Traumatisierte Kinder und Jugendliche im
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Traumatisierte Kinder und Jugendliche im
Traumatisierte Kinder und Jugendliche im Hilfeplanprozess Vortrag von Margarete Udolf, Alten Eichen Perspektiven für Kinder und Jugendliche Fachtag „Partizipation in der Hilfeplanung“ am 28.08.2013 ________________________________________________________________ Traumatisierte Kinder und Jugendliche im Hilfeplanprozess Im sozialpädagogischen Arbeitsfeld wird unter dem Begriff der Partizipation schwerpunktmäßig die Einbindung von Kindern und Jugendlichen bei allen das Zusammenleben und die individuelle Perspektivplanung betreffenden Ereignissen und Entscheidungsprozessen verstanden. Für Mädchen und Jungen, die Gewalt- und Vernachlässigung erlebt haben wirkt Partizipation als Korrektiv für die Erfahrung von Kontrollverlust und Ohnmacht. Zahlen zu Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe Eine aktuelle deutsche Studie hat sich mit der Häufigkeit von Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen, die im Rahmen der stationären Kinder- und Jugendhilfe betreut werden, auseinandergesetzt (M. Schmid, D. Wiesinger, C. Jaritz 2008). Demnach berichteten 75% der befragten Kinder und Jugendlichen über traumatische Ereignisse. Diese Zahlen decken sich mit denen britischer und amerikanischer Studien, die jeweils zwischen 60 (Meltzer et al. 2003) und 80% (Burns et al. 2004) liegen. Mit eingerechnet sind hierbei natürlich noch nicht die Traumatisierungen, die vorgeburtlich oder in der Säuglingsphase stattgefunden haben und an die keine konkreten Erinnerungen mehr bestehen bzw. die nicht amtlich bekannt sind. Definition Trauma Ein Trauma ist eine seelische Wunde, die durch ein oder mehrere lebensbedrohliche Ereignisse entstanden ist. Dabei wurden extreme Gefühle von Angst, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein ausgelöst und die Bewältigungsmechanismen eines Menschen schlicht überfordert. Ein solches Erlebnis oder auch schon allein die Beobachtung erschüttert das Selbst- und Weltverständnis und kann lang anhaltende Belastungsreaktionen hervorrufen. Die Dissoziation stellt den Hauptschutzmechanismus in traumatisierenden Situationen dar: dem Organismus wird erlaubt, sich innerlich von der Bedrohung zu distanzieren: Die Betroffenen „beamen“ sich weg, stehen neben sich, beobachten das Geschehen, wie einen Film etc. Dissoziation hilft Situationen auszuhalten, die nicht aushaltbar sind und geht mit einer Veränderung des Wahrnehmen, Fühlen und Erleben einher. Bei vielen Traumatisierten erscheint sie später als Traumafolge und erschwert ihnen u.a. die Teilhabe an sozialen Situationen. Folgen von Trauma durch Misshandlung für die Teilhabemöglichkeiten Traumatisierung durch Misshandlung und Vernachlässigung bedeutet für die Betroffenen Ausgeliefertsein, Ohnmacht und Willkür: Traumatisierte Kinder und Jugendliche haben oft über lange Zeit die Erfahrung gemacht, dass ihre Bedürfnisse, ihre Befindlichkeiten, ihre Wünsche nicht beachtet wurden oder noch benutzt wurden, um sie zu quälen. Sie wurden behandelt wie Objekte und waren hilflos ausgeliefert. Sie sind in einer Welt aufgewachsen, die sie nicht einschätzen, nicht beeinflussen und nicht verstehen konnten. Ihre Überlebensstrategien richteten sich gegen ihre eigene Person: Sie haben sich taub, stumm, gefühllos und unsichtbar machen müssen. Als Folge verfügen sie über ein geringes Selbstwertgefühl, wenig bis keine Erfahrung, selbst etwas bewirken zu können und es fällt ihnen zudem aufgrund ihrer verfestigten erlernten Hilflosigkeit schwer, für sich selbst einzutreten. Aus diesem Grund gilt Partizipation als wichtiges Korrektiv der Ohnmachtserfahrungen und als wichtiger Baustein auf dem Weg zur Subjektwerdung. Kinder und Jugendliche erfahren sich als „selbstwirksam“, © Psychologische Praxis für Beratung und Traumapädagogik Telefon 0421/20 67 862 www.traumapaedagogik-bremen.de Traumatisierte Kinder und Jugendliche im Hilfeplanprozess Vortrag von Margarete Udolf, Alten Eichen Perspektiven für Kinder und Jugendliche Fachtag „Partizipation in der Hilfeplanung“ am 28.08.2013 ________________________________________________________________ wenn sie auf ihre Umwelt einwirken und diese gestalten können, wenn ihr Rat gefragt ist und ihre Meinung eine Rolle spielt. Für Kinder und Jugendlich, die in misshandelnden bzw. vernachlässigenden Familien aufgewachsen sind, ist die Erfahrung, dass auch Kinder Rechte haben (z.B. KJHG, UN-KinderrechtsKonvention)und Eltern Pflichten(z.B. Art. 6 GG), von entscheidender Bedeutung im Gegensatz zur erlebten Rechts- und Respektlosigkeit. Partizipation als Korrekturerfahrung für traumatisierte Kinder und Jugendliche Trauma ist Partizipation ist Ohnmacht Überwältigung Kontrollverlust Manipulation Sprachlosigkeit Unüberschaubar Isolation Geheimnis Entwürdigung Respektlosigkeit Gewalt Selbstwirksamkeit Bewältigung Kontrolle Selbstbestimmung Mitsprache Überschaubarkeit / Transparenz Kontakt Offenheit Würde Respekt Gewaltlosigkeit Ursachen des Widerstandes gegen Partizipation Abwehrmechanismen sind Überlebensstrategien traumatisierter Menschen. Traumata lösen immer schreckliche Ängste aus, die beständige Begleiter der Betroffenen bleiben. Da kein Mensch (über-)leben kann, wenn er ständig voller schrecklicher Angst ist, müssen die Ängste abwehrt werden. Sie entwickeln unbewusste Abwehrmechanismen, die dann als "auffälliges Verhalten" beobachtet werden können und sich negativ auf die Teilhabemöglichkeiten der Betroffenen auswirken wie z.B.: Überanpassung: Diese jungen Menschen hoffen, durch übermäßiges Angepasst-Sein, durch blinden, ggf. vorauseilenden Gehorsam die stets als bedrohlich erlebten Erwachsenen zu beschwichtigen und so ihre Ängste zu reduzieren Totstell-Reflex: Völliges Erstarren, nicht mehr Mucksen beim kleinsten Anflug von Gefahr Sich selber schlecht machen: Dies ist der Versuch, eine letzte Übereinstimmung mit den Eltern herzustellen, indem sie ihnen Recht geben und die Schuld / Schlechtigkeit auf sich nehmen, in der Hoffnung, durch diese Zustimmung verschont zu bleiben Identifikation mit dem Aggressor: Aggressives und zerstörerisches Verhalten, um abzuschrecken und stark zu erscheinen, in der Hoffnung, dass "Wenn ich nie wieder schwach bin, kann mir keiner mehr was tun!" © Psychologische Praxis für Beratung und Traumapädagogik Telefon 0421/20 67 862 www.traumapaedagogik-bremen.de Traumatisierte Kinder und Jugendliche im Hilfeplanprozess Vortrag von Margarete Udolf, Alten Eichen Perspektiven für Kinder und Jugendliche Fachtag „Partizipation in der Hilfeplanung“ am 28.08.2013 ________________________________________________________________ Dissoziation kann zu räumlicher und zeitlicher Desorientierung und Erinnerungslücken führen sowie verursacht Probleme mit dem Ausfüllen der sozialen Rolle in Drucksituationen. Dies führ u.a. dazu, dass sich ca. 50% der Kinder und Jugendlichen teilweise oder gar nicht an die Hilfeplangespräche erinnern (Umfrage Alten Eichen 2011) Erlernte Hilflosigkeit: Menschen werden infolge von Erfahrungen der Hilf- oder Machtlosigkeit in ihrem Verhaltensrepertoire dahingehend eingeengt, dass sie nicht versuchen, negative Zustände zu verändern, obwohl sie es (von außen betrachtet) könnten. Das Phänomen wird „Erlernte Hilflosigkeit“ (learned helplessness depression) genannt (M. Seligman und S. Maier). „Erlernte Hilflosigkeit“ bedeutet, dass Menschen aufgrund von negativen Erfahrungen z.B. Verlust, Gewalt, Entlassung, Behinderung die Einstellung entwickelt haben, keine Kontrolle zu haben, also hilflos zu sein: „Das hat eh alles keinen Sinn.“ „Da kann ich nichts machen. Ich bin zu schwach.“ Als Folge der Hilflosigkeit resignieren sie und unternehmen nichts, um die Situation zu beeinflussen. Traumatisierte entwickeln oft starke Schuld- und Schamgefühle („Ich habe mich damals falsch verhalten und bin schuld. Hätte ich mich nur anders verhalten, wäre das alles anders“). Dieses „Wenn ich anders gewesen wäre…“ erzeugt Hilflosigkeit, die eine Basis für spätere Depressionen und Angsterkrankungen bilden kann. Parentifizierung und Not-Autonomie: Parentifizierung ist der Fachbegriff für eine Störung der Eltern-Kind-Beziehung im Sinne einer Verschiebung der Generationsebenen. Darunter versteht man die Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind, wobei die Eltern ihre Elternfunktion unzureichend oder gar nicht erfüllen und dem Kind eine nicht kindgerechte, überfordernde "ElternRolle" zuweisen. Parentifizierung kann in diesem Sinne als eine Bindungsstörung betrachtet werden, bei der die elterliche Bezugsperson erwartet, dass das Kind ihr als Bindungsobjekt zur Verfügung steht. Insbesondere Eltern mit unverarbeiteten eigenen Problematiken (z.B. psychisch kranke, komplex traumatisierte und suchtkranke Eltern) können selbst kein sicheres Bindungsobjekt für das Kind sein, weil sie überlastet oder selbst emotional bedürftig sind. So entwickeln viele Betroffene im Jugendalter eine „Not-Autonomie“, die u.a. auch die Funktion hat, sie vor zu nahen Beziehungen zu schützen. Durch Parentifizierung werden also die gesunden Entwicklungsprozesse von Autonomiebildung und Individuation und später Ablösung des Kindes massiv gestört. Die Notwendigkeit selbständigen und autonomen Verhaltens und Handelns tritt für den normalen Entwicklungsverlauf viel zu verfrüht auf und kollidiert mit altersangemessenen kindlichen Bedürfnissen nach Fürsorge, Geborgenheit, Spielfreude und Sorglosigkeit. Den Kindern fehlt damit wichtige Zeit für die persönliche Reifung, stattdessen lernen sie, Verantwortung für sich, für ihre Geschwister, ihre Eltern und somit für ihre ganze Familie zu übernehmen. Das bedeutet, dass sie lernen, die Bedürfnisse anderer an die erste Stelle zu setzten und gleichzeitig eigene Bedürfnisse zu verleugnen, zu verdrängen bzw. gar nicht mehr wahrzunehmen. © Psychologische Praxis für Beratung und Traumapädagogik Telefon 0421/20 67 862 www.traumapaedagogik-bremen.de Traumatisierte Kinder und Jugendliche im Hilfeplanprozess Vortrag von Margarete Udolf, Alten Eichen Perspektiven für Kinder und Jugendliche Fachtag „Partizipation in der Hilfeplanung“ am 28.08.2013 ________________________________________________________________ Was tun? 1. Partizipation als (trauma)pädagogische Grundhaltung bedeutet ein besonderes Menschenbild: Kinder und Jugendliche sind Erwachsenen prinzipiell gleichgestellt und Partizipation beginnt am ersten Tag der Hilfeplanung! 2. Partizipation stellt die Ausgangsbasis der Beziehungsgestaltung zwischen Fachkräften und Betreuten in jedem Kontext der Kinder und Jugendhilfe dar: nicht nur Kinder und Jugendliche sollen sich an den öffentlichen und freien Träger anpassen – die Institutionen unternehmen Anspassungsleistungen an das Individuum die gesamte Kinder- und Jugendhilfe denkt konsequent von den Interessen der Mädchen und Jungen aus Stufen der Partizipation Damit Beteiligung im Hilfeplanungsprozess gelingen kann, muss für alle Betroffenen berücksichtigt werden, dass die Maßnahmen keine Überforderung darstellen. Je nach Alter, Entwicklungsstand und Motivation ist eine entsprechende Stufe der Beteiligung zu wählen. Dabei muss für die Kinder und Jugendlichen jeweils im Voraus transparent sein, um welche Form der Beteiligung (z.B. Information oder Mitbestimmung) es geht. Partizipation wird hier als Befähigungsprozess verstanden, der zum partnerschaftlichen Aushandeln von Beteiligungsformen an Machtquellen führen soll. Dieser Prozess wird als Stufenmodell dargestellt. In der praktischen Sozialarbeit geht es hierbei um die Ausbalancierung des ungleichen Machtgewichts zwischen Fachkräften und jungen Menschen. Mitwirkung Mitbestimmung Mitsprache Information Nicht-Information Manipulation nach R. Hart und M. Kühn Das Schaubild zeigt verschiedene Formen der Beteiligung, in denen die Entscheidungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche jeweils unterschiedlich ausgeprägt sind: Von der Stufe der Nicht-Information © Psychologische Praxis für Beratung und Traumapädagogik Telefon 0421/20 67 862 www.traumapaedagogik-bremen.de Traumatisierte Kinder und Jugendliche im Hilfeplanprozess Vortrag von Margarete Udolf, Alten Eichen Perspektiven für Kinder und Jugendliche Fachtag „Partizipation in der Hilfeplanung“ am 28.08.2013 ________________________________________________________________ also Nicht-Beteiligung) geht es mit zunehmender Beteiligung über Mitsprache und Mitwirkung bis zur Selbstbestimmung als höchster Stufe. So kann der tatsächliche Entwicklungsstand und aktuelle Stabilität der Mädchen und Jungen im Hilfeplanprozess berücksichtigt werden! Wichtig: Als hilfreich hat es sich erwiesen, schwierige Hilfeverläufe nicht als Niederlage sondern eher als diagnostische Informationen über die Beteiligten Kinder und Eltern zu bewerten! Hinweise zur Gestaltung von Hilfeplangesprächen 1.Transparenz und rechtzeitige Information über Anstehendes 2. Vorbereitung vor Hilfeplangesprächen 3. Zeit für die innerliche Vorbereitung 4. unterstützende Begleitung während der Hilfeplangespräch 5. Nachbereitung der Ergebnisse Dies geschieht hauptsächlich in Gesprächen, wobei mehrere Anläufe und differenzierte Methoden hilfreich sind. Fachkräfte benötigen auch zeitnahen Infofluss und geregelter Austausch mit allen beteiligten Helferinnen. Bei gelingender Umsetzung der Partizipation in der Hilfeplanung wird das Gefühl traumatisierter Mädchen und Jungen, der Willkür Erwachsener ausgeliefert zu sein allmählich abgebaut und das Gefühl von Selbstwirksamkeit wird entstehen. Literaturempfehlung Bandura, A.: Self-efficacy: The exercise of control. Bausum, Besser, Kühn, Weiß (Hrsg.): Traumapädagogik. Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis Huber, M.: Trauma und die Folgen Huber, M.: Wege der Traumabehandlung Lenz, A.: Kinder psychisch kranker Eltern Marone, N.: Erlernte Hilflosigkeit überwinden Schmid, M.: Über die Dissoziationsneigung traumatisierter Mädchen und Jungen. Vortrag Seligmann, M., Meier, S.: Erlernte Hilflosigkeit Weiß, W.: Phillip sucht sein Ich © Psychologische Praxis für Beratung und Traumapädagogik Telefon 0421/20 67 862 www.traumapaedagogik-bremen.de