wir uns
unter dem Druck der Globalisierung nicht
nur mit Themen Europas beschäftigen
dürfen, sondern dass wir uns auch mit den
aufstrebenden außereuropäischen Kulturen
vertraut machen müssen, wie Indien, China,
Indonesien und Brasilien. Die Globalisierung
werden wir nicht als Deutsche oder
Franzosen oder Italiener bestehen, sondern
nur als weltläufige Europäer.
Wir müssen verstehen lernen, dass die
Länder, die aufgrund ihres wirtschaftlichen
Aufschwungs selbstbewusster werden,
sich auch aufmerksam mit Geschichte
beschäftigen und uns unser Handeln in den
zurückliegenden Jahrhunderten vorhalten.
So hatte ich in China ein bemerkenswertes
Gespräch mit einem jungen Galeristen in
Shanghai. Es fand kurz vor der Olympiade
statt, zu der Zeit, als man in Deutschland die
Frage diskutierte, ob die Bundeskanzlerin
angesichts des chinesischen Vorgehens
in Tibet nicht nach Peking zur Olympiade
fahren sollte.
Auf meine Frage, wie er die Probleme
in Tibet sehe, antwortete der junge Galerist,
dass er meine Frage verstehe, doch er würde
mich gerne fragen, woher die Europäer
den Hochmut nähmen, den Chinesen ihr
Handeln in Tibet moralisch vorzuhalten,
ohne sich ihrer eigenen historischen
Verantwortung auch nur im Geringsten zu
stellen? Denn der Vorgänger des jetzigen
Dalai Lama, der 13. Dalai Lama, sei auch
vertrieben worden. Aber nicht von den
Chinesen, sondern von den Engländern, die
1904 Lhasa besetzten. Colonel Younghusband
war Ende 1903 im Auftrag der britischen
Krone zur Eroberung Tibets aufgebrochen
und hatte mit Maschinengewehren in einer
blutigen Aktion die Tibeter zu den Füßen
des Potala-Palasts niedergemäht. In der New
York Times von 1904 ist dieses Vorgehen mit
der triumphierenden Tonalität festgehalten:
„The British mewed efficiently the Tibetans.“
Der Dalai Lama floh damals nicht in die
Arme des Westens, sondern in die Arme
von Cixi, der letzten chinesischen Kaiserin.
Diese Erinnerung an unsere europäische
Verantwortung haben wir nicht mehr. Die
Chinesen aber sehr wohl. Und inzwischen
sagen sie uns das auch.
Man kann die Chinesen von dem, was
von ihrer Seite in Tibet geschah, deswegen
nicht exkulpieren, weil man Leid nicht
gegen Leid aufrechnen kann. Aber ich
bin überzeugt, dass wir Europäer lernen
müssen, dass uns unsere historische
Schuld in vielen Ländern der Welt mit
einer ganz anderen Souveränität in Zukunft
entgegengehalten werden wird. Und wir
sind wohlberaten unseren ethischen
Anspruch mit historischem und kulturellem
Verstand vorzutragen und, wo geboten, auch
Verantwortung zu übernehmen.
Der europäische Kultursender
Arte besteht also nicht nur darin, uns
wechselseitig die europäische Kultur zu
spiegeln, sondern uns aufmerksam zu
machen auf die Leistungen anderer Kulturen
und auf den Blick, der von dort auf Europa
fällt.
? Zum Beispiel in Themenabenden...
! Ja, Themenabende sind dafür das
richtige Format. Der Themenabend war
im übrigen eine deutsche Erfindung. Der
brillante Redaktionsleiter des Kleinen
Fernsehspiels beim zdf, Eckart Stein, hatte
diese Idee. Schwerpunkte und Vertiefung
von Themen sind für einen Sender wie
Arte ein wichtiges Planungselement. In
einer Zeit, wo ständig neue Kanäle entstehen,
ist niemand mehr intellektuell in der Lage
sich die Programmschemata aller Sender
zu merken. Unser Gehirn wäre damit
vollkommen überfordert. Die Zuschauer
reagieren deshalb auf eine typische Weise, die
unserem Internetkonsum durchaus ähnlich
ist. Sie wählen drei, vier Sender aus, die sie
regelmäßig aufsuchen und darüber hinaus
merken sie sich eine Gruppe von Sendern
– 10 bis 15 –, die sie auch für relevant halten.
Ähnlich sieht es auf unserer Favoritenliste für
Internetangebote aus. Für Sender mit weniger
breiten Zuschauergruppen wie Arte kommt
es deshalb darauf an, Aufmerksamkeit zu
erzielen, um in der Gruppe des „relevant set“
unserer Favoritenliste verankert zu bleiben.
Es gilt durchaus, Ungewöhnliches zu
wagen, wie „24 Stunden Berlin“. Eine 24
Stunden Dokumentation war bislang für
Fernsehmacher ein undenkbares Format. Es
gab bei den Medienforschern und Planern
erhebliche Zweifel, ob Zuschauer bereit
sind, bei einem solchen Langzeitformat
dranzubleiben. Aber der Mut zum Risiko
wurde belohnt. Es war ein großartiger Erfolg.
Verdreifachung der Zuschauerzahlen an
diesem ungewöhnlichen Tag. Das verdanken
wir auch dem Autor und dem Produzenten,
die mit 80 Teams hier ein durch die Nähe zu
den Menschen ausgesprochen dichtes wie
spannendes Bild des Innenlebens einer Stadt
gezeichnet haben.
? Wie wichtig sind bei Arte
überhaupt Marktanteile?
! Sie sind wichtig – und auch wieder
nicht. Wichtig sind sie, weil sich jedes
Unternehmen, das sich aus öffentlichen
Mitteln finanziert, legitimieren muss, das
Geld, das es erhält, in einem vernünftigen
Verhältnis zur Anzahl der Zuschauer
einzusetzen. Arte könnte sich heute – im
Gegensatz zu der Zeit vor zehn Jahren –
nicht mehr leisten, mit einem Marktanteil
von 0,5% in Deutschland unterwegs zu
sein. Nicht wichtig sind Marktanteile, weil
Arte am Ende als Einrichtung wie als
Marke seine Bedeutung nur behalten wird,
wenn es Qualitätsstoffen und besonderen
Autorenhandschriften Spielräume gibt, auch
wenn diese nicht von vornherein große
Zuschauerquoten versprechen. Am Ende wird
ein Programm wie Arte an der Substanz
und Relevanz seiner Angebote gemessen
werden.
? Wie viel Geld bekommt Arte aus
Deutschland?
! Der deutsche Gebührenanteil liegt
ungefähr bei 163 Millionen Euro, das
ist im Vergleich zu den Etats der großen
Sender in Deutschland und Frankreich
sicher nicht opulent. Aber mit den Geldern
aus Frankreich kommen wir auf ca. 400
Millionen Euro. Und damit machen wir unser
gesamtes Programm – werbefrei und für zwei
Sprachräume.
? Wie viel Mitarbeiter hat Arte?
! In Straßburg 430. Nimmt man die
Mitarbeiter in Paris und bei den deutschen
Dependancen dazu, kommt man auf etwa
800. Wir müssen damit zwei Kulturräume
bespielen, zwei Sprachen abdecken
und betreuen einen hohen Anteil an
Eigenproduktionen, nicht nur aus beiden
Ländern, sondern aus ganz Europa.
? Wie viel Mitarbeiter hat – zum
Vergleich – der Bayerische Rundfunk?
! Ich schätze etwa 3000.
? Bleibt es bei der Strategie des
besonderen Fernsehens?
! Ja, wir sind wohlberaten, das Image
als Sender mit besonderem Anspruch
zu pflegen, eigene Autorenhandschriften
zuzulassen, ungewöhnliche Fernsehformate
zu wagen und sich an Filmprojekte junger
Filmemacher heranzuwagen, die die Talente
für das Europa von morgen sein können.
Wenn wir die letzten Preisträger der Berlinale
oder des Festivals von Cannes ansehen,
finden wir junge Filmemacher aus Bosnien,
Rumänien, Uruguay, Thailand, die mit ArteProduktionen den Goldenen Bär oder die
Palme d’Or erobert haben.
? Und was der Marke Arte auch
brillant bekommt.
! Ja, das bekommt ihr sehr gut. Deswegen
dürfen wir den Aspekt „Zukunftswerkstatt
der Avantgarde“ auch nie aufgeben.
? Wenn man das so hört, stellt
sich doch unweigerlich die Frage,
ob der Quotendruck bei anderen
Sendern nicht gleichbedeutend ist mit
Niveauverlust und der Banalisierung
des Programms?
! Das wäre zu einfach gedacht. Die
entscheidende Frage für alle Sender
wird sein, wie sich die Internetwelt
insgesamt weiter entwickelt. Die
Netzwelt generiert bei den jüngeren
Zuschauern neue Sehergewohnheiten und
Qualitätserwartungen, die mittelfristig auch
auf die Fernsehnutzung durchschlagen
werden.
Obwohl wir in der Netzwelt Millionen
Websites aufsuchen können, steuern wir
am Ende doch nur die 10 bis 20 Seiten
unserer „Favorites List” an, bei denen wir
die auf unsere spezifischen Interessen
bezogene Qualität bekommen. Wenn es um
ein punktuelles hohes inhaltliches Interesse
geht, gehen wir über Suchmaschinen bis
zu den letzten Details. Auch der Laie hat
damit unmittelbar Zugang zu absolutem
Expertenwissen.
Fernsehsender sind hier vor eine neue
Herausforderung gestellt. Sie können
überzeugend nur die Themenfelder bedienen,
wo sie auch über die hinreichend starke
redaktionelle Kompetenz verfügen. Sie
brauchen ein scharfes Profil, hinter dem
hinreichend journalistische Kraft versammelt
ist, um die Neugierde der Zuschauer im
verschärften Qualitätswettbewerb zu halten.
? Das ist jetzt sehr schön erklärt,
warum die kommerziellen Sender beim
„Unterschichtenfernsehen“ bleiben
werden.
! Ich schätze den Terminus
„Unterschichtenfernsehen“ nicht. Aber es
ist richtig, dass man allein mit Zukäufen
internationaler unterhaltender Ware
und wenig anspruchsvollem Programm
Fernsehkanäle betreiben kann, die breitere
Zuschauerschichten binden. Für die
Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft,
die auf eine geistig lebendige und
erfindungsreiche Nachwuchsgeneration
angewiesen sein wird, ist das sicher kein
Beitrag.
Die Alten sind die Zukunft
? Stichwort „demografischer
Faktor“. Den stellt alle Welt ja immer
als eine große Gefahr dar. Ich denke
hingegen, dass die Zunahme des
Lebensalters fürs Niveau-Fernsehen
eher eine große Chance ist.
! Absolut. Alle Welt redet von einer
Verjüngung, weil alle Medienunternehmen
aufgeschreckt sind von den Entwicklungen
in der Netzwelt. Dabei übersehen viele
völlig, dass der größte Zuwachs der
Mediennutzung nicht aus der Jugend
kommen wird, sondern von den Älteren.
Die Generation der Babyboomer – die
zwischen 1945 und dem Jahr der Erfindung
der Pille (1964) Geborenen – stellen einen
unverhältnismäßig großen Anteil unserer
Gesellschaft dar, und die ersten von ihnen
erreichen jetzt das Pensionsalter. Da
Pensionäre im Schnitt etwa dreimal soviel
Zeit vor dem Fernseher verbringen, wie die
arbeitende Bevölkerung, werden wir dort
einen erheblichen Zuwachs an Seherzeit
erleben, der das Durchschnittsalter der
Fernsehzuschauer insgesamt deutlich nach
oben verschieben wird.
Da diese Generation gut ausgebildet
und öffentlich-rechtlich geprägt ist,
haben wir gute Chancen, dass wir
damit auch ein Stück Renaissance des
öffentlich-rechtlichen Fernsehens erleben.
Vorausgesetzt wir schaffen es bis dahin,
unsere Qualität auch so zu halten und so
zu profilieren, dass wir diese aus den 60er
Jahren kommenden, popkulturell geprägten
Generationen angemessen bedienen.
? Zu diesem Thema kommt noch
ein Aspekt, über den ich mich
schon seit zwanzig Jahren wundere:
Diejenigen Zeitgenossen, die ein
stattliches Budget zur Verfügung
haben, sind doch die Älteren, die
die Ausbildung der Kinder, ihr Auto
und das Haus schon abbezahlt haben.
Und die die Zeit haben, ihr Geld
auch auszugeben. Das ist sowohl
wirtschaftlich als auch kulturell eine
hochinteressante Zielgruppe.
! Die Werbeindustrie ging lange Zeit
davon aus, der alte Mensch sei kein
Konsument. Das halte ich für eine Illusion.
Das mag für die Generation gegolten haben,
die noch vom Krieg geprägt war und in der
Nachkriegszeit mit großer Sparsamkeit
wieder Vermögen aufgebaut hat. Aber die
Generation, die heute das Pensionsalter
erreicht, hatte diese Sparsamkeitshaltung
nicht mehr und ist die Erbengeneration der
geschaffenen Vermögen. Sie erleben sich
und leben um vieles jugendlicher als ihre
Elterngeneration. Die damals 50-jährigen
sind mit den heute 50-jährigen nicht
vergleichbar. Und mit 60 oder 65 haben
viele noch einmal richtig Lust, ein neues,
differenziertes und erlebnisreiches Leben
zu führen, zu reisen und das Leben zu
genießen.
? Wie reagiert Arte auf diese
demografische Herausforderung?
! Wir sind – wenn man mal den
Kinderkanal außen vor lässt – der jüngste
öffentlich-rechtliche Sender. Es gibt
in unserem Programm erstaunlich gut
funktionierende Brückenprogramme,
die bei jüngeren wie älteren Zuschauern
gleichermaßen erfolgreich sind. „24
Stunden Berlin“ war so ein Programm. Das
gilt interessanterweise auch für Geschichte,
insbesondere, wenn wir ein Thema breiter
aufstellen. In solchen Fällen zeigen wir
nicht nur eine Dokumentation, sondern
stützen die Erzählung des Themas durch
Fiktion, Spielfilme, gegebenenfalls auch
durch wissenschaftliche Sendungen.
Diese Kombination erweist sich als
ausgesprochen erfolgreich.
Die Zukunft des Fernsehens
? Kommen wir zu der zukünftigen
Entwicklungen des Fernsehens im
Allgemeinen und in Deutschland im
Besonderen.
! Es wird zwei elektronische
Medienwelten geben: Die jugendliche
Gruppe, die in der Netzwelt unterwegs ist.
Und es wird die Fernsehwelt geben.
Die Entscheidung, ob die Fernsehwelt
überlebt oder nicht, hängt von der
inhaltlichen Qualität ab und von der Frage,
ob die Politik es schafft, dafür zu sorgen,
dass der technische Zugang zu diesen
Inhalten frei bleibt. Man sieht ja heute schon,
dass es Unternehmen gibt, die den Zugang
kanalisieren und beschränken. In den
meisten Hotels ist dies bereits der Fall. Dort
gibt es eigene Anbieter, die den Zugang zu
den unverschlüsselten Fernsehprogrammen
stark einschränken, um mehr Neigung zu
generieren, den Abend vor einem ihrer
PayTV-Programme zu verbringen. Wer häufig
in Hotels unterwegs ist, macht bereits diese
missliche Erfahrung.
Aber auch bei der allgemeinen
Verbreitung beobachtet man europaweit,
dass adsl-Anbieter, Anbieter von
Satellitendecodern und Kabelnetzbetreiber,
anfangen, eigene Programmangebote
bevorzugt auf den ersten Nutzeroberflächen
anzubieten. Und die übrigen Angebote
werden so weit hinten platziert, dass der
Nutzer erheblichen Aufwand treiben muss,
sich diese Programme überhaupt zugänglich
zu machen. Die rechtlich vorgegebenen
Must-carry-Pflichten für öffentlich-rechtliche
Fernsehangebote werden damit über die
Gebrauchsfähigkeit der Nutzeroberflächen
Zug um Zug ausgehöhlt.
Das wird noch einen Schritt weitergehen, wenn wir Hybridfernsehen bekommen.
Hybridfernsehen wird Fernsehangebote mit
Internetangeboten auf einem Bildschirm
vereinen und dem Zuschauer zugänglich
Investoren wie John C. Malone, der in den
usa die größten Kabelnetze besitzt, können
hier ebenso uneingeschränkt Kabelnetze
kaufen.
? Ein schwerer Fehler der Politik?
machen. Es ist davon auszugehen, dass
die Telekom-Unternehmen, die einem den
Anschluss zur Verfügung stellen werden,
die Buttons auf der Eingangsseite nur
bevorzugten Partnern zur Verfügung stellen
werden. Wer auf den Buttons als Nummer 1
programmiert sein wird, wird weniger von
der Qualität seines Programms abhängen,
als von den wirtschaftlichen Parametern des
Vertrags mit der Verbreitungsgesellschaft.
Das heißt, diese Verbindung zwischen
Content, Netzverbreitung und Netzanbieter
wird intensiver und vermutlich vieles
aushebeln, was wir bislang an Must-carryVerpflichtungen für die Sender seitens der
Politik kennen.
? Aber könnte es nicht im Interesse
der Parteien liegen, dass diejenigen
Nachrichten, in denen sie immer schön
mit ihren Botschaften zu sehen sind –
also in den öffentlich-rechtlichen Sendern – auch ganz weit vorne zu empfangen
sind?
! Das ist eine liebevolle Hoffnung, die
man hegen kann, die ich aber für unrealistisch halte. Wir haben dazu in Deutschland
zu viele Fehler gemacht, indem wir sowohl
die aus Steuern finanzierten Kabelnetze und
Telefonnetze, also das neuronale Rückgrat
unserer Mediengesellschaft, an internationale Gesellschaften verkauft haben. Und
jetzt will die eu-Kommission die europäischen Länder sogar zwingen, Frequenzen
in internationalen Bieterverfahren zu
veräußern. Selbst das Symbol des Freihandels, die usa, kämen nie auf die Idee, so zu
handeln. Sie haben die verlässliche fccRegulation 310, die Ausländern verbietet,
mehr als 20% an zentralen Medienunternehmen in den usa zu halten.
Vergleichen Sie das mit Deutschland:
Dort konnte Chaim Saban ohne Hindernis
100% der Pro7/Sat1-Anteile erwerben
und wenige Jahre später gegen einen
Milliardengewinn an die Gruppe Kohlberg
Kravis Roberts weitergeben. Durch
Belastung des Kaufpreises an das erworbene
Unternehmen floss auch noch der restliche
innere Substanzwert des Unternehmens an
den Investor aus den usa. Internationale
! Richtig. Und wir sind gerade beim
nächsten Fehler, der Veräußerung von
Frequenzen. Die Frequenzanteile, die durch
den Umstieg von analoger Verbreitung auf
digitale Verbreitung frei werden, sollen
nicht für deutschlandeigene Zwecke
vorgehalten werden, sondern sollen in
einem internationalen Bieterverfahren an
den Meistbietenden versteigert werden.
Wir haben also die komplette Struktur
für das Informationszeitalter, deren
Aufbau wir anfänglich durch Steuern
finanziert hatten, als Tafelsilber mit
kleinem Gewinn international verkauft –
nur um jeweils momentane Engpässe in
den Bundeshaushalten zu füllen. Ohne
strategische Perspektive für die Zukunft.
Uns fehlt eine
kluge Kulturökonomie
Wir bräuchten auf europäischer
Ebene nicht nur den verengten Blick
des Wettbewerbsrechts, sondern eine
kulturökonomische Strategie für das
Digitalzeitalter. Ich erinnere mich noch gut
an den Moment der Wiedervereinigung.
Während wir uns alle über die Öffnung
des Ostens freuten, brachen Bill Gates und
Paul Getty nach Osteuropa auf und sagten
den Direktoren der dortigen Museen: „Wir
richten euch eure Archive wieder her mit
Regalen und objektgerechter Klimatisierung,
wir helfen bei der Restaurierung, alles wird
fotografiert und katalogisiert. Wir wollen nur
eine winzige Kleinigkeit dafür – die digitalen
Weltrechte.“ Und das haben sie bekommen.
Getty sagte damals: „Digitale Rechte sind das
Öl des 21. Jahrhunderts!“
Die Amerikaner sind viel klüger, was
die Entwicklung von Geschäftsmodellen um
Kultur herum angeht. Und ich neide den
beiden Kaufleuten nicht ihren guten Riecher
für den Wert, den der Besitz von Content in
einem digitalen Weltvertrieb darstellt, wo die
Kunden die Vertriebskosten tragen.
In Deutschland haben wir eine andere
Tradition. Hier werden Kultur, Ökonomie
und Politik säuberlich getrennt. Kultur ist
Weimar, Politik Berlin, und den Handel
überlassen wir den Kaufleuten in Hamburg.
Wir sind exzellente Logistiker, verfügen über
die größte Containerflotte der Welt, sind
aber nicht in der Lage im digitalen Raum bei
der Economy of Scale mitzuspielen. Das man
beim Vertrieb der eigenen kulturellen Güter
auch eigene „neuronale Netze“ braucht, das
haben wir übersehen.
In Frankreich gibt es die Trennung
zwischen Kultur und Ökonomie nicht in
dieser Weise. Das hat damit zu tun, dass es
sich um ein zentral regiertes Land handelt.
Dort geht bei den führenden Familien ein
Teil in die Politik, der andere in die Kultur
und der dritte in die Wirtschaft. Und es gibt
einen klaren politischen Willen, Frankreich
als kulturökonomischen Player auf
Weltniveau zu halten.
? Es gibt in der Tat kein Land auf
der Welt, das so viele erstklassige
Opernhäuser, Theater und Museen hat
und betreibt wie Deutschland.
! Das stimmt. In der Produktion von
kulturellen Inhalten sind wir großartig.
In der kommerziellen Nutzung aber
ausgesprochen schwach. Die Amerikaner
holen aus eindeutig weniger Substanz
wesentlich mehr Erträge.
? Zurück zur Zukunft des Fernsehens.
Werden die Nachrichten eigentlich
auch durch die Konkurrenz der Netzwelt einen Wandel durchmachen?
! Darüber diskutieren wir gerade bei
uns im Sender. Die Nachrichtensendung
am Abend hat ihre Funktion als Listing
der wichtigsten Nachrichtenereignisse
des Tages verloren. Die meisten Zuschauer
informieren sich mehrfach im Laufe des
Tages über das Netz und kommen bereits als
Informierte zur Sendung. Und sie erwarten
nun vom Sender, dass er die Ereignisse des
Tages einordnet, wertet und gewichtet. Die
Vertiefung und analytische Betrachtung ist
gefragt. Dafür braucht man Personen, die sowohl Vertrautheit als auch Glaubwürdigkeit
transportieren. Wir werden uns auf Moderatoren konzentrieren müssen, die auch für
die Zuschauer ein glaubwürdiges Gegenüber
darstellen.
? Also einen Anchorman?
! Genau. Das wird für die großen Kanäle
leichter sein, weil sie natürlich eine ganz andere Durchschlagskraft haben. Für kleinere
Kanäle wird das schwieriger, obwohl wir bei
Arte gleichwohl eine Reihe von Personen
haben, die die Qualitätsanforderungen mehr
als erfüllen könnten.
? Bleibt Fernsehen dennoch in der
Zukunft ein wichtiges Medium?
! Mit Sicherheit. Nur müssen wir
begreifen: Aufmerksamkeit ist die neue
Währung. Das Fernsehen wird immer mehr
von Events getragen werden. Die FußballWM hatte an einzelnen Tagen mehr als 80%
der Zuschauer vor dem Schirm versammelt,
und nicht nur dort, sondern auch in Parks
und Gaststätten beim Public Viewing. Das
ist etwas ganz Neues: Das Fernsehen als
Träger von „Volks-Ereignissen“. Das ist
etwas, was das Internet nicht leisten kann.
Selbst wenn Millionen gleichzeitig im Netz
sind, ist und bleibt jeder für sich am Ende
individuell.
Wir haben bei Arte solche Events in
wesentlich kleinerer Dimension produziert,
indem wir bedeutende Opernaufführungen
in andere Opernhäuser übertragen haben.
Mit großem Erfolg. Ich weiß, dass auch der
Münchner Fernsehunternehmer Herbert
Kloiber gerade mit der Metropolitan Opera
in New York einen Vertrag geschlossen hat,
der es ihm gestattet, dass er die Premieren
der Met in große Digitalkinos übertragen
kann. Damit kann man in Ohio oder Denver
Colorado die Premiere der Metropolitan
Opera im Kino verfolgen. Mit hdtv
zeichnen wir heute große Kulturereignisse
in einer so hohen Qualität auf, dass man
sie problemlos auch auf große Leinwände
übertragen kann. Wir sind deshalb bei Arte
früh auf hdtv umgestiegen. Der Impuls
dazu kam aus Frankreich.
? Ist secam so schlecht?
! secam ist vielleicht nicht ganz so gut
wie PAL, aber der wesentliche Grund war:
Die Franzosen hatten keinen Schwarz-Schilling, der ihr Land mit Kupferkabeln durchzogen hat. Das heißt, es gab nie die Frage:
Werden am Ende die Kabelgesellschaften
oder die Telefongesellschaften die führenden
Player sein? Diese Frage war von vornherein
für die Telefongesellschaften entschieden,
die deshalb auch große Investments für
den Ausbau der Netze in die Hand nahmen.
Schon seit einigen Jahren ist es in Frankreich kein Problem, Datenraten von bis zu
100 Megabyte aus der Telefonsteckdose zu
erhalten. Damit lässt sich problemlos auch
hdtv übertragen.
Wie schafft man das?
? Herr Dr. Langenstein, Sie sind ja
auch noch beim ZDF und bei 3sat an
führender Stelle tätig. Was ist dort
Ihre Position?
! Ich bin einmal beim zdf Direktor
für die Satellitenprogramme und bei 3sat,
bei dem das zdf die Federführung für die
Geschäftsleitung hat, der Vorsitzende dieser
Geschäftsleitung, in der auch ard, orf
und srg vertreten sind. Und das mache ich
gerne und mit viel Vergnügen.
? Das macht man aber nicht so
nebenbei, oder?
! Nein, diese beiden Sender zusammen
zu lenken, kostet schon viel Zeit. 70 bis
80 Stunden in der Woche. Man ist viel
unterwegs – auch an Wochenenden – und
kommt oft spätabends heim.
? Da muss aber auch die Familie
mitspielen.
! Genau. Ich habe deshalb eine Regelung
mit meiner Frau und meinen vier Töchtern,
dass ich für sie jederzeit zu sprechen bin.
Da kann es durchaus vorkommen, dass ich
eine Vorstandssitzung verlasse, um einen
Dreisatz in Algebra zu erklären.
? Haben Sie einen Fahrer?
! Ohne ihn ginge das Pensum gar nicht.
Bis Straßburg, zu Arte, braucht man zwei
Stunden. Während dieser Zeit kann ich
mich zurücklehnen und über Problemfragen
in Ruhe nachdenken – was für bemessenes
Handeln ausgesprochen wichtig ist. Oder
ich arbeite die Telefonliste ab und redigiere
Texte. Man muss bei der Fülle an Aufgaben
gut organisierte Arbeitsabläufe haben. Und
gute Mitarbeiter an der Seite, damit man
in großem Umfang ganze Themenbereiche
delegieren kann und weiß, dass sie dort
auf ’s Beste erledigt werden.
Unternehmen, das täglich von Ideen
lebt, entscheidend. Es ist das wichtigste
Investment. Und die Netzwelt verlangt
hier auch Multifunktionalität. Es wird
künftig nicht mehr gehen, dass jemand
als Redakteur nur die Fernsehproduktion
im Blick hat. Er muss die anderen Medien
mitdenken – gerade in so einem kleinen
Unternehmen wie Arte. Wir können
uns nicht leisten, parallel eine zweite
Redakteurswelt nur für das Internet
aufzubauen. Sondern wir müssen schauen,
dass neue Redakteure, die wir einstellen,
die entsprechenden Fertigkeiten für
beide Welten mitbringen, und am Ende
einschätzen können, welche Ausschnitte
des Programms sich für die Videothek oder
sonstige Internetanwendungen eignen.
? Wenn Sie sich von einer Fee etwas
wünschen dürften, was wäre das?
! Mehr Geld und ein besseres
Urheberrecht mit einfacheren Strukturen.
Hier haben die Amerikaner wieder einen
deutlichen Vorteil, weil sie mit Buyouts
die Verwertungsketten besser planen und
wirtschaftlich effizienter nutzen können. Es
ist für uns bei komplizierten Archivlagen
oft einfacher, Koproduzent einer
angloamerikanischen Produktion zu sein,
als die urheberechtlichen Hürden selbst zu
nehmen. Wir brauchen – besonders für
die digitale Welt – andere Lösungsmodelle.
Auch im Sinne der Autoren, damit sie
mehr Geld bei geringerem administrativem
Aufwand bekommen können.
•
? Also sind die Einstellungsgespräche von zentraler Bedeutung?
! Das ist in der Tat so. Die Auswahl des
Nachwuchses und damit der Leistungsträger
von morgen ist für ein journalistisches
N6 ARTE ist nicht nur der Sender mit dem
jüngsten Publikum, sondern steht auch für den Mut
Neues auszuprobieren, ohne Gefahr zu laufen,
sich in vordergründigem Pragmatismus zu verlieren.
Auch das ist Nachmann Rechtsanwälte Vorbild.
Professor Wolf D. Prix schöpft in
einem alten Fabrikgebäude im 5.
Wiener Bezirk, einem traditionellen
Arbeiterbezirk, aus dem Vollen: die
Getty Foundation in L.A. und das
Pariser Centre Pompidou stellen
seine Architektur aus, die größten
Unternehmen lassen sich ihre
Firmengebäude von ihm bauen und
die Menschen sind von seinen Bauten
fasziniert. Trotz der vielen Arbeit an
neuen Landmarks in aller Welt hat sich der
Gründer und Kopf des Architekturbüros
„coop himmelb(l)au“ Zeit zu einem
Gespräch mit unserem Autor Andreas
Lukoschik genommen. Launig und
bei einer guten kubanischen Zigarre
reden die beiden über seine frühere
Aussage, dass Architektur brennen
müsse, die Rolle von großen Brands
im öffentlichen Raum, seinen Spaß
an Nicknames für seine Gebäude und
darüber, womit ihn eine Fee beglücken
könnte.
my world
Seite 90
Gebäude
wie gelandete
Wolken
? Herr Professor Prix, wie muss ich
mir Sie als kleinen Jungen vorstellen,
als einen der...?
! Achtung. Jetzt wird´s psychologisch!
? Nein, keine Sorge. Also... als einen
Jungen, der mit Legosteinen gebaut hat...?
! ...Lego hat´s damals noch nicht gegeben.
? Oder Bausteinen?
Illustration: Peteris Lidaka
! Mit diesem berühmten Baukasten...
? ...Fischer?
! Nein, es war nicht technisch. Es war
einer mit runden und eckigen Steinen, mit
Zwiebeltürmen und so. Der kam aus Dresden.
Mit dem habe ich viel gespielt. Ich erinnere
mich, richtige Burgen gebaut zu haben.
? Also ganz konkret „gebaut“. Nicht
Himmelsschlösser erdacht?
! Lassen Sie es mich so sagen: Mein Vater
war Architekt und Baumeister, mein Onkel
war Komponist und ein anderer Onkel
Burgschauspieler.
Ich komme also aus einer Familie, die
sich zum Teil aus freischaffenden Künstlern
zusammengesetzt hat, zum Teil aus Lehrern
und mein UrUrUrUrgroßvater – oder noch
mehr Ur – war Bürgermeister von Wien. Also
alles das zusammen ergibt einen perfekten
Architekten.
? Dann kenne ich jetzt ja auch den
richtigen Cocktail.
! Genau. Was soll ich Ihnen noch aus
meiner Jugendzeit erzählen?
? Nichts. In Ihrer „Confessio der
Unruhe“ – also eine Art Manifest –
kommt der Satz vor „Architektur muss
brennen“?
! Na ja, das war zum Teil aus Zorn
gegen die Postmoderne geschrieben, die
ja eine Retrobewegung war. Die Aussage
„Architektur muss brennen“ war in den 80er
Jahren ein Statement für die emotionale
Qualität der Architektur. Architektur muss
mehr haben als nur das dreidimensionale
Bauen eines funktionell-ökonomischen
Programms. Und mehr sein als nur
Erfüllungsgehilfe einer ökonomischen
Zwangssituation.
Architektur muss als dreidimensionaler
Ausdruck unserer Gesellschaft auch ihre
Unruhe und ihren Wandel darstellen. Das ist
der Hintergrund des Textes. Aber genauer
kann ich ihn nicht erklären, denn sonst hätte
ich den Text ja nicht so geschrieben, wie ich
ihn geschrieben habe.
? Trotzdem habe ich das Gefühl,
dass Ihre Architektur jetzt – 20 Jahre
! Prinzipiell nicht. Das ist eine
Rechercheaufgabe für Sie. (lacht)
? Bei der „Bmw Welt“ sind mir zwei
Sachen aufgefallen. Einerseits finde
ich, dass der Mensch mit seinem Auto
dort etwas klein wirkt und sich nicht
unbedingt als die Nummer 1 im Raum
vorkommt. Und andererseits fielen mir
die Anlehnungen der Gebäudeformen
an die derzeitige Form der BMWModelle auf.
! Umgekehrt.
? Bitte?
BMW Welt, Munich © Christian Richters
danach – nicht brennt, sondern eher
schwebt.
! Ja, ja, das hat was mit „Himmelblau“ zu
tun. Himmelblau ist ja keine Farbe, sondern
die Idee, Architektur veränderbar wie
Wolken zu machen.
Wir wollten damals, also 1968, als wir
unser Büro gründeten, sofort und radikal
die Architektur verändern. Das war – im
Nachhinein gesehen – eine Unterschätzung
der Geschmacklosigkeitsbereitschaft der
Auftraggeber und eine Überschätzung der
Intelligenz der Bauindustrie.
Wir haben dann gesehen, dass es nicht
sofort und auf einmal geht, sondern dass
man es schrittweise machen muss. Und
ein Schritt war immer die Polemik gegen
die Schwerkraft. Architektur ist dazu
da, die Schwerkraft nicht zu verstärken,
sondern sie zu überwinden. Spätestens
seit 1969, wo wir Erdenmenschen beim
Flug zum Mond zum ersten Mal die Erde
von außen fotografiert gesehen haben, hat
ein Paradigmenwechsel in der Theorie der
Architektur stattgefunden: Im schwerelosen
Raum gibt es kein oben und unten, kein
links und kein rechts, sondern man schwebt
schwerelos im Raum. Deshalb ist zu
diesem Zeitpunkt die Zentralperspektive
obsolet geworden und wir können uns jetzt
freier durch den Raum bewegen als in der
Renaissance.
Das war das eine. Das andere war,
Architektur ursprünglich als Schutz
gegen die Witterung gebaut, bekam eine
neue Aufgabe: Sie wurde emotionale
Darstellung. Ein Bauwerk, das sich
emotional ins Gedächtnis prägt, ist ein
Identifikationspunkt in der anonymen
Masse der Stadt. Man kann sich an ihm
orientieren und es schafft auch nicht
nur Identifikation, sondern es erleichtert
auch die emotionale Besitzergreifung. Ich
liebe es, wenn Menschen unseren Bauten
Spitznamen, also Nicknames, geben. Denn
das zeigt, dass sie sich damit identifizieren
können.
? Gibt´s für die „Bmw Welt“ einen
solchen Spitznamen?
! Ja, aber den sag ich nicht.
? Sagen Sie es prinzipiell nicht oder
weil er Ihnen nicht gefällt?
! Die Autoindustrie ist dem
Architekturdesign immer um zehn Jahre
hinterher. Jetzt durch den Computer nicht
mehr soo weit, sagte mir der ehemalige
Bmw-Chefdesigner Chris Bangle selber,
sondern nur noch fünf Jahre. Aber die
architektonischen Anklänge, die Sie in der
„Bmw Welt“ sehen, sind eine Vorausschau
auf die zukünftigen Automodelle.
Und noch etwas: Wenn sich die
Menschen so klein vorkämen, wie Sie
sagen, dann kann ich nicht verstehen, dass
4 Millionen Menschen die „Bmw Welt“ bis
jetzt besucht haben.
Es ist eher ein öffentlicher Raum, der mit
dem Attraktor Auto versehen worden ist.
Das ist übrigens auch ein Konzept
unserer Architektur, Win-win-Situationen
zwischen dem Auftraggeber und
dem öffentlichen Raum herzustellen.
Ganz wichtig. Unsere Städte verlieren
zunehmend öffentlichen Raum, weil
kein Geld mehr vorhanden ist. Und so
übernehmen die Brands wie früher die
Adeligen und die Kirche die Aufgabe,
öffentlichen Raum zu schaffen. Wir als
Architekten müssen nur eine Strategie
entwickeln, dass man beide intelligent
verknüpft.
? Wie sind Sie auf den gekommen?
! Zu den bestehenden Gebäuden
des Headquarters von bmw – also
der Vierzylinder mit der Schale –, die
von meinem ehemaligen Professor Karl
Schwanzer stammen, mussten wir eine
dritte Figur erfinden, um ein Ensemble zu
kreieren. Der Doppelkegel beschäftigte uns
in unserer Architektur schon lange. Er ist
eine unserer „Vokabeln“. Wenn man ihn
richtig dreht, ist er ein sehr dynamisches
Element, aus dem dann – wie in der „Bmw
Welt“ – das Dach entspringt. So kann man
die Entstehungsgeschichte des Projekts lesen.
? Wie fanden Sie, dass Sie nach
Ihrem Professor an der gleichen
Stelle...?
! Ich muss Ihnen sagen: Ich habe schon
immer sehr viel Fantasie gehabt. Als Student
vielleicht noch mehr als heute. Aber ich
hätte mir niemals vorstellen können, dass
ich neben meinem damaligen Professor ein
Gebäude errichten werde. Das war eigenartig.
Und eine kollegiale Herausforderung.
? Haben Sie gedacht, dass dieses
Gebäude so ein Erfolg wird?
! Ja.
! Ja, das ist immer so. Architektur ist
schwer – vom Gewicht her. Und Gewicht
kostet Geld. Und wo Geld eine Rolle spielt,
spielt Politik eine Rolle. Ob intern oder
extern. All das kostet Zeit.
? Sie haben mal gesagt, bei
Architektur ist Bauen das Geringste.
Wie meinen Sie das?
! Na wieso. Bauen ist ein Wort. Und
Architektur ist ein Wort. Es heißt ja
nicht „Archbauen“ oder „Bautur“. Es heißt
Architektur und Bauen. Um Architektur
zu verwirklichen, kommt der Bauprozess
hinzu. Aber er ist nicht das Entscheidende.
Das Entscheidende ist die Architektur – wie
sie gedacht ist, wie sie geplant ist. Und dann
später, wie sie gebaut ist. Aber „Bauen ohne
nachzudenken“ ist nicht Architektur. Oder
populärer ausgedrückt: Wenn man heute als
Architekt keine Visionen hat, dann bleibt
man Häuselbauer.
? Da sind wir jetzt bei der wichtigen
Frage: Wie entstehen in Ihrem Atelier
Lösungen für die Ziele, die mit den
Gebäuden erreicht werden sollen. Wie
wird das in Ihrem Hause gemacht?
! Das geht nicht von heute auf morgen.
Da müssen sich verschiedene Ebenen
miteinander vernetzen und kommunizieren.
Das geht im Laufe eines Gesprächs, im Laufe
von Nachdenkprozessen, manchmal auch
zwischen Tür und Angel. Oder auch – sehr
intensiv – am Projekt.
Eine Ebene, die inzwischen bei mir dazu
kommt, ist die Ebene der Erfahrung. Man
weiß heute einfach viel mehr, als was man
als junger Architekt gewusst hat. Daher
vermute ich, dass das Wort „forever young“
nicht mehr gilt. Dadurch werden die Projekte
auch reicher. An Gedanken.
coop himmelb ( l ) au
! Der Chris – ein guter Bekannter von
uns – hat damit nichts zu tun gehabt.
Die Formfindung kommt ganz von uns.
Natürlich war eines der Ziele, die Dynamik,
die ein wesentlicher Bestandteil unserer
Gesellschaft ist, mit Eleganz zu verbinden.
Dass das dann dem Auto nahe kommt, ist
auch klar. Aber ich hab noch nie einen
Doppelkegel in einem Auto gesehen. (lacht)
Wir arbeiten mit Trendforschern,
Gehirnforschern und ähnlichen Sparten
zusammen, weil wir sagen: Wenn man immer
nur Architektur denkt, kommt immer nur
Architektur raus. Ich denke aber, dass die
aktuellen Techniken, Philosophien und
Kunstrichtungen ein wichtiger Bestandteil
unseres Entwicklungsprozesses sein müssen,
damit wir das, was wir beanspruchen –
nämlich weit vor der Zeit zu sein – auch
erfüllen können. Denn wenn man heute
das Heutige baut, ist es ja schon morgen
das Gestrige. Wir müssen also heute
vorausdenken. Im Idealfall 20 Jahre. Denn so
lange muss das Gebäude auf jeden Fall stehen.
(lacht)
Kurzum, das ist ein langer Prozess. Auch
wenn die entscheidende Zeichnung oder das
entscheidende Modell in kurzer Zeit entsteht.
Dennoch ist der assoziative Prozess vorher
ein langer.
? Die Fertigstellung hat sich aber
ein bisschen hingezogen, oder?
Dalian International Conference ©
? Gab es beim Bau der „Bmw Welt“
eine gegenseitige Befruchtung mit dem
damaligen Chefdesigner Chris Bangle?
? Das ist also schon ein Sichgegenseitig-die-Bälle-zuwerfen?
! Das muss nicht unbedingt im Team
passieren. Sondern es tauchen Ideen auf, die
der Aufgabe adäquat sind. Sie sind also nicht
apriori eine Lösung der Aufgabe, sondern die
Ideen passen als Lösung für die Aufgabe.
Das impliziert ja auch das „Mehr“. Denn
die Aufgabe ist ja meistens technokratisch:
soundsoviel Quadratmeter, das und das
Programm, so soll´s funktionieren, das darf´s
kosten und in dieser Zeit muss es gebaut
sein. Das ist Bauen – eine technokratische
Abwicklung eines Prozesses.
Architektur ist mehr. Man muss sich in
den Raum hineindenken und sich vorstellen
können, wie er wirkt. Oder ihn erfinden.
Die Techniken der Ideenfindung sind
verschieden.
? Mir kommen immer die besten
Ideen morgens in der Badewanne?
machen können. Obwohl man jedes
Mal denkt, schöner geht´s nicht?
! Das kann schon passieren. Aber die
Lösungen in der Architektur sind ja nicht
eindimensional, sondern mehrdimensional.
Vielleicht kommt einem die Idee zur Gestalt
des Gebäudes zwischen Tür und Angel. Aber
dann beginnt´s bei der Architektur ja erst.
! Das ist eben wie bei einem
Architekturprojekt. Es gibt immer noch eine
bessere Lösung.
! Architektur ist eine dreidimensionale
Sprache. Sie muss dreidimensional
gesprochen werden. Es hilft also nicht
nur die Zeichnung, sondern es muss
auch dreidimensional begreifbar
sein – im wahren Wortsinn. Das heißt,
wir entwickeln immer Modelle. Und
anhand von diesen Modellen passieren
Veränderungen und formale Verbesserungen.
Das ist die eigentliche Weiterführung der
kreativen Arbeit, damit die Ideen zu einem
dreidimensionalen Ausdruck der Kultur
werden können.
! Eine schwierige Frage. Da ist auch
wieder Erfahrung eine großartige Hilfe. Ich
geh dann meistens aus dem Atelier, wenn
ich glaub, dass der Entwurf so weit fertig ist.
? Kann das auch computeranimiert
sein?
! Ich sehe mich eher als Regisseur, als
Spielmacher.
! Ich sag zu computeranimierten
Entwürfen: Das ist wie Telefonsex...Was für
ein Unterschied!
? Apropos. Was für ein Auto fahren
Sie eigentlich?
? Sie sind also schon der kreative
Motor?
! Na ja, es ist schon ein Teamspiel. Aber
es gibt dann den, der den genialen Pass
spielt, der zum Tor führt.
? Mit Ihnen als Stürmer?
? Also als „Schweinsteiger“.
! Würde ich so sehen. Der schießt ja
auch Tore. (lacht)
? Wie war die Ideenfindung beim
Pavillon 21. Hat sie lange gedauert?
! Porsche 4S.
? Sehr schnell.
! Nicht nur. Sondern auch sehr, sehr
elegant.
? Wobei ich es bewundere, dass
die Porschedesigner dieses Auto mit
jeder Generation immer noch schöner
! Ja. Weil da verschiedene Widersprüche
miteinander verbunden und daraus eine
Lösung gefunden werden musste. Dieser
Raum sollte akustisch hochqualifiziert
sein. Und er sollte immer wieder auf- und
abbaubar sein. Das ist ein Widerspruch
per se, weil man gute Akustik nur mit
schweren Materialien hinkriegt. Wenn
man also eine Lösung in einem leichten,
Pavilion 21 MINI Opera Space © Duccio Malagamba
? Sie haben aber schon so eine Art
Eingebung für die Grundform?
? Heißt das, dass es auch in
der Architektur wie bei einem
expressionistischen Bild, eine Frage ist,
wann der Künstler aufhört, an dem Bild
zu malen? Wann das Bild fertig ist?
Was ist für Sie Dekonstruktivismus?
! Da müssen Sie jetzt aber mal zwei
Minuten zuhören.
? Wird gemacht.
Pavilion 21 MINI Opera Space © Duccio Malagamba
flexiblen Raum finden will, muss die
Akustik im Inneren durch die Abschirmung
der äußeren Geräusche erfolgen, was bei
einem Leichtbau schwer ist. Wir haben
deshalb gleich bei der ersten Skizze eine
Oberflächenvergrößerung konzipiert, die
den Schall von außen zum Teil reflektiert
und zum Teil absorbiert. Das ist das eine.
Das andere ist, dass mich Musik immer
schon interessiert hat. Ich wollte dieses Mal
nicht den blöden Vergleich strapazieren,
dass Architektur „gefrorene Musik“ sei,
sondern ich wollte lebendige Musik machen.
Wir haben daher via Computer ein paar
Takte aus zwei meiner Lieblingsstücke – die
Arie des steinernen Gastes aus Don Giovanni und Jimi Hendrix’ „’Scuse me while I kiss
the sky“ – in ein Computerprogramm übersetzt, das uns erlaubt hat, diese Oberflächenvergrößerungen in Größe und Richtung zu
bestimmen. Dass das Pyramiden geworden
sind, hat mit der Bautechnik zu tun, weil die
am einfachsten zu erzeugen waren. Und nachdem wir über verschiedene Modelle gegangen
sind, haben wir uns für die perfekte Form – die
auch durch einen akustischen Konsulenten
überprüft wurde – entschieden und gebaut.
! Mozart, Jimi Hendrix und die Rolling
Stones.
? Musik ist wichtig in Ihrem Leben
und Arbeiten, oder?
? „Rolling Stone“ ist natürlich
auch für einen Dekonstruktivisten ein
schöner Begriff?
! Ja. Ich gehe gleich nach unserem
Gespräch zur Aufnahmeprüfung meiner
neuen Studenten. Die kriegen von mir die
Frage gestellt, welche drei Musiker/Komponisten ihnen die wichtigsten sind. Und
wer da nur zwei hat, für den sieht´s finster
aus.
? Welche sind Ihre?
? Deshalb auch der Titel eines Ihrer
letzten Bücher „Get Off of My Cloud“?
! Ja.
! (Lacht). Ja, obwohl´s natürlich nix
damit zu tun hat. Außer dass Musik
sicherlich auch dekonstruktivistisch
erfahren – bzw. komponiert wird.
? Lieber Professor Prix, die jetzige
Frage haben Sie sicherlich schon eine
Milliarde Mal beantwortet. Dennoch:
! Der Dekonstruktivismus ist eine
philosophische Richtung, die von Jacques
Derrida begründet wurde, der von Martin
Heidegger und Edmund Husserl beeinflusst
war und der Psychoanalyse Sigmund Freuds
nahe stand. Derrida sagt – vereinfacht
ausgedrückt – dass in jedem Text ein
so genannter „weißer Fleck“ vorkommt,
nämlich ein unbewusst geschriebenes Wort
oder Satz oder eine ganze Passage, der, die
oder das – obwohl unbewusst geschrieben –
den ganzen Text regiert.
Bei uns haben wir sehr früh damit
begonnen, analog zu dieser philosophischen
Idee mit dem empfindlichsten Punkt des
Architekturprozesses – nämlich dem
Moment des Entwurfs – zu experimentieren.
Unsere Meinung war: Wenn wir den
Moment des Entwurfs freihalten können
von den ökonomischen, funktionellen
und rechtlichen Zwängen, dann wird
der Raum befreit. Das war Ende der 70er
Jahre. Wir haben dazu unzählige Versuche
unternommen, bis wir sogar ein Haus
entwickelt haben, das mit geschlossenen
Augen gezeichnet wurde, um sich von
keinem Zwang ablenken zu lassen. Dabei
haben wir bewiesen, dass, wenn man
das Unbewusste nicht im Moment des
Bewusstwerdens behindert und dabei alle
Sachzwänge ausschaltet, dann die Realität
zwar Kopf steht, man sie aber bauen kann.
? Hört sich nach „Sturm der Gehirne“ – also Brainstorming – an?
! Ja, eigentlich ist Architektur in
unserem Atelier ein „Brainstorming im
Team“. Und das haben wir uns von unseren
Kindern abgeschaut. Die haben sich nie die
coop himmelb ( l ) au
Art Museum Strongoli ©
Sandburgen zerstört, sondern haben sie
sich gegenseitig ergänzend aufgebaut. Oder
wie die Rockgruppen ihre Musik schreiben:
Da kommt einer mit einer Idee, spielt einen
Lick und der andere spielt was dazu. So
entstehen Nummern. Und genau so muss
man sich auch unsere Arbeit vorstellen.
? Daran anschließend muss ich
gleich nach einem Zitat fragen...?
! ... Der Nachteil daran, dass man älter
wird, ist der, dass die Leute sagen, Sie haben
schon einmal gesagt... (lacht und zündet sich
eine Zigarre an).
? Es fällt mir auf, dass Sie in einem
ganz alten Fabrikgebäude wohnen...?
! Nein, nein. Wir arbeiten hier. Ich
hätte mir lieber ein Büro selber gebaut,
aber das scheitert an den finanziellen
Möglichkeiten eines Architekten. Aber
ich wohne in einem von mir gebauten
Wohnhaus. Das möchte ich betonen.
Das ist ein progressiver Bau aus sechs
Häusern zusammengeschlossen mit 34
verschiedenen Wohnungstypen. Und da
wohn´ ich auch. Ich wohne nicht in einem
altbau.
? Warum nicht?
! Weil ich Fenster liebe, die bis zum
Boden reichen. Ich habe lange gebraucht,
um herauszufinden, warum ich mich
damals in Kalifornien in den modernen
Einfamilienhäusern so wohl gefühlt habe:
Weil bei denen die Fenster bis zum Boden
gehen.
? Das zum Thema „unbewusst“?
! Richtig.
? Wenn ich die Vielfalt der
fantastischen Bauten sehe, die Sie und
Ihr Büro planen, also das Akron Art
Museum, die ezb, das Art Museum
Strongoli..., dann frage ich Sie: Gibt es
so etwas wie ein Lieblingsgebäude?
! Immer das Nächste.
? Wenden wir uns der Zukunft zu.
Was erwartet uns bei der Europäischen
Zentralbank?
! Ein neuer Typ eines Hochhauses. Ein
Hochhaus, das in drei Teile zerlegt und sehr
raffiniert wieder zusammengesetzt wurde,
wobei die Geschossflächen verschieden
sind. Das widerspricht dem normalen
Hochhausbau, weil normalerweise eine
Grundfläche gerade von unten nach oben
weiter gebaut wird. Wir haben bei diesem
Hochhaus aber einige Dinge auf den Kopf
gestellt. Eines der drei Teile ist unten
schmaler als oben und ein anderes Teil
ist oben schmaler als unten. Das ergibt
eine gedrehte Form, die das Haus von
verschiedenen Blickpunkten verschieden
aussehen lässt. Also praktisch wie einen
Januskopf. Oder eine Münze. Womit wir das
Thema Geld aufgenommen haben.
Im mittleren der drei Teile sind hängende
Gärten geplant, die das Mikroklima dieses
großen Atriums unterstützen.
Auf der Metaebene gesprochen, haben
wir bei diesem Gebäude die dialektische
Auseinandersetzung zwischen Neu und
? Das sieht man ja an Berlin, Hamburg und Wien. Das sind ja alles
Zusammenschlüsse aus vielen Einzelgemeinden zu einer gemeinsamen Stadt.
! Ja, aber das war auch lange das Problem
in Wien: Die Innenstadt war lange die
mentale Landkarte der Wiener. Und diese
Innenstadt ist eine Historische. Deshalb
hat jeder Wiener gedacht, dass eine Stadt
nur eine historische Stadt sein kann. Das
hat die Entwicklung der Moderne in Wien
sehr, sehr behindert. Erst jetzt durch
das polyzentrische Wachstum entstehen
Spannungsfelder, aus dem Neues dynamisch
entstehen kann.
? Sie haben vorhin über Ihre Studenten
gesprochen. Wie viele Lehrstühle haben Sie
inne? Harvard. Buenos Aires. Was noch?
! Da war ich überall mal. Jetzt bin
ich Vizerektor und Leiter des Instituts
für Architektur an der Universität für
angewandte Kunst Wien und leite auch
einen eigenen Studiengang gemeinsam mit
Zaha Hadid und Greg Lynn. Was wir an
unserer Schule erreicht haben, ist, dass wir
das internationale Netzwerk, das vorher nur
sehr bescheiden vorhanden war, ausgebaut
haben, so dass unsere Studenten jetzt die
Möglichkeit haben, über den Tellerrand zu
blicken.
? Welche andern Architekten
schätzen Sie als Kollegen?
! Ich habe jetzt gerade die Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron gesehen.
Ein fantastisches Gebäude. Zaha Hadid, Rem
Koolhaas, Thom Mayne, Eric Owen Moss,
auch Norman Foster – sind zum Teil meine
Freunde, zum Teil schätze ich deren Architektur sehr.
? Wenn jetzt eine Fee käme und
würde Ihnen den Wunschauftrag
schlechthin offerieren. Wie sähe der aus?
! Eine Stadt zu bauen. Aber nicht allein.
Sondern mit all diesen Kollegen zusammen.
•
N6 Prof. Prix verbindet in seinen
Bauten visionären Weitblick mit praxisnaher
Nutzbarkeit. Eine Haltung wie sie auch
Nachmann Rechtsanwälte in der Arbeit für ihre
Mandanten immer wieder suchen.
European Central Bank © Isochrom.com, Vienna
Alt aufgenommen. Wobei die Überlegung,
dass wir Neu und Alt kombinieren müssen,
uns ja nicht fremd ist. Das gibt´s in Wien
ununterbrochen. Wir sind überdies
Verfechter des aktiven Denkmalschutzes, das
heißt, wir übernehmen in den neuen Bauten
die Proportionen des Alten, ohne das Alte
nachzubauen. Dennoch war die Realisierung
sehr komplex. Die Markthalle war nämlich
architektonisch ganz anders organisiert wie
das Konferenzzentrum, das jetzt in diese
Markthalle eingebaut werden musste. Das
zweite Thema dabei war: Wie schaffe ich
dennoch einen attraktiven Eingang zu dem
dahinter stehenden Hochhaus, in dem die
eigentliche Europäische Zentralbank ihren
Sitz hat?
Dann mussten wir noch die Funktionen
lösen, das Verhältnis öffentliche versus
private Räume und die Sicherheitsbestimmungen. Das war eines der Hauptthemen:
Wie man die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen um das Gebäude so arrangiert, dass
es nicht in einem Zaun endet. Wir haben
da mit Landschaftsplanern zusammengearbeitet, die Außenareale gestaltet haben, die
nicht als abweisende Sicherheitszonen zu
erkennen sind.
Ich bin der Überzeugung, dass dieses
Gebäude einen neuen Entwicklungsschub in
diesem Gebiet auslösen wird. Es wird dann
in Frankfurt nicht mehr ein Zentrum geben,
sondern zwei. Und das halte ich ja für ganz
wichtig, weil polyzentrisch immer besser ist
als monozentrisch.
competence
Seite 98
Warum
machen Sie so
ein Magazin,
Herr
Nachmann?
Offene Worte des Herausgebers über
seine Motive, dieses Magazin nun
schon zum sechsten Mal erscheinen
zu lassen, was diese Motive mit den
Aufgaben einer Wirtschaftskanzlei zu
tun haben und warum die heutige Zeit
mehr eigenwillige Köpfe braucht, aus
deren gegenseitigem Respekt Vertrauen
entsteht. Ungewöhnliche Ansichten
eines Mannes, der durch seine Arbeit
als Wirtschaftsanwalt mehr als nur
konstruktive Impulse setzt.
? Herr Nachmann, die vorliegende
Ausgabe dieses Magazins trägt die
Nummer 6. Das bedeutet: N ist kein
Schnellschuss gewesen oder eine
vorübergehende Laune seines Chefs,
sondern ist offensichtlich auf Nachhaltigkeit angelegt. Überdies spürt
man die Entwicklung des Heftes. Es
wird umfangreicher, professioneller
und findet immer mehr eine eigene
Linie. Da muss die Frage gestattet sein:
Warum machen Sie so ein Magazin?
! Eine Anwaltskanzlei schwebt nicht im
freien Raum, sondern ist eingebettet in die
Gesellschaft, in der sie lebt. Ein Teil dieser
Gesellschaft wird durch die Massenmedien
abgedeckt. Mit unserem Magazin verfolgen
wir eine andere Richtung: Bei uns sollen
Verantwortungsträger zu Wort kommen, die
ihren eigenen Kopf haben und das leben, was
in diesem Kopf vorgeht. Denn ich denke, dass
wir für die Herausforderungen unserer Zeit
sehr viel mehr die Ideen dieser eigenwilligen
Denker und Macher brauchen, um Antworten
auf die anstehenden Fragen zu finden.
? Am Ende eines jeden Artikels steht
ein kleiner Hinweis, in welcher Beziehung der Porträtierte oder Interviewte
zur Kanzlei steht. Von James Turrell
über Dr. Notker Wolf bis zum Präsidenten von Arte reicht die Palette
derer, die allein in diesem Heft zu Wort
kommen. Haben die alle etwas mit Ihrer
Kanzlei zu tun? Oder muss das gar nicht
sein?
! Der Abtprimas der Benediktiner, Dr.
Notker Wolf, ist genau der eigenwillige
Denker, den ich meine. Ebenso wie Professor Hanns Hatt, der mit seiner Forschung
zum Riechen völlig neue Türen aufgestoßen
hat – und von dem wir noch viele bahn-
brechende Erkenntnisse über die Zusammenhänge im menschlichen Körper erwarten
dürfen. James Turrell wiederum verkörpert
mit seiner Kunst einen Stil, den auch wir
sehr schätzen: Er sucht bei seinen künstlerischen Aussagen nämlich nicht nur nach
ästhetischen Lösungen, sondern auch nach
Lösungen, die in ihrer Klarheit elegant sind.
Das verbindet ihn mit Professor Prix, der
in seinen Bauten ja auch ein hohes Maß an
Ästhetik mit Nutzbarkeit verbindet. Turrell
ist außerdem der Erste, der für mich Licht
zu einer (fast) anfassbaren Realität gemacht
hat. Außerdem erfüllt es uns mit Freude,
dass wir Florian Holzherr, seinen exklusiven
Fotografen, zu unseren Klienten rechnen
dürfen. Und schließlich und endlich sind
wir sehr stolz, dass der Präsident von Arte,
Dr. Langenstein, zu einem Gespräch mit uns
bereit war. Wir schätzen Arte, weil dieser
Sender im Reigen der kommerziellen und
öffentlich-rechtlichen Anstalten nicht nur
der Sender mit dem jüngsten Publikum ist,
sondern auch für medialen Mut steht. Denn
er probiert Neues aus, ohne Gefahr zu laufen,
in grellbunten Mainstream abzudriften. Und
er tritt den Beweis an, dass es geht, Substanz,
attraktive Optik und gute Unterhaltung
zusammenzubringen – und damit Erfolg zu
haben. Dafür an dieser Stelle meinen ganz
persönlichen Dank. Stefan Hemmerle ist
mit seinen Schmuckkunstwerken zu einem
Kulturrepräsentanten Münchens geworden.
Mit Dr. Armbrecht teilen wir die Liebe zur
Oper, die von BMW und MINI so vorbildhaft
gesponsert wird, und wo wir auch einen,
wenn auch kleinen Beitrag leisten. Und Dr.
Smerling habe ich über sein Engagement
für die Salzburg Foundation kennen lernen
dürfen und bewundere bei ihm sein Geschick,
private und industrielle Gönner der Kunst
dafür zu gewinnen, Werke einem breiten
Publikum zugänglich zu machen, sei es im
Museum oder im öffentlichen Raum wie dem
„Walk of Modern Art” in Salzburg.
? Was sagen andere Kanzleien zu
Ihrem Magazin?
! Es gibt viele Kollegen, die uns zu
unserem Magazin beglückwünschen – was
mich natürlich freut – weil wir damit als
Juristen ja durchaus Neuland betreten haben.
In der „Neuen Juristischen Wochenschrift“
sind wir zum Beispiel als Kanzlei des Monats
vorgestellt worden. Aus dem Kollegenkreis
kommt also Anerkennung. Übrigens umso
mehr je länger es uns gibt.
? Und wie reagieren die Leser und
wer sind sie?
! Unsere Leser sind natürlich zuallererst
unsere Mandanten und die Unternehmen,
mit denen wir geschäftliche oder
freundschaftliche Beziehungen unterhalten.
Dabei muss ich an dieser Stelle – wenn
Sie gestatten – meiner Freude Ausdruck
verleihen, dass unsere Kunden nicht nur
unser Magazin erhalten, sondern es auch
lesen. Die Gattin eines Bankiers schrieb
uns, dass das aktuelle N auf ihrem Nachttisch
liegt und sie jeden Abend darin liest...
? ... näher kommt man an seine
Klienten nicht ran!
! Das denke ich auch. Wir erreichen
also nicht nur diejenigen Menschen, die
aufgrund ihres sehr verantwortungsvollen
Berufs eigentlich nur wenig Zeit zum Lesen
haben. Wir sind in der ganzen Familie
präsent. Ich frage Sie: Wo gibt es das, dass
der Ehemann seine „Geschäftslektüre“ mit
nach Hause nimmt – und die Familie darin
mit Vergnügen liest.
? Glauben Sie, die Themen reichen bis
zu einem N 50?
! Da habe ich überhaupt keine Zweifel, weil
das Magazin von außergewöhnlichen Menschen lebt, von ihrer Arbeit und ihrer Sicht der
Dinge. Hinzu kommt, dass diese Köpfe in der
Polarität des täglichen Lebens wirken – also
zwischen einerseits aktuellen Trends, die aus
der Entwicklung einer Gesellschaft und ihren
Zeitströmungen erwachsen, und andererseits
eine zeitübergreifende Haltung verfolgen,
wie sie zum Beispiel in dieser Ausgabe Karl
Ludwig Schweisfurth darlegt. Er hat ja nicht
nur ein Leben lang versucht, das, was er tat,
zu optimieren. Das versuchen wir letztlich
alle. Nein, Karl Ludwig Schweisfurth hat in
seinem inzwischen 80-jährigen Leben den Mut
aufgebracht, mit 54 eine radikale Änderung
seines Kurses einzuschlagen und erst mit der
ökologischen und inzwischen „symbiotischen
Landwirtschaft“ ganz neue Wege auszuprobieren. Und nicht nur das: Er kann durch sein
Herrmannsdorfer Modell belegen, dass eine
ökologisch-symbiotische Landwirtschaft nicht
nur leckerere Produkte für uns Menschen
schafft, sondern auch die Welt, in der wir leben,
lebenswerter macht – angefangen von der
Gesundheit des Bodens, auf dem wir stehen,
bis hin zu den Kreaturen, mit denen wir
gemeinsam in dieser Welt leben. Und all das
hat er sich nicht in einer rosaroten Utopiewelt
zusammengedichtet, sondern immer unter
dem Postulat der wirtschaftlichen Machbarkeit,
nachhaltige Wirklichkeit werden lassen. Eine
Leistung, vor der man seinen Hut sehr tief
ziehen muss!
? Sie denken sehr ungewöhnlich für
den Chef einer Wirtschaftskanzlei!
! Nicht wenn man die Dinge zu Ende
denkt. Sehen Sie, wir betrachten uns
natürlich als ein Organ der Rechtspflege und
könnten diese Arbeit sehr gut tun ohne
dieses Magazin. Keine Frage. Aber gerade bei
rechtlichen Auseinandersetzungen kommt
es darauf an, dass die gegnerische Seite sieht,
dass unsere Standpunkte aus einer verantwortlichen Grundhaltung entstanden sind
und das Ziel einer konstruktiven Lösung
haben. Dazu bedarf es natürlich zunächst
einer hohen rechtlichen Kompetenz, um
eine Lösung für die Sache selbst zu finden.
Andererseits ist es aber ebenso zentral für
den Ausgang, dass auf der anderen Seite
Vertrauen für unsere Arbeit entsteht, damit
es am Ende zu einer konstruktiven Lösung
kommt, mit der beide Parteien leben können.
Doch wodurch entsteht Vertrauen? Durch
Glaubwürdigkeit! Und diese Glaubwürdigkeit zu leben, ist ein Teil der Botschaft des
Magazins N.
? Ist das die Philosophie Ihrer Kanzlei?
! Sehen Sie, keiner unserer Mitarbeiter
steht morgens auf, schaut in die Philosophie
– die sie übrigens auf unserer Internetseite
nachlesen können – und nimmt sich vor,
sie mit allen Poren seines Seins an diesem
Tag in die Tat umzusetzen. Dazu ist das
Alltagsgeschäft zu hart, zu schnell und zu
stressig. Aber wenn nach Lösungen für
Konflikte gesucht wird, dann sollte unsere
Philosophie der rote Faden sein, der jeden
einzelnen Mitarbeiter auf dem Weg zu
diesem Ziel leitet. Ohne einen solchen
Kompass kommt man leicht vom Weg ab,
verliert das Ziel aus den Augen und läuft
Gefahr, in Streitereien steckenzubleiben. In
einer Wirtschaftskanzlei, wo ja RessourcenZusammenschlüsse für neue Aufgaben
beschlossen und verhandelt werden, kommt
es immer auf das gegenseitige Vertrauen
an. Denn ohne gegenseitiges Vertrauen geht
man keinen gemeinsamen Weg. Vielleicht
nebeneinander. Aber nicht miteinander.
Womit wir wieder beim Thema „Vertrauen“
und „Glaubwürdigkeit“ sind.
Das sind übrigens nicht nur meine
Themen, sondern sie sind auch für meine
jungen Kolleginnen und Kollegen bei der Wahl
ihres Arbeitsortes sehr wichtig gewesen.
? Wen würden Sie gerne in Ihrem
Magazin interviewen – außer vielleicht
den Papst?
! Ohne Witz, genau der würde mich am
meisten interessieren.
? Warum? Sind Sie so „kirchlich“?
! Darum geht es gar nicht. Er repräsentiert
eine Haltung für die auch unsere Kanzlei steht
– die Christliche. Das heißt nicht, dass wir in
allen Fragen dieselben Positionen beziehen,
aber gerade aus den unterschiedlichen
Blickwinkeln würde sich aus meiner Sicht
ein sehr interessantes Gespräch ergeben.
Schließlich ist es ja so, dass mit Benedikt XVI.
seit vielen Jahren – vielleicht sogar überhaupt
zum ersten Mal – ein Intellektueller auf dem
Papstthron sitzt. Deshalb glaube ich, dass ein
solches Gespräch sehr interessante Impulse
geben könnte.
? Wer würde Sie noch reizen?
Vielleicht ein wenig weltlichere
Zeitgenossen?
! Nehmen wir mal die Struktur unseres
Magazins auf: Da fiele mir unter „My
Neighbourhood“ Giorgio Armani ein, der
nicht nur die ästhetische Selbstdarstellung
von Millionen Menschen auf elegante Art
beeinflusst hat, sondern dabei ein Imperium
aufgebaut hat, das seinesgleichen sucht.
Unter „My Munich“ sähe ich gerne – und
nun werden wir in der Tat sehr weltlich – Uli
Hoeneß, dem mit dem Aufbau des FC Bayern
eine hoch attraktive Marke gelungen ist. Von
Franz Beckenbauer wüsste ich gerne, wie er
„My Bavaria“, also seine Heimat sieht, und
von Karl Theodor zu Guttenberg würde ich
gerne seine Vision für Deutschland erfahren.
Nicht weil er von der Presse als Medienstar
gefeiert wird – so was lässt ja auch schnell
wieder nach. Nein, weil er durch seine
Familie mit ihrem in vielen Generationen
gewachsenen Verständnis von Engagement
für die Gesellschaft eine auf Nachhaltigkeit
ausgerichtete Haltung verkörpert. Denn
ich glaube, dass wir in unserer durch
Quartalsergebnisse geprägten Epoche uns
allzu leicht in den Anforderungen des
Alltagsgeschäfts verlieren können – wenn wir
nicht eine auf Langfristigkeit und bestimmten
ethischen Standards ruhende Grundhaltung
zu uns und unserer Arbeit haben.
? Das hört sich nach vielen weiteren
Ausgaben an, weshalb wir Ihnen nicht
nur wünschen, dass Sie es bis N 50
schaffen, sondern bis N 120!
! Herzlichen Dank.
•