Dissoziative und Somatoforme Störungen

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Dissoziative und Somatoforme Störungen
Dissoziative und
Somatoforme
Störungen
Prof. Dr. Christian Schmahl
Entwicklung des aktuellen
Dissoziationskonzepts (1)
• Das Dissoziationskonzept ist historisch eng
mit dem Hysteriebegriff verbunden.
• Pierre Janet begründete den Begriff
„Dissoziation“ Ende des 19. Jahrhunderts.
• Hysterische Symptome als Ergebnis aktiver
Verdrängung in der Psychoanalyse.
• Im DSM-III (1980): Auflösung des
Hysteriemodells, da dissoziative Phänomene
auch unabhängig von psychosexuellen
Konflikten auftreten können.
26.11.09
Entwicklung des aktuellen
Dissoziationskonzepts (2)
Seit DSM-III Unterteilung in:
1. Dissoziative Störung: Störungen auf rein
psychischem Niveau (z. B. Amnesien, Fugue,
multiple Persönlichkeit)
2. Konversionsstörung: Pseudoneurologische
Körpersymptome (z.B. Koordinations- oder
Gleichgewichtsstörungen, Blindheit)
26.11.09
Entwicklung des aktuellen
Dissoziationskonzepts (3)
3. Somatisierungsstörung: Störungen mit
früh beginnenden, multiplen und vagen
Beschwerden in verschiedensten
Organsystemen (z.B. Kopfschmerzen,
Übelkeit, Erbrechen)
4. Histrionische Persönlichkeitsstörung:
ehemals hysterische Persönlichkeit
26.11.09
Das „Hysteriespektrum“ im DSM
Angsstörungen
Persönlichkeitsstörungen
Agoraphobie
paranoid
Panikstörung
spezifische Phobie
hysterische Persönlichkeit
hysterische Neurose
schizoid
schizotypisch
soziale Phobie
antisozial
Zwangsstörung
Borderline
generalisierte Angststörung
histrionisch
posttraumatische
Belastungsstörung
narzißtisch
selbstunsicher
akute Blastungsstörung
dependent
zwanghaft
Somatoforme Störungen
negativistisch
Körperdysmorphe Störung
Hypochondrie
Konversionsstörung
Dissoziative Störungen
Vorgetäuschte Störungen
Somatisierungsstörung
Dissoziative Amnesie
körperliche Symptome
Somatoforme
Schmerzstörung
Dissoziative Fugue
psychische Symptome
Undifferenzierte somatoforme
Störung
Depersonalisationsstörung
Dissoz. Identitätsstörung
Simulation
Nach: Fiedler 1999
Zwei unterschiedliche Definitionen
Dissoziation wird definiert als…
• ICD-10: …teilweiser oder völliger Verlust der
normalen Integration von Erinnerungen an die
Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der
unmittelbaren Empfindungen, sowie der
Kontrolle von Körperbewegungen.
• DSM-IV: …als Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktion des Bewussteins,
des Gedächtnisses, der Identität oder der
unmittelbaren Wahrnehmung von sich und der
Umwelt.
26.11.09
Eine gemeinsame Definition
DSM-5: …als Unterbrechung der
normaler-weise integrativen Funktion des
Bewusstseins, des Gedächtnisses, der
Identität, der Emotion, der unmittelbaren
Wahrnehmung von sich und der Umwelt,
der Körperwahrnehmung, der
Körperkontrolle und des Verhaltens.
DGPPN
26.11.14
Dissoziative Symptome vs.
Störungsbilder
• Depersonalisation
• Derealisation
• Amnesie
• Wahrnehmungsstörungen/Analgesie
• Pseudoneurologische
26.11.09Symptome
• Depersonalisations/Derealisationsstörung
• Dissoziative Amnesie
• Dissoziative Fugue
• Dissoziative
Identitätsstörung
• Dissoziative
Sensibilitäts- und
Empfindungsstörung
• Konversionsstörung
Dissoziative Amnesie
Eine 28-jährige Patientin kann sich nur sehr
lückenhaft an ihre Kindheit und Jugend erinnern.
Sie erinnert einige Episoden ihrer Schulzeit,
kann jedoch kaum konkrete Ereignisse in der
Familie erinnern. Erst mit dem Auszug aus dem
elterlichen Haus mit 17 Jahren setzen die
Erinnerungen ein. Auch aktuell leide sie unter
Gedächtnislücken. Sie merke auf einmal, dass
Stunden vergangen sind und wisse nicht, was
sie gemacht habe.
26.11.09
Dissoziative Fugue
Ein 43-jähriger Mann verschwindet plötzlich von
seinem Arbeitsplatz. Nachdem seine Frau eine
Vermisstenanzeige aufgegeben hat, wird er zwei
Tage später in einer anderen Stadt von
Polizisten gefunden. Nachuntersuchungen
ergeben, dass der Mann mit dem Zug in die
entfernt liegende Stadt gefahren ist und dort ein
Zimmer in einer Pension gemietet hat. Er selbst
habe weder dafür noch für die übrigen
Geschehnisse während dieser Zeit
Erinnerungen.
26.11.09
Depersonalisationsstörung
Ein 32-jähriger Patient berichtet von Episoden,
die ihm große Angst machen würden. Er komme
sich dann stundenlang fremd und unwirklich vor.
Irgendwie fühle es sich an, als ob nicht er,
sondern ein anderer die Dinge erlebe und er nur
zuschaue. Wenn es besonders schlimm sei,
nehme er seinen Körper ganz verändert war.
Insbesondere seine Arme und Beine würden
ihm dann viel zu lang und wie Gummi
vorkommen.
26.11.09
Gestörte Lernprozesse bei
dissoziativen Patienten
Akquisition (Lernen)
Extinktion
+
SCR
CS+
CS-
Differenzierung = assoziatives Lernen
Skin conductance
Gestörte Lernprozesse bei
dissoziativen Patienten
CS+
*
CS-
*
*
HC
BPD D-
BPD D+
Generelle Probleme
• Generell werden dissoziative Symptome immer noch viel
zu häufig übersehen.
• Gründe:
– Pat. kommen häufig wegen anderen Problemen (z.B.
Depression)
– Es fehlen den Pat. häufig die Begriffe zum Beschreiben der
Symptome
– Pat. schämen sich häufig ihrer Symptome („verrückt sein“)
=> Es sollte daher klinischer Standard sein, dissoziative
Symptome im Rahmen der Erhebung des
psychopathologischen Befundes zu erfragen.
26.11.09
Bedingungsfaktoren
Für die Behandlung ist grundsätzlich zu
unterscheiden:
- Dissoziative Symptome aufgrund hoher
Dissoziationsneigung?
- Dissoziative Symptome aufgrund traumatischer
Erlebnisse?
26.11.09
Therapeutisches Vorgehen
Generell:
- Psychotherapie gilt als die Methode der Wahl
- Phasenorientiertes Vorgehen:
1. Stabilisierung und Symptomreduktion
2. Auseinandersetzung mit traumatischen
Erlebnissen
Medikamentös:
- SSRI (Paroxetin)
- Naltrexon
26.11.09
Zusammenfassung Dissoziation
• Unterscheide Dissoziative Symptome von
Dissoziativen Störungen
• Dissoziation behindert Lernen und damit
Psychotherapie.
• Dissoziation sollte psychotherapeutisch und evtl.
unterstützend medikamentös angegangen
werden, insbesondere vor Beginn einer
Traumatherapie.
Somatisierungsstörung (ICD-10)
A.
B.
C.
Eine Vorgeschichte von mindestens zwei Jahren mit anhaltenden
Klagen über multiple und wechselnde körperliche Symptome, die
durch keine diagnostizierbare körperliche Krankheit erklärt werden
können.
Ständige Beschäftigung mit den Symptomen führt zu anhaltendem
Leid.
Hartnäckige Weigerung, die medizinische Feststellung zu
akzeptieren, dass keine ausreichende körperliche Ursache für die
körperlichen Symptome vorliegt.
Insgesamt sechs oder mehr Symptome aus der folgenden Liste:
Somatisierungsstörung (ICD-10)
• Gastrointestinale Symptome:
z. B. Bauchschmerzen, Übelkeit, Völlegefühl, Erbrechen
außer während der Schwangerschaft, Durchfall,
Unverträglichkeit von verschiedenen Speisen
• Kardiovaskuläre Symptome:
Atemlosigkeit, Brustschmerzen
• Urogenitale Symptome
z.B. Dysurie oder Klagen über die Miktionshäufigkeit
• Haut- und Schmerzsymptome:
Klagen über Fleckigkeit oder Farbveränderungen der
Haut, Schmerzen in Gliedern oder Gelenken, Taubheit
oder Kribbelgefühle
Somatoforme Schmerzstörung
(ICD-10)
Andauernde und beeinträchtigende
Schmerzen, die nicht direkt oder vollständig
durch eine organische Ursache erklärbar sind
und sich mit psychosozialen Problemen in
Zusammenhang bringen lassen, die das
Schmerzproblem verursachen können
Somatische Belastungsstörung
(DSM-5)
A. Eines oder mehrere Symptome, die belastend
sind oder zu erheblichen Einschränkungen in
der alltäglichen Lebensführung führen.
B. Exzessive Gedanken, Gefühle oder
Verhaltensweisen bzgl. der somatischen
Symptome oder damit einhergehender
Gesundheitssorgen.
C. Persistierender Zustand der
Symptombelastung (> 6 Monate)
Krankheitsangststörung
(DSM-5)
A. Übermäßige Beschäftigung damit, eine
ernsthafte Krankheit zu haben oder zu
bekommen.
B. Körperliche Symptome liegen nicht oder nur in
geringer Intensität vor.
C. Ausgeprägte Ängste hinsichtlich de Gesundheit
D. Übertriebene gesundheitsbezogene
Verhaltensweisen
Differenzialdiagnose I
• Depressive Störungen: Klar abgrenzbar anhand
Stimmungsänderung
• Angststörungen: Nähe zur Hypochondrie, insbesondere
bei Generalisierter Angststörung
• Psychotische Störungen: Glgtl. Halluzinationen und
Wahnvorstellungen bezogen auf Körper(funktionen),
insbesondere coenästhetische Halluzinationen
• Persönlichkeitsstörungen: längerer Verlauf, Komorbidität
wichtig
Differenzialdiagnose II
• Körperliche Erkrankungen: eindeutige pathologische
medizinische Befunde
• Vorgetäuschte Störung (Artifizielle Störung/
Münchhausen-Syndrom):
Symptome werden erzeugt, erfunden oder vorgetäuscht
(z.B.: Speichelinjektion in die Haut, Abszesse).
• Simulation: Körperliche oder psychische Symptome
absichtlich erzeugt, stark übertrieben oder rein erfunden
(z.B. Bauch- oder Kopfschmerzen, Ängste)
– Erkennbare Absicht
– Hinweise: Große Diskrepanz zwischen subj. Belastungen und
objekt. Befunden, Mangel an Kooperation bei Diagnostik und
Behandlung, Antisoziale PS
Risikofaktoren I
• Genetische Prädisposition:
Eineiige (29%) versus zweieiige (10%) Zwillinge, auch
Adoptionsstudien ähnlich (norwegische Studien)
• Biologische Auffälligkeiten:
erhöhte psychophysiologische Erregbarkeit, gestörte
Prozesse der Aufmerksamkeit und interozeptiven
Wahrnehmung, kortikale und psychoneuroimmunologische Auffälligkeiten (z. B. Cortisol-Spiegel) etc.
• Sozidemographische Risikofaktoren:
weiblich, niedriges Bildungsniveau, soziokulturelle
Prägung
Risikofaktoren II
• Kindheitserlebnisse: Häufung von Verlusterlebnissen,
Vernachlässigung, elterliche Modellfunktionen,
Missbrauch
• Prädisponierende Persönlichkeitszüge: Alexithymie
• Interozeptiver Wahrnehmungsstil: „somatosensorische
Verstärkung“, d. h. die Neigung körperliche
Empfindungen als intensiv, beeinträchtigend und
schädlich zu erleben
• Kognitive Fehlbewertungen: unrealistischer
Gesundheitsbegriff, falsche Annahmen über
physiologische Zusammenhänge, übertriebene
Ansprüche an die heutige Medizin
• Soziale Faktoren: operante Verstärker, Krankenrolle in
der Gesellschaft
Störungsmodell
1. Auslöser
oder Trigger
Informationen,
physiologische
Erregung,
Krankheit
2b Krankheitsverhaltensweisen
(aufrechterhaltende Funktion):
Checking, doctorshopping etc.
Körperliche
Veränderungen
Missempfindung,
Körperreaktion
2a Symptomverstärkung
Aufmerksamkeitslenkung
auf eigenen Körper,
physiologische Erregung
Wahrnehmung
Fehlinterpretation als
(bedrohliche)
Krankheitszeichen
Übung Verstärkung/Ablenkung
Hilfestellung für Ärzte I
1.
2.
3.
4.
Bestätigen Sie die Glaubhaftigkeit der Beschwerden
Sprechen Sie frühzeitig an, dass die wahrscheinlichste
Ursache für die Beschwerden keine schwere
Erkrankung ist, sondern eine Störung der
Wahrnehmung von Körperprozessen, wie sie oftmals
unter Stress vorkommt. Bieten Sie ggf. weitere
Erklärungsmöglichkeiten an.
Vermeiden Sie unnötige Eingriffe (z.B. häufige
Wiederholung von Untersuchungen).
Vermeiden Sie Bagatelldiagnosen und sonstige
Verhaltensweisen, die den Patienten in seiner
organischen Sichtweise der Erkrankung verstärken.
Hilfestellung für Ärzte II
5.
6.
7.
Vereinbaren Sie feste Termine für
Nachuntersuchungen. Versuchen Sie den Patienten zu
unterstützen, „spontane“ Arztbesuche zu vermeiden.
Motivieren Sie zu einer gesunden Lebensführung (z.B.
Stressabbau) und beugen Sie inadäquatem
körperlichem Schonverhalten vor.
Stellen Sie Rückfragen und lassen Sie den Patienten
das Gespräch zusammenfassen, um mögliche
Informationsverzerrungen beim Patienten zu
erkennen.
Psychopharmaka bei
Somatoformen Störungen
• Empirische Wirksamkeitsnachweise fehlen
weitgehend
• Einsatz von Benzodiazepinen oder
sedierender Neuroleptika („Imap-Spritze“)
obsolet
• Am ehesten Einsatz trizyklischer
Antidepressiva (z.B. Amitriptylin,
Trimipramin, Doxepin) oder SNRI (z.B.
Duloxetin)
Verhaltensmedizinisches
Behandlungskonzept
• Empathisches Verhältnis zum Patienten
herstellen, Diagnostik und Anamneseerhebung
• Für psychologischen Therapieansatz
motivieren: Patienten und seine Symptome ernst
nehmen, evtl. zeitliche Befristung vereinbaren
• Erfahrung mit Vorbehandlungen und
Entwicklung von Krankheitsmodellen
Zusammenfassung
Somatoforme Störungen
• Somatoforme Störungen sind eine
Herausforderung für Organmediziner und
Psychotherapeuten
• Keine strenge Dichotomie psychisch-organisch
• Die „Imap-Spritze“ ist nicht die richtige
Behandlung
• Kognitiv-Verhaltenstherapeutische Ansätze
eignen sich zur Behandlung von somatoformem
Verhalten und hypochondrischen Kognitionen