166 IV. Das Pfarrhaus des Barock Das Amtshaus und die Reform
Transcription
166 IV. Das Pfarrhaus des Barock Das Amtshaus und die Reform
166 IV. Das Pfarrhaus des Barock Das Amtshaus und die Reform der absolutistischen Staatsverwaltung: ein Bautyp im Dienst der gesellschaftlichen Hierarchisierung Goethes Gartenhaus spielte unbestreitbar eine zentrale Rolle in der Formfindung des bürgerlichen Wohnhauses in Deutschland im 20. Jahrhundert. Doch die genauere Untersuchung zeigte auch, dass die daran beteiligten Architekten weitere Vorbilder aus einem ganzen Spektrum von Baugattungen verarbeiteten. Neben Wohn-, Garten-, Weinberg-, und Forsthäusern trat ausgerechnet die doch sehr spezifische Nutzung der Pfarrhäuser wiederholt in Erscheinung. Zudem planten oder bauten die Reformarchitekten Schultze-Naumburg, Tessenow, Ostendorf und Schmitthenner Pfarrhäuser ihrer Gegenwart. 1. Zusammenhang Pfarrhaus - Walmdach Zwar lenkt keine übermäßige Häufung von Pfarrhäusern den Blick zwingend auf diese Bauaufgabe. Doch ist man einmal auf diese Fährte aufmerksam geworden, liefert bereits die oberflächliche Betrachtung des ländlichen historischen Baubestandes Hinweise auf einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Bauform des Walmdachhauses und seiner Nutzung als Pfarrhaus. Die systematische Analyse führt zu einem überraschenden verallgemeinerbaren Ergebnis: Ländliche Pfarrhäuser sind an ihrem Walmdach erkennbar. Nähert man sich einem intakten dörflichen Ortsbild, so identifiziert man die Kirche natürlich bereits aus der Entfernung anhand ihres Turmes. Und in der Regel erhebt sich in unmittelbarer Nähe der Kirche ein einzelnes hohes Walmdach: das Pfarrhaus. Alle umgebenden Bauernhäuser haben aus den bereits erwähnten Gründen Sattel- oder Krüppelwalmdächer.205 236 Kalbensteinberg (Bayern) 167 Für den Reisenden früherer Jahrhunderte, sei er Tourist, Händler, Handwerker oder Bote, war das auf den ersten Blick erkennbare Haus des Ortsgeistlichen somit ein Orientierungspunkt, um in einem kleineren Ort, der vielleicht nicht einmal ein Rathaus besaß, den ersten Ansprechpartner für viele die Gemeinde betreffende Angelegenheiten zu finden. Als oft einzige amtliche und intellektuelle Autorität eines Dorfes hatte der Pfarrer auch soziale Kompetenz für in Not geratene Reisende, als es noch keine Polizeistation gab. Das Pfarrhaus bot unter Umständen Übernachtungsmöglichkeiten, wo kein Gasthaus existierte.206 Und der Pfarrer war das Sprachrohr des Landesherrn für obrigkeitliche Erlasse zur sonntäglich versammelten Gemeinde.207 Umgekehrt war das Pfarrhaus die Anlaufstelle für Gemeindemitglieder in allen zivilrechtlichen Angelegenheiten von heutigen Standesämtern oder Einwohnermeldestellen208 und kompetenter Vermittler zu anderen Ämtern. Der Pfarrer besaß oft die einzige Bibliothek im Ort, war zumeist der einzige Bezieher einer Zeitung und damit Anlaufpunkt in allen kulturellen und aktuellen Fragen.209 Bei ihm trafen auch die Neuigkeiten aus dem Weltgeschehen ein. Das Pfarrhaus gehörte also zu den wichtigsten Bezugspunkten im Gemeinwesen des Alltags. Weiterhin bot das Pfarrhaus auch Logis für den Bischof oder andere geistliche Würdenträger auf ihren Inspektions- und sonstigen Reisen. Im Zuge des prunkliebenden Barock entwickelte sich das Pfarrhaus zu einem kleinen Palais von maßvoller aber bestimmter Repräsentation. Für die heutige Denkmalpflege oder Ortsgeschichte muss ein betont hohes Walmdach in Kirchennähe somit als Hinweis gelten, dass es sich um das frühere Pfarrhaus handelt. Insofern das Pfarrhaus heute noch als solches genutzt wird, ist diese Identifizierung natürlich überflüssig. Doch oft hat die Kirche ältere Pfarrhäuser verkauft, um an anderer Stelle modernere Gebäude zu errichten. 2. Gründe für das Vergessen Einmal vergegenwärtigt, erscheint diese Erkenntnis leicht offensichtlich und banal. Dennoch ist sie alles andere als ein Allgemeingut der Baugeschichte. Die Gründe für die Verkennung des Walmdachs als einer ganz normalen Dachform wie jede andere auch sind vielschichtig. Zunächst offenbart sich die Besonderheit dieses Daches nur im Idealfall des weitgehend unverändert aus dem 18. Jahrhundert erhaltenen Ortsbildes, während die starke Bautätigkeit des 19. und 20. Jahrhunderts in vielen Fällen die ursprüngliche Prägnanz dieses Zusammenhangs zwischen Form und Funktion verwässert hat. Wie für alle Bauwerke gilt, dass Kriegszerstörung und Feuersbrünste der letzten 200 Jahre den ursprünglichen Bestand dezimierten. Ebenso wie die natürliche Alterung und Beseitigung unbrauchbarer oder infolge des zunehmenden 168 technischen Fortschritts unkomfortabler Häuser. Weiterhin tritt das Walmdachpfarrhaus als Phänomen nur in ganz bestimmten Regionen auf, so dass Bewohnern anderer Gebiete dieser Zusammenhang weitgehend fremd blieb. Außerdem gibt es im 18. Jahrhundert durchaus noch weitere Baugattungen mit Walmdächern, wie die bereits eingeführten Gartenhäuser und andere. Zum großen Teil stehen sie zwar nicht in unmittelbarer Nähe der Kirche, doch das muss beim Pfarrhaus auch nicht zwingend der Fall sein. Alle diese Ursachen führen dazu, dass sich die Signifikanz des Walmdachhauses aus heutiger Sicht relativiert hat. 3. Einschränkungen der These Vor der Beweisführung mit ausgewählten Beispielen und der Untermauerung mit statistischen Erhebungen wollen wir jedoch zunächst die unserer Grundthese widersprechenden Einschränkungen genau erläutern. In diesem Kontext soll die Gültigkeit des Walmdachs als Erkennungsmerkmal des Pfarrhauses als regionaler Regelfall und überregionaler Sonderfall erkennbar werden, wobei sich die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit abzeichnen. 3.1. Chronologische Einschränkung Zunächst ist die chronologische Eingrenzung von Bedeutung. Die markante Bauperiode der Walmdachpfarrhäuser erstreckt sich von ca. 1700 bis 1840, wobei der Schwerpunkt deutlich auf dem 18. Jahrhundert liegt. Diese als barocker Zeitausdruck zu charakterisierende Bautradition zeigt keine Veränderungen in der Zeit des Rokoko und adaptiert mühelos stilistische Merkmale des Klassizismus. Sie wird im 19. Jahrhundert weitergeführt und ebbt um die Jahrhundertmitte ab. Orte, die während dieser Zeitspanne von ungefähr 150 Jahren keine Pfarrhausprojekte realisieren, bewahren ältere Bautypen oder bauen erst später neu und weichen damit von unserer Regel ab. Gleichwohl wird die folgende Analyse eine ausgesprochene Baukonjunktur für Pfarrhäuser in dieser Epoche belegen. Aus der zeitlichen Eingrenzung ergibt sich die ebenso naheliegende wie zentrale Frage, weshalb der Bautyp mit dieser Dachform gerade zu Beginn des 18. Jahrhunderts aufkommt. Auch seine Verbindung mit einer spezifischen Nutzung und Bedeutung muss im Zusammenhang der Zeit um 1700 gesucht werden. Obwohl der stilistische und technische Wandel wie ein natürlicher Prozess die Architekturgeschichte prägt, ist auch nach konkreten Ursachen zu suchen, weshalb sich diese Bautradition wieder verliert. 169 3.2. Geographische Einschränkung Weiterhin ist eine Einschränkung zur geographischen Verbreitung zu formulieren. Diese kann keine klaren Grenzen ziehen, sondern nur relativieren. Denn es gibt keine gleichmäßige Verteilung der Pfarrhäuser mit Walmdach auf deutschprachigem Gebiet. Die schwerpunktmäßige Untersuchung ergab Regionen mit evidenter Häufigkeit dieser Pfarrhäuser und andere, in denen sie überhaupt nicht vorkommen. Regionen mit gelegentlicher Verbreitung sind ebenfalls zu beobachten. Sie fallen jedoch mit der höchst unvollständigen Erfassung der Baudenkmale durch die Denkmalbehörden verschiedener Bundesländer zusammen. Hier kommt das Problem zum Tragen, dass sich ältere Denkmalkataloge auf die höhere Baukunst der sakralen und fürstlichen Bauaufgaben konzentrieren und bei der bürgerlichen Architektur nur hervorstechende Werke erfassen. Die Alltagsarchitektur – zu der die Pfarrhäuser zählen, obwohl sie zumeist in den Aufgabenbereich der Kirchen und Landesherren fielen – blieb bis in die Nachkriegszeit hinein weitgehend unberücksichtigt. Zwischenzeitlich hat sich der Denkmalbegriff gewandelt. Die Katalogisierung aller Baudenkmale nach erweiterten Kriterien in der 1983 gestarteten Reihe "Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland" wurde bislang nur in Bayern mit einer vorläufigen Liste durchgeführt.210 In den meisten Bundesländern ist gerade ein Bruchteil der Landkreise bearbeitet, so dass über diese Hilfsmittel keine flächendeckende Erhebung durchgeführt werden kann.211 Für Frankreich existiert die nach Départements gegliederte Reihe "Collection Le Patrimoine des Communes de France". Auch sie liegt noch nicht vollständig vor. Die einzige systematische Untersuchung zur Gattung der Pfarrhäuser erschien jüngst für ein Teilgebiet NordrheinWestfalens einschließlich eines niedersächsischen Landkreises, wo unser Bautyp allerdings eine nur marginale Rolle spielt.212 Ihre Recherche zu den ökonomischen, sozialen, kulturellen und bauorganisatorischen Rahmenbedingungen liefert gleichwohl wertvolle verallgemeinerbare Hinweise und bestätigt Beobachtungen, die für andere Regionen gemacht wurden. Aus der damit eindeutig feststellbaren Uneinheitlichkeit der regionalen Dichte der Walmdachpfarrhäuser erwächst die Frage nach den konfessionellen, konjunkturellen, künstlerischen, politischen oder sonstigen Ursachen dafür. 3.3. Typologische Einschränkung Eine typologische Einschränkung relativiert die Ausschließlichkeit der Anwendung des Bautyps in den definierten Bedingungen. Das heißt, selbst in Regionen mit hohem Verbreitungsgrad und innerhalb des festgestellten Zeitraums wurden auch Pfarrhäuser mit allen anderen in ihrer Zeit üblichen Dachformen errichtet, also mit 170 Sattel-, Krüppelwalm- oder Mansarddächern. Daraus kann jedoch nicht die Frage entwickelt werden, warum sich der Bautyp nicht durchsetzte, denn eine gewisse Streuung der Bauweisen ist in allen Themenbereichen der Architekturgeschichte der Normalfall. Auch hier gilt die alte Erkenntnis: Die Ausnahme bestätigt die Regel. Dafür wird von Interesse sein, ob sich statistisch eine prozentuale Relation der verschiedenen Dachformen aufstellen lässt oder in welchem Zeitraum eine neu ins Spiel kommende Konstruktion wie das Mansarddach eine Rolle spielt. Wir fragen sozusagen nach der Hitliste auf der Beliebtheitsskala. 3.4. Gattungsspezifische Einschränkung Die letzte Einschränkung relativiert die eindeutige Bindung des Typs an die Baugattung. Obwohl die Anwendung des Walmdachs für die Nutzung als Pfarrhaus herraussticht, ist festzustellen, dass auch verschiedene andere Häuser im gleichen Ort und aus der gleichen Bauzeit Walmdächer haben können. Hauptsächlich darin liegt die Ursache, weshalb der Stellenwert des Walmdachbautyps als Besonderheit und Bedeutungsträger nicht eindeutig erkannt wurde. In dieser gelegentlichen Uneindeutigkeit seines Auftretens liegt die Ansicht begründet, es handle sich um eine Bauart wie jede andere auch. Diese nunmehr formulierte Einschränkung wirft die Frage auf, welche anderen Häuser ebenfalls Walmdächer erhielten, für welche Nutzung sie ursprünglich gebaut wurden und ob ein Zusammenhang zwischen ihnen und den Pfarrhäusern bestand. Die Zielrichtung wird hier schon deutlich: Auch die anderen Walmdächer zeichnen sich als Erkennungszeichen für Gebäude mit amtlichen Nutzungen ab oder sind als Statussymbole für Bewohner mit offiziellen oder offiziösen Funktionen anzusehen. Sie sind alle unter der Baugattung der Amtshäuser zusammenzufassen, zu denen letztlich – entgegen unserer heutigen Auffassung – auch die Pfarrhäuser zählen. Denn nicht nur in Ländern, in denen der Fürst zugleich oberster Geistlicher war, wie bei den Fürstbischöfen von Bamberg, Würzburg oder Speyer, kann der Pfarrer gewissermaßen als Amtmann des Staatsapparats gelten. 4. Pfarrhäuser in Bayern 4.1. Datenmaterial Die Erfassung der Baudenkmale in Deutschland ist im bundesweiten Vergleich in Bayern am weitesten vorangeschritten. Für jeden Landkreis ist ein Einzelband vorgesehen. Doch aufgrund der schlechten finanziellen Ausstattung der Denkmalbehörden stockt dieses für die Forschung wichtige Vorhaben seit den 90er Jahren. Umso verdienstvoller erscheint die Leistung der bayerischen Denkmalämter, 171 1985-86 für alle sieben Regierungsbezirke und die Stadt München eine – wenn auch nur stichwortartige, so doch vorläufig vollständige – Denkmalliste veröffentlicht zu haben. Diese Vorarbeit nach Regierungsbezirken wird in keinem anderen Bundesland verfolgt. Dieser glückliche Umstand ermöglichte eine statistisch repräsentative Erhebung aller als Baudenkmale klassifizierten Walmdachhäuser einerseits und aller ebensolchen Pfarrhäuser (unabhängig von ihrer Dachform) andererseits in einem fest umrissenen Gebiet. Zu jedem Gebäude aufgelistet werden in der Regel Adresse, Nutzung und gegebenenfalls ursprüngliche Nutzung (soweit bekannt), Datierung, Architekt (soweit bekannt), Geschosszahl, Dachform, Konstruktionsart (z. B. Fachwerkbau oder Sandsteinquader), besondere Merkmale (z. B. Mittelrisalit, Ecklisenen, geohrte Rahmungen oder verschiefertes Obergeschoss etc.) sowie bei Pfarrhäusern die Konfession und das Patronat der zugehörigen Kirche. Da diese Bände keine Abbildungen enthalten, kann keine Überprüfung oder Erfassung weiterer Merkmale durch Augenschein vorgenommen werden. Die nachfolgenden auch für Bayern bislang nur vereinzelt vorliegenden Landkreisbände sind ausführlicher. Sie erfassen teilweise weitere Gebäude, die in den Bänden der Regierungsbezirke noch nicht aufgenommen sind, und nennen weitere bauliche Merkmale, vor allem die Achsenzahl (allerdings uneinheitlich: z. T. nur die Achsen der Hauptfassade, gelegentlich auch mit Abweichung von Erd- und Obergeschoss, z. B. "5:4 Obergeschossfenster", in der Regel aber die Achsenzahl von Breit- und Schmalseite, z.B. "5:3 Achsen"). Die in diesen Bänden zu vielen Gebäuden gezeigten Abbildungen ermöglichen je nach Ansicht, also zu einem Bruchteil der Bauwerke, die Erfassung weiterer Details. Natürlich wurden nicht alle erhaltenen Pfarrhäuser als Denkmale klassifiziert. Gelegentlich wurden Häuser wegen anderer Merkmale zu Denkmalen ernannt, aber nicht als Pfarrhäuser erkannt. In einigen Fällen bietet jedoch bereits die Adresse (wie etwa "Kirchplatz 3", "Pfarrgasse 5" oder "Am Friedhof 1") bzw. eine Hausnummer in unmittelbarer Nachbarschaft zur aufgelisteten Kirche den mit hoher Wahrscheinlichkeit begründeten Anlass, sie als Pfarrhäuser zu klassifizieren und in die Statistik mit aufzunehmen. Zumal, wenn sie als einziges Walmdachhaus eines Ortes geführt werden. 172 4.2. Fehlerquote der Datenerfassung Einige Einschränkungen sind zu erläutern, um sich eine gewisse, in diesen Daten enthaltene Fehlerquote zu vergegenwärtigen: a) In den Regierungsbezirksbänden ist der Dachtyp zwar meistens genannt, aber nicht immer, weshalb die betreffenden Objekte nicht in die Statistik einfließen können. b) Gelegentlich schleichen sich Fehler ein, die erst bei Abbildungen in den Landkreisbänden deutlich werden, durch Kenntnis anderer Quellen oder persönliche Überprüfung.213 Aufgrund der Vielzahl der an der Erstellung der Liste beteiligten Denkmalpfleger schwankt auch die Aufmerksamkeit für bestimmte Objekte, wechseln manche Begriffe und die Datierungsweisen. c) So zeigte sich unter Zuhilfenahme anderer Quellen und persönlicher Funde, dass Pfarrhäuser nicht immer in ihrem historischen Denkmalwert erkannt wurden, die Liste also nicht als vollständig betrachtet werden kann.214 d) Weiterhin begegnen wir unterschiedlichen Bezeichnungen für dieselbe Nutzung (z.B. Benefiziatenhaus, Kuratorenhaus oder Kaplanshaus, wenn ein untergeordnetes Kirchenamt den Pfarrer ersetzt; Dekanat, Propstei oder Prälatur, wo ein übergeordnetes Amt die Rolle des Pfarrhauses einnimmt). e) Die jahrgenauen Datierungen beruhen teils auf Inschriften am oder im Gebäude. Wenn das Haus nicht als mit der Jahreszahl "bezeichnet" erwähnt wird, muss von anderen schriftlichen Quellen (originale Bauakten, spätere Umbaupläne, die das Erbauungsjahr verzeichnen oder Ortsgeschichten) ausgegangen werden. Bei den Inschriften an den Gebäuden (zumeist eine Jahreszahl im Steingewände über der Eingangstür oder im Bogen des Kellereingangs, gelegentlich auch am Pfosten oder Torbogen der Hofeinfahrt oder im Holz der Innentreppe) ist Vorsicht geboten. Meistens wurde das Haus in einer einzigen Bauphase errichtet, so dass die Jahreszahl das eindeutige Erbauungsjahr wiedergibt. In manchen Fällen erfolgte der Pfarrhausneubau aber auf den Grundmauern oder Sockelgeschossen älterer Häuser, so dass die Jahreszahl über dem Kellereingang das Erbauungsjahr des Vorgängerbaus wiedergeben sein kann. In anderen Fällen dokumentiert die Inschrift eine Generalsanierung oder Instandsetzung nach Beschädigung, wobei das äußere Erscheinungsbild mit zeittypischen Stilmerkmalen modernisiert worden sein kann, jedoch die Grundsubstanz des Hauses und damit sein Erbauungsjahr älter ist. Reparaturbedürftig waren häufig die Dächer, weshalb gelegentlich auf einem ursprüng- 173 lichen Satteldachhaus bei der Erneuerung im 18. Jahrhundert ein Walmdach errichtet wurde.215 Ebenso kann auf einem ursprünglich stattlichen barocken Pfarrhaus das hohe Walmdach bei seiner Modernisierung im 19. Jahrhundert durch ein flaches unscheinbareres Walmdach oder sogar ein Satteldach ersetzt worden sein.216 In einzelnen Fällen beweisen verschiedene Inschriften am selben Gebäude diese Vorgehensweise.217 Im Bewusstsein dieses leichten Streufaktors und der Annahme der Korrektheit der meisten exakten Datierungen betrachten wir dieses Datenmaterial als aussagekräftig für unsere Analyse. Lediglich bei den Walmdachpfarrhäusern mit angeblichem Erbauungsjahr im frühen 17. oder sogar 16. Jahrhundert ist Skepsis an der Eindeutigkeit des Datums angebracht. Diese Angaben dürfen zur Bestimmung des ältesten Walmdachpfarrhauses (im konkreten Fall wäre das 1556) nicht herangezogen werden. Auch die 13 mit Jahreszahl bezeichneten Pfarrhäuser aus der Mitte des 17. Jahrhunderts sind höchst zweifelhaft. Allenfalls elf Gebäude aus den 80er und 90er Jahren könnten als Vorläufer der einsetzenden Entwicklung in Erwägung gezogen werden. Hier wären jedoch genauere Objektuntersuchungen erforderlich. Die Vielzahl der grob geschätzten Datierungen schwankt von der Angabe zweier Jahrhunderte, was entweder bedeuten kann, dass eine genauere Eingrenzung nicht möglich war, oder dass deutlich Bauteile aus verschiedenen Bauphasen erkennbar sind. Weiterhin werden Datierungen auch nach einzelnen Jahrhunderten geschätzt, nach der Einteilung in Jahrhundertviertel, -drittel, nach Jahrzehnten oder mit Formulierungen wie "frühes -", "spätes 18. Jahrhundert" oder "wohl um 1730". Die kanonisierte kunsthistorische Einteilung nach den Vierteln "Um 1700" (= 1690-1710), "erste Hälfte 18. Jahrhundert" (=1710-1740), "Mitte 18. Jahrhundert" (=1740-1760), "zweite Hälfte 18. Jahrhundert" (=1760-1790) entwickelt eine gewisse Fehlerstreuung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Abschnitte von zwei Jahrzehnten mit Abschnitten von drei Jahrzehnten abwechseln, und dass im Zweifelsfall psychologisch leicht auf eine Jahrhundertmitte geschätzt wird. So kommt ein "um 1750" häufiger vor als ein willkürlicher erscheinendes "um 1740" für ein mit ausgeprägten barocken Details versehenes Haus. Auch die häufige Datierung "um 1800" muss kritisch unter Vorbehalt gesetzt werden, denn die Prägung durch die zuvor geschilderte Vorgeschichte dieses Zeitbegriffs dürfte gelegentlich dazu geführt haben, ein etwas nüchternes Haus unseres Typs in diesen Zeitraum einzuordnen, obwohl es auch früher entstanden sein kann. Somit ergibt sich ein Problem mit der Vergleichbarkeit der verschiedenen Datierungen. Wir behalfen uns damit, zunächst nur die exakten Datierungen in eine Skala einzusetzen und die daraus analysierten Erkenntnisse zum Einsetzen und Abflauen 174 der Walmdachpfarrhaus-Baukonjunktur und zu Schwerpunktbauphasen zu analysieren. Diese verglichen wir mit den Erkenntnissen, die aus einer Skala mit den nur grob erfolgten Datierungen hervorgehen.218 Eine dritte, noch ungenauere Skala diente der Analyse der Datierungen nach Jahrhunderten. Der Vergleich der verschiedenen Skalen miteinander und das Einordnen der exakten Datierungen in die Skala nach Jahrhundertvierteln219, sowie anschließend das Einordnen beider Werte in die Skala nach Jahrhunderten ergab, dass die sich abzeichnenden Bauphasen, ob en gros oder en détail, übereinstimmende Kurven ergaben. Die mit exakten Datierungen, also weniger Zahlenmaterial bestückte Skala erwies sich trotz des möglichen Zufallsfaktors als genauso zuverlässig wie die mit größeren Zahlenmengen geführten Skalen der Grobdatierungen. Die differenzierteren Pendelausschläge der Skala mit exakten Datierungen können folglich mit hoher Wahrscheinlichkeit als zuverlässige Daten zur Baukonjunktur gelten. Den Denkmallisten haben wir weiterhin die exakten Datierungen von Pfarrhäusern mit anderen Dachformen entnommen und auf die Skala mit exakt datierten Walmdachpfarrhäusern übertragen, um periodisch unterschiedliche Bauphasen der Dachtypen beweisen zu können und um im Gegenschluss sicher zu gehen, dass die Verwendung der Dachtypen nicht gleichmäßig parallel, also vollkommen beliebig verlief, was bedeutet hätte, dass dem Walmdach eben doch keine besondere Bedeutung zukäme. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Addition der exakten Datierungen von allen Pfarrhäusern auf einer gemeinsamen Skala – ohne Unterscheidung der Dachform – spiegelt die Konjunkturphasen des Pfarrhausbaus insgesamt wieder. Trotz dieser Begrenzung auf eine einzige Baugattung kann die Analyse ernst zu nehmende Hinweise auf die allgemein gültigen Schwankungen der Baukonjunktur vom 17. bis zum 19. Jahrhundert liefern. Selbst wenn man diese spezifische Erhebung als Quelle für die allgemeine wirtschaftliche Prosperität dieses Zeitraums nicht gelten lassen wollte, ist ihre Aussagekraft als Indikator für ein Ausbauprogramm der Verwaltungsstrukturen und damit für eine beabsichtigte Modernisierung des Staatswesens am Beispiel der nachweisbaren Investition in neue Amtshäuser zwingend. Zur Zählung der Pfarrhäuser rechnen wir weitere Nutzungsbezeichnungen hinzu, die der gleichen oder einer vergleichbaren Nutzung entsprechen, nämlich Pfarramt, Pfarrhof, Messnerhaus, Kaplanshaus/Kaplanei, Küsterhaus, Kooperatorenhaus220, Kuratenhaus221, Dekanat/Dekanei222, Superitendentur223, Benefiziatenhaus224, Propstei225, Prälatenhaus/Prälatur226, Abtshaus227 und Gemeindehaus228. Nicht in den bayerischen Listen, jedoch in denen anderer Bundesländer finden sich weiterhin 175 die Nutzungsbezeichnungen Pastorenhaus/Pastorat (z. B. im Rheinland und in Westfalen auch für den katholischen Priester), Äbtissinnenhaus, Kapitelhaus229, Kanonikatshof/Kanonikerhaus230, Dom- oder Chorherrenhaus, Kurie/Curia231, Archidiakonat232, Priorat233 und Rektorat234. Vereinzelt findet sich unser Bautyp auch für Priesterhäuser anderer Konfessionen, so als Rabbinerhaus235, Haus des Vorstehers der Wiedertäufergemeinde236 oder als Haus des Erzoberlenkers der Christengemeinschaft237. Auch diese Nutzungen finden sich außerhalb Bayerns, so dass sie die folgende Zählung nicht betreffen. Alle diese Bezeichnungen zeigen die Verwendung unseres Bautyps für das Wohnhaus des obersten Geistlichen eines Ortes und lassen sich zu den Amtshäusern des Klerus rechnen. Weitere Institutionen der Kirche finden sich in Gestalt unseres Bautyps, die sich jedoch nicht zu den Pfarrhäusern zählen lassen: Hospiz/ Pilgerhospiz, Spital, Stiftshaus, Almosenhaus, Armenhaus, Kantorat238 und die von der Kirche erbauten Schulhäuser. Somit ergibt sich für Bayern die Zahl von 793 Walmdachpfarrhäusern. Darunter sind 69 eigene Zuschreibungen, die in den Denkmallisten geführt, jedoch nicht als Pfarrhäuser erkannt wurden. Von den 623 mit Konfession aufgeführten Pfarrhäusern sind 84% katholisch. Die anderen 101 evangelischen Pfarrhäuser sind keine zu vernachlässigende Größe, weshalb der Bautyp auf jeden Fall nicht als katholisch-barocker oder gar gegenreformatorischer Bauausdruck angesehen werden kann. Bei den grob nach Jahrhunderten datierten Häusern fällt auf, dass mit 77 die weit überwiegende Zahl auf das 18. Jahrhundert geschätzt wurde, gegen fünf für das 17. und 13 für das 19. Jahrhundert. Hinzu kommen 21 für die kombinierte Datierung 17./18. Jahrhundert und 22 für das 18./19. Jahrhundert, die die Waagschale noch weiter für das 18. Jahrhundert einpendeln. Bei den nach Jahrhundertvierteln datierten Häusern fällt zwar die höchste Zahl von 46 auf die "erste Hälfte" des 19. Jahrhunderts, doch das 18. dominiert auch hier in der Summe. 176 237: Bauphasen der Pfarrhäuser in Bayern nach den jahrgenauen Datierungen in „Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland“ (DT) 238: Bauphasen nur der Walmdachpfarrhäuser in Bayern nach den jahrgenauen Datierungen in DT 4.3. Indikator für Baukonjunktur Die Kurvenanalyse der 459 jahrgenau datierten Walmdachpfarrhäuser, ergänzt durch die exakt datierten Pfarrhäuser mit anderen Dachformen, ergibt folgende Beo- 177 bachtungen: Eine leichte Bauaktivität erfolgt zwischen 1600 und 1625 fast ohne Walmdachanteil (dabei sind möglicherweise irreführende Jahresinschriften an den vereinzelten Walmdachhäusern zu bedenken). Diese lässt bis 1640 wieder nach und setzt in den 40er Jahren vollkommen aus. Ein vereinzeltes Anklingen überwiegend evangelischer Pfarrhäuser und nur mit Satteldächern erfolgt ab den 50er Jahren. Erst um 1670 verstärkt sich die Bauaktivität239 und zeigt einen deutlichen Aufschwung in den 90er Jahren, erstmals mit einem kleinen Anteil an Walmdachhäusern. Nach einem Einbruch kurz nach 1700240 erfolgt ein rasanter Anstieg241, der bis 1715 paritätisch von Sattel- und Walmdächern bestritten wird. Vereinzelt treten erste Krüppelwalmdächer auf, ab 1710 die ersten Mansarddächer. Ab 1716 setzt eine eindeutige Dominanz der Walme ein, bei konstant bleibendem Anteil der Satteldächer. In den 30er Jahren ist die Dominanz der Walme vollkommen, und ab 1736 geht der Anteil der Satteldächer immer weiter zurück. Auch die Krüppelwalme spielen durchgehend eine nur marginale Rolle. Allgemein ist eine Baukonjunktur von 1705 bis 1740 mit Höhepunkt um 1730 zu beobachten. Kurz nach 1740 erfolgt wieder ein Einbruch242, um gegen 1750 wieder höchste Margen zu erreichen. Eine gute gleichmäßige Bauaktivität kennzeichnet die 60er bis 90er Jahre des 18. Jahrhunderts mit einem nennenswerten Anteil an Mansarddächern von ca. einem Viertel der Gesamtleistung. Ab 1795 lässt ihr Anteil jedoch wieder nach, um gegen 1810 vollständig zu verschwinden. Die Zeit um 1800 ist durch eine Flaute geprägt, mit einem kurzen Aufflackern um den Jahrhundertwechsel selbst. Erst gegen 1810 erfolgt nochmals ein Anstieg, der von Walmen dominiert und von Krüppelwalmen unterstützt wird. Während Walme von 1805 bis 1825 deutlich zurückgehen, füllen Krüppelwalme die Lücken zu einem verhaltenen Konjunkturniveau auf. Ein erneuter Anstieg ohne dezidierte Höhen von 1825 bis 1840 ist wieder den Walmen zu verdanken (wobei fast nur noch flache unscheinbare Walme gebaut werden). Ab 1835 treten keine Krüppelwalme mehr in Erscheinung. Ein starker Einbruch um 1845 wird bis 1860 wieder etwas aufgefangen, doch dann ist im Pfarrhaussektor nur noch eine marginale Aktivität zu beobachten. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts läßt diese Kurvenanalyse jedoch keine hinreichend zuverlässigen Beobachtungen zur allgemeinen Baukonjunktur zu, weil wir die eindeutig als historistisch beschriebenen und neuen Bautypen folgenden Pfarrhäuser nicht in das Schema aufgenommen haben. Darüber hinaus werden die klerikalen und hoheitlichen Bauaktivitäten größtenteils durch die privaten Investitionen des bürgerlichen Unternehmertums abgelöst. 178 239-240: Verhältnis der Dachformen der Pfarrhäuser in Bayern von 1700 bis 1873 nach den jahrgenauen Datierungen in DT Trotz des stark selektiven Datenmaterials lässt sich eindeutig feststellen, dass unser Bautyp mit hohem Walmdach von 1700 bis 1810/20 Konjunktur hat und diese Bautradition bis ca 1840 mit flachen Walmen weitergeführt wird. Weiterhin zeigt sich, dass Satteldachpfarrhäuser keine vergleichbare Rolle spielen und dass Mansarddachpfarrhäuser als temporäre Erscheinung innerhalb dieses Zeitraums bzw. mit 179 Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem kleinen Prozentsatz dem Walmdach die Aufgabe streitig machen, Bedeutung zu signalisieren, jedoch ohne es ablösen zu können. Nimmt man Mansard-, Sattel- und Krüppelwalmdächer zusammen, so erreichen sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Anteil von ungefähr einem Drittel gegenüber zwei Dritteln Walmdächern. Zählt man dieser Auswertung der exakt datierten Häuser noch die grob datierten Walmdächer hinzu, dann verschiebt sich das Ergebnis hin zu einem enormen Übergewicht der Walmdächer und hin zum 18. Jahrhundert, mit einer Spitze in dessen erster Hälfte: nach einem steilen Anstieg nach 1700 bildet sich eine Spitze um 1730. Die Kurve beschreibt eine leichte Kuppel bis 1800, dann erfolgt ein sanfter Abstieg bis 1850. Um 1860 ist wieder das Niveau von 1700 erreicht. Alle exakten und groben Datierungen zusammenaddiert ergibt sich ein Verhältnis der Walmdächer zwischen 17., 18. und 19. Jahrhundert von 49:500:233 oder gekürzt 1:10:5. 4.4. Aufriss- und Grundrissbildung Eine weitere statistisch auswertbare Zahlenmenge bietet die Erfassung der Fensterachsen anhand der Angaben in den Landkreisbänden. Hier konnte die Disposition von 268 Walmdachpfarrhäusern erfasst werden, was Rückschlüsse auf die Grundrissbildung erlaubt, denn die Achsenzahl gibt Auskunft über die Relation von Breitund Schmalseite. Die Bandbreite reicht von 3:2 über 8:5 bis 10:4 Achsen. Der absolute Favorit ist die 5:3-Variante mit 23%. Sie kann damit als Grundmodell für unseren Haustyp gelten. Alle Häuser mit fünfachsiger Breitseite zusammen betragen sogar 59%, gefolgt von den Vier- und Sechsachsern mit jeweils 10%, den Siebenachsern mit 9% und den Dreiachsern mit 7%. Für die Schmalseite erwiesen sich drei Achsen als Ideallösung mit 40%, gefolgt von vier Achsen mit 21% und zwei Achsen mit 15%. Die Rangfolge der obersten Plätze ist: 5:3 (61 Häuser), 5:4 (39 Häuser), 5:2 (22 Häuser) und 4:3 (17 Häuser), 5:5 (11 Häuser) sowie 3:3 und 6:3 (jeweils 9 Häuser). Überträgt man diese Vorlieben auf ein Grundrissschema, dann zeigt sich, dass die ersten sechs Positionen zum Vier-Felder-Grundriss mit mittigem Erschließungsflur passen. Er lässt sich wie ein Modulsystem erweitern, aus dem der Sechs-FelderGrundriss mit oder ohne Mittelflur sowie die U-förmige Raumordnung um eine Eingangshalle herum hervorgehen. 243 180 241: Grundrissschemata Nicht gezählt haben wir den Anteil der Stockwerke, denn das zweistöckige Pfarrhaus ist der eindeutige Regelfall. Dreistöckige Pfarrhäuser sind selten und einstöckige Bauten kommen so gut wie nicht vor. Die Tatsache, dass auch die kleineren dreiachsigen Pfarrhäuser quantitativ auf den hinteren Rängen platziert sind, zeigt einen bestimmten Mindestraumbedarf, bzw. einen für Pfarrhaushalte geltenden grundsätzlichen Lebens- und Repräsentationsstandard. Goethes Gartenhaus entspricht daher nicht dem in der Praxis vorherrschenden Standardtyp, sondern gewissermaßen dem Grundtyp als theoretischem kleinstem Ausgangspunkt des Modulsystems. Eine überraschende und weitreichende Grundcharakteristik erbrachte erst die persönliche Inaugenscheinnahme der Pfarrhäuser: im Regelfall ist die Rückseite asymmetrisch gestaltet. Die Anlage von Tür und Fenstern erfolgt dort nach rein funktionalen Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit. Die Analyse von weiteren, in der Sekundärliteratur zugänglichen Pfarrhausgrundrissen bestätigt diese Beobachtung, der wir bereits bei Goethes Gartenhaus244 oder dem Jagdhaus Gabelbach245 begegneten. Tatsächlich wurde diese Eigenart von den Verfassern der Denkmallisten vollkommen ignoriert. Sie wirft ein neues Licht auf die "Entdeckung" funktionalistischer Prinzipien im 20. Jahrhundert und auf das ritualisierte Spiel mit Asymmetrien bei den Architekten der traditionalistischen Moderne. Die weit verbreitete Schwarz-WeißMalerei von der starren unpraktischen Regelmäßigkeit barocker Repräsentationsarchitektur im Gegensatz zu den nutzungsorientierten Neuerungen der Moderne muss damit relativiert werden. Die Praxis des Fassadenaufbaus nach den Erfordernissen des Innenraums hat tatsächlich eine längere Tradition. Sie bekommt durch die punktuelle Anwendung an den exponierten Pfarrhäusern einen gestalterischen Aspekt, der die bewusste Wahrnehmung stärker herausfordert, als es die ebenso 181 funktions-orientierten aber "banaleren" Bauernhäuser bewirken.246 Gelegentlich können Achsenordnungen mit asymmetrischen Teilbereichen auch an der Vorderseite vorkommen, wie wir es bereits an Körners Weinberghaus oder Rousseaus Les Charmettes beobachten konnten. Doch eine totale Unregelmäßigkeit erlaubte man sich nur an der Rückseite. Demnach wurde deutlich zwischen dem ordentlichen Erscheinungsbild der Schau- bzw. Straßenseiten und der von der Öffentlichkeit abgewandten privateren Seite unterschieden. Nun stellt sich die Frage, ob durch die Ordnung der Vorderseite Nachteile in der Nutzung der Innenräume in Kauf genommen wurden. Die Grundstruktur des angewandten Grundrisstyps ermöglicht jedoch eine durchaus sinnvolle Belichtung der größeren Zimmer mit dem regelmäßigen Fensterabstand. Das Achsensystem steht also der Funktionalität in diesem Bereich nicht im Wege. Wo Küche, Abort, Treppenhaus oder kleine Kammern räumliche Differenzierungen des Grundrisses erforderten, damit Verschiebungen des Achsensystems mit sich brachten und weniger oder kleinere Fensteröffnungen erwünscht waren, wurden diese Raumfunktionen in den rückwärtigen Bereich des Hauses eingeplant. Diese Disposition achtet dann allerdings nicht auf die Himmelsrichtung und günstige Besonnung. Bei vielen Pfarrhäusern bietet sich auf dem Areal des Kirchhofs allerdings genügend Spielraum für die freie Ausrichtung. Oft findet man eine auf den Eingang der Kirche hin orientierte Hauptfassade. Da die Kirchen üblicherweise geostet sind und ihr Eingang dann meistens im Westen liegt, kann die Eingangsseite des Pfarrhauses mit den Hauptwohnräumen dann ebenfalls nach Westen oder Süden zeigen. Wie schon erwähnt, ist unser Typgrundriss aber auch flexibel genug, um den Eingang mit der Schaufassade auf die Schmalseite zu legen. Auch kleine Kellerfenster sind eine Notwendigkeit, die auf der Rückseite zur Asymmetrie beitragen können. Hier kommt eine weitere Besonderheit der Pfarrhäuser zum Tragen: ihre teilweise Unterkellerung, die oft jedoch nicht vollständig unter der Erde liegt, sondern als Halbgeschoss emporragt und damit zur stattlichen Höhe des Baus beiträgt. Das erhöhte Erdgeschoss vermittelt dann zusätzlich eine distinguierte Position gegenüber den ebenerdig zugänglichen Bauernhäusern. Oft führt eine zweiläufige Treppe zum Eingang hinauf. Ihr über dem Straßenraum thronender Podest verschafft dem Hinaustretenden gleichsam einen herrschaftlichen Auftritt in die Öffentlichkeit. Unter dem Podest, also unmittelbar unter der Eingangstür, findet sich häufig der Kellerzugang. Immer wieder fanden sich Beispiele für die Ausnutzung eines abfallenden Geländes zur Anlage des Kellers, um den aufwändigen Erdaushub zu minimieren. Da in der Regel nicht die gesamte Grundfläche unterkellert wurde, sondern nur ein Teil davon, ergibt sich die Asymmetrie, die sich mit den 182 Kellerfenstern an der Fassade abzeichnet und offensichtlich zu einer bewussten freien Komposition des Aufrisses Anlass bot. Besonders auffällig ist diese Gestaltung, wenn der Keller nicht in die Erde abgesenkt, sondern in eine Hälfte des Erdgeschosses gelegt ist. Dies kann der Fall sein, wenn der hohe Grundwasserspiegel wegen eines nahen Bachlaufs eine Unterkellerung verhindert. Eine separate Eingangstür zu diesem Keller (damit die Materialien nicht durch den Wohnungsflur transportiert werden müssen), geschlossene Wandflächen und kleine Belüftungsfenster kennzeichnen diesen Bereich und bedingen ein gestalterisches Gesamtkonzept der betreffenden Fassade. 4.5. Geographische Verbreitung Aus der geographischen Auswertung der Standorte der Walmdachpfarrhäuser lässt sich erkennen, dass es zunächst eine recht gleichmäßige Streuung auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Bayern gibt. Mit Ausnahme von Starnberg hat jeder Landkreis mindestens einen, meistens jedoch mehrere Standorte aufzuweisen. Über dieser Grundstruktur lässt sich eine Verdichtung beobachten, die sich in einem breiten diagonalen Streifen vom Nordwesten des Regierungsbezirks Schwaben über das gesamte Mittelfranken (mit Ausnahme des Landkreises Nürnberger Land) und Oberfranken erstreckt und auch das südliche Unterfranken mit einbezieht. Auch in den nördlichen und westlichen Gebieten des Regierungsbezirks Oberpfalz finden sich Häufungen. Dass im südlichen Niederbayern, in Oberbayern und dem im Süden des Regierungsbezirks Schwaben liegenden Allgäu eine geringere Dichte von Walmdachpfarrhäusern zu finden ist, lässt sich mit den im schneereichen Voralpenland traditionell gebräuchlichen schwachgeneigten Dachformen erklären. Wir registrieren hier tatsächlich vermehrt flachgeneigte Walmdächer, die sich folglich nicht mehr so deutlich von ihrer Umgebung absetzen können und daher seltener verwendet werden. Ausnahmen wie das Pfarrhaus am Weißensee bei Füssen sind dennoch zu beobachten. Hinweise zur Erklärung der übrigen Ballungszentren liefert die Berücksichtigung der zerstückelten Landesherrschaften während der unsere Häuser betreffenden Bauphase. Nur der Regierungsbezirk Niederbayern, der größte Teil von Oberbayern und die Oberpfalz gehörten bis Ende des 18. Jahrhunderts zum Kurfürstentum Bayern. Die anderen Teile waren in verschiedenste, teilweise nicht zusammenhängende kleinteilige Besitzungen aufgeteilt. 183 242: Verbreitung der Walmdachpfarrhäuser in Bayern Nehmen wir das Beispiel des Regierungsbezirks Mittelfranken, so gehörte damals sein größter Teil zum zu Preußen zählenden Fürstentum Brandenburg-Ansbach. Beträchtliche Besitzungen hatten die freien Reichsstädte Nürnberg und Rothenburg. Auch Windsheim verfügte als freie Reichsstadt über eigene Ländereien. Mitten im Hoheitsgebiet von Brandenburg-Ansbach lagen zudem Besitzungen des Fürstentums Hohenlohe, des Bistums Eichstätt und einzelner Reichsritterschaften. Dass beinahe ganz Mittelfranken um 1750 evangelisch war und sich hier auch viele der erfassten evangelischen Pfarrhäuser finden, bestätigt unsere These von der konfessionsungebundenen Verwendung der Walmdachpfarrhäuser.247 Auch in Oberfranken – um 1750 etwa zur Hälfte evangelisch – findet sich die Erklärung für diese Konfessionsbindung in der dortigen Lage des Fürstentums Branden- 184 burg-Bayreuth (wie Brandenburg-Ansbach zur fränkischen Linie von Preußen/ Hohenzollern gehörig) und eines Teils des Herzogtums Sachsen-Coburg. Die katholischen Teile Oberfrankens waren im Wesentlichen Besitzungen des Bistums Bamberg. Der Regierungsbezirk Schwaben – als letztes Beispiel – zeigt um 1750 nur kleine evangelische Einsprengsel durch die Besitzungen der freien Reichsstädte Augsburg, Ulm, Kaufbeuren und Nördlingen. Den größten Anteil am katholischen Gebiet hält das Bistum Augsburg. Unter anderem sind aber auch beträchtliche Landesteile im Besitz des Kurfürstentums Bayern, des Fürstentums Pfalz-Neuburg, der Abteien Ottobeuren und Irsee sowie der Grafschaften Öttingen im Norden und Rothenfels im Süden westlich der Iller. Wenn man sich diese Vielfalt an Landesherrschaften vergegenwärtigt, wird klar, dass man den Pfarrhausbau nicht als Ergebnis einer zentral geplanten kirchlichen oder weltlichen Verwaltung auf einem politisch einheitlichen Territorium sehen darf. Einer höheren Pfarrhausdichte begegnen wir eher in Gebieten mit kleinteiligen Strukturen, wo auch zerstückelte, nicht zusammenhängende Teile von derselben Herrschaft verwaltet werden mussten. Wahrscheinlich nötigte gerade diese geographische Erschwernis der Gebietsverwaltung zum Aufbau regionaler Verwaltungsstützpunkte. In manchen geistlichen Territorien kann eine leicht höhere Pfarrhausdichte beobachtet werden, wie zum Beispiel im Bereich der Bistümer Passau und Freising mitten im kurbayerischen Territorium, oder eine hohe Dichte im Bistum Bamberg. Andererseits stechen aber die Bistümer Eichstätt oder Besitzungen der Bistümer Mainz (westliches Unterfranken um Aschaffenburg) und Fulda (nördliches Unterfranken um Hammelburg) mit auffallend wenigen Walmdachpfarrhäusern heraus. Und südlich des Bistums Würzburg (Landkreis Kitzingen) findet sich eine hohe Pfarrhausdichte gerade auf den evangelischen Territorien freier Grafschaften und der brandenburgischen Gebiete. Wie überhaupt die Fürstentümer Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Bayreuth, letzteres mit weit verstreuten Territorien, eine sehr hohe Dichte aufweisen. Die Initiative zum Bau der Walmdachpfarrhäuser erfolgt also unabhängig von weltlichen oder geistlichen Landesherrn. Sie ist auch nicht an die Grenzen einzelner Herrschaftsgebiete mit ursächlichen Traditionen, Einflüssen, Vorbildern oder Bauordnungen gebunden, sondern stellt eine übergreifende, wenngleich regionale Zeiterscheinung dar. Gebietsgewinne, wie die seit 1777 mit Bayern vereinigten Gebiete der Kurpfalz (Rheinland-Pfalz), Pfalz-Neuburg, Pfalz-Sulzbach, Jülich und Berg (letztere in Nordrhein-Westfalen), können zum Ausbau der Verwaltungsstrukturen geführt haben, so wie andererseits die Säkularisation der geistlichen 185 Territorien anlässlich des Reichsdeputationshauptschlusses im Jahre 1803 für Bayern eine Saturierung mit bereits existierenden Pfarrhäusern in den neu hinzugewonnenen Territorien bedeutete. 5. Amtshaus und Walmdach 5.1. Amtshausgattungen Bevor wir weitere geographische, wirtschaftliche und politische Kriterien zur Klärung hinzuziehen, müssen wir verdeutlichen, was die Walmdachpfarrhäuser mit der allgemeinen Verwaltungsthematik zu tun haben. Dabei hilft uns wiederum die Liste der bayerischen Denkmäler. Filtert man sämtliche Gebäude heraus, die mit Walmdächern gebaut wurden, so erhält man auf den ersten Blick ein Kaleidoskop aller nur erdenklichen Nutzungen. Erst wenn man sie zu Sachgruppen ordnet, kristallisiert sich ihr gemeinsamer Nenner heraus. Wir konstatieren Ämter im engeren Sinn (57), Bauten der kommunalen Verwaltung (49), der Jagd- und Forstverwaltung (78), der herrschaftlichen Versorgung (18), der Justiz (21), der Finanzverwaltung ("Fiskus") (118) und des Klerus (17 ohne die bereits zu den Pfarrhäusern gerechneten Bezeichnungen). Bei den Ämtern begegnet man den Bezeichnungen Amtshaus, Amtshof, Oberamtshaus, Amtmannshaus, Beamtenhaus und Amtsknechtshaus. Zur kommunalen Verwaltung rechnen: Gemeindekanzlei, Pflegeamtshaus248, Pfleghaus, Spitalpflegerhaus, Spitalverwaltung, Spitalversorgungshaus, Stadtschreiberhaus, Wegmacherhaus, Fährhaus, Schultheißenhof 249, Verwalterhaus, Gutshaus, Gutsverwaltung, (Ober-)Vogtshaus/Vogtei250, Landsassengut251, (herrschaftlicher) Ansitz, Herrenhaus und Herrensitz. Nicht mitgezählt haben wir die zahlreichen Rathäuser mit Walmdächern, denn oft handelt es sich bei ihnen um Bauten, die erst später zu Rathäusern umfunktioniert wurden. Zu den Bauten der Jagd- und Forstverwaltung zählen: Forsthaus, Forstamt, Forstdienststelle, Försterhaus, Wildmeisterhaus, Jägerhaus, Jagdhaus und Jagdschlösschen252. Zur herrschaftlichen Versorgung rechnen wir: Ökonomie, Meierhof253, Hofmeisterei, Schweizerhaus254, Schlachthof, (Kloster-)Schafhof, Wagnerei, Kutscherhaus, Fohlenhof, Gärtnerhaus, Falknerei, Menagerie255, Kloster- und Schlosswirtschaft und "Taferne". Bauten der Justiz begegnen wir mit: Pfleggericht, Amtsgericht, Richterhaus, Richterstock, Gerichtshalterhaus, Klosterrichterhaus, gutsherrschaftliches Gericht, Gefängnisgebäude und Fronfeste. 186 Der Fiskus tritt direkt in Erscheinung mit: Finanzamt, Rentamt256, Rentamtmannshaus, Zollamt, Zollhaus und Mauthaus257. Weitere Gebäude stehen mit indirekten Steuern und Abgaben in Verbindung: Zehnthof, Kastenamt258, Kastenhof, Kastenhaus, Kastnerhaus, Kornkasten, Brauhaus, Mühle, Weingut, Keller259, Sommerkeller, Fischerhaus, Fischmeisterhaus, Schmalzwaage, Salinenverwaltung, Hallgebäude, Hammerhaus260, Hammerhof, Hammergut, Hammerwerk, Hammerschloss, Hammermühle, Hammerschmiede, Eisenhammer, Eisenamtshaus, Bergmeisterhaus, Bergamt und Brechhaus261. Zu den bereits genannten Bauten des Klerus262 kommen noch hinzu: Schwesternwohnhaus, Hospiz, Chorknabenhaus, klösterliches Waschhaus, Armenhaus und Almosenstiftung. Nicht genau erfasst haben wir die Zahl der Schulhäuser, die ebenfalls häufig Walmdächer haben. Teilweise unterstehen sie der kommunalen Verwaltung. Oft werden sie aber auch von der Kirche bezahlt, stehen unter ihrer Aufsicht und liegen in der Nähe oder sogar auf dem Areal des Kirchhofs. Die Lehrer wurden dann zum Kirchenpersonal gerechnet und von der Kirche versorgt. Sie waren zugleich Messner, Kantor und oft auch Dorfschreiber.263 Während die Jagd- und Forsthäuser teilweise zur Verwaltung und teilweise zur herrschaftlichen Versorgung gezählt werden könnten, haben wir sie ebenso wie die Bauten der Justiz oder des Fiskus separat aufgelistet, um ihre mit einer hohen Zahl einhergehende Sonderfunktion herauszustellen. Aus dem Verwaltungsaufbau und den Zuständigkeiten der damaligen Amtmänner ergibt sich eine weitreichende Überschneidung fiskalischer, juristischer und exekutiver Aufgaben. Wenn wir nun die meisten dieser Nutzungsbezeichnungen unter der Rubrik der Amtshäuser zusammenfassen können, so bleiben doch einzelne Nutzungen – etwa die Schulhäuser – im engeren Sinn des Amtsbegriffs außen vor. Ein gemeinsames Merkmal ist dennoch, dass ihre Funktionen oder die Tätigkeit ihrer Bewohner mit einer hoheitlichen Aufgabe (wie dem Unterrichtswesen), einer herrschaftlichen Erlaubnis (wie der Salzgewinnung und Eisenerzeugung, dem Mahlen und vor allem dem Abwiegen der Feldfrüchte) oder einem Privileg in Verbindung stehen (etwa dem Jagd- und Fischereirecht), also einen offiziellen Anspruch vermitteln. Bei einem Armenhaus, einem Pilgerhospiz oder einem Spital signalisiert das Walmdach, dass es sich um Stiftungen handelt, die von einer offiziellen Seite gefördert werden. Die Stärkung der Wirtschaftskraft im Interesse des Souveräns war auch verbunden mit der Ausbildung eines aufgeklärten Wohlfahrtsstaats. Damit einher ging die Förderung des Kranken-, Wohlfahrts- und Schulwesens und die Ausstattung dieser Einrichtungen mit Sonderrechten. Sonderrechte können Befreiungen sein, konkret von Steuern und Abgaben. 187 243: Armenhaus, Günzhofen (Bayern) 244: Spital, Laupheim (Baden-Württemberg) Damit wäre auch wieder eine Verbindung zum Fiskus hergestellt: Nicht nur Häuser von Personen, die Steuern erlassen, eintreiben oder kontrollieren, können mit dem Walmdach als Hoheitszeichen gekennzeichnet sein, sondern auch Häuser, in denen Naturalabgaben gesammelt werden (Kornkasten, Sommerkeller, Zehnthof), weiterhin Häuser, in denen mit Steuern belegte Waren hergestellt werden, deren Betreiber also das Privileg bzw. die Pflicht haben, Steuern zu erheben (Brauhaus, Gasthaus mit Braurecht, Kelterei, Mühle, Hallgebäude, Fischerhaus, Gebäude der Erzgewinnung und Metallverarbeitung sowie Zoll- und Mauthäuser an Straßen, Flüssen, Landes- oder Stadtgrenzen, womit auch die Walmdächer auf Stadttoren erklärt werden können). 245: Stadttor, Börsch (Elsaß) 246 Stadttor, Angermünde (Brandenburg) 188 Auf Mühlen, Keltereien, Brauhäusern aber auch auf kleinen Backofengebäuden lag zudem ein Bann- und Zwangsrecht, d. h. man durfte nur in diesen Einrichtungen die entsprechende Leistung vornehmen lassen, denn ihre Maße und Gewichte waren amtlich geeicht und wurden regelmäßig überprüft. Auch konnte der Landesherr so die Einnahmen kontrollieren. Wegen der Bedeutung der Grundnahrungsmittel für die Bevölkerung bestand zuweilen auch ein besonderer Rechtsschutz für diese Bauten: Die Landfriedensordnungen zählten die Mühlen zu den befriedeten Orten, was sie vor Gewalteinwirkung in Kriegszeiten schützen sollte.264 Ebenso betroffen sind Häuser von Personen, die besondere Rechte ausüben oder kontrollieren (Vögte, Landsassen, Schultheiße, Richter, Kastner, Förster, Jäger, Schleusenwärter), aber auch Häuser, deren Bewohner per Dekret das Privileg der Steuerfreiheit genießen. Von Steuerzahlungen befreit ist pauschal der Adel (Schlösser, Hofgüter, herrschaftliche Versorgungseinrichtungen) und der Klerus (vom Abtshaus bis zum Klosterwaschhaus)265, aber auch weitgehend die Beamtenschaft und alle Staatsdiener (von den Räten über die Verwalter von Hofgütern bis zu Stadtschreibern und Amtsknechten)266, zuweilen die Juden ("Judenhäuser", Synagogen267), gemeinnützige Einrichtungen (Spitäler, Waisenhäuser etc), das Militär (Kasernen) und militärpflichtige Ritterschaften (Herrenhäuser etc).268 Dabei gibt es viele regionale Sonderfälle und Einzelregelungen. Stadtneugründungen, in denen Bürger angeworben werden sollen, können befristet steuerbefreit sein, wie zum Beispiel Sankt Georgen bei Bayreuth. Auch das Postwesen zählte zu den öffentlichen Diensten und unterlag Privilegien, die sich in den mit Poststation und Pferdehof verbundenen Gasthäusern mit Walmdach widerspiegeln.269 In diesem Zusammenhang wird die Parallelität deutlich, dass der Pfarrer nicht nur eine Person ist, die das Privileg der Steuerfreiheit genießt, die keine sonstigen Abgaben oder Frondienste leisten muss und von der Einquartierung mit Soldaten befreit ist, sondern auch Steuern eintreibt, nämlich die Zehntabgabe. Pfarrhaus oder Speichergebäude auf dem Areal des Pfarrhofes dienen demnach auch als Zwischenlager für diese Naturalabgaben, die zum großen Teil dem Landesherrn zustehen.270 Nun kann es aber nicht das Ziel der Walmdachverwendung gewesen sein, Häuser zu kennzeichnen, deren Bewohner steuerbefreit sind. Dieses Privileg ist nur eines von verschiedenen Indizien für den besonderen rechtlichen Status oder auch nur das soziale Prestige. Bei unserer Forschung begegneten wir allerdings keiner schriftlichen Verfügung, die in einem konkreten Herrschaftsbereich für bestimmte Nutzungen ein Walmdachgebot oder für alle Übrigen ein Walmdachverbot vorgeschrieben hätte. Dabei sind die fürstlichen Bauordnungen in unserer Periode an 189 247: Synagoge, Baisingen (Baden-Württemberg) 248-250: Projekt für Synagoge mit Judenschule, Heiligenstadt (Bayern) 250: Erdgeschoss 251-252: Waisenhaus, Hamm (Westphalen) 252: Erdgeschoss 190 exemplarischen Beispielen gut erforscht.271 So müssen wir von einem unausgesprochenen Konsens in der Baupraxis ausgehen, der sich in seiner Tendenz, jedoch nicht mit ausnahmsloser Eindeutigkeit zeigt. Er schlägt sich auch in den zeitgenössischen Bauhandbüchern nieder.272 5.2. Bürgerliche Beamtenschaft Gelegentlich verzeichnen die Denkmallisten auch noch weitere gewöhnliche Wohnhäuser mit Walmdächern, denen keine besondere Nutzung zugeschrieben werden kann. Wir können für diese Fälle von zwei Erklärungsmöglichkeiten ausgehen: Zum einen kann es sich um Wohnhäuser von ehemaligen Amtsträgern handeln, wie zum Beispiel beim Haus des Bürgermeisters von Bremen, dessen Amtssitz zwar das Rathaus ist, der seinen Status aber auch in seinem Wohnsitz manifestiert. Daraus wird auch deutlich, dass die Dachform kaum in einer Bauordnung reglementiert werden konnte, denn die Erben eines Bürgermeisterwohnhauses konnten natürlich nicht veranlasst werden, das Dach auszuwechseln, wenn der Bewohner nicht mehr die gleiche Amtsfunktion ausübte. So dürften viele heute normal erscheinende Walmdachhäuser auf die Autorität, Funktion und gesellschaftliche Stellung ihres 253: Wohnhaus des Bürgermeisters, Bremen Erbauers hinweisen. Ein Ziel der kostspieligen Verwendung des Walmdachs war demnach die Abgrenzung einer Elite vom übrigen Volk, die sich auch im in dieser 191 Epoche aufkommenden Begriff der "Distinktion" äußert. Interessanterweise beobachten wir bei diesem Erkennungszeichen die Egalisierung der alten und neuen Eliten, nämlich des Adels und Klerus einerseits und des Beamtenapparats andererseits, der sich aus niederem Adel und Bürgern zusammensetzte und die einzige Möglichkeit für das Bürgertum darstellte, in den Amtsadel aufzusteigen.273 Dieser soziale Aufstieg wurde von den Regenten sogar gezielt gefördert – insbesondere in Bayern – , um den Einfluss des konkurrierenden Hochadels zu minimieren und in diesem Sinne auch die absolutistische Herrschaft zu sichern.274 5. 3. Hierarchisierung der Gesellschaft Der zweite Aspekt der normalen Walmdachhäuser ohne besondere Zuordnung liegt in der allmählichen Herausbildung der neuen bürgerlichen Kultur, wie wir sie im ersten Kapitel beschrieben haben. Auch diese Tendenz bestätigt sich in den Bauhandbüchern des späten 18. Jahrhunderts mit ihren Beispielen für Wohn- und Gartenhäuser.275 Der Hintergrund einer Tätigkeit im Öffentlichen Dienst, also einer Anstellung bei Hofe oder bei herrschaftlichen Behörden zeichnete sich bereits bei den Beispielen der Häuser von Rousseau, Goethe, Körner und Wieland ab.276 Der Zusammenhang zwischen den Amtshäusern im engeren Sinne, den Wohnhäusern von Amtsträgern und den rein bürgerlichen Wohnhäusern legt die Vermutung nahe, dass sich diese bürgerliche Gesellschaft primär aus den Kreisen der Beamtenschaft heraus entwickelte. Die historisch-soziologischen Untersuchungen zum Bürgertum, zur Beamtenschaft und zu Verwaltungsstrukturen der frühen Neuzeit bestärken diese Vorstellung weitgehend.277 So zeigt beziehungsweise bestätigt sich anhand unseres Bautyps, dass dieses Bürgertum eng mit dem etablierten Herrschaftssystem und seinem Staatsapparat verbunden ist. Es steht in seinen Diensten, ist von ihm abhängig und wirkt im eigenen Interesse an der weiter differenzierenden Ausgestaltung dieser gesellschaftlichen Gliederung mit. Vergegenwärtigt man sich die formalen Gesichtspunkte des Walmdachhauses, die es von anderen Haustypen absetzt, so kann man feststellen, dass dieses Bürgertum sich deutlich vom Bauernstand und der städtischen Gesellschaft der Handwerkszünfte distanziert, und dafür die Nähe der etablierten Eliten anstrebt. Die Vorstellung einer Emanzipation des Bürgertums ist demnach nicht im Sinne einer Befreiung von den absolutistischen Machtverhältnissen und im Gleichschritt mit egalisierenden oder sogar revolutionären Tendenzen ihrer Zeit zu interpretieren, sondern scheint sich vielmehr in einer verfeinerten Hierarchisierung der Gesellschaft niederzuschlagen. Das Amtsbürgertum richtet sich eine eigene gesellschaftliche Stellung ein, die es vom dritten Stand emporhebt, die es an den Herrschaftsapparat bindet und den etablierten Eliten annähert. Damit erhält das Amtsbürgertum einige Privilegien, die zuvor dem 192 ersten und zweiten Stand vorbehalten waren.278 In gewisser Weise tritt das Amtsbürgertum in Konkurrenz zu Adel und Klerus. Anfänge dieses gesellschaftlichen Prozesses lassen sich bis ins späte Mittelalter zurückverfolgen, doch seinen deutlichen baulichen Niederschlag findet er erst in unserer Periode ab dem Ende des 17. Jahrhunderts. Die repräsentative Verbreitung dieser Amts- und Bürgerhäuser kann als Zeichen für die allmähliche Verwirklichung dieses Prozesses zu einer gesellschaftlichen Realität angesehen werden. 5.4. Modernisierung des Staatswesens Diese gesellschaftliche Veränderung erfolgt zugleich im Interesse der Regenten und vollzieht sich in diesem Zeitraum umso leichter, weil die Regenten den ursprünglichen Gegensatz zwischen Absolutismus und Aufklärung überwinden und in die Symbiose eines aufgeklärten Absolutismus überleiten. Dem Aspekt der Hierarchisierung der Gesellschaft (unter dem wir die nicht eindeutig abgrenzbaren Tendenzen der Differenzierung des dritten Standes einerseits und der Egalisierung der Eliten andererseits zusammenfassen) tritt die erklärte Absicht der Monarchen hinzu, den Staatsapparat zu modernisieren und damit ihre Herrschaft zu sichern. Diese Modernisierung zielte in erster Linie über die Förderung des Merkantilismus sowie die Hebung des Lebensstandards und des Bildungsniveaus der Bevölkerung auf die Steigerung des Steueraufkommens und damit der finanziellen Einnahmen. Diesem Zweck diente der Ausbau der Verwaltungsstrukturen und die personelle Aufstockung der Beamtenschaft, um die Steuern und Abgaben vor dem Hintergrund eines beträchtlichen Bevölkerungswachstums effektiver erheben zu können.279 Selbst der Ausbau der Verkehrs- und Kommunikationswege (Postwesen) verfolgte nicht nur die langfristig angelegte Perspektive, die Infrastruktur zu stärken, sondern auch den Transitverkehr über das eigene Territorium zu leiten und Zolleinnahmen daraus zu erzielen.280 Die Rent-, Maut- und Zollhäuser an Straßen, Brücken und Flüssen dienten diesem Zweck. Zerstückelte Territorien und vielfältige Grenzverläufe machten die Vermehrung der Kontrollstellen notwendig. Überdies profitierte der Staatshaushalt von den Einkünften der Bürger am Speditionswesen, an der Bewirtung der Reisenden, der Versorgung der Pferde und Reparatur der Fuhrwerke etc. Von großer Bedeutung war für Bayern die Kontrolle des Getreide- und Fleischexports, das Produktions- und Handelsmonopol auf Salz und die Förderung der Metallverarbeitung.281 Holz diente nicht nur als zentraler Energieträger. Die Forstwirtschaft verwaltete es als Rohstoffreserve und Finanzquelle.282 Und gerade in diesen Wirtschaftszweigen beobachten wir die Errichtung von Walmdachhäusern für Verarbeitungsbetriebe und Kontrollorgane. Das Walmdachhaus erscheint somit im Kontext merkantilistischer Wirtschaftspolitik. Das allgemeine Bevölkerungswachstum im 18. Jahrhundert 283 ist 193 einer der Anschübe für einen Ausbau der Verwaltung und der Beamtenschaft, so dass die Ausweitung des öffentlichen Dienstes als ein Kennzeichen des absolutistischen Zeitalters zu sehen ist. Rauh 284 gibt für die Zeit von 1749 bis 1799 eine nachweisliche Verdoppelung des Behördenpersonals am bayerischen Hof auf 2200 Personen an, schätzt aber den Zuwachs mitsamt der Unterbehörden auf eine Versechsfachung. Durch die Selbstverwaltung der einzelnen Dienststellen wusste die Staatsleitung allerdings selbst nicht, wieviele Bedienstete die Verwaltung umfasste und wie viel die Außenbeamten der Unterbehörden verdienten bzw. wieviel sie unberechtigt einbehielten. Diverse Reformversuche zur Kontrolle scheiterten an der Verschleppung und Verschleierung durch die Beamtenschaft selbst.285 Der Ausbau dieser Verwaltungsstrukturen kommt wiederum dem Interesse des gebildeten Bürgertums sehr entgegen. Denn im Unterschied zum alten Adel, der die höchsten und damit oft nur repräsentierenden Posten der Verwaltung für sich beanspruchte, durchliefen die Kinder des höheren Amtsbürgertums eine akademische Ausbildung, für die in den tatsächlich ausführenden Ebenen des Beamtenwesens ein standesgemäßes Berufsfeld mit lukrativen Einnahmequellen und teils erblichen Posten bestand.286 Da die Zünfte auf ihren restriktiven Bestimmungen und Besitzständen beharrten und die merkantilistischen Bestrebungen behinderten, wurde der Staatsdienst zu einer der wenigen Alternativen für junge gebildete Bürgerliche und nachgeborene Adelssöhne. Die ökonomische Entwicklung zeigt parallel dazu die Stagnation der alten Handels- und Gewerbestädte und die Prosperität der teils neu angelegten Residenzstädte.287 Somit erscheint der im 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung in vielen Ländern erfolgte Modernisierungs- und Liberalisierungsschub als ein vom Staat beziehungsweise dem Fürsten eingeleiteter Impuls, an dem das Bürgertum wenig initiative Beteiligung hatte. Gleichwohl profitierte das Amtsbürgertum erheblich davon und trug die Entwicklung als reaktive Kraft mit. Nachdem die ersten komfortablen und ansehenssteigernden Amtshäuser aufgetaucht waren, dürfte sich ein Dominoeffekt eingestellt haben: Die Amtmänner werden wie die klerikalen Zehntherren288 im eigenen Interesse für moderne Neubauten aktiv geworden sein. Möglicherweise sind diese baulichen Zeugnisse im heutigen Bayern ein Zeichen für einen sorfältig vorangetriebenen und auf langfristige Ergebnisse zielenden Reformprozess, der mit beträchtlichen Investitionen in die Infrastruktur einherging. Allerdings kamen nach den Territorialneuordnungen von 1803 und 1815 die Erlöse gar nicht mehr denjenigen Regenten und Landesherren zugute, die die Reform initiiert hatten. Der bürgerlichen Beamtenschaft wurde eine wesentliche Rolle bei der Vollendung des absolutistischen Staates zugesprochen289: Anstelle der alten feudalen 194 Anarchie habe sie zu einem einheitlichen Untertanenverband mit wirtschaftlicher Kraft im Dienste des Staates beigetragen und der Zentralgewalt zu einer Stärkung gegen die provinziellen und ständischen Kräfte verholfen. Der sich etwa ab 1740 etablierende aufgeklärte Absolutismus habe im Interesse einer höheren Effizienz der Verwaltung, die Bürokratie als technisches Machtmittel ausgebaut. Die reformfähigen Monarchien seien dadurch gefestigt gewesen und hätten im Gegensatz zur reformunfähigen französischen Monarchie keine Revolution erleiden müssen. Die Walmdachamtshäuser könnten folglich nicht nur einen Modernitätsaspekt verkörpern, sondern aus der Beteiligung an der absolutistischen Systemsicherung heraus für die Landbevölkerung auch ein subtiles Unterdrückungssymbol an Stelle der früheren Feudalburgen dargestellt haben. Ob sie im Rückblick auch die Bedeutungsebene einer Antirevolutionsarchitektur berühren, lässt sich nicht verallgemeinern. Denn in Preußen und Österreich, die hinsichtlich Verwaltungsreformen als sehr fortschrittlich gelten, findet sich keine so auffällige bauliche Darstellung beziehungsweise Selbstdarstellung der Beamtenschaft wie in anderen Ländern. Während zum Beispiel Preußen die unmittelbaren Einnahmen für Militär und Kriegführung verwendete, kommen für Frankreich mehrere Faktoren für die Inexistenz vergleichbarer hoheitlicher Amtshäuser in Frage. Zum einen lagen auch hier Schwerpunkte der Staatsausgaben auf dem Militär, insbesondere Festungs-, Kasernen- und Flottenbau. Zum anderen wurden die Rechte zur Steuereinnahme und Amtsausübung an den Adel verkauft, was sich in einer ungleich größeren Zahl von Schlössern und Herrenhäusern als Amtssitzen niederschlägt. Darüber hinaus sind Luxuskonsum, Misswirtschaft und Korruption im Ancien Régime Legende.290 Auch Sachsen werden chaotische Verhältnisse und inkonsequente Wirtschaftspolitik attestiert.291 Dort finden sich tatsächlich kaum vergleichbare Amts- und Pfarrhäuser. Dafür sind auf für den Hof angefertigten Landschaftsveduten auffällige Garten- und Weinberghäuser mit Walmdächern dargestellt. Sie dienten der Beaufsichtigung der Weinberge, doch auch für festliche Gelegenheiten, wie das "Berg- und Lusthaus Hoflößnitz", das vom Kurfürst als Wohnsitz während der Weinlese genutzt wurde, und markieren dekorativ die Aussichtspunkte der malerischen Landschaft im Umfeld der Residenzstadt Dresden.292 Ein vergleichbarer gleichermaßen dekorativer wie repräsentativer Einsatz von Walmdachhäusern ist uns aus der Hofkunst anderer Residenzen nicht bekannt. Das Fehlen von Walmdachamtshäusern in Württemberg lässt sich mit der dortigen außergewöhnlich starken Stellung der Landschaft und der daraus resultierenden Opposition dieser Ständevertretung mit dem Herzog erklären. Hier wurde die Erhöhung finanzieller Belastungen und damit der Ausbau einer effektiven Finanzver- 195 waltung erfolgreich behindert.293 Bei allen fiskalischen, ordnungspolitischen und folglich machtsichernden Partikularinteressen der Landesherren bleiben dennoch Aspekte des Allgemeinwohls bei diesen Baumaßnahmen unverkennbar: "Der aufgeklärte Absolutismus trieb bereits Innenpolitik auf den Gebieten der Wirtschaft, der Landwirtschaft, der Polizei im weitesten Sinne, des Gesundheitswesens sowie des Schul- und Bildungswesens, nicht nur im Interesse des Dynasten und seines Hauses, sondern auch im Interesse des «bien être du plus grand nombre». [...] Ohne die Verstärkung der Zentralgewalt gegenüber den provinziellen und ständischen Kräften wären weder die Reformen des aufgeklärten Absolutismus noch die späteren der deutschen Reformzeit möglich gewesen."294 5.5. Prestige der Fürsten Ein weiterer Aspekt der Baumotivation der Fürsten liegt in der Absicht, das Ideal der stringenten gesellschaftlichen Ordnung in einer ästhetischen Ordentlichkeit und annähernden Einheitlichkeit des Erscheinungsbildes der staatlichen Institutionen zu visualisieren. Forderungen nach Regelmäßigkeit, Ebenmaß, Symmetrie, wohlgereimte Verhältnisse der einzelnen Teile und Einklang mit dem Ganzen durchziehen das Bauschrifttum des 18. Jahrhunderts.295 Doch mit dem Bau der Residenzstädte ist auch eine entsprechende Suggestion der Untertanen und eine Beeindruckung befreundeter oder konkurrierender Herrscher beabsichtigt. So wollen manche Fürsten mit dem ordentlichen, einheitlichen Erscheinungsbild der Institutionen ihres Staatswesens ihr Ansehen steigern. Sie suchen ihr Prestige in einer corporate identity ante letteram. Charakteristische ästhetische Vorlieben des Barock sind die Breitenlagerung der Baukörper und die Horizontalität der Gliederungselemente. Sie finden ihren Niederschlag in der Vorliebe der Traufenständigkeit, die in der sogenannten Firstschwenkung weitreichende Konsequenzen für den Städtebau hatte. So wurden selbst alte giebelständige Stadthäuser bei passender baulicher und finanzieller Gelegenheit mit neuen traufenständigen Dächern versehen, die sich zu gemeinsamen Dachflächen mit ihren Nachbargebäuden vereinheitlichen sollten. Gerade das Walmdach entspricht dieser Vorliebe für die Horizontale durch seine ringsum laufende Traufe, die durch Ausgestaltung eines Gesimses noch betont werden kann. Allerdings lassen sich diese ästhetischen Kategorien nicht in schriftlichen Quellen nachweisen, obwohl detaillierte Untersuchungen zu Bauverordnungen des 18. und 19. Jahrhunderts vorliegen, nämlich in Kurhessen, dem Hochstift Speyer, dem hohenzollerschen Franken und mit Schwerpunkt auf süddeutsche Residenzstädte, also auch zu Gebieten, die 196 wir als Walmdachschwerpunkte erkannt haben.296 Die Baugesetzgebung des 18. Jahrhunderts beschäftigt sich primär mit den Erfordernissen der Feuersicherheit. So zieht ein Verbot von Stroh- und Schindeldächern zugunsten von Ziegel- und Schieferdächern die Propagierung stabilerer Dachkonstruktionen nach sich, die diese schwereren Dachdeckungen überhaupt tragen können. Die Vorschrift für liegende Dachstühle hat das Verschwinden alter Rofenwalmdächer zur Folge. Die Ableitung der Dachlasten auf die Außenmauern bei liegenden Dachstühlen macht wiederum stabile, vorzugsweise massiv gemauerte Wände notwendig.297 Das Verhindern von Feuersbrünsten verfolgt dabei auch nicht nur humanitäre Ziele, sondern soll den Holzverbrauch durch regelmäßig notwendige Wiederaufbaumaßnahmen eindämmen und die langen Steuerausfälle bei darniederliegenden Dörfern und Städten verhindern. So erklären sich auch Massivbaugebote, Steuererleichterungen und Bauholzreglementierungen.298 Holzzuteilungen erfolgten zuweilen nur, wenn zumindest das Erdgeschoss in Stein und nur das Obergeschoss in Fachwerk errichtet wurde.299 Dass der Markgraf von Bayreuth Schindeldächer verbot, weil er sie hässlich fand, durfte laut Anweisung nicht als Begründung angegeben werden. Die Feuersicherheit war hier ein vorgeschobenes Argument.300 Auch wurde die These erhoben, dass die Feuersicherheit als Argument übertrieben wurde, um die wirtschaftlichen Ziele der Obrigkeit durchzusetzen, denn die Manufakturen, Salinen, Berg- und Hüttenwerke hatten einen solchen Holzbedarf, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine regelrechte Energiekrise entstand.301 Die hoheitlichen Bauten hatten natürlich Vorbildcharakter, so dass die Fürsten bei ihren eigenen Bauten, also gerade auch den Amtshäusern mit ihrer Breitenwirkung auf dem Land vorausgingen. Die Hofarchitekten und offiziellen Landbaumeister sorgten für die Umsetzung der Direktiven und prüften andere Bauvorhaben. So forderten die Bauämter auch herrschaftliche Bauherren auf, ihre Bauten massiv zu errichten.302 Gebäude an Hauptstraßen, wichtigen Plätzen und von dort aus sichtbaren Stellen mussten den Fürsten zur Genehmigung vorgelegt werden.303 Gleiches galt vereinzelt für die Bauten der Kirche und des Landadels.304 Dabei kann jedoch keine Reglementierung bestimmter Haustypen nachgewiesen werden.305 Die verfassten Baurichtlinien galten zudem nur für Bauernhäuser und einfachste Alltagsarchitektur, nicht für herrschaftliche Bauten, die wie gesagt dem direkten Einfluss der Fürsten oder ihrer Baubevollmächtigten unterlagen. So erklärt sich, dass sich die Verbreitung unseres Bautyps nicht über schriftliche Anordnungen nachverfolgen lässt. Vielmehr ist von einer mündlichen Überlieferung und der Weiterreichung von Modell- oder Referenzentwürfen auszugehen. 197 Trotz dieses Bestrebens nach Einheitlichkeit, wiederkehrender und wiedererkennbarer Ordnung offenbart sich eine zentrale Eigenschaft unseres Bautyps: Die Häuser sind zwar alle ähnlich, aber nie genau gleich. Es lässt sich kein exaktes Duplikat beobachten, keine präzise zweite oder mehrfache Realisierung eines vorgegebenen Bauplans. Die Anpassung an Ort und Lage, die Berücksichtigung von lokalem Material und Raumprogramm, sowie die Freiheiten und Vorlieben der Architekten und Handwerker machen jeden Bau zu einem individuellen Werk. Wie bei den weltlichen Bauherren werden die Bauaktivitäten der Kirche aus der gleichen Motivation heraus erfolgt sein, nämlich über die komfortablen Pfarrhäuser mit ihren Nebengebäuden effiziente Wirtschaftsorganismen zu schaffen. Diese sollten dadurch einerseits befähigt sein, sich angemessen selbst zu versorgen, und andererseits im Interesse der Zehntherren gewährleisten, dass die vielfältigen Naturalabgaben und Einnahmen in ihrem weitläufigen ländlichen Einzugsgebiet effizienter gesammelt und weitergeleitet wurden. Die seit dem Mittelalter durch rationelle Wirtschaftsführung überlegenen Klöster könnten hierzu eine Vorbildrolle ausgeübt haben. Obwohl die weltlichen Amtshäuser zahlenmäßig in keinem Verhältnis zu den Pfarrhäusern als geistlichen Amtshäusern stehen, kann keine Aussage über eine Vorreiterrolle der weltlichen Fürsten oder der Kirchenfürsten gemacht werden. Dennoch bleibt die Modernität dieser Pfarrhäuser als einzelne Funktionsbauten ebenso wie als Teil eines komplexen Verwaltungsorganismus für ihre Zeit eindeutig feststellbar. 5.6. Pfarrer als Amtmänner Der Zusammenhang zwischen Amtshäusern und Pfarrhäusern besteht nicht nur auf einer mehr oder weniger zufälligen formalen Ebene des äußeren Erscheinungsbildes, sondern ist auch organisatorisch begründet. So erklärt Brandmüller306 zumindest für die kurbayerische Verwaltung das Interesse an funktionierenden Pfarreien, denn ihre eigene Organisation war, wie beschrieben, nicht flächendeckend. Sie förderte die Ordnungsmaßnahmen des niederen Kirchenwesens und bediente sich zur Durchsetzung vieler staatlicher Anliegen der Pfarreiorganisation. "Weil die Landgerichte von zahlreichen Immunitätsbezirken unterbrochen waren, sollten die Pfarrer herangezogen werden. Die Pfarrer sind von den landesherrlichen Behörden wie Verwaltungsorgane betrachtet worden und deswegen in der Mandatsgesetzgebung sehr präsent."307 So sehr ein Vergleich zwischen den Verhältnissen im überwiegend katholisch geprägten Bayern und dem protestantischen Schweizer Kanton Zürich unter Vorbehalt stehen muss, so können die Ausführungen von Gugerli doch Hinweise auf allgemeine Gepflogenheiten geben. Die amtlichen Aufgabenbereiche der Pfarrer dürften innerhalb der Schweiz, die auch im 18. Jahr- 198 hundert zahlreiche katholische Kantone aufwies, nicht allzu sehr differiert haben und können daher auch für Deutschland Anhaltspunkte liefern. Gugerli schreibt: "Selbst im normalen Gottesdienst waren Staat und Kirche sichtbar verknüpft. Die Kanzel diente nicht nur der Verkündung und Erläuterung christlicher Glaubensinhalte, sondern war auch ein wichtiges Informations- und Propagandainstrument der Obrigkeit. Ihre Funktion bestand nicht zuletzt in der Vermittlung und Durchsetzung obrigkeitlicher Normen. [...] Ehe-, Sitten-, Kleider-, Weide-, Holzfrevel-, Feuerungs-, Münz-, Handels-, Seuchen-, Militär- und andere Mandate wurden von den Pfarrern von der Kanzel verlesen. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung im Gottesdienst gerügt. Übeltäter wurden unter die Kanzel gesetzt und mussten eine Strafpredigt vor versammelter Gemeinde über sich ergehen lassen. [...] Für Erlasse der Regierung bestand Vorlesungspflicht, genau wie für die vom Staat aufgesetzten kirchlichen Ordnungen. Die Ambivalenz pfarrherrlicher Amtspflichten im staatskirchlichen Sozialgefüge entsprach der doppelten Ausrichtung des Wächteramtes, einerseits als polizeilicher Aufsichtsdienst und kirchliche Sittenkontrolle, andererseits aber auch als Wächter über den Staat, über seine Funktionäre auf der Landschaft und in der Stadt. Der Pfarrer des Alten Zürich war keineswegs fern jeder Politik, wie dies Greiffenhagen für Deutschland behauptet."308 Der Vorbildanspruch des Pfarrhaushalts bezog sich nicht nur auf seine moralische Instanz, die den Priestern nahelegte, ihr ganzes Leben und Umfeld danach auszurichten, "daß sie in Kleidung, Benehmen, Rede und in allem nur Würde, Sittsamkeit und Gottesfurcht zur Schau tragen. Auch kleine Sünden, die an ihnen groß seien, sollen sie meiden, damit ihr Tun allen Achtung einflöße."309 Der Pfarrer, sein Haushalt und das Pfarrgut wurden auch gezielt von der Obrigkeit benutzt, um neue Techniken, Anbaumethoden und Pflanzen in der Bevölkerung zu verbreiten. So wurden Pastoren in Preußen zur Pflanzung von Obst- und Maulbeerbäumen angehalten. In anderen Regionen führten die Pfarrhäuser Aborte, später Wasserklosetts, Blitzableiter, Drei-Felder-Wirtschaft, Kartoffeln, Klee und Mais in den ländlichen Alltag ein.310 Die Pfarrhäuser der Zürcher Landschaft hatten nicht nur einen durch Ratserlasse betriebenen Vorbildcharakter zur Verbreitung moderner Bautechniken wie der Fachwerkkonstruktion und des liegenden Dachstuhls. Besonders die mindestens 40 neu erbauten Pfarrhäuser des 18. Jahrhunderts wurden als modern, städtisch und bürgerlich interpretiert. Das Pfarrhaus fungierte dort auch als Trendsetter bürgerlicher Familienkultur mit getrennten Schlafzimmern für Eltern, Kinder und Gesinde oder der Anzahl an beheizten Stuben. Da die Zürcher Pfarrfamilien sich aus dem städtischen Bürgertum rekrutierten, wo das Pfarramt der standesgemäßen Versor- 199 gung von Söhnen hoher Magistraten diente, sind sie – laut Gugerli – Interessenvertreter der Obrigkeit auf dem Land gewesen und hätten als Prominenz im Dorf systematisch symbolisch fixierte Selbstdarstellungsmodi verwendet. So habe sich die soziale Distinktion innerhalb einer sich verbürgerlichenden Gesellschaft zementiert. Nicht zuletzt durch die Hauslehrertätigkeit zur Überbrückung der Wartezeit auf eine Pfarrstelle seien die Werte und Normen des protestantischen pfarrherrlichen Milieus an Oberschichtkinder vermittelt worden und haben damit zur Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit beigetragen.311 Der Pfarrer ist also nicht nur in manchen Aufgaben und Tätigkeiten in die Rolle eines Amtmanns eingebunden worden, vielmehr wurde dem Pfarrhaus in der Kombination mit dem sich absetzenden Walmdach auch ein Bedeutungsgehalt gegeben, der es mit den Amtshäusern gleichsetzte. Mit der Ordnung ausstrahlenden Regelmäßigkeit des Aufrisses und der Auffälligkeit des Walmdachs bewegt sich das Pfarrhaus auf der gleichen distinktiven Ebene wie die entsprechenden Forsthäuser oder Rentämter und fällt mit ihnen unter den Oberbegriff der Amtshäuser. Gerade in der fünfachsigen Standardvariante sind viele Rentämter, Pfarr-, Forst- und Rathäuser nicht voneinander zu unterscheiden. Größere Ämter der Zentralverwaltungen treten dagegen in größeren Dimensionen mit mehr Fensterachsen und gelegentlich drei Stockwerken in Erscheinung. Dass neben den Pfarrhäusern auch Abtshäuser, Prälaturen, Priorate, Propsteien, Kanonikerhäuser usw. nach dem gleichen Baumuster beziehungsweise auch in den größeren Dimensionen einer Zentralverwaltung errichtet wurden, kann als Folgeerscheinung der klerikalen Verwaltungsintensivierung gesehen werden.312 Die Domherren, Kanoniker, Äbte und Äbtissinnen, die in alten Klosteranlagen und Domkapitelhäusern untergebracht waren, entwickelten ebenfalls ein Verlangen nach solch komfortablen Wohnhäusern mit modernen Grundrissen und Installationen, wie sie den Landpfarrern auf der untersten Hierarchieebene zuteil wurden. Indem sich diese Vorsteher der Abteien und Mitglieder der Domkapitel nun von ihren Mitbrüdern und Mitschwestern in separaten Bauten räumlich distanzierten und statusmäßig distinguierten, können diese Walmdachhäuser als Anzeichen für eine zusätzliche Hierarchisierung der Gesellschaft, nämlich innerhalb des Klerus, gesehen werden. Selbst wo die oft hochadeligen Äbte, Äbtissinnen und Prälaten bereits in früheren Jahrhunderten besser untergebracht gewesen waren als die gewöhnlichen Mönche und Ordensschwestern, tritt die Distinktion nun unübersehbar in Erscheinung. 200 6. Pfarrhausverbreitung in Europa Analysiert man die Verbreitung der Pfarrhäuser mit Walmdach in weiteren Gebieten, so muss man berücksichtigen, dass die Funde nicht wie im Falle Bayerns auf einer gleichmäßigen Erfassung eines Denkmalbestandes beruhen. Die Erfassung nach der "Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland" deckt nur verhältnismäßig wenig Landkreise ab.313 Ältere Denkmalreihen beachteten diese Gebäude nur in Einzelfällen, so dass zusammen mit der Literatur über einzelne Baumeister und regionale baugeschichtliche Darstellungen sowie über zufällige Abbildungen in touristischer Literatur und persönliche Erkundungen nur ein lückenhaftes Bild gezeichnet werden kann. Dennoch können einzelne Schwerpunkte der Verbreitung und der Nichtverbreitung mit Sicherheit benannt werden. Folgende deutliche Schwerpunkte zeichnen sich ab: allgemein Süddeutschland, neben Bayern die Region Oberschwaben südlich der Donau und der Bodenseeraum. Weiterhin die Oberrheinische Tiefebene: ab der Burgundischen Pforte im Süden, rechtsrheinisch die badischen Gebiete vom Breisgau bis zum Kraichgau (östlich bis in den Raum Pforzheim), linksrheinisch das französische Elsass (vom Sundgau bis weit in die Vogesen) – dort allein 114 Häuser314 – und die Pfalz (westlich bis zu den Ausläufern des Hunsrück). Eine lockerere Verbreitung finden wir in der Region Hohenlohe zwischen Odenwald und Ries. Ebenso in Mitteldeutschland vom Raum Frankfurt/Darmstadt bis zur Wetterau als nördlichstem Fortsatz der Oberrheinischen Tiefebene sowie im Raum Köln und dem Bergischen Land. Einzelne Gruppierungen fanden sich in den Gegenden um Göttingen und Braunschweig. Darüber hinaus können wir in jedem Bundesland einzelne Funde nachweisen. So gut wie keine Pfarr-häuser mit Walmdach finden sich auf dem Gebiet des Herzogtums Württemberg (Altwürttemberg bis 1803), im großteils erfassten Westfalen mit Sauerland und Münsterland, in Brandenburg-Preußen und in den von der "Denkmaltopographie" erfassten Landkreisen von Niedersachsen mit der Lüneburger Heide, die ungefähr mit dem ehemals zu Hannover gehörenden Herzogtum Lüneburg übereinstimmen. Im europäischen Ausland konnten wir Häufungen im heute in Polen liegenden Schlesien nachweisen (37 Häuser)315, in der Schweiz in den Kantonen Bern und Waadt (71 Häuser)316, in Frankreich in der Normandie (22 Häuser)317 und der Bretagne (28 Häuser)318 sowie in Belgien in den Regionen Brabant, Hainaut und Namur (14 Häuser)319 .Vereinzelte Beispiele fanden sich in verschiedenen Regionen der Niederlande320, in Frankreich in der Auvergne, in Burgund und an der Loire, in England in den Grafschaften Hampshire, Gloucestershire und Staffordshire321, in wieteren Schweizer Kantonen322, in Österreich in Kärnten, in Slowenien323, in Tschechien324, in Rumänien in Siebenbürgen325 sowie auf den französischen Inseln 201 254: Verbreitung der Walmdachpfarrhäuser in Deutschland und den Nachbargebieten (unvollständiger Forschungsstand) 202 Martinique in der Karibik und Réunion im Indischen Ozean.326 Insgesamt kommen wir auf eine beweiskräftige Anzahl von über 1300 Walmdachpfarrhäusern. Angesichts dieses länderübergreifenden Phänomens eines Bautyps für diese bestimmte Nutzung drängt sich verstärkt die Frage nach dem Ursprung und dem Verbreitungsweg des Bauplans auf. Doch können wir keinen Architektennamen, keinen Kirchenfürsten als Auftraggeber, keinen Bauort und keine Jahreszahl zur Identifizierung des Initialbaus nennen, den andere kopiert haben könnten. Auch kein Autor eines bestimmten überallhin verbreiteten Architekturbuchs lässt sich präzisieren, der diesen Hausentwurf mit der Pfarrhauseignung in Verbindung gebracht haben könnte.327 Tatsache ist, dass die regionalen Bauweisen in den verschiedenen Ländern auf dieses Baumuster übertragen wurden. So findet sich die in der Normandie typische Fachwerkbauweise mit diagonaler Zimmerung im Unterschied zum alemannischen Fachwerk, wie wir es im Elsass finden, oder der wieder anderen Fachwerkbauweise der nordöstlichen Regionen mit orthogonaler Struktur von Holstein über Brandenburg bis Schlesien. Ebenso wurde der Bautyp in Ziegelmauerwerk mit hohen Fenstern in den Niederlanden und Großbritannien ausgeführt, wie er verputzt in Bruchoder Haustein in anderen Gebieten anzutreffen ist. Proportionsvorlieben oder Dachüberstände zeigen die regional üblichen Variationen, wie wir sie in Kapitel 1 bereits angesprochen haben. 7. Lebensbedingungen und Einkommensverhältnisse der Pfarrer In wenigen Einzelfällen wurden die Abläufe konkreter Bauvorhaben anhand schriftlicher Unterlagen aufgearbeitet und die Anteile des Pfarrers, des Zehntherrn und des Architekten oder Bauunternehmers an der Planung, Gestaltung und Finanzierung beschrieben. Daraus und aus den wenigen Falluntersuchungen über die Lebensbedingungen, insbesondere die Einkommensverhältnisse der Pfarrer geht hervor, dass die Parameter in kleinsten regionalen Rahmen, ja sogar von Pfarrei zu Pfarrei so unterschiedlich waren, dass keine verallgemeinerbaren Schlüsse gezogen werden können.328 Leider existiert keine Untersuchung über den Alltag katholischer Pfarrer in einem der Gebiete, die uns aufgrund der verbreiteten Uniformität der Pfarrhäuser verallgemeinerbare Lebensbedingungen vermuten lassen können, wie zum Beispiel in Bayern329, Baden oder in der Pfalz. Falluntersuchungen liegen ausgerechnet über die protestantische Pfarrerschaft in Regionen vor, die unseren Pfarrhaustyp nicht übernommen haben, wie dem pietistischen Württemberg330, Westfalen331 oder 203 255: Pfarrhaus, Hundsbach (Elsaß) 257: Pfarrhaus, Villers-sur-Mer (Normandie) 256: Pfarrhaus, Ramstall Ridware ( Staffordshire) 258 Pfarrhaus, Ploëzal (Bretagne) 259: Benefiziatenhaus, Bad Wimpfen im Tal (Baden-Württemberg) 260: Pfarrhaus, Münsingen (Schweiz) Niedersachsen332. Die Verhältnisse im Elsass333 und der Schweiz334 unterliegen jeweils ganz eigenen Bedingungen, so dass wir nur ein paar exemplarische Beispiele aufgreifen können. 204 7.1. Schweiz Eine Darstellung über Berner Pfarrhäuser führt uns anhand dieses protestantischen Schweizer Kantons in die Besonderheit des evangelischen Pfarrerstands, der eine Familie unterhält. Diese Pfarrhäuser hatten für Frau, Kinder und gegebenenfalls sogar Elternteile einen größeren Raumbedarf als die katholischen Pfarrhaushalte, unterscheiden sich jedoch in der baulichen Ausführung nicht. Allerdings kann man in der Schweiz häufiger dreigeschossige Pfarrhäuser beobachten. Wie für die Schweiz, so wird auch für Württemberg berichtet, dass neben Knechten und Mägden auch ein Vikar im Haus untergebracht ist.335 Betont wird die gesellschaftliche Stellung der akademisch gebildeten und in der Regel dem städtischen Patriziat entstammenden Pfarrer, die ihre Ehefrauen auch aus diesen Kreisen mit ihrem Anspruch auf größere Bequemlichkeit und standesgemäße Repräsentation auf das Land mitbrachten. Emil Bloesch schreibt in seiner Geschichte der schweizerischen reformierten Kirchen: "Das Bestreben der Obrigkeit ging dahin, ganz dem Wesen der Staatskirche entsprechend, die Autorität der kirchlichen Beamten auch durch ihre äußere gesellschaftliche Stellung zu erhöhen, sie durchaus als Vertreter höherer Gewalt dem Volke gegenüber, als Organe der Staatshoheit und des Staatszweckes, als Respektspersonen betrachten zu lassen".336 Obwohl Bloesch diese Charakterisierung für das 16. Jahrhundert formuliert, kann die Tendenz zur Autorität und Hoheitlichkeit der Pfarrhäuser auch für die folgenden Jahrhunderte Gültigkeit beanspruchen. Das eine zentralistische herrschaftliche Repräsentationsabsicht voraussetzende "Wesen einer Staatskirche" kann jedoch nur noch auf Länder übertragen werden, die – wie die Schweiz unmittelbar nach der Reformation – eine Konfession als mit dem regierenden Fürstenhaus verbundene Staatsreligion praktizieren. Neben den geistlichen Fürstentümern der mächtigen Bischofssitze trifft dies insbesondere für das Kurfürstentum Bayern337 und die Königreiche Österreich und Frankreich zu.338 Bedeutsam für das Raumprogramm eines Pfarrhofs ist die Art der Einkünfte der Pfarrer. Sie bestanden für das Beispiel des Kantons Bern nur zu einem geringen Teil aus Bargeld. Ein wesentlicher Teil wurde über die Bewirtschaftung des zur Pfarrei gehörenden Pfrundguts bestritten, also der Gärten, Felder, Wiesen, Obstwiesen und gegebenenfalls Waldstücke, die der Pfarrer wie eine Art Herrenbauer auf eigene Kosten möglichst geschickt zu bewirtschaften hatte. Weiterhin bezog er Zehntabgaben von den Höfen des ihm zugewiesenen Bezirks in Form von Naturalabgaben aus der Land- und Viehwirtschaft. Das Pfrundgut gehörte einem oder mehren geistlichen oder weltlichen Grundherren, den sogenannten Zehntherren oder Kollatoren, die das Kollaturrecht ausübten, das heißt den Pfarrer ernannten, den größten Teil der Zehntabgaben von den Bauern einnahmen und im Gegenzug für den baulichen Unterhalt 205 der Kirche und des Pfarrhauses zuständig waren.339 So gehörte zum Pfarrhof " [...] fast überall eine geräumige Scheune, meist mit angebauten Stallungen und ein Speicher oder Ofenhaus [...] Es ist selbstverständlich, dass ein solcher Pfarrer-Gutsbesitzer Hilfskräfte für seine Landwirtschaft benötigte, besonders dann, wenn er sich auch etwa eine Kuh oder ein Pferd hielt, welches ihn auf seinen seelsorgerischen Gängen über Land trug. Deshalb wiesen einige Pfarrscheuern auch noch eingebaute Knechtkammern auf [...]".340 Allerdings ist die Ausstattung der Pfarreien je nach Umfang des Pfrundguts und der Zehnteinahmen – abhängig von Größe und Wohlstand der Gemeinde – sehr unterschiedlich. Ein breites Spektrum reicht von reichen bis ärmlichen Pfarreien, regelrechten Strafpfarreien. Zum wirtschaftlichen Tätigkeitsumfang zitiert Lerber eine Quelle, wonach ein Pfarrer als "Geistlicher, Bauer und Händler mit landwirtschaftlichen Produkten"341 bezeichnet wird. Bei einem Pfarrhaus mit Pfrundeinkommen aus Reben wird ein Kelterraum im Keller vermerkt und die Berechtigung des Pfarrers, im Keller das Produkt seiner Pfrundreben auszuschenken.342 Auch für den protestantischen Kanton Zürich berichtet Gugerli von Pfarrern mit Wein- oder Viehhandel, die Kostgänger aufnahmen, Spekulationsgeschäften nachgingen und sich sogar als Kreditgeber und -vermittler betätigten.343 Hinsichtlich der Sitte, im Pfarrhaus Reisende zu beherbergen schreibt Lerber: "Aber nach und nach riss leider in manchen Dörfern die Unsitte ein, dass die Pfarrer zu Wirten wurden. Aus dem gemeinnützigen Tun wurde so ein einträgliches Geschäft. Deshalb wurde den Geistlichen schon vor der Reformation, dann besonders nachher, das Wirten verboten, was aber nicht überall durchschlagenden Erfolg hatte. [...] Im 18. Jahrhundert , als das Bereisen unserer Schweizer Berge Mode wurde, stellten sich mitunter auch vornehme oder sonstwie bedeutende Ausländer in den Pfarrhäusern ein. So findet sich in einem alten Zivilstandsrodel von Abläntschen z. B. die Notiz, das Pfarrhaus habe im Jahre 1752 den hohen Besuch des Engelländischen Lord de Sacville, Sohn des berühmten Duc d'Orset, des damaligen Vicekönigs von Irland erhalten. Das Pfarrhaus von Lauterbrunnen darf sich dagegen rühmen, einem König aus dem Reiche des Geistes Unterkunft gewährt zu haben, nämlich Goethe auf seiner Schweizer Reise mit Herzog Carl August von Sachsen-Weimar."344 Auch aus Westfalen wird berichtet, dass König Friedrich Wilhelm III. von Preußen 1821 im Pfarrhaus von Dinker übernachtete.345 Lerber erwähnt eine für die weitere politische Entwicklung einschneidende Veränderung der Lebensverhältnisse der Schweizer Pfarrer und der Besitzverhältnisse der Pfarrhäuser, die sich eigentlich auf die Baupraxis hätten auswirken müssen: 206 "Mit der Revolution und ihren Auswirkungen auch für unser Land fielen die Zehnten dahin; aber in vielen Gemeinden bestand die Pfarrbesoldung zum größten Teil aus Zehnten. Durch ihren Wegfall geriet manche Pfarrfamilie, die aus dem Ertrag eines kleinen Pfrundgutes nicht leben konnte, in bittere Not. [...] 1804 wurde dann die Finanzfrage neu geordnet. Jetzt zog der Staat die Kirchengüter zur Hauptsache an sich, um sie als Treuhänder zu verwalten und die Pfarrbesoldung zu übernehmen wie bisher den Unterhalt der Pfarrhäuser und des Kirchenchores. Bei dieser Gelegenheit sind die Besoldungen ausgeglichen worden. In einer Reihe von Gemeinden übergab der Staat das Pfarrhaus und das Chor der Gemeinde gegen eine Abfindungssumme."346 7.2. Bayern Für die katholischen Pfarrer in Bayern stellt sich eine vergleichbare Einkommenssituation dar, bestehend aus dem Widdum genannten Pfrundgut, das "bisweilen verpachtet, in der Mehrzahl der Fälle aber wohl in eigener Regie bewirtschaftet wurde."347 Weiterhin waren sie "Nutznießer des ganzen oder doch eines Teils des dörflichen Zehnts". Darüber hinaus nahmen die Pfarrer Gebühren von den Gemeindemitgliedern für jede über die kanonisierten kirchlichen Feiern hinausgehende liturgische Verrichtung wie Taufen, Trauungen, letzte Ölungen, Aussegnungen, Sondergottesdienste usw. Sie erhielten persönlich die gespendeten Opfergelder von Hochzeiten, Leichenfeiern und bestimmten Festtagen sowie Naturalleistungen, die auf bestimmten Grundstücken und Höfen lasteten. Laut Beck waren die Pfarrer dadurch in eine materielle Interessenslage des Dorflebens eingebunden, aus der auch häufig Konflikte mit der auf korrekte Gegenleistung bedachten Gemeinde und den um die Einnahmen konkurrierenden Zehntherren oder auch Benefiziaten hervorgingen. So kann auf ein Bedürfnis der Pfarrer geschlossen werden, ihre eben nicht unangreifbare Autorität durch äußerliche – auch architektonische – Zeichen zu einer Respekt einfordernden Aura zu manifestieren. Beck berichtet auch von einem jahrzehntelangen Streit zwischen einer Gemeinde und ihrem Zehntherrn, dem Kloster Wessobrunn, das gegen seine Verpflichtung die Kirche vernachlässigte, die Einsetzung eines Pfarrers verweigerte oder im Gegenzug versuchte, der Gemeinde die Kosten für ein Pfarrhaus aufzubürden. Schließlich weigerte es sich sogar aus eigenem Interesse an der Lenkung der Pilgerströme, dort ein von Bürgern gestiftetes Benefizium zuzulassen.348 Es gab auch Streitigkeiten verschiedener Zehntherren untereinander, wie sie aus dem Bistum Speyer bezeugt sind, wo der Fürstbischof über zehn Jahre mit einer Äbtissin, deren Kloster ein Drittel des Zehnten einnahm, um die finanzielle Beteiligung am Pfarrhaus von Neuthard kämpfte, dessen Neubau und Fertigstellung sich entsprechend hinzog.349 207 Die Klagen über ruinöse Gebäude bilden eine kontinuierliche Begleitmelodie der lokalen Pfarrhausgeschichte. Die Priester hatten in ihrer Abhängigkeit von anderen Instanzen oft einen schweren Stand, zumal in ärmlichen Regionen, wie am Beispiel Westfalens in Kapitel IV. 9.5. zu sehen. Teils mussten sie in ihren Eingaben aber auch gehörig übertreiben, um einen Entscheidungsprozess zu beschleunigen oder einen akzeptablen Kompromiss zu erzielen. Doch auch gegenteilige Beschwerden der Zehntherren über die exzessive Baulust der Pfarrer sind beispielsweise aus dem Elsass überliefert; wir gehen darauf in Kapitel IV. 9. 1. ein. Der Fall des bayerischen Pfarrhauses in Steinekirch – nach der Denkmalklassifikation das bedeutendste Pfarrhaus im Landkreis Augsburg – zeigt noch eine weitere Variante des Interessenkonflikts: Bei einer Bauvisitation im Jahre 1792 wurden dort der große Aufwand und die "überflüssigen Verzierungen" gerügt, mit denen der Baumeister "seine eingebildete Kunst der Welt vor Augen legen und sich zu größeren Arbeiten empfehlen wolle".350 Während die Züricher Landgeistlichen als "Topverdiener"351 innerhalb des Dorfes gekennzeichnet wurden, sollen die Landpfarrer in Hessen oft in unvorstellbarer Armut gelebt haben.352 Bei den evangelischen Pastoren in Westfalen und Niedersachsen herrschten bescheidene bis ärmliche Lebensumstände mit einer weitgehend auf Selbstversorgung ausgerichteten Haushaltsführung.353 Einsparungen werden auch im Hinblick auf das kostspielige Studium der Pastorensöhne oder die Aussteuer der Töchter vorgenommen. Die Pfarrhäuser unterscheiden sich hier in der Regel nicht von den Bauernhäusern. Erwähnenswert ist die mehrfach den Pfarrhöfen zugeordnete Einrichtung eines Pfarrwitwenhauses für die Witwe des Vorgängers, der auch der Ertrag von bestimmten Ländereien der Gemeinde zukam.354 Ähnliche Verhältnisse werden für die Mark Brandenburg geschildert, wo der Pfarrer den 30. Teil des Zehnten erhielt, aber die Aufgabe hatte, den Zehnten einzubringen, ihn vom Feld abzuholen oder vom "Pfarrbauern" abholen zu lassen und seine Menge zu kontrollieren.355 Auch dort unterscheiden sich die Pfarrhäuser meistens nicht von den Bauernhäusern oder fallen sogar durch ihre spärlichen Dimensionen und nüchterne Gestaltung heraus. Erwähnt wird die relativ häufige Zerstörung der Pfarrhäuser im 17. Jahrhundert durch Feuersbrünste als Problem für die Zehntherren und Gemeinden (in konkretem Beispiel alle 20 bis 30 Jahre)356. Dieser Umstand kann auch für andere Herrschaftsgebiete als Anlass angenommen werden, Pfarrhäuser in moderner feuersicherer Massivbauweise zu propagieren. Dies bestätigt sich in den Einzelfallstudien zu fürstlichen Bauordnungen.357 208 7.3. Württemberg Für Württemberg wird die Baulast für Pfarrhäuser als "staatliche Aufgabe" angegeben, die vom "Kirchengut" getragen wurde.358 Hier galten bescheidenere Lebensverhältnisse für Pfarrer, die im 18. Jahrhundert schlechter besoldet gewesen seien als die Geistlichen in anderen Ländern.359 Auch ihre hoheitliche Rolle wird mit der von Sittenrichtern über Verstöße des Lebenswandels und von Visitatoren zur Kontrolle von kommunaler Verwaltung, Schule und Armenwesen angegeben. Als Staatsdiener seien sie jedoch weit weniger Sprachrohr des Fürsten gewesen. Zu den Privilegien zählten wiederum Steuerfreiheit sowie Befreiung von Frondienst, Militärdienst und Einquartierung. Die Pfarrbesoldung mit einem festen Geldbetrag und Naturalleistungen aus dem Kirchengut unterschied sich jedoch von allen anderen deutschen Ländern. Letztere wurden von Verwaltern eingeliefert. Als starke Belastung wurde die Aufgabe gesehen, die übrigen Zehntabgaben einzuziehen. Daraus resultierten Streitigkeiten mit den Bauern und finanzielle Aufwendungen, wenn der Pfarrer sie deshalb selbst einfahren musste.360 Erst die neuen, großzügigeren Pfarrhäuser der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren mit ihrem Raumprogramm für die Unterbringung von Vikar und Gesinde konzipiert. Etwa die Hälfte aller Pfarrhäuser wurde in diesem Zeitraum neu errichtet, nachdem die Vorgängerbauten häufig als alt, baufällig und nicht mehr zu reparieren bezeichnet wurden und Wohnräume nur im Obergeschoss boten, weil das Erdgeschoss mit Ställen und Lagerräumen der Pfrundgutbewirtschaftung diente.361 Insgesamt wird deutlich, dass die Einkommensverhältnisse sich nicht unmittelbar auf das Erscheinungsbild des Pfarrhauses auswirken. Der allgemeine Wohlstand einer Region oder eines Landes wirkt sich durchaus auf die Gestaltung der Pfarrhäuser aus, so wie eine ertragsschwache Gemeinde die Investitionsfreude des baupflichtigen Zehntherrn gebremst haben dürfte. Das tatsächliche Einkommen des Pfarrers und sein individueller Raumbedarf stehen jedoch nicht zwingend in einem Verhältnis zu seinem Wohnhaus. Sein Drängen nach Reparatur, Renovierung oder Neubau konnte lange ignoriert werden. Genauso konnte die Bereitschaft zur Verwaltungsreform einer Kirchenbehörde oder der Repräsentationswille eines Zehntherren einem armen Kaplan zu einem prächtigen Bau verhelfen. Andererseits finden sich aber auch einzelne Beispiele, die unseren Bautyp in allen anderen als stattlichen Maßen umsetzen. Sie erscheinen gerade in Regionen, in denen der Pfarrerstand als eher ärmlich lebend dokumentiert ist und in denen der Bautyp kaum Verbreitung fand. Diese kleinen Pastorenhäuser belegen, dass die durch Kombination von Aufriss und Dachform entstehende Typcharakteristik auch in bescheidenster Ausführung als Signal für eine besondere Bedeutung erkennbar blieb. 209 Wir müssen also von dem vereinfachten Rückschluss Abstand nehmen, dass das Haus direkt etwas über seinen Bewohner oder Erbauer aussagt. Elementar ist der Umstand, dass der Nutzer, für dessen Bedarf das Haus errichtet wird, meistens nicht der Erbauer ist, der es bezahlen muss. Man kann im Regelfall von gegensätzlichen Interessen ausgehen, denn der Nutzer will alles möglichst schön und groß, der Erbauer hingegen möglichst wenig bezahlen müssen. Die Ausnahme tritt ein, wenn der Zahlungspflichtige sich von seiner Großzügigkeit einen Ansehensgewinn verspricht, sei es, dass er den Landeskindern oder ausländischen Besuchern seine ökonomische Potenz und Modernität beweisen oder dem lieben Gott seine christliche Pflicht-erfüllung vermitteln will. Der Bau eines auffälligen Pfarrhauses kann auch eine Manifestation des Erfolgs eines Zehntherren sein, der sich mit einem Konkurrenten um ungeklärte Zehntrechte gestritten hatte.362 Oder der geistliche Zehntherr benützt bestimmte Pfarrhäuser als Domizil auf Reiserouten, die er regelmäßig unternehmen muss.363 Das erklärt den stattlichen Neubau bestimmter Pfarrhäuser im Gegensatz zu anderen, die nicht an den bevorzugten Wegstrecken liegen, oder eben nicht in der günstigen Etappenentfernung einer Tagesreise. Noch komplizierter werden die Verhältnisse, wenn – wie im Speyerer Beispiel – der eine beteiligte Zehntherr modernisieren und repräsentieren, der andere jedoch sparen möchte. 8. Bauvorgang am Fallbeispiel der Normandie Die Interessenvermengung, ihre Wahrnehmung durch die Zeitgenossen und deren Lösungsversuche werden in einer Studie über den Pfarrhausbau in der Normandie besonders deutlich.364 Leider existiert keine Untersuchung zu deutschen Gebieten, die eine Aussage zur Vergleichbarkeit der konkreten Verhältnisse im Bauwesen zulässt. Möglicherweise war die zentrale Bauverwaltungspraxis mit ihren Kontrollmechanismen in Frankreich tatsächlich fortschrittlicher. Als Hauptunterschied zu vielen deutschen Ländern besteht in Frankreich die Zahlungspflicht der politischen Gemeinde (im Unterschied zur Kirchengemeinde) für Reparatur und Neubau des Pfarrhauses, des Kirchenschiffs und der Friedhofsmauern. Im Durchschnitt wird ein Beteiligungsverhältnis an den Kosten von zwei Dritteln Grundeigentümern und einem Drittel Pächter und unfreien Bauern angegeben; Waldeigentümer sind davon befreit. Das heißt, dass je nach Besitzverhältnissen ein Grundherr einen Teil mitbezahlt. Zur Baulast gehörten in früheren Zeiten sogar das Mobiliar des Pfarrhauses sowie Ställe, Scheunen und Nebengebäude, die jedoch ab Mitte des 18. Jahrhunderts ausgeschlossen wurden. Ein Pferdestall wurde gelegentlich zur Baulast gerechnet, wenn der Pfarrer zur Seelsorge Pferd und gege- 210 benenfalls Wagen benötigte. Die Umfassungsmauern um Haus, Hof und Garten zählten auf jeden Fall zur Baupflicht der Gemeinde. Interessanterweise durfte der Pfarrer bei Interesse an über den Grundbedarf hinausgehenden Bauteilen oder Nebengebäuden diese selbst finanzieren. Unklar bleibt die Nutzung der Nebengebäude angesichts des in Frankreich ausdrücklich herrschenden Verbots für Pfarrer, Landwirtschaft und Handel zu betreiben.365 Trotzdem wurden auch hier Zehntabgaben erhoben, und überliefert ist auch die Missachtung der Verbote. Grundlegend für das Verhältnis zwischen Pfarrer und Gemeinde ist hier, dass der Pfarrer für die Pflege seines Hauses zuständig ist und die Gemeinde ihn dabei überwacht, weil sie die aus der Vernachlässigung erwachsenden Reparaturen zahlen müsste. Besteht nun doch Reparatur- oder Baubedarf, so meldet der Pfarrer dies dem Bischof oder seinen geistlichen Beamten anlässlich ihrer regelmäßigen Visitation. Wohlwollende Unterstützung seiner Bauwünsche erhält der Pfarrer von der Gemeinde natürlich dann, wenn der Grundherr aufgrund seines Anteils am Grundbesitz der Gemeinde das meiste oder alles bezahlen muss. Die Kirche meldet den Baubedarf anschließend dem königlichen Intendanten, einer Art Provinzgouverneur. Der Intendant besichtigt daraufhin mit einem Architekten, einem Bauunternehmer und einem Vertreter der Gemeinde den Altbau und beschließt unter fachlichem Rat die zu ergreifenden Maßnahmen. Anschließend wird das Bauvorhaben nach Ankündigung öffentlich versteigert: von einer angesetzten Höchstsumme ausgehend wird der Auftrag an denjenigen vergeben, der sie am tiefsten unterbietet. Dieser muss kein professioneller Bauunternehmer sein, sondern kann auch ein bekannter Geschäftsmann sein, der mit dieser Unternehmung Geld verdient, indem er entsprechend mit Subunternehmern, Handwerkern und Materialeinkauf kalkuliert. Es kann sogar der Pfarrer selbst als Bauunternehmer auftreten. Er hat dann die Möglichkeit, die ihm zugeschlagene Bausumme zu überschreiten und auf eigene Kosten "sein" Haus aufwendiger zu errichten. Wiederum wacht die Gemeinde über die Ausführung, denn sie will und muss nicht für den laufenden Unterhalt von Bauteilen geradestehen, die der Pfarrer aus eigenem Interesse errichten ließ. Pfarrer und Gemeinde kontrollieren gemeinsam den Bauunternehmer, damit aus Profitgründen keine minderwertige Ausführung erfolgt, die später Reparaturen verursachen könnte. Und der Intendant erwirkt im Interesse der Gemeinde oder des zahlungspflichtigen Zehntherrn über den Versteigerungsmodus eine möglichst kostengünstige Bauausführung. Diese ausgefeilte Handhabung des Bauprozesses zum Ausgleich der diversen gegenläufigen Eigeninteressen aller am Bau beteiligten oder betroffenen Parteien setzt 211 eine gewisse Standardisierung und damit einen Grundkonsens voraus, was zum Pfarrhaus gehört und wie es ausgeführt werden sollte. Denn das ist die schriftliche Grundlage der vertraglich bindenden Bauausschreibung. Sie reicht zwar bis zur Festlegung, dass die beiden ersten Antrittsstufen der Treppe in Stein auszuführen sind oder nennt den Fußbodenbelag im Erdgeschoss, aber das Walmdach ist, wenngleich eine häufig angewendete, so doch keine zwingende Dachform. Immerhin ergibt der Durchschnittswert der besagten Studie ein Haus für einen Junggesellen mit Haushälterin (andere Darstellungen rechnen noch einen Knecht hinzu) von etwa 200 m2, bei 15 Metern Länge und 6 Metern Breite, mit zwei Etagen auf einem Drei-Felder-Grundriss mit mittigem Erschließungsflur. Im Erdgeschoss befinden sich auf der einen Seite die Küche, auf der anderen Seite ein Salon. Im Obergeschoss sind zwei Zimmer mit kleinen abgetrennten Kabinetten. Die Besonderheit der Pfarrhäuser der Normandie im Unterschied zu denen im deutschsprachigen Raum besteht in ihrer geringeren Tiefe, die genau die Breite eines Raumes umfasst. Dadurch werden an den Schmalseiten kaum Fenster benötigt. Bei den Aufrissen überwiegt die dreiachsige Variante mit einer Vorliebe für Symmetrie und ausgewogene Proportionen. Trotz der beträchtlichen Unterschiede bei Zahlungspflicht, Grundriss und Bauprogramm ohne ausgeprägte landwirtschaftliche Tätigkeit bleibt festzustellen: Der Bautyp ist der gleiche. In den Beschwerdebriefen, die anlässlich der Einberufung der Generalstände zu Beginn der Französischen Revolution verfasst wurden, beklagt die Bevölkerung vielfach ihre Baupflicht und fordert, dass die Pfarrer und Grundherren, welche den Zehnten einnehmen, dafür auch die Pfarrhäuser bezahlen sollten (also wie in Deutschland). Ein Beispiel bringt die Problematik deutlich zur Sprache: "Unsere Deputierten werden auch darlegen, wie drückend für die Gemeinden die Verpflichtung ist, die Pfarrhäuser auf ihre Kosten zu bauen, und wieviel Missbrauch damit einhergeht. Man ist beinahe bei jedem Pfarrwechsel verpflichtet, die Pfarrhäuser neu zu erbauen. Die Architekten, die von den Gemeinden mit der Baubesichtigung beauftragt werden, sind an Neubauten interessiert. Zu diesem Mittel deklarieren sie beim kleinsten Defekt ein Bauwerk als schlecht, das noch hundert Jahre überdauern könnte. Und der armselige Familienvater, 212 der nicht die Mittel hat um sein Haus zu flicken, wird gezwungen, mindestens die Einkünfte eines Jahres zu opfern, um einen Palast für seinen Pastor bauen zu lassen."366 Andere Beschwerdebriefe ergreifen allerdings auch Partei für die Pfarrer, die je nach Pfarrei manchmal in Armut leben, und fordern für sie eine angemessene Besoldung. Während der hohe Klerus in Reichtum schwelgt, hat die starke Inflation die unveränderte Besoldung der Pfarrer minimiert. Der "Zehnt" beträgt in Frankreich im Durchschnitt 1/13 bis 1/33 der besteuerten Erzeugnisse. Davon geht ein Viertel bis eine Hälfte an den hohen Klerus. Auf ein bis zwei Drittel seiner Einkünfte werden allein die Kosten des Pfarrers für ein Pferd mit Stallknecht veranschlagt.367 Dass die finanzielle Situation des französischen Pfarrklerus im Durchschnitt wesentlich schlechter war als in anderen Ländern, verdeutlicht auch ein königliches Dekret von 1768, das jedoch durch Verschleppung in der klerikalen Bürokratie erst ab 1780 tatsächlich umgesetzt wurde. Es beauftragt die Bischöfe, die Zehntherren anzuweisen, die Auszahlungen an die Pfarrer exakt nach dem Gegenwert festgelegter Getreidemengen vorzunehmen. Damit sollte das Einkommen der Pfarrer von der Geldentwertung unabhängig gemacht werden.368 9. Regionale politische Ursachen für die Verbreitung 9. 1. Elsass Eine außergewöhnliche Situation besteht im Elsass. Obwohl seit dem Westfälischen Frieden und den Eroberungen Ludwigs XIV. 1648/1681/1697 sukzessive zu Frankreich gehörend, hat der König zum Teil die alten Rechtsformen und Freiheiten belassen. De jure bleibt das Elsass bis zur Französischen Revolution ein Teil des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation.369 Die Kollaturrechte ausländischer Fürsten und Abteien, die Einkünfte der Pfarrer und die Baupflichten der Zehntherren bleiben somit wie in den übrigen deutschen Ländern bestehen.370 Doch die Archivalien dokumentieren zunehmende Streitfälle zwischen Pfarrern und Zehntherren aufgrund einer günstigen Position der Pfarrer. Die Pfarrer verlangen Reparaturen und Neubauten, während die Zehntherren diese verweigern und sich über die Pfarrer beschweren, die kleinste Reparaturen absichtlich vernachlässigen, um die Zehntherren nach massiven Bauschäden zu Neubauten zu zwingen. Interessanterweise behält zum Beispiel das schweizerische evangelische Domkapitel in Basel seine umfangreichen Besitzungen im französischen, vormals habsburgischen Oberelsass, hat also Kollaturrechte in den dortigen katholischen Pfarreien und unterliegt der örtlichen französischen Rechtsprechung auf der Grundlage deutscher Rechtstitel. 213 Auch der protestantische Herzog von Württemberg besitzt hier einige Kollaturrechte. Der Fürstbischof von Straßburg und der Intendant des Königs müssen in den Streitigkeiten häufig schlichten und entscheiden oftmals zu Gunsten der Pfarrer. Dies erfolgt absichtlich zum Vorteil der Gemeinden, weil diese Steuern zahlen, während die ausländischen Grundherren nur Kapital abziehen. Angesichts der überhand nehmenden Beschwerden ruft das königliche Regionalparlament in seiner Funktion als Gerichtshof die streitenden Parteien auf, ihren Verpflichtungen zum Unterhalt und Neubau nachzukommen.371 Die Bereitschaft der Basler Zehntherren, schließlich nachzugeben, scheint mit den Interessenverstrickungen mit der französischen Krone zusammen zu hängen: Die helvetische Konföderation ist mit Frankreich verbündet, Ludwig XIV. bezieht zahlreiche Söldnerbataillone der Schweizer Garde, und Basel profitiert von den beträchtlichen Einkünften aus dem wohlhabenden Elsass. So nimmt man hin, dass der französische König sich die neuen, zunächst skeptischen Untertanen zu Freunden macht, in dem er ihre Partei ergreift, wo es ihn nichts kostet. Eine Reihe königlicher Erlasse erhöht allmählich den Druck auf die Zehntherren.372 So kommt das Elsass zu einer besonderen Dichte repräsentativer Pfarrhäuser. Denn jedes Beispiel macht Schule und weckt Begehrlichkeiten bei der übrigen Pfarrerschaft. Ein an den König gerichteter Beschwerdebrief der einheimischen Zehntherren, "der Grafen, Barone und Edelmänner, die den Adel des Oberelsass bilden", illustriert, bei allem Vorbehalt gegenüber der berechnenden Übertreibung jeder der Parteien, das baulustige Klima dieser Region: "Die Errichtung der Pfarrhäuser wird zu einer unerträglichen Belastung für die Zehntherren. Die elsässischen Pfarrer und Rektoren, die sich an einem Einkommen von 800 bis 6000 Livres erfreuen, haben als Maßstab für ihre Behausungen nur mehr oder weniger prachtvolle Vorstellungen. Es ist nur ihr Geschmack, der den Architekten anleitet und den Plan bestimmt, alle wollen großartige Häuser haben, und es bleibt an den Zehntherren, ihre Vergnügungen zu bezahlen. [...] Und anstelle einer einfachen angemessenen Behausung, wie sie das Edikt von 1695 vorschreibt, zwingt man sie, den Pfarrern nicht nur Herrenhäuser zu bauen, sondern auch noch Scheunen, Stallungen und Remisen, das ganze Zubehör, das der Luxus verlangt und wozu die Bequemlichkeit verleitet, was den Pfarrern jedoch nicht zusteht und wozu die Zehntherren niemals verpflichtet waren."373 Wenn ein Zehntherr nicht die geforderten Baumaßnahmen genehmigte, konnte es ihm hier sogar passieren, dass der Pfarrer diese selbst vorfinanzierte und die Kosten anschließend gerichtlich einklagte.374 Königliche Erlasse zur Einführung verbindlicher Maßstäbe für bescheidene einstöckige Bauten fanden selbst in den nicht mehr 214 so prosperierenden Zeiten Ludwigs XVI. ganz offensichtlich keinen Nachhall.375 Solch eine vom Hauptinspektor der Brücken und Straßen entworfene und vom Intendanten der Justiz, Polizei und Finanzen gegengezeichnete Planvorgabe von 1773 entspricht in Grund- und Aufriss unserem Grundtyp, der jedoch schon längst etabliert ist und somit zweistöckig, in seinen breiteren Dimensionen und besserer Ausstattung weiter angewendet wird – Königsbefehl hin oder her. Nachdem die Forderungen der Pfarrer immer massiver wurden und sie die Einbehaltung des Zehnten als Druckmittel einsetzten, schlossen sich einige Zehntherren sogar zu einem Kartell zusammen, um ihre Interessen besser zu vertreten.376 Die mit Streitfällen überschüttete "Verwaltung der Brücken und Straßen", eine aus dem militärischen Ingenieurcorps hervorgegangene Behörde, richtete daraufhin 1780 das Corps der Inspektoren der öffentlichen und kommunalen Bauten im Elsass ein. Deren amtlich bestellte Architekten entschieden fortan über die Bauunternehmungen.377 Schließlich sahen auch die klerikalen Zehntherren angesichts der von ihnen finanzierten pfarrherrlichen Noblesse nicht mehr ein, selbst in düsteren Gemäuern des Mittelalters zu wohnen und errichteten sich nun ebenfalls solch komfortable und repräsentative Wohnhäuser.378 Der Umzug der Dominikanerabtei Murbach aus ihrem engen Vogesental in das zur sonnigen Rheinebene geöffnete Guebwiller und die Säkularisierung in ein weltliches Ritterstift entsprang diesem Wunsch des nunmehrigen Fürstabts und der anderen elf hochadeligen Kanoniker nach der komfortorientierten und distinguierten Lebensweise des Barock. Der Bau der neuen Stiftskirche wurde sogar mehrmals unterbrochen, um die Kanonikerhäuser fertigzustellen. Neben dem Abtsschloss und zwei pfarrhausartigen Stiftsgebäuden mit Walmdach wird die Kirche vom Haus des Großdekans und drei weiteren palaisartigen, dreigeschossigen, aber dennoch typkonformen Kanonikerhäusern umkränzt.379 262-263: Kanonikerhaus, Guebwiller (Elsaß) Eingangs- und Gartenseite 215 Eine vergleichbar eindrucksvolle Reihung bilden die drei gleichartigen typgerechten Kanonikerhäuser gegenüber der Abteikirche in Neuviller-les-Saverne. In ihnen wohnten nach der Verbannung Napoleons 1815 der ehemalige Kriegsminister und Maréchal de France Henri Clarke und andere hohe Offiziere der Grande Armée. 264: Kanonikerhäuser, Neuviller-les-Saverne (Elsaß) Ein weiterer Aspekt für die leichte Durchsetzung der Bauwünsche gegenüber den klerikalen Zehntherren liegt auch in der Kooperation regelrechter Klerikerdynastien begründet, die für das Elsass angegeben werden. So vereinfachte sich die Vergabe lukrativer Pfarrstellen oder die Freigabe von Baumaßnahmen deutlich, wenn der Kandidat unter den Kanonikern des Zehntherren einen Onkel hatte oder vom zwischenzeitlich aufgestiegenen ehemaligen Pfarrer protegiert wurde, bei dem er sein Vikariat absolviert hatte.380 Noch eine Besonderheit der elsässischen Verhältnisse könnte die Verwendung des Walmdachs gefördert haben. Möglicherweise entsteht hier, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit ein Ausgangspunkt für die Walmdachverbreitung in Deutschland, so doch zumindest eine besonders auffällige Konzentration, deren eindrucksvolles Vorbild die Verbreitung auf andere Regionen begünstigt haben dürfte. Als Rekatholisierungsmaßnahme bestimmt Ludwig XIV., dass in jedem evangelischen Ort, in dem mindestens sieben katholische Familien leben, eine katholische Pfarrei eingerichtet wird. Weil die Zehntabgaben dieser Gemeinden bereits an den protestantischen Pfarrer vergeben sind, erhält dieser katholische Pfarrer ein direktes Gehalt vom König. Er hat damit den Sonderstatus eines königlichen Pfarrers, eines sogenannten "curé royal". Der zuständige Bischof schlägt den Pfarrer vor, doch er wird vom König ernannt, vertreten durch den Intendanten. Aber auch alle normalen Pfarrer, die ein hier Benefizium genanntes Pfrundgut erhalten, müssen vor dem "Conseil Souverain d'Alsace", dem vom Adel dominierten Regionalparlament mit Gerichtsfunktion, ihren Amtseid auf den König schwören.381 Der Pfarrer gehört damit wie die französischen Offiziere in den Garnisonen, die Provinzgouverneure und Intendanten zu den könig- 216 lichen Amtmännern. Deren Häuser repräsentieren die Hoheit der französische Monarchie mit einem "Distinktion" anstrebenden palais- oder herrenhausartigen Erscheinungsbild. Da hier auch keine Ausländer mehr für das Pfarramt zugelassen werden, verbindet sich mit dieser gegenreformatorischen Maßnahme auch eine sprachliche und kulturpolitische Indoktrination.382 Trotz dieser privilegierten Stellung und obwohl der elsässische Klerus als der reichste von Frankreich gilt, scheint die Besoldung der königlichen Pfarrer so bescheiden gewesen zu sein, dass auch von Armut gesprochen wurde.383 Allerdings gelten die besonderen Bedingungen für die elsässischen Pfarrer erst seit Erlassen von 1675 (Vereidigung) und 1685 (königliche Pfarrer). Die Erholung von den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges dauert auch hier fast ein halbes Jahrhundert, zumal das Elsass nur nach und nach unter französische Herrschaft gerät und erst ab 1710 endgültig befriedet ist. So setzt die Bautätigkeit für die repräsentativen Walmdachpfarrhäuser erst ab 1700 ein, mit einer Schwerpunktphase von den 20er bis zu den 80er Jahren. 9.2. Preußen Politische und religiöse Ursachen verbinden die Häufung der Typ-Pfarrhäuser in Schlesien mit ihrer Nichtverbreitung in Preußen. Zwar waren die Pfarrer in Preußen auch in hoheitliche Aufgaben der sittlichen Disziplinierung der Untertanen, der Führung von Populationslisten und dem Beiwohnen bei Steuerkommissionen eingebunden, doch ist auch eine pauschale Geringschätzung des geistlichen Standes durch das Herrscherhaus dokumentiert.384 Wilhelm I. ließ klerikale Bauanfragen ab 1723 systematisch ablehnen und die gerühmte Toleranzpolitik seines Sohnes Friedrich II. geht mit einer Indifferenz in Konfessionsfragen einher, die nicht nur das Ansehen der Geistlichkeit in Preußen schwinden ließ, sondern ihr anscheinend auch keine baulichen Zuwendungen gewährte, sondern harsche Abweisungen erteilte. Einem Diakon, der sich 1751 um eine vakante Pfarrstelle bewirbt, geht der allerhöchste Bescheid des Königs zu, "daß die Aposteln in denen ersten Zeiten von ihren Gemeinden und Kirchen keine Revenues noch Tractamente gehabt, sondern bei ganz kümmerlichem Auskommen gelehret und gepredigt hätten; dahero er als ein treuer Nachfolger derselben die ihm anvertraute Gemeinde nicht bloß um eitlen Gewinnst oder seiner Verbesserung halber verlassen müsse."385 Die amtliche Verschleppung der Baumaßnahmen des Pfarrhauses von Veltheim im unter preußischer Herrschaft stehenden Fürstentum Minden in Westfalen gipfelte sogar in dessen Einsturz.386 Bei aller institutioneller Modernität, die dem preußischen Staatswesen für die Zeit der Aufklärung zugeschrieben wird, hat die Konzentration der Ausgaben auf Militärwesen, Kriegsführung und Schlossbauten offenbar 217 bewirkt, dass sich die Reorganisation der Verwaltung weder in weltlichen noch geistlichen Verwaltungsbauten niederschlug.387 In Schlesien (heute Polen und teilweise Tschechien) hingegen hatten die Habsburger nach dem Dreißigjährigen Krieg rigide Rekatholisierungsmaßnahmen durchgeführt und die gleichwohl weiterbestehenden evangelischen Bevölkerungsteile am Kirchenbau gehindert. Als Friedrich II. 1740-1742 Schlesien erobert, gewährt er den noch während des ersten Schlesischen Krieges vorstelligen Vertretern der Protestanten Religionsfreiheit. So setzt ab 1742 eine Neubauwelle evangelischer "Bethäuser" in der Form provisorischer Fachwerkbauten ein. Nur wenige dieser schlichten turmlosen Saalbauten sind erhalten.388 Doch eine ungewöhnliche, zwischen 1748 und 1752 entstandene Stichsammlung dokumentiert 164 der 1742 bis 1749 erbauten Kirchen, nebst ihren zugehörigen "Predigerhäusern".389 Diese sind nicht ausschließlich, doch in vielen Fällen mit Walmdach erbaut und folgen alle im Aufriss unserer Typbauweise mit drei bis fünf Achsen und dem bereits festgestellten Repertoire an Symmetrien und punktuellen Asymmetrien. Durchweg erfolgte eine einfache Konstruktion im für Schlesien typischen orthogonalen, schwarzen Holzständer-Fachwerk. Über Pfrundsystem, Kollaturrechte oder Baulasten in Schlesien existieren keine Untersuchungen. Für diese Pfarrhaus-Baukonjunktur auf preußischem Hoheitsgebiet scheint jedoch keine friderizianische Reformationspolitik verantwortlich zu sein. Dieses laisser-faire ermöglichte den evangelischen Gemeinden einfach, mit eigenen finanziellen Mitteln ihren Glaubensnotstand zu beheben. 265: Katholische Kirche, Pfarrhaus und evangelisches Bethaus, Rabißau (Polen) 218 9.3. Pfalz Nach den Zerstörungen des pfälzischen Erbfolgekrieges 1688 und teilweiser französischer Besetzung bis 1797 steht die Pfarrhausdichte in der Pfalz im Zusammenhang mit dem Wiederaufbaubedarf und erklärter Rekatholisierungspolitik.390 Teils Territorium der Bistümer Speyer, Mainz und Worms, gliedert sich das zerstückelte Gebiet außerdem in das Kurfürstentum der Pfalz und das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken. Während unserer primären Pfarrhausbauphase fällt die weltliche Pfalz 1742 an das oberpfälzische Fürstentum Pfalz-Sulzbach, das 1777 auch die bayerische Kurwürde erbt, so dass alle Teile mit Bayern vereinigt werden. Daraufhin werden vor allem Pfalz-Neuburg, die Oberpfalz und der Raum Fulda rekatholisiert, was einen vermehrten Pfarrhausbau erwarten lässt. Im Zuge der Französischen Revolution fällt die linksrheinische Pfalz an Frankreich und 1815 wieder zurück an Bayern. Die rechtsrheinische Pfalz wird 1803 auf Baden und Hessen-Darmstadt aufgeteilt und liegt heute großteils in Baden-Württemberg. 9.4. Württemberg Die fast vollständige Inexistenz von Walmdachpfarrhäusern in Alt-Württemberg kann nur von der äußerlicher Selbstdarstellung abgeneigten pietistischen Glaubensausrichtung des Protestantismus abgeleitet werden. Diesen Umstand unterstützt noch die Ausbildung einer besonderen, "Honoratioren" genannten bürgerlichen Oberschicht, die der Beamtenschaft, dem adeligen Hofleben und französischen Umgangsformen distanziert begegnete und aus deren Kreisen sich die württembergische Pfarrerschaft rekrutierte.391 Zudem besaß der Herzog selbst in den meisten Pfarreien das Kollaturrecht und die Besoldungspflicht. Die gesellschaftliche Struktur des Pfarrerstandes soll sich hier weg von der privilegierten Herrenstellung hin zu Seelsorge und Lehrtätigkeit verlagert haben. Das 18. Jahrhundert in Württemberg kennzeichnet somit eine Akzentverlagerung von der Hierarchie auf die Diakonie.392 Wenn unser Bautyp gelegentlich in Grund- und Aufriss angewandt wurde, dann nur mit Sattel- oder Krüppelwalmdach. Eine Häufung von Walmdachpfarrhäusern um Heilbronn herum erklärt sich durch die Gebietszugehörigkeit zum Deutschen Orden. Die Deutschordensritter verwendeten diesen Bautyp häufig für Komtureien, Schulen, Amts- und Pfarrhäuser in ihren Gebieten.393 Hinsichtlich der territorialen Zugehörigkeit muss auch beim 1803/05 an Württemberg gefallenen Oberschwaben berücksichtigt werden, dass es durchweg in kleinteilige Besitztümer zerstückelt war. Große Anteile sind geistliche Besitzungen namhafter Abteien (Zwiefalten, Marchtal, Weingarten, Schussenried, Roth an der Roth etc.), so 219 dass von einer selbstbewussten klerikalen Bauaktivität wie in Bayern ausgegangen werden kann. Sie wurden zum Reichsdeputationshauptschluss 1803 säkularisiert. Große Gebietsanteile waren habsburgisch und gehörten zum unzusammenhängenden "Vorderösterreich", das nach der österreichischen Niederlage in Austerlitz an Württemberg und Baden aufgeteilt wurde. So bestand hier zuvor ein besonderer Bedarf nach Verwaltungsstützpunkten. Möglicherweise wurde auch eine Katholisierungspolitik betrieben. Die bekannten Verwaltungsreformen Österreichs unter Maria Theresia oder die sogenannte josephinische Pfarrregulierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Ziel, einen zentralistisch geleiteten Einheitsstaat und die Pfarrer als besoldete Staatsbeamte zu etablieren, lassen sich jedoch in Österreich selbst oder in Schlesien vor der Eroberung durch Preußen nicht mit einer dezidierten Amts- oder Pfarrhausdichte nach unserem Bautyp belegen.394 9.5. Westfalen Eine systematische Analyse zu rund 600 nordwestdeutschen Pfarrhäusern belegt, dass unser Bautyp in den behandelten Gebieten nur selten vorkommt, in manchen Regionen wurde kein einziges Beispiel angeführt. Die Pfarrhaushalte sind dort so stark an den landwirtschaftlichen Betrieb gebunden, dass beide Konfessionen die lokale Bauernhausform des niederdeutschen Hallenhauses übernehmen, das Wohnund Wirtschaftsteil mit breiten Längsdielen als Wageneinfahrt unter einem Dach vereint. Querdielenhäuser, die Wohn- und Wirtschaftsteil wenigstens auf zwei Haushälften aufteilen, werden für Pfarrhäuser erst ab 1765 und sogar noch bis 1850 errichtet. Mit einem stark retardierenden Faktor kommen erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Stall und Scheune getrennte Wohnhäuser in Gebrauch395, in Teilgebieten sogar erst um 1830396. Doch auch hier überwiegen schlichte Fachwerkbauten mit Sattel- oder häufiger Krüppelwalmdach. So weicht auch die erstellte Baudatenkurve von unserer für Bayern entwickelten Kurve ab, was auf andere Kriegsereignisse, insbesondere den Siebenjährigen Krieg, zurückzuführen ist, doch auch auf eine generell schwache ökonomische Aktivität. Der Anstieg der Pfarrhausneubauten in der Mitte und zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird auf einen Nachholbedarf und auf neue Pfarreien zurückgeführt, die durch Zuwanderung von Arbeitskräften nötig wurden. Als Ursache für die unterschiedliche Entwicklung der Bautypen kann allgemein eine geringere ökonomische Leistungsfähigkeit dieser Gegend gelten. Die hier mitbehandelte Lüneburger Heide wird als eine der ärmsten Regionen Deutschlands bezeichnet. Erwähnenswert ist dieser Untersuchungsraum vor allem deshalb, weil hier die Baupflicht bei der Gemeinde liegt, wie wir es in der Normandie und wohl in ganz Frankreich – das Elsass ausgenommen – vorfinden, es uns aber in deutschen Gebieten sonst noch 220 nicht begegnete. Dieser Faktor geringerer finanzieller Möglichkeiten als bei Zehntherren mag das Ausbleiben repräsentativer Architekturformen und die Integration in den Bauernhauskonsens erklären. Er ist verbunden mit einer wohl auch geringeren Bereitschaft der Pfarrer, sich gegen die Baupflichtigen durchzusetzen, da sie mehr Verständnis für deren Situation aufbrachten oder sich mit ihnen identifizierten. Zudem bestand ein direkteres Abhängigkeitsverhältnis vom einvernehmlichen dörflichen Zusammenleben. Regional kommen sogar Eigenaufwendungen der Pfarrer selbst hinzu.397 So kann der Wirtschaftsteil des Pfarrhauses Bauaufgabe der Gemeinde sein, während der Wohnteil durch den Pfarrfonds bestritten wird, eventuell auch durch Kreditaufnahme zu Lasten der zukünftigen Einnahmen aus dem Pfrundgut, auch bis in die Zeit der Nachfolger des Pfarrers hinein.398 Gleichwohl sind zahlreiche Auseinandersetzungen und gerichtliche Streitfälle dokumentiert. Sie treten jedoch unabhängig vom Wohlstand der Gemeinden auf und sind folglich auch als eines der wenigen Druckmittel der Gemeinde vor dem Hintergrund anderer Konflikte zu verstehen. Die vielfältigen Interessenlagen illustriert ein Streitfall von 1825, bei dem der Schultheiß einer benachbarten, doch anteilig baupflichtigen Gemeinde die Neubaupläne mit der Begründung ablehnt: "Indem der Pfarrer wohnt wie wir, kann er sich weit besser in des Volkes Sayn und Weben hineindenken und fühlen, als wenn er von einem eleganten Palais aus seine Gemeinde beherrschte."399 Dagegen beklagt der Kirchen- und Schulvorstand den Zustand des alten Pfarrhauses, "weil sich kein qualifizierter Geistlicher zur Annahme unserer Pfarrei verstehen will."400 Ein ordentliches Pfarrhaus liegt also auch durchaus im Interesse der Gemeinde. Während in manchen Kontroversen der Pfarrer Restbaumaßnahmen um des lieben Friedens willen aus eigener Tasche finanziert, kommt es bei einer widerspenstigen Gemeinde 1791 einmal sogar zu amtlicher Zwangsvollstreckung von Baugerätschaft und Zugvieh, bei der der Amtmann verjagt wird, worauf dieser bei der fürstlichen Regierung die Vollstreckung durch ein Militärkommando vorschlägt. Zum spezifischen Raumprogramm der Pfarrhäuser listet diese Untersuchung ein bis zwei Zimmer für eine Haushälterin in katholischen Häusern auf (was den Raumbedarf einer evangelischen Pfarrfamilie aufwiegt), ferner Räume für eine Magd oder bis zu vier Personen zur landwirtschaftlichen Tätigkeit auch bei evangelischen Pfarreien. Ein Fremdenzimmer wird hier primär für Amtsbrüder legitimiert, auf deren häufigen Besuch zwecks geistigen Austauschs der intellektuell im dörflichen Milieu oft isolierte Pfarrer angewiesen war. Weiterhin wird eine Studierstube als pfarrhäusliches Spezifikum diskutiert, die in diesen reinen Bauernhaustypen vielleicht notwendiger war, weil die intensiv für Hausarbeiten genutzte Wohnstube in Stall- und Kü- 221 chennähe kein ruhiges Arbeiten zuließ.401 Erstmals ist im späten 18. Jahrhundert die Einrichtung einer Konfirmandenstube dokumentiert, wenngleich der Katechismusunterricht oder die katholische Sonntagsschule für gewöhnlich in der Kirche abgehalten wurde, die im Winter allerdings unbeheizt war.402 Es lassen sich also verschiedene Grundbedingungen und Voraussetzungen für einen allgemeinen Neubaubedarf oder eine besondere Ausdrucksabsicht mit den Bauformen unseres Bautyps in den unterschiedlichen Gebieten feststellen. Was jedoch in der einen Region als Ursache für die Einheitlichkeit der Walmdachpfarrhäuser in Frage kommt, bestätigt sich in einer anderen Region mit ähnlichen Parametern widerum nicht. Ob Krieg oder Frieden, Wohlstand oder Armut, Katholizismus oder Reformation, weltliche oder geistliche Dominanz, restriktive oder tolerante Politik – eine eindeutige Antwort finden wir in den soziologischen, geographischen oder politischen Bedingungen des 18. Jahrhunderts nicht. Auch die Kirchen- und Alltagsgeschichte bietet nur Hinweise auf einzelne lokale Zusammenhänge, aber keine verallgemeinerbare Erklärung. Hinsichtlich dieser Quellen gilt es aber auch zu beachten, dass das ganze Umfeld der hehren Welt des Glaubens durch eine Idealisierung der Frömmigkeit in der Literatur der Romantik, aber auch in der Geschichtsschreibung vieler klerikaler Kirchenhistoriker geprägt ist. Dem gegenüber steht eine tendenzielle Dramatisierung der tatsächlichen Verhältnisse in den zeitgenössischen Beschwerdeschriften, Gesuchen und Gerichtsakten. Vielleicht findet sich im Zuge folgender Forschungen ein gemeinsamer Nenner als Erklärung. Doch bei dem derzeitigen Kenntnisstand erscheint das Phänomen der Verbreitung dieses Bautyps als Paradigma seiner Epoche, als ein unbewusst erzeugter gestalterischer Konsens. 10. Analyse an ausgesuchten Beispielen 10.1. Vier-Felder-Grundriss Das Pfarrhaus in Abtsgmünd in Baden-Württemberg zeigt exemplarisch die Praktikabilität des Vier-Felder-Grundrisses. Im Erdgeschoss ist er mit, im Obergeschoss ohne durchgehenden mittigen Erschließungsflur variiert. Zugleich lässt sich am Unterschied zwischen Eingangs- und Rückseite beobachten, wie die fünfachsige und die dreiachsige Fassadengestaltung mit dem Innenraum korrespondieren können. Die Eingangs- und die westliche Schmalseite werden durch die Ausschmückung mit Horizontalgesims und Kapitellen als Schauseiten hervorgehoben, während die beiden übrigen Seiten desselben Gebäudes nur mit Lisenen ohne Kapitelle als sekun- 222 266-275: Pfarrhaus Abtsgmünd (Baden-Württemberg) 272-274: Keller, Erdund Obergeschoss 275: Gartenseite 223 där gewichtet sind. Die Rückseite führt die Nutzung des Geländeabfalls zur Anlage des Kellereingangs vor Augen und dokumentiert den bewussten Einsatz asymmetrischer Gestaltung als Reaktion auf eine irreguläre Ausgangslage403. Die Eingangsseite erhält eine repräsentative Betonung der Mittelachse, auch durch das Zwerchhaus, das die Zugänglichkeit des Dachstuhls verbessert. Die typische, nur teilweise erfolgte Unterkellerung bedingt die separate Führung der Kellertreppe, die ansonsten unter der Haupttreppe hätte verlaufen können. Es finden sich aber auch viele Beispiele, wo die Haupttreppe genau an dieser Stelle, also rechtwinklig zum Mittelflur in einem eigenen Raumkompartiment angelegt ist.404 An den Schnitten lässt sich die Konstruktion des liegenden Dachstuhls mit den Aufschieblingen ablesen, die den charakteristischen geschwungenen Dachfuß verursachen. 10. 2. Originale Baupläne Der originale Bauplan zum Pfarrhaus von Dahenfeld in Baden-Württemberg von Georg Philipp Wenger aus dem Jahr 1758 illustriert die zeitgenössische Darstellungsweise des gleichen fünfachsigen Grundtyps. Die Treppe ist hier parallel neben den schmalen Mittelflur gelegt. Ungelenk ist die Seitenfassade in Verzerrung gezeichnet. Möglicherweise aus Gründen der Blattaufteilung ist die Seitenfassade mit dem rundbogigen Kellerzugang auf der falschen Seite wiedergegeben. Denn die Kellerfenster an der Eingangsfassade deuten auf eine Teilunterkellerung der rechten Haushälfte hin, so dass auch die Kellertreppe sinnvoll unter der Haupttreppe 224 276: Pfarrhaus, Dahenfeld (Baden-Württemberg) verlaufen würde. Die seitlich des Obergeschossgrundrisses dargestellte Scheune ist nicht etwa am Haus angebaut, damit ist ihre Lage im Grundstück gekennzeichnet (gestrichelte Linien), also hinter dem Haus. Auch hier hat die Blattaufteilung auf dem teuren und daher ökonomisch verwendeten Pergament bewirkt, dass der Obergeschossgrundriss die Position der Scheune teilweise überdeckt. Die karierte Fläche im Erdgeschoss stellt den Plattenbelag zur Aufstellung eines Herdes dar und kennzeichnet damit die Küche.405 Daneben ist ein gemauerter Backofen mit seiner ovalen Innenwand eingezeichnet. Ein solcher Backofen findet sich in einigen Originalplänen und ist ein Hinweis für den ausgesprochen hohen technischen Standard der Pfarrhäuser. Weiterhin sieht man die Ofenstellen in den "Stuben", die immer von außerhalb der Räume befeuert werden, nämlich von der Küche, dem Flur oder einem extra angelegten Stichgang. Im Gegensatz dazu sind die "Kammern" 225 unbeheizt. Aborte befinden sich auf beiden Etagen hinter der Treppe. Ihre kleinen Fenster verleihen der Rückseite ihre Asymmetrie. Diese wird noch durch eine kleine Öffnung in der Küche ergänzt, möglicherweise zur Belüftung einer schrankartigen Speisekammer.406 In der Anordnung der Dachgauben, der Wahl der Dachneigung sowie der Ausführung von Eingangstreppe, Sockel und Horizontalgesims zeigt dieser Entwurf auffällige Detailähnlichkeiten mit dem Musterentwurf von Balthasar Neumann. 277 Balthasar Neumann: 3 Pfarrhausentwürfe Doch weitere erhaltene Beispiele von unprofessionell gezeichneten Pfarrhausplänen nach dem gleichen fünfachsigen Typ legen nahe, dass lokale Baumeister ein als Grundplan verbreitetes oder durch Anschauung von Bauwerken bekanntes älteres Vorbild kopierten, ohne diese konkreten Details zu übernehmen.407 Mit dem Pfarrhaus von Dahenfeld gemeinsam haben diese Entwürfe aber durchweg die geohrten Rahmungen der Fenstergewände, was ebenfalls auf ein anderes Vorbild hindeutet. In der Ausführung ist die Vielzahl dieser einfachen Pfarrhäuser jedoch allenfalls mit unprofilierten, steinernen Gewänden ausgestattet und besticht – ohne Gesimse oder Eckrahmungen – durch die reine Proportionierung und die harmonisch ausgemittelte Verteilung der Öffnungen auf der Wandfläche.408 226 278 Pfarrhaus, Behlingen (Bayern) 279 Pfarrhaus, Lauterbach (Bayern) Nur bei größeren Pfarrhäusern mit stattlichen Pfründen findet sich das ganze Repertoire barocker Fassadengestaltung: von der Eckquaderung über Schlusssteine, Brüstungskartuschen, Festons, Pilaster, Risalite, giebelbekrönte Eingangsportale, volutenflankierte Zwerchgiebel, balustergeschmückte Treppengeländer bis zu Wappentafeln usw.409 Stichbogenfenster können zur Akzentuierung wahlweise im Erdoder Obergeschoss eingesetzt werden. Interessanterweise finden diese häufig in Frankreich Verwendung, insbesondere im Elsass, jedoch vergleichsweise selten in Deutschland. 227 280 Pfarrhaus, Rumersheim (Elsaß) 228 10.3. Technischer Standard: Aborte Bemerkenswert für den Standard der Pfarrhäuser ist, dass nahezu alle Originalpläne die für ihre Zeit überaus modernen Aborte als Originalbestand innerhalb des Hauskörpers dokumentieren. Meistens verfügt jede Etage über einen Abort, der als Locus, Privé, Privet, geheime Gemächer oder Secret bezeichnet wird410. Gelegentlich sind zwei Löcher im Sitzbrett eingezeichnet, das heißt der Abort bietet sogar zwei Sitzgelegenheiten nebeneinander, was eine von der Antike und dem Mittelalter überkommene intensive und kommunikative Nutzung belegt.411 Bei den elsässischen Pfarrhäusern findet sich der Abort durchweg in einem schmalen, über beide Stockwerke reichenden Anbau am Haus, möglicherweise, um die Sickergrube außerhalb der Fundamente anlegen zu können.412 Während der Abort der oberen Etage immer vom Haus aus erschlossen wird, ist der Abort im Erdgeschoss oft nur von außen zugänglich. Diese Isolierung vom Innenraum könnte auf Hygienevorstellungen oder Geruchsvermeidung zurückgeführt werden. Sie ermöglicht die Benutzung aber auch Personen, die in Nebengebäuden untergebracht sind, ohne dass sie das Pfarrhaus betreten müssen. In der Besonderheit dieser elsässischen Baugewohnheit, ebenso in der Verwendung von Stichbogenfenstern, offenbart sich der lokale Einfluss französischer Bauweisen. Dabei waren die Architekten häufig keine Franzosen oder Elsässer, sondern kamen – wie zu dieser Zeit weit verbreitet – aus Graubünden, Tirol oder Vorarlberg. Wie zum Beispiel Johann Caspar Bagnato erhielten sie eine Ausbildung als Militärbaumeister in unterschiedlichen Armeen und führten Aufträge beiderseits des Rheins aus. Das beweist, dass sie nicht konstant Lösungen gemäß der Tradition ihres Herkunftslandes, ihrer Ausbildung oder ihrem neuesten Kenntnisstand anwendeten, sondern den lokal verschiedenen Bauvorstellungen Folge leisteten. 281 Pfarrhaus, Saint Cosme (Elsaß) Kellereingang, Eingang und Abortanbau 282 Kanonikerhaus, Guebviller (Elsaß) Abortanbau 229 10.4. Nationale Besonderheiten: Niederlande und Belgien Nationale Besonderheiten der Bauweisen und Fassadengestaltung finden sich auch in den Niederlanden und Belgien. Im ganzen Benelux-Raum herrscht die Bauweise mit unverputztem Ziegelmauerwerk vor. Die in allen Regionen Europas gelegentlich anzutreffende höhere Ausführung des Erdgeschosses als Hauptwohngeschoss und ihre damit einhergehende Fassadengewichtung mit höheren Erdgeschoss- und niedereren Obergeschossfenstern wird insbesondere in den Niederlanden zu einem starken Kontrast gesteigert: Die durch eigentümlich niedere Brüstungshöhen betont hochformatigen Erdgeschossfenster werden mit quadratischen Obergeschossfenstern kombiniert. Bei dieser nicht unvorteilhaften Variante der Typgestaltung wirkt das Obergeschoss durch die kleineren Fensterformate leichter, und die Vertikalbetonung des Erdgeschosses wird durch das neutral ausgerichtete Obergeschoss pointiert in die Horizontale von Traufe und First übergeleitet. Beim von Van Gogh gemalten Pfarrhaus in Nuenen wird diese Akzentuierung noch durch die Beschränkung der Klappläden auf das Erdgeschoss gesteigert. In den Niederlanden weit verbreitet sind kräftig ausgestaltete Dachgesimse, oft als Kranzgesims nach palladianischem Vorbild – eine Bauweise, die sich von hier auch nach England und von dort weiter nach Nordamerika verbreitet hat. Das rote Ziegelmauerwerk wir dabei gern mit einem weißen Anstrich der Holzbauteile, also des Gesimses und der Fensterrahmen, kontrastiert. 283 Pfarrhaus, Nuenen (Niederlande) Gemälde von Vincent van Gogh, 1885 284 Pfarrhaus, Wakkerzeel (Belgien) In Belgien begegnet man dagegen regelmäßig der Fassadengliederung mit Sockelund Stockwerksgesimsen, auf denen die Fenster sitzen. Wie in Frankreich wird hier im Gegensatz zu niederländischen Gepfolgenheiten das Ziegelmauerwerk mit Fenstern mit Hausteingewänden kombiniert. Nur in Belgien hat sich zudem die Gewohnheit verbreitet, die Fenstergewände entweder in der Horizontalen oder in der Verti- 230 kalen mit durchgehenden Hausteinbändern zu verbinden. Die Fenster eines Stockwerks sind dann bei der horizontalen Betonung über ihre Stürze und Fensterbänke miteinander verbunden, ohne dass diese Bänderungen wie Gesimse vor das Mauerwerk ragen. Bei der vertikalen Betonung werden die Fenster einer Achse über ihre seitlichen Gewände miteinander verbunden. Eine belgische Besonderheit ist weiterhin die Ausführung der seitlichen Fenstergewände in einem Wechsel von Ziegelmauerwerk und Hausteinen. Im gleichen Rhythmus kann eine Eckquaderung aus einzeln in das Ziegelmauerwerk eingefügten Hausteinen dazu kommen. Auch kann bei Stichbogenfenstern der Sturz in diesem Materialwechsel gemauert sein. 10.5. Weitere Grundrissvarianten Weitere Beispiele des Standardgrundrisstyps finden sich mit zweiläufiger Treppe an der Rückwand, als Abschluss des Mittelflurs.413 Bei einer häufig anzutreffenden Alternative zum Standardtyp ist der Eingang an die Schmalseite verlegt, so dass der Mittelflur nicht die Breite, sondern die Länge des Hauskörpers durchquert.414 Die vom Standardtyp bekannte fünfachsige Gliederung der Längsseite mit Eingang in der Mittelachse wird zuweilen auch auf diese Schmalseite als Schauseite übertragen.415 285 Pfarrhaus, Hemmingen (Baden-Württemberg) 286-291 Pfarrhaus am Weißensee, Füssen (Bayern) Als Beispiel dient uns das für die Rezeption im 20. Jahrhundert so wichtige Pfarrhaus am Weißensee bei Füssen im Allgäu. Es wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Fischhaus des Füssener Klosters Sankt Mang erbaut, diente den Äbten auch als Sommersitz und wurde mit der Einsetzung eines ständigen Pfarrvikars 1766 unter Leitung Franz Karl Fischers zu einem Pfarrhaus umgebaut. Ein über die Hausbreite reichender Saal im Obergeschoss (heute in drei Räume unterteilt) und das durch die größere Raumhöhe und größere Fenster als Hauptgeschoss charakterisierte obere Stockwerk verweisen auf die Nutzung als komfortabler 231 Sommersitz mit Blick auf den See und die Ammergauer Berge. Dezente Repräsentation vermittelt die Schnittzeichnung bei der Deckengestaltung des Flurs im Erdgeschoss und der zweiflügeligen Korbbogentür zum Saal. Der quadratische Grundriss entwickelt eine großzügig durch zwei Bögen abgeteilte quer zum Flur liegende Treppe. Dreiachsige Eingangsseite und vierachsige Längsseite sind symmetrisch gegliedert, wohingegen die anderen Seiten durch zusätzliche Abortfenster und geschlossene Wandflächen bei Abort und Speisekammer die bekannten asymmetrischen Fassaden ausbilden. Dennoch wurde auch bei diesen Fassaden Wert auf eine gewisse Regelmäßigkeit gelegt, wie am schrägen Gewände des unteren Abortfensters ablesbar ist. Das Grundwasser erlaubte offensichtlich keine Unterkellerung. Dafür ist neben der Speisekammer ein kleiner Raum um vier Stufen tiefer gelegt und als Keller ausgewiesen. 289 Obergeschoss 290 Obergeschoss 232 Der quadratische Grundriss bedingt, dass es faktisch keine "Schmal-" und "Längsseite" im Aufriss gibt. Somit wird die gestalterische Bedeutung des Walmdachs im Gegensatz zu einem Zeltdach deutlich, denn das Dach allein gibt dem Haus die eindeutige Breitenlagerung einer Seite und erzeugt damit eine Richtung im landschaftlichen oder städtebaulichen Kontext.416 Von entscheidender Bedeutung für die Wirkung der Breitenlagerung ist die Länge des Firstes. Offensichtlich beträgt seine Länge in der Regel ungefähr wenigstens die Hälfte der Trauflinie. Aus diesem Grund mussten beim Pfarrhaus am Weißensee unterschiedliche Dachneigungen für Giebel- und Traufseite konstruiert werden, was seine eigentümliche Wirkung ausmacht. Die Angaben in der Literatur schwanken von 54 und 69 bis 53 und 70 Grad und ergeben beim Nachmessen der wiedergegebenen Bauaufnahme 49 und 63 Grad. Die Maßstabstreue der Planrekonstruktionen und ihre Verkleinerungen unterliegen allerdings einem Streufaktor. Sollte jedoch für die Giebelseite 53 Grad stimmen, dann wäre sie möglicherweise vom pythagoreischen Dreieck abgeleitet. Wand und Dach sind zwar nicht exakt, doch annähernd gleich hoch. Die differenzierte Proportionierung wird neben den unterschiedlichen Fensterhöhen durch die Zentrierung der Fenstergruppen bestimmt, so dass die Fenster, bedingt durch die Klappläden, untereinander einen geringeren Abstand halten als zur Hausecke. Außerdem ist der Abstand der Erdgeschossfenster zueinander größer als derjenige der Obergeschossfenster. Das heißt die Obergeschossfenster sind unwesentlich breiter. Nur an der Breitseite wird dies durch die Abstände der Klappläden richtig deutlich. Bemerkenswert, wenn auch genauso unauffällig ist die asymmetrisch über der Eingangsfassade platzierte Schleppgaube. Wegen seiner ausgewogenen Proportionierung, der Wirkung des Hauskörpers im Verhältnis zur Dachfläche und den hierzu förderlichen Details wie den bündig außen liegenden Fenstern oder dem schmalen Putzgesims als Übergang zur Dachtraufe wurde dieses Gebäude in der Literatur des 20. Jahrhunderts mehrfach als vorbildlich 233 gerühmt.417 Die Proportionsanalyse ergibt ein ausgefeiltes System sich wiederholender Maße418, wie wir es bereits bei Goethes Gartenhaus, dem Jagdhaus Gabelbach und dem Gartenhaus von Schloss Buchholz festgestellt haben419. Einige dieser Maße finden sich nicht nur an der Fassade, sondern auch im Grundriss wieder. Sie sind jedoch für die Außenwirkung und für innere funktionale Gesichtspunkte vollkommen unerheblich. Eine Erklärung für diese Methode wäre daher, dass nicht unbedingt ein akademisch geschulter Architekt mathematische Idealmaße auf einem Plan abzirkelt, sondern dass Baumeister oder Bauhandwerker eine überlieferte Praxis der Bauabmessung vornehmen: Mit einer Schnur werden bestimmte praktische Teillängen auf dem Boden des Bauplatzes abgeteilt.420 Nehmen wir die Hauslänge von 12,40 m als vorgegeben an, so wurden die Maße 1/2 und 1/4 dieser Länge abgeleitet und auf verschiedenste Bauteile übertragen. Eine Schnur mit Knoten an den gewünschten Punkten dient zur Bestimmung und Überprüfung der Maurerarbeiten auf der Baustelle. Die Praxis auf der Baustelle bedingt die Differenzierung, dass manche Abstände von der Außenseite der Mauern aus gemessen wurden und andere von der Innenseite der Mauern aus. Bei den ersten Markierungen auf dem Boden des Bauplatzes kann eine Wand auch direkt auf der Markierung hochgezogen werden, so dass als Messpunkt der Wandmittelpunkt erscheint. Insbesondere für die mit diesen Grundmaßen übereinstimmenden Raumproportionen des Inneren ist zu berücksichtigen, dass die Außenwand im Erdgeschoss dicker ist als im Obergeschoss421. Dass manche Raumdimensionen im Obergeschoss dennoch präzise mit diesen Maßen übereinstimmen, kann als Beweis für die Anwendung dieser Methode gelten. Es bleibt die Frage, ob die Baumeister und Handwerker darin eine reine Arbeitserleichterung sahen oder ob dem Übertragen der abgeleiteten Maßverhältnisse auf einzelne Innenräume auch bei diesem einfachen Bauwerk eine Bauphilosophie zur harmonischen Raumwirkung zugrunde lag. 292-294 Pfarr- und Chorherrenhaus, Eberhardszell (Baden-Württemberg) 234 Eine weitere Variante findet sich im vermehrt anzutreffenden Sechs-Felder-Grundriss, gewissermaßen durch einen zur Raumbreite geweiteten Mittelflur. In der Regel dient das mittlere Feld als Eingangshalle mit seitlich darin geführtem Treppenlauf.422 In repräsentativeren Häusern bleibt diese mittlere Eingangshalle frei, und die Treppe ist im mittleren Feld zur Rückseite hin angeordnet.423 Abschnittsweise können Längs- und Querflure dieses Grundrissbild differenzieren, um die unabhängige Nutzung der Räume sowie Eingänge von verschiedenen Seiten zu ermöglichen.424 Besonders raumreiche Häuser zeigen Grundrisse mit zwei Vier-Felder-Zonen und dazwischen liegender Querhalle425 oder werden von einem Längs- und einem Querflur kreuzförmig durchschnittenen426. Die Treppe liegt dabei im hinteren Flurarm. Die Zimmer sind wie bei einem Bürobau beidseitig des Längsflurs angeordnet. 295-296 Pfarrhaus, Weidenbach (Bayern). Erdgeschoss 297 Pastorat zu Sankt Jacobi, Münster (Westfalen). Erdgeschoss 235 So wie die verschiedenartigen Grundrissgruppen vom gängigsten Grundtyp abgeleitet werden können, ergibt sich auch in der Fassadengliederung eine beträchtliche Variationsmöglichkeit hinsichtlich der unterschiedlichen Größen, Achsrhythmen oder Asymmetrien. Dabei behält unser Bautyp immer seine erkennbare Charakteristik und beweist damit seine Flexibilität und Praktikabilität. Trotz der Bandbreite vom ärmlichen Häuschen bis zum prächtigen Palais wird die gleiche distinktive Bedeutungsabsicht beibehalten. Gerade hier wird deutlich, dass dieser formale Wiedererkennungswert mit einer anderen, beliebigeren Dachform als der des Walmdachs nicht hätte erzielt werden können. Die Entscheidung für diese komplexe Dachkonstruktion auf dem einachsigen Bremer Pastorenhaus mit seinem auf das Minimum reduzierten Raumprogramm mag als Extrembeispiel unsere These untermauern. Der Nachweis prägnanter Beispiele von Pfarrhäusern mit den gängigen Achsenzahlen im Anmerkungsapparat427 macht deutlich, dass die Vorliebe für die dreiachsige Variante im 20. Jahrhundert keine Entsprechung im 18. Jahrhundert findet, in dem dieser formale Grundtyp relativ selten verwendet wird. 298-301 Pastorat zu Sankt Pauli, Bremen. Erd- und Obergeschoss 302 Pfarrhaus, Allensbach (Baden-Württemberg) 303 Abtshaus Kloster Birnau (Baden-Württemberg) 236 10.6. Asymmetrie als Gestaltungsansatz Bei den asymmetrischen Fassaden der Barock-Pfarrhäuser lassen sich verschiedene Gestaltungsstufen analysieren. Auf einer ersten Stufe wird nur der Achsabstand variiert, so dass die Achsenkonkordanz als Ordnungsfaktor gewahrt bleibt. Diese zaghafte Freiheit erlauben sich die Baumeister jedoch nicht bei Fassaden mit Eingang in der Mittelachse, sondern nur bei Fassaden, die durch eine gerade Achsenzahl sowieso schon eine asymmetrisch platzierte Eingangstür haben. Das Pfarrhaus in Staffelstein zeigt einen engeren Abstand der äußeren linken Achse zur benachbarten Fensterachse, so dass um den Eingang herum eine gleichmäßig rahmende, gewissermaßen "stabile" Komposition erhalten bleibt. Das Pfarrhaus in Seefelden dagegen hat einen weiteren Abstand der äußeren linken Achse und die Eingangsachse als Scheidepunkt, so dass sich die drei rechten Achsen als in sich asymmetrische Gruppe zusammenschließen. Die optische Verbindung der Klappläden lässt zudem ungleich lange Reihungen an Ober- und Erdgeschoss entstehen. Das Pfarrhaus in Triembach-au-Val zeigt genau den gleichen Aufbau mit zusätzlich asymmetrisch geführter Freitreppe. 304 Pfarrhaus, Staffelstein (Bayern) 305 Pfarrhaus, Seefelden (Baden-Württemberg 306 Pfarrhaus, Triembach-au-Val (Elsaß) 307 Pfarrhaus, Dornburg (Thüringen) 237 Eine Besonderheit ist das Pfarrhaus in Dornburg mit asymmetrischer Eingangstür trotz ungerader fünfachsiger Fassade. Hier kommen zudem noch drei verschiedene Achsweiten zum Einsatz statt nur zwei wie bei den vorigen Beispielen. Die Rückseite des Pfarrhauses in Reichenau-Niederzell zeigt die Kombination von Achsweitenwechseln mit Fenstergrößenvariation durch die Notwendigkeit von Abortfenstern. 308-309 Pfarrhaus, Reichenau-Mittelzell (Baden-Württemberg) Ein erweiterter Aspekt tritt auf, wenn zum Wechsel der Achsenweiten noch das Ausscheren aus der Achsenkonkordanz hinzu kommt, wie bei der Rückseite des Pfarrhauses in Pürgen. Im Zusammenspiel mit dem leicht abschüssigen Gelände entwickelt diese Fassade eine faszinierende Spannung, denn die komplette Reihe der Obergeschossfenster ist nach links verschoben, als ob sie die größere Hausmasse zur Rechten ausgleichen wollte. Fast wie ein Fehler in der Bauausführung ist die Mittelachse minimal nach rechts verschoben, wohingegen das Dachhäuschen deutlich nach links von der Mitte abweicht. Letzteres würde man sich nun doch auf der Achse der Tür wünschen ... 310 Pfarrhaus, Pürgen, Bayern 318 Pfarrhaus, Neuviller-les-Saverne (Elsaß) Eine weitere Stufe ist das vereinzelte Variieren der Fensterformate. An der Rückseite des Pfarrhauses in Neuviller-les-Saverne ist trotz verschiedener Fensterbreiten, Gesimshöhen, Achsweiten und eines tieferen und rundbogigen Kellereingangs die 238 Achsenkonkordanz beibehalten. Die Rückseite des Pfarrhauses von Saint Martin besticht durch ausgeglichene Proportionen, obwohl das rechte untere Fenster die Achsenkonkordanz verlässt, das linke untere Fenster von der Stockwerkskonkordanz abweicht und zwei Kellerfenster das System vollständig durchbrechen. 311-312 Pfarrhaus, Saint Martin (Elsaß) 313-314 Pfarrhaus, Trochtelfingen (Bayern) Bemerkenswert ist die Rückseite des Pfarrhauses in Trochtelfingen. Auch hier sind Achsweiten, Achsen- und Stockwerkskonkordanz aufgegeben. Und dennoch bemüht sich eine paarweise Gruppierung um ein freies Ordungssystem. Das dazwischen geschobene Treppenhausfenster legt dazu sogar seine Sturzhöhe auf die Gesimslinie der oberen Fenster (In den drei letzten Beispielen beobachten wir "offizielle" Kleinfenster mit einheitlich gestalteten Gewänden und erachten übrige Öffnungen ohne diese Gewände als nachträglich eingebrochen). Eine unrhythmischere Variante mit mittigem Treppenhausfenster findet sich bei der Seitenfassade des Beamtenhauses in Bad Schussenried. 239 317 Beamtenhaus, Bad Schussenried (Baden-Württemberg) 315 Pfarrhaus, Belzig (Brandenburg) 316 Pastorat, Ratzeburg (Schleswig-Holstein) Der Trick, durch paarweise Anordnung Unregelmäßigkeiten zu harmonisieren, funktioniert auch am Pfarrhaus in Belzig, wo zur unregelmäßigen Fachwerkkonstruktion noch ein teilweise massiv gemauertes Erdgeschoss mit deutlich aus der Achse gesetztem Fenster hinzukommt. Der Usus, unregelmäßige Erdgeschosse mit gleichmäßig rhythmisierten Obergeschossen zu kompensieren, findet sich auch am Pastorat in Ratzeburg und an der Vorderseite des Pfarrhauses in Saint Martin. Die Rückseite des Pfarrhauses in Rengersdorf gliedert ihre zahlreichen Unregelmäßigkeiten allenfalls behelfsmäßig mit einer fadenkreuzartigen Bänderung, die bizarr auf dem Gewände des Hintereingangs aufsitzt. Vollkommen ungleichmäßige Rhythmen und Achsweiten zeigt das Pfarrhaus in Villé, was aber durch die lapidare und annähernd gleichmäßige Verteilung der Fenster kaum auffällt. 319-320 Pfarrhaus, Rengersdorf (Sachsen/Oberschlesien) 240 321 Pfarrhaus, Villé (Elsaß) 322 Pfarrhaus, Romillé (Bretagne) So wenig die rückseitigen Fassaden in den zeitgenössischen Plänen dargestellt werden oder in der Literatur Erwähnung finden, so deutlich fällt doch auf, dass die Unregelmäßigkeit immer einer unterschwelligen Gestaltungsabsicht im Sinne einer die Unordnung bejahenden und gleichwohl ausgleichenden Bearbeitung unterlag. Man könnte gewissermaßen von einer Ordnung der Unordnung sprechen. Eine totale Unansehnlichkeit einer Rückseite findet sich lediglich infolge späterer unsensibler Umbauten. Nur manche Pfarrhäuser in Frankreich (ohne Elsass) weichen von dieser Beobachtung ab. Dort finden sich Bauten, die auch an ihrer Hauptfassade vollkommen unregelmäßige Fensterverteilungen aufweisen, ohne einen Ordnungsgedanken im Sinne kontrollierter Asymmetrie erkennen zu lassen.428 Die frühe Datierung vieler dieser Pfarrhäuser auf das 17. Jahrhundert überzeugt, da ihre Steinschnitt des Mauerwerks und der Gewände verhältnismäßig grob gearbeitet ist. So lässt sich vermuten, dass der Bautyp des Pfarrhauses mit Walmdach seinen Ursprung in Frankreich hat, dass um 1700 seine Gestaltung hin zu Ordnung, Regelmäßigkeit und Präzision entwickelt wurde und dass er mit diesem Erfolgsmodell seine größte Verbreitung im deutschsprachigen Raum fand. 10. 7. Andere Nutzungen Das Spektrum der Walmdachverwendung wurde anhand der bayerischen Denkmalliste bereits abgesteckt. Wir führen daher nur noch einige ausgewählte Beispiele mit ihren Besonderheiten auf, die sich wieder aus dem europaweiten Kontext rekrutieren. Mit den Pfarrhäusern nahezu identisch sind viele Forsthäuser, auch mit der Anlage eines Hofes mit Nebengebäuden.429 Während die Größe, Regelmäßigkeit und typgerechte Fünfachsigkeit vieler Forsthäuser auf den hohen Stellenwert der Forstwirtschaft innerhalb der Amtshierarchien hinweist, zeigt sich bei untergeordneten 241 Aufsichtsstellen überwiegend eine kleinere und unregelmäßigere Ausführung der Amtshäuser (so beim Försterhaus in Wolbeck Abb. 144)430. Größere Dimensionen mit weniger kompakten Grundrissen und längeren Fassaden, die sich dennoch im Erscheinungsbild des Typs bewegen, zeigen die Amtshäuser im engeren Sinn.431 Rathäuser bieten eine Bandbreite von großen dreigeschossigen Bauten mit repräsentativen Treppenanlagen432 bis zu den bescheidenen Dimensionen unseres Typs433. Ihre Walmdächer werden oftmals durch einen Dachreiter als Uhrturm in ihrer Funktion gekennzeichnet. 323-324 Jägerhaus, Neuensorg (Baden-Württemberg). Obergeschoss und Erdgeschoss 326 Amtshaus, Staffelstein (Bayern) Obwohl ihnen ein anderes Raumprogramm zugrunde liegt, finden wir auch Schulen434 und Waisenhäuser435, die nicht nur auf einem individuellen Baukörper ein Walmdach als Bedeutungselement tragen, sondern exakt unserem Typ entsprechen. Auch Gasthäuser436 ähneln mit ihrer Gaststube den Anforderungen einer Schule mit einem oder mehreren Unterrichtsräumen oder den Rathäusern mit einem kleineren Saal. Alle diese Sonderfunktionen ließen sich jedoch mit den bekannten Grundrisstypen erfüllen. Häufiger finden sich bei diesen größeren Raumprogrammen folglich sieben-, neun- und bis zu elfachsige Fassaden. 327 Schule, Lüchow (Niedersachsen) 328 Johann Vogel: Musterplan für ein Rathaus 342 Mühle, Oberschlema (Sachsen) 329-332 Entwurf für ein Brauhaus 242 343 Mühle, Hotton (Belgien) 334-337 Schafstall, Hambühl (Bayern) 339-341 Kelter, Aspach (Baden-Württemberg) Bei Mühlen437, Brauhäusern438, Keltern439, Schafställen440, Getreidespeichern441 und militärischen Magazingebäuden442 begegnen wir Grundrissen, die die gesamte Grundfläche einnehmende Räume ohne Zwischenwände benötigen. Zusätzlich zur hoheitlichen oder fiskalischen Bedeutung könnte das Walmdach bei diesen Nutzungen auch wegen seiner Konstruktion gewählt worden sein. Denn die liegenden Dachstühle leiten die Dachlasten weitgehend oder vollständig auf die Außenmauern ab. 243 Und insbesondere bei einstöckigen Bauten hätte die Aufführung von Giebelwänden zusätzliche Aussteifungen mit Dachböden erfordert, denn die üblichen steilen Dachschrägen bedingen entsprechend hohe Giebel. Bei Mühlen und Keltern wurde der durchgehende, auch in den Dachraum hinein offene Raum aber zur Aufstellung der hohen Pressen, Mahlwerke oder Hammermaschinen benötigt. Die Existenz solcher Gebäude mit Satteldächern belegt natürlich, dass es konstruktiv auch anders ging. Doch können wir bei den Gebäuden unseres Typs davon ausgehen, dass sie zu ihrer Zeit als die moderneren, stabileren oder gegebenenfalls materialsparenderen Lösungen zur Erreichung bestimmter Ziele eingesetzt wurden. Allerdings wurden auch die offenen Markthallen des Mittelalters und der frühen Neuzeit wegen der gleichen Nutzungsanforderung mit hohen, durchgehend offenen Räumen unter Walmdächern ausgeführt. Nach der Bautradition sind sie aber wie die alten Bauernhaustypen Innengerüstbauten, können also konstruktiv nicht direkt mit unserer moderneren Walmdachkonstruktion gleichgesetzt werden. 338 Entwurf für ein Pulvermagazin, Torgau (Sachsen) 333 Markthalle, Brancion (Burgund) Während Keltern und Schafställe meist eingeschossig sind, haben Mühlen in der Regel zwei Stockwerke mit pragmatischer unregelmäßiger Fensterverteilung, die nicht einer ausgewogen gestalteten Asymmetrie folgt wie bei den Pfarrhäusern. Magazine und Speichergebäude finden sich zuweilen mit drei Stockwerken und wieder regelmäßiger Fassadengestaltung. Anstelle der Fenster sind diese Bauten oft nur mit kleinen Luken versehen. Das gleiche gilt für Amtsgefängnisse.443 Ein oft unmerklicher Schritt ist es von den dem Standardtyp entsprechenden Amtshäusern zu den Wohnhäusern von Amtsinhabern.444 Besonders Wohnhäuser von Amtspersonen, wie diejenigen des Bürgermeisters von Bremen (Abb. 253)445, des Obergerichtsverwalters in Ellingen446, des Landrichters in Nidda-Borsdorf447 oder des Nachrichters in Hemmendorf448, schlagen die Brücke zur Verwendung des 244 Bautyps als bürgerliches Wohnhaus allgemein. Gerade beim Nachrichterhaus – eine altertümlich mittelhochdeutsche Bezeichnung für den Scharfrichter – verblüfft jedoch nach unseren heutigen Wertmaßstäben, dass der Henker im Kreis Hameln in einem gleichartigen Haus wohnt wie der Bürgermeister der mächtigen Hansestadt Bremen. 344 Wohnhaus des Obergerichtsverwalters, Ellingen (Bayern) 345-346 Beamtenhaus, Altshausen (Baden-Württemberg) Eine besondere Lage, Geschichte und folglich Breitenwirkung hat in diesem Zusammenhang das Wohnhaus des Architekten449 und inoffiziellen Hofbaumeisters Johann Heinrich Endrich, das dieser 1718/20 am Rand der Parkanlage der Eremitage zu Bayreuth errichtete. Ab 1732 wurde es zum Landhaus oder Schlösschen Monplaisir der Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth erhoben. Ihr Bruder, König Friedrich II. von Preußen, besuchte sie zweimal in Begleitung Voltaires und verweilte hauptsächlich in diesem Haus.450 Seine bühnenbildhafte Lage im Park mit barockisierendem Vorgarten, seine ausgewogenen Maße und Fensterproportionen, seine Kombination von fünfachsiger Vor- und dreiachsiger Rückseite sowie seine Regelmäßigkeit in der Ausführung von Eckmauerung, Dachgauben und Kaminen geben ihm die herausstechende Qualität eines Prototyps. 347 Schloss Monplaisir, Eremitage Bayreuth (Bayern) 245 348-355 Menageriegebäude bei Schloss Ludwigsburg (Baden-Württemberg) 352 Erdgeschoss 353 Obergeschoss In einem ähnlichen Kontext steht das Menageriegebäude im Park von Schloss Ludwigsburg, in alten Stichen auch "Hühnerhaus am Posilippo" genannt451. Es ist als Aufsehergebäude für Park und Tiergehege überliefert und könnte doch auch als intime Rückzugsmöglichkeit für Teile der Hofgesellschaft, wenn nicht für den König von Württemberg selbst, im Rahmen romantisch inszenierter Spaziergänge nach Vorlage der Schäferidyllen oder nach bürgerlichem Habitus gedient haben. Es ist 246 eines der äußerst raren Beispiele unseres Typs auf dem Gebiet von Alt-Württemberg und noch dazu in der seltenen dreiachsigen Variante. Weiterhin verblüfft es durch ein artifiziell unregelmäßig geschichtetes Mauerwerk, das mit schrägen Wänden, einzelnen Ausbuchtungen, verwachsenen Ecken, diagonal versetzten spitzen Bruchsteinen und einem Dachgesims in Form roher Baumstämme der Regelmäßigkeit seines Grundplanes diametral entgegensteht. Selbst in ähnlichen romantischen Parkanlagen und Eremitagen wie Bayreuth, Wörlitz oder dem Hameau von Marie Antoinette in Versailles ist uns ein in Bauplan und Detailausführung vergleichbarer Bau nicht bekannt.452 Die Originalität des einen, ungewöhnlich großen Erdgeschossfensters erscheint trotz des überzeugenden Asymmetrieeffekts zweifelhaft. Auch das linke hochgesetzte Fenster fällt in Format und Sprossung aus den Konventionen des 18. und frühen 19. Jahrhundert heraus. Seine Position wird allerdings durch das Kellergewölbe bedingt, das nur an dieser Hausseite liegt und über die Bodenhöhe des Erdgeschosses hinausragt. Zwischen Keller und Obergeschoss bleibt daher nur ein niedriger Geräteraum übrig, und das Vorpodest zur Treppe führt vier Stufen erhöht an diesem Fenster vorbei. Während in der Wahl der Konstruktionen und Bauausführungen der Amts- und Pfarrhäuser des 18. Jahrhunderts eine bis heute erkennbare Stabilität und Langlebigkeit als wesentliche Zielsetzung der Bautätigkeit deutlich wird453, belegt das Bauschrifttum des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine noch strengere Holzeinsparung. Zu diesem Zweck wurden die hohen barocken Dächer, insbesondere die Mansarddächer, kritisiert454 und flachere Dachkonstruktionen propagiert455. Das schränkte die optische Wirkung, den Erkennungsfaktor und damit den Bedeutungsgrad der Walmdächer erheblich ein und trug zum Abriss der Tradition unseres Bautyps bei. Die sogenannte Landbaukunst prägte nunmehr noch stärker die Notwendigkeit der Sparsamkeit und Effizienz. Der Aspekt der Selbstdarstellung des Wohlstands trat in den Hintergrund. Dächer, Dachkonstruktionen, Wandstärken und Proportionen wurden nicht mehr wegen ihrer mächtigen oder behäbigen Wirkung ausgewählt, die mit einer nachhaltigen Stabilität einherging. Mit der Auflösung vieler Kleinstaaten endete in Deutschland die Prestigekonkurrenz der Kleinfürsten. Die staatliche Selbstdarstellung entfernte sich im 19. Jahrhundert vom Erscheinungsbild saturierter Palais' und Herrensitze. Der Beamtenapparat wurde strenger organisiert. Auch im napoleonischen und nachnapoleonischen Frankreich setzte der Ausbau straffer Verwaltungsstrukturen ein. Er schlug sich dort in Amtshäusern der Gendarmerie nach unserem Typ nieder, allerdings in bescheidenem Auftritt und ohne Hofwirtschaft der nunmehr zentral besoldeten Beamtenschaft. 247 359 Rathaus, Courtomer (Normandie) 357 Villa (Ile d’Oléron) Ein Gesetz von 1833 zum Aufbau des Grundschulwesens und der Gemeindeverwaltung (Loi Guizot) bescherte ganz Frankreich eine Bauwelle solcher Rathäuser, Schulen und kombinierter Schul-Rathäuser (oft mit Wachlokal, Spritzenhaus und Dienstwohnung) nach unserem Bautyp mit drei bis vier Achsen und halbhohem Walmdach.456 Sie beeinflussten den bürgerlichen Wohnhausbau ebenso, wie Bauernhöfe mit separatem "bürgerlichem" Wohnhaus bis hin zu kleineren Villen und Diensthäusern für Direktoren von Fabriken und öffentlichen Einrichtungen. Diese Häuser sind häufig durch formalen Schematismus, engatmige Proportionen, sowie eine maschinell perfekte, glatte Steinbearbeitung gekennzeichnet. Trotz regionaltypischer Materialwahl und Gestaltungen in den historistischen Neo-Stilen ergibt sich dadurch oft ein trockenes Erscheinungsbild. 356 Bauernhaus (Auvergne) 248 Wie weit sich der Stellenwert unseres Bautyps vom Ausdruck des Besonderen hin zum Alltäglichen veränderte, verdeutlicht ein impressionistisches Gemälde von Alfred Sisley aus dem Jahr 1873. Das Ufer der Seine bei Bougival mit rauchendem Schornstein im Hintergrund sowie Arbeitspferden und Lastkähnen im Mittelgrund folgt dem Usus der Impressionisten, bevorzugt Motive aus dem banalen, teils sogar schäbigen Alltag darzustellen und pittoreske Landschaften oder konventionell schöne Stadtansichten mit touristisch bedeutsamen Bauwerken zu vermeiden. Dieses typkonforme Walmdachhaus steht in diesem Gemälde als ehemals nicht darstellungswürdiges Objekt aus dem Arbeitsumfeld der Stadtränder mit Sägemühlen, Sandgruben oder Verladestationen. In der akademischen Salonmalerie für die feine Gesellschaft hätte es nichts zu suchen. Damit blieb die Tradition des Bautyps in Frankreich bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhalten. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen, dass sich die deutschen Reformarchitekten durch diese teils regionalistischen, teils historisierenden Bauten zu ihrer Wiederentdeckung des Walmdachhauses anregen ließen. 358 Alfred Sisley: „Die Flut. Ufer der Seine bei Bougival“, Ölgemälde 1873