braunschweiger beiträge

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braunschweiger beiträge
braunschweiger beiträge
für theorie und praxis von ru und ku
3/2000
herausgegeben vom
93
issn 0172-1542
KIRCHENCAMPUS WOLFENBÜTTEL
schriftleitung: manfred kwiran und hans-georg babke
amt für religionspädagogik und medienarbeit
der ev.-luth. landeskirche in braunschweig
postfach 16 64, 38286 wolfenbüttel • telefon: (05331) 802-503 bis -506 •
fax: (05331) 802-713 • e-mail: [email protected]
impressum
Schriftleitung:
Prof. Dr. Manfred KWIRAN, Litt. D. h. c., Pfarrer, Leiter des ARP&M, Wolfenbüttel
Dr. phil. Hans-Georg BABKE, Pfarrer, stellv. Leiter des ARP&M, Wolfenbüttel
Mitarbeiter dieses Heftes:
Priv. Doz. Dr. Norbert AMMERMANN, Institut für Ev. Theologie,
Comthurgasse 8, D 99084 Erfurt
Konrektor Dr. Klaus ARNDT, Schlesierstr. 39, D 31139 Hildesheim
Prof. Dr. Manfred BÖNSCH, Universität Hannover, Fachbereich
Erziehungswissenschaften, Bismarkstr. 2, D 30173 Hannover
Konrektorin Irmgard DAMM, Alfred-Teves-Schule, Limbergstr. 49, D 38518 Gifhorn
Dieter FAUTH, Bismarckstr. 15, D 97080 Würzburg
Ingrid ILLIG, Gutenbergstr. 1, D 31139 Hildesheim
Olaf KÜHL-FREUDENSTEIN, Universität Würzburg, Lehrstuhl für Evang. Theologie II,
Wittelsbacherplatz 1, D 97074 Würzburg
Dr. Christine LEHMANN, Gertrudenstr. 29A, D 38102 Braunschweig
Dr. Reinhard LOOCK, Technische Universität, Geysostr. 7, D 38106 Braunschweig
Pfarrerin Sigrid LUNDE, Heinrichstr. 17, D 55543 Bad Kreuznach
Altlandespfarrer u. Dipl.-Psych. Wilhelm REINMUTH, Unterer Weinberg 47,
D 97234 Reichenberg
Pfarrer Joachim SCHREIBER, Amtsstr. 31, D 38448 Wolfsburg
Lothar TECKEMEYER, In der Worth 7, D 37077 Göttingen
Wulf WINTER, Schlesierweg 3, D 38165 Lehre
Layout:
Veronika SCHNEIDER, ARP&M, Wolfenbüttel
Druck:
Ernst KOTULLA, Wolfenbüttel
'braunschweiger beiträge' erscheinen viermal im Jahr.
Preis im Abonnement DM 18,00; Einzelheft DM 6,00.
Landeskirchenkasse Wolfenbüttel:
Ev. Kreditgenossenschaft Hannover
Konto 6505
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Konto 115 51-305
BLZ 250 607 01
BLZ 250 100 30
Auflagenhöhe 'bb' Heft 93: 2.500 Exemplare
Ab- und Raubdrucke sowie Fotokopien und sonstige Vervielfältigungen sind dringend erwünscht. Bitte Quellenangaben nicht vergessen, zwei Exemplare immer als Beleg an uns.
Wir freuen uns, danke!
quellen
Titelbild / Beilage (Folie): Altarwand des Malers Adi Holzer "Wie Engelsflügel" (S.5)
Liebe Kollegin, lieber Kollege,
auch dieses Mal haben wir uns wieder bemüht, für Sie hoffentlich interessante und anregende Beiträge zusammen zu stellen. Wir möchten uns auf diesem Wege bei unseren Autoren –
auch bei denen, deren Beiträge in dieser Ausgabe keinen Platz finden konnten – dafür zu
bedanken, dass sie uns ihre praktischen Unterrichtserfahrungen und ihre theoretischen
Überlegungen zur Verfügung gestellt haben.
Obwohl es mich reizen würde, insbesondere die profilierten Fachbeiträge einleitend zu
kommentieren, will ich nur zwei Beiträge besonders erwähnen.
Da ist zunächst einmal das von Lothar Teckemeyer dokumentierte und mich bestechende
KU-Projekt “Nikolausberger Konfirmandenaltar”: Eine Konfirmandengruppe fertigt aus
mehreren selbst gemalten Einzelbildern ein Altarbild mit den wesentlichen soteriologischen
Ereignissen aus dem Leben Jesu an. Grundlage dafür sind die Verben aus dem 2. Artikel
des Apostolischen Glaubensbekenntnisses (empfangen, geboren, gelitten, gekreuzigt, gestorben, begraben, hinabgestiegen, auferstanden, aufgefahren, richten). In diesem Projekt
werden Elemente eines traditionellen Katechismus-Unterrichts verknüpft mit der erfahrungsorientierten Erschließung der Bedeutung Jesu im lebensweltlichen Kontext der Konfirmandinnen und Konfirmanden. Gegenwärtige Unheilssituationen und Heilshoffnungen
der Jugendlichen werden mit dem Leben und Schicksal Jesu in Beziehung gesetzt. Eine Art
kontextueller Konfirmandentheologie. Die inszenierten Lernprozesse sind sowohl strukturiert und absichtsvoll als auch handlungsorientiert. Seinen vorläufigen Höhepunkt findet
das Projekt in einem Gottesdienst, in dem das Altarbild der Gemeinde präsentiert und
erläutert wird.
Dieses Beispiel zeigt, dass es in der Konfirmandenarbeit nicht bei dem unversöhnlichen
Gegensatz zwischen kognitiv orientiertem Unterricht und der Ermöglichung von spirituellen Gemeinschaftserfahrungen bleiben muss, dass vielmehr im Medium handlungsorientierter
Projekte die unaufgebbare Dimension der kognitiven Vermittlung christlichen Glaubenswissens und die Dimension existentieller Erfahrungen sinnvoll miteinander vermittelt werden können.
Olaf Kühl-Freudenstein beklagt in seinem fachdidaktischen Beitrag zu Recht, dass
kirchengeschichtliche Themen in den Lehrplänen und Rahmenrichtlinien für den RU kaum
vorkommen, obwohl darin gleichzeitig die Forderung erhoben wird, bei der Schülergeneration
das kulturelle Gedächtnis zu entwickeln und zu fördern. Wenn kirchengeschichtlichen Themen in den religionspädagogischen Konzeptionen der Nachkriegszeit überhaupt eine Bedeutung beigemessen wurde, dann in der Regel orientiert an dem Prinzip der Vorbilddidaktik:
Einzelne herausragende Personen (Franz von Assisi, Luther, Bonhoeffer, Martin Luther
King) wurden und werden noch immer als Glaubenshelden glorifiziert – mit der Konsequenz einer unüberwindlichen Kluft zwischen diesen vorbildlichen Helden und dem normalen Christsein unter den Alltagsbedingungen der Gegenwart. Der Autor plädiert stattdessen für eine kirchengeschichtliche Didaktik, die am religiösen Leben der eigenen Region
orientiert ist, für eine “kirchengeschichtliche Heimatkunde”. Mit einem derartigen Ansatz
wird es möglich, die Bedeutung vergangenen Christseins im lebensweltlichen Alltag zu erschließen, um daraus Konsequenzen für das gegenwärtige Christsein unter Alltagsbedingungen zu ziehen. Darüber hinaus bietet dieses didaktische Konzept die große
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Chance, es mit handlungsorientierten, schüleraktiven Formen des Projektunterrichts zu
verbinden (Exkursionen, Interviews, Suche nach und Sammlung von Dokumenten, Anfertigen von Skizzen, Fotographieren usw.). Diese Organisation von Lernprozessen bietet auch
die Möglichkeiten einer inneren Differenzierung nach Fähigkeiten und Begabungen der
Schülerinnen und Schüler. Dieser didaktische Ansatz für den Religionsunterricht ist genauso geeignet für den Konfirmandenunterricht.
Die beiden Beispiele zeigen, dass trotz der unterschiedlichen didaktischen Orte der häufig
von KU-Didaktikern und –Praktikern konstruierte Gegensatz zwischen Schul- und Gemeindepädagogik nicht gerechtfertigt ist. Absichtsvoll inszenierte und strukturierte Lehr- und Lernprozesse einerseits und handlungs- und erfahrungsorientierter Unterricht andererseits
müssen sich nicht ausschließen.
Allerdings ist der Eindruck sicherlich nicht falsch, dass die Chancen, die der Projektunterricht
bietet, an beiden Lernorten noch immer nicht hinreichend wahrgenommen werden. Ein
Ertrag der Umwelt- und Bürgerrechtsbewegungen der letzten Jahrzehnte ist zweifellos das
Lernen am Projekt. Um im Diskurs mit Fachleuten bestehen zu können, sind Umweltschützer und Bürgerrechtler gezwungen gewesen, sich natur- und ingenieurwissenschaftlichen,
juristischen und sonstigen Sachverstand anzueignen. Bislang wurden diese Lernerfahrungen
aber weder lerntheoretisch noch bildungspolitisch noch bildungspraktisch genügend eingeholt.
Wir möchten gern in Zukunft noch stärker gelungene Projektbeispiele dokumentieren, seien
sie fachspezifischer oder interdisziplinärer Art. Wir würden uns über Beiträge in dieser
Richtung freuen. Dabei sollten neben der Projektbeschreibung insbesondere auch der Umgang mit institutionellen Begrenzungen (45-Minuten-Takt, schulorganisatorische Rahmenbedingungen) und die Organisation des Arbeitsprozesses dargestellt werden.
Wir hoffen sehr auf Ihre Mithilfe.
Ihr
Hans-Georg Babke
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meditation
Marc Chagall „Der hereingetragene Mensch“ Ausschnitt aus dem Glasfensterkunstwerk in St. Stephan (Mainz)
Um Adam, um das Geheimnis des Anfangs, um allen menschlichen Anfang geht es auf diesem Bild Marc Chagalls. Es
wurde geschaffen für das Glasfensterkunstwerk der St. Stephans-Kirche in Mainz. „Und der Allheilige“, so heißt es, „entsandte den Menschen in herrlicher Gestalt und ließ ihn eintreten in den Garten Eden, den er gepflanzt hatte, damit der
Mensch ihn hüte, dass ihm Freude über Freude werde und er spielende Lust an ihm habe.“ Aus der Welt des jüdischen
Sohars, aus der Welt der chassidischen Mystik Osteuropas hat der Maler Marc Chagall viele seiner Bilder geschöpft. Er
steht nicht nur mit diesem Bild unabhängig da von der Hauptströmung unserer abendländischen Kunst und ihrer Bildtradition, die immer wieder nach Gen. 2,7 die Erschaffung Adams aus Lehm und durch göttlichem Atem gestaltet.
Über Jahrtausende war es dem nichtassimilierten jüdischen Volk verwehrt, sich Bilder zu machen von Gott und seinem
Ebenbild, dem Menschen. Im jüdischen Ghetto des weiß-russischen Witebsk aber griff überraschend ein Kind zum Pinsel
und erkämpfte sich den Beruf des Malers. Im französischen Exil entstanden in unabsehbarer Fülle Bilder zur Bibel - für
eine Welt, die sich daran zu gewöhnen begann, ohne den Trost religiöser Bilder zu leben. In allen Bildern Chagalls berührt
den Betrachter etwas von der tiefen Sicherheit und Stille seiner heimatlichen russischen Ikonen. Das Kind aus dem Stettl schrieb Chagall dreißigjährig - hatte die Ikonenwände der russisch-orthodoxen Kirchen wie „ein Licht in der Nacht“ erlebt,
und „das Herz des Heranwachsenden kam zur Ruhe vor ihnen.“ (la vie)
Wie ein Neugeborenes hält der Engel den noch schlummernden Menschen im Fensterausschnitt. Er präsentiert Adam,
macht ihn der Welt zum Geschenk. Es gibt angesichts eines Neugeborenen nichts Näherliegendes als staunend innezuhalten: „Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet...“
Und wie geht das Leben dann weiter? Der Weg der Zeit ist der einzig freie Weg für den Menschen. Die Zeit bewegt uns
unaufhörlich, geht mit uns in die gezählten Stunden und Jahre. Chagall macht uns auf seinem Bild weniger dieses Mitgehen mit der Zeit als das Gehaltenwerden in ihr bewusst. Wo ein Kind zu laufen beginnt, hängt alles davon ab, dass Arme da
sind, die es halten. Das Vertrauen auf das eigene Gehen braucht das Vertrauen auf ein Gehaltenwerden, ein Getragenwerden, wenn die Kräfte erlahmen. Die Kraft, auf eigenen Beinen zu stehen, wächst mit der Erfahrung von Armen, die zu
jemandem gehören, der größer und stärker ist als wir.
Langsam wandern die Augen des Betrachters von den Armen des Engels, seiner haltenden Hand, nach rechts zu den Beinen
des schlummernden Menschen. Wir finden die Füße deutlich zur Erde geneigt und ziehen sie unwillkürlich bis zum Boden
herab. Dort treffen sie auf eine Henne, die am Boden hockt und zu dem leuchtend roten Hahn auf dem Bogen im oberen
Bildteil in Beziehung steht. Hahn und Henne trug man im jüdischen Stettl dem Brautzug voran - sie symbolisieren die
Polarität des Menschen. „Gott schuf den Menschen, schuf ihn männlich und weiblich,“ heißt es im ersten biblischen
Schöpfungsbericht. (Gen. l,27) Der Mensch hat beides in sich, männlich und weiblich ist der Mensch. Und doch betreten
seine Füße diese Erde nur als Mann und Frau, nur als Mann oder Frau nimmt er sie wahr. Die Trennung der Geschlechter
erst schafft den Raum, in dem sich Leben fruchtbar entfaltet. Wir verfehlen unser Menschsein, wenn wir die Polarität in uns
und für uns nicht sehen, nicht annehmen. Unsere westliche Welt leidet unter der Überbetonung der männlich aktiven,
fixierenden, unterscheidenden, konstruierenden Funktionen des Geistes. Die empfangenden, bergenden, verbindenden,
entgrenzenden weiblichen Kräfte haben sich nicht gleichwertig entwickeln können.
Ohne Eva in sich und neben sich kann Adam zwar Mensch, aber nicht wirklich menschlich werden. Nur, wo der Mensch
die Füße so auf die Erde setzt, dass er sich als Mann und Frau begreift und annimmt, wächst er, entfaltet er sich. Er gleicht
dann dem schimmernd grünen Baum des Lebens vor ihm, seinem Bild und Lehrmeister.
Und im Rücken des Menschen - nur im Rücken - bleibt der Engel, bleibt die Herrlichkeit Gottes für den Menschen da.
Leuchtend gelb strahlt etwas aus seiner Brust, das im Flügel des Engels seine Entsprechung hat. Chagall gibt uns Bildlosen
nicht nur in diesem Glasfensterausschnitt, er gibt uns in unzähligen Bildern das Bild des Engels zurück. Ungeachtet der
theologischen Frage, ob es Engel in schöner Flügelgestalt gibt oder nicht, ob sie unabhängig da sind von unserer Psyche steht der Engel seit Jahrtausenden für den göttlichen Beistand, steht dafür, dass Gott „bei uns ist alle Tage bis an der Welt
Ende“. Und gut hat es der Mensch, der den Engel hat, nicht die Einsamkeit, die Mutlosigkeit und Verzweiflung.
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Groß und zugleich schwerelos steht der Engel hinter dem Menschen, begleitet schützend seine Entfaltung. Der Engel
bleibt, er kann sich nicht auflösen, er bleibt im Rücken des Menschen, der auf die eigenen Füße gleiten soll, aufstehen soll
vom Schlaf.
Hinter den kraftvoll gezogenen Linien des Fensterausschnitts können wir die Form des hebräischen Buchstabens A - aleph
- entdecken. Dem hebräischen aleph aber fehlt das Zwischenstück, das die Füße des Menschen noch von der Erde trennt. Es
ist das Zwischenstück, das unsere Augen - der Bewegung des Bildes folgend - unwillkürlich ergänzen wollen. Und ganz
unwillkürlich ertasten wir so auch den eigenen Neuanfang.
Und vielleicht begreifen wir nun, warum Chagalls Engel die Füße des Menschen noch einen Augenblick merkwürdig in der
Schwebe hält, warum Gott den Anfang noch einen bangen Augenblick hinauszögert. Im Zögern Gottes liegt seine Frage:
Was ist der Mensch? Wird dieser Mensch - auf die Erde gestellt - sein Menschsein zwischen Himmel und Erde finden, seine
Freiheit fassen? Und wird das Geschöpf seinen Schöpfer begreifen, der sich in Seiner Freiheit zurückhält?
Man liest die hebräische Schrift nicht wie die unsrige von links nach rechts, sondern gegenläufig von rechts nach links. Der
Engel unseres Bildes schaut in eben diese Gegenrichtung. Er deutet dem freien Menschen die Grenze seiner Zeit und damit
auch seiner Geschichte an. Der Mensch wird eines Tages dorthin zurückkehren, woher er gekommen ist... Unsere Zukunft,
in die uns die Zeit gehen lässt, ist nicht unbegrenzt. Mitten und ständig in sie hinein ergeht die Mitteilung vom Ende, von
unserer Rückkehr.
Diesem Ende, dieser Rückkehr wird allerdings auf Chagalls Bild unter dem Zeichen des farbigen Regenbogens und dem
ruhigen Rückblick des Engels das Düstere, Quälende genommen. Engel und Regenbogen, diese alle Vernunft übersteigenden Zeichen von Gottes Gegenwart und Zuwendung, erscheinen im Bild Chagalls dem Betrachter fraglos als der Welt
zugehörig. Sie erscheinen ihm als das Natürlichste von der Welt. Das Wunder wird glaubhaft, das Rose Ausländer in einem
Gedicht so sagt: „Ich weiß, dass ich war und sein werde in Augenblicken aus Ewigkeit.“
Sigrid Lunde
MANFRED KWIRAN (Hg.)
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A
beim
GUDRUN KRUPPE
OFFENER UNTERRICHT
FREIARBEIT
RELIGIONSUNTERRICHT KONKRET
ORIENTIERUNGSSTUFE
Amt für Religionspädagogik und Medienarbeit der ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig
Postfach 16 64, 38286 Wolfenbüttel • Tel.: (05331) 802-503 bis -506 •
Fax: (05331) 802-713 • e-mail: [email protected]
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u-vorschlag: engel im religionsunterricht –
überlegungen und vorschläge für eine freiarbeit
zur altarwand des malers adi holzer
„wie engelsflügel“
GS
christine lehmann
1.
Warum Engel im Religionsunterricht?
Die Rede von Engeln in alltagsweltlichen Situationen und
Kontexten gehört zu den alltäglichen Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche heute machen. Werbung, Rock- und
Popmusik, neue Medien, bildende Kunst, oder auch Kinder- und Jugendbücher prägen die Vorstellungen über die
Gestalt und die Botschaft von Engeln. Ungeachtet aller Klischees, die solche Engelbilder verbreiten, gelten Engel bei
vielen Kindern und Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen, als Repräsentanten des Geheimnisvollen, des Heilen,
Schönen und Guten und üben eine große Faszination aus.
An diese Faszination sowie an die alltagsweltlichen Erfahrungen kann der Religionsunterricht anknüpfen. Schüler
und Schülerinnen sollten Gelegenheit erhalten, sich eigener Engelvorstellungen bewusst zu werden. Neue gedankliche Impulse aus Bibel, Theologie, Literatur, bildender
Kunst und Musik können dabei helfen, Klischees zu durchschauen, ohne dass eigene Sehnsüchte und Hoffnungen
verdrängt werden müssen. Es geht um ein neues Sehen,
um eine Rückgewinnung der „Offenheit der Wahrnehmung
für die Zeichen der Transzendenz in der Wirklichkeit“: „Der
größte moralische Segen der Religion ist, daß man auf sie
gestützt, die Zeit, in der man lebt, aus einer Perspektive
sehen kann, die den Tag und die Stunde transzendiert und
ihnen die richtige Größenordnung zumißt. Das gibt den
Mut und ist zugleich auch ein Schutz gegen Fanatismus“
(Berger, 134). In der Auseinandersetzung mit Engelvorstellungen im Religionsunterricht können Schüler und
Schülerinnen z.B.
•
die Gestalt und Botschaften alltagsweltlicher Engelabbildungen herausarbeiten und diese mit biblischen
Engelvorstellungen vergleichen,
•
religionsgeschichtliche Hintergründe für die Entstehung von Engelvorstellungen kennen lernen,
•
anhand ausgewählter Geschichten die Engel des Alten
Testaments als Boten Gottes kennen lernen, die Menschen in schwierigen Situationen Zuspruch, Hoffnung
und Rettung bringen,
•
anhand ausgewählter Geschichten (Geburt Jesu, Auferstehung) erkennen, dass die Engel des Neuen Testaments den Menschen die Augen öffnen für die Botschaft Jesu von der Liebe und der Nähe Gottes und
dass sie die Menschen zu einem Leben ermutigen, als
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Gottes die Keime von
Liebe, Frieden und Gerechtigkeit im Leben hier und
jetzt zu entdecken, zu hegen und zu entwickeln,
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•
die Rede von Engeln als Ausdruck für die Erfahrung
des Heiligen in der Welt, als ein Staunen über einen
sich offenbarenden Sinn, wahrnehmen,
•
anhand ausgewählter Beispiele erarbeiten, wie sich
Engelbilder im Laufe der Geschichte gewandelt haben,
•
erkennen, dass Engel und modernes Weltbild keinen
unvereinbaren Widerspruch darzustellen brauchen,
•
eine Sensibilität für religiöse Erfahrungen entwickeln
und zu Ausdrucksformen finden, mittels derer solche
Erfahrungen anderen mitgeteilt und mit anderen geteilt werden können.
Kinder- und Jugendbücher eignen sich aufgrund ihrer Sprache und ihrer Illustrationen gut für einen Einstieg in die
Thematik. Bibeltexte aus AT und NT, Kunstdrucke aus Vergangenheit und Gegenwart, Engeldarstellungen, die Schüler und Schülerinnen mitbringen, sowie Engelvorstellungen,
die sie einbringen, dienen zur Erarbeitung von Unterrichtszielen wie den o.g., die in Kleingruppen erfolgen kann (für
Sachinformationen, Materialien und Anregungen vgl. die
Literaturliste).
Gegenstand der folgenden Ausführungen ist das Altarbild
des Malers Adi Holzer „Wie Engelsflügel“, weil es elementare Impulse zur Vertiefung der christlichen Dimension bietet. Der Maler und Graphiker Adi Holzer wurde 1936 in
der Nähe von Wien geboren. Er lebt heute in Dänemark.
Seine Arbeiten wurden in der ganzen Welt ausgestellt. Die
Altarwand, die den Namen „Wie Engelsflügel“ trägt, wurde von ihm im Jahre 1987 gestaltet. Sie kann in der Theodor-Fliedner-Kirche betrachtet werden, die im Innenhof des
Krankenhauses Marienstift in Braunschweig zu finden ist.
Eine Auseinandersetzung mit dem Bild im Religionsunterricht der Sek. I kann im Rahmen von Freiarbeit zunächst
ebenfalls in Kleingruppen- oder in Einzelarbeit erfolgen.
Später können diese Schüler und Schülerinnen als „Experten/Expertinnen“ ihre Überlegungen in das gemeinsame Betrachten des Bildes im Klassenverband einbringen.
Dem Leser/der Leserin wird vor dem Weiterlesen empfohlen, sich eine Weile Zeit zu nehmen, um das Bild „Wie
Engelsflügel“ zu betrachten. Indem er/sie sich auf das Bild
einlässt und auf spontane Wahrnehmungen sowie auf Gefühle und Assoziationen achtet, die das Bild auslöst, können die folgenden Ausführungen über die Gestalt und den
Gehalt des Bildes in Beziehung zu eigenen Eindrücken und
Fragen treten.
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2.
Zur Gestalt des Bildes „Wie Engelsflügel“
Neben dem riesigen Engel, der hinter dem Kruzifix emporwächst und die Altarwand weitgehend ausfüllt, fallen auf
den ersten Blick die Farbkontraste, einzelne Bildelemente
wie Planeten, Straße, Regenbogen und Fisch sowie die
Schriftzüge ins Auge. Die zwar klare, mit ihren verschiedenen Elementen jedoch durchaus komplexe Bildkomposition,
vermag zu fesseln, weil immer neue Einzelheiten entdeckt
werden können.
Der Engel ist eine große Lichtgestalt mit Armen und mit
gewaltigen Flügeln, die den kosmischen Raum umspannen.
Ein Regenbogen verläuft in einer vertikalen, geschwungenen Kurve durch die Mitte des Bildes und verbindet einen
goldenen Halbkreis am oberen Rand mit der Dunkelheit auf
der Erde, die im unteren, rechten Bereich dargestellt ist.
Dieses Dunkel wird durch das Farbenspektrum das Regenbogens erhellt, dessen Leuchten hier besonders ausgeprägt
ist. Der Regenbogen umspielt auch die Gestalt des Engels
und ziert sein Gewand wie eine Schärpe.
Während die Gestalt, die Gestik und Mimik des Engels kraftvoll und sanft zugleich wirken, erscheinen die filigranen,
transparenten Flügel zart und zerbrechlich. Das kommt daher, weil der linke Flügel, in seiner ursprünglichen Form
zwar angedeutet, am oberen Ende abgeknickt ist. Er hängt
nach unten, ist gebrochen. Durch ihn zuckt ein großer, goldener Blitz. Beide Flügel werden von einer Botschaft eingerahmt. Der rechte, unversehrte, trägt den in Goldbuchstaben gefassten Satz „Gott ist die Liebe“. Obwohl die
verletzte Schwinge keine Botschaft tragen kann, wird auch
durch sie eine Botschaft übermittelt. Diese wirkt durch ihr
krakeliges Schriftbild und ihre Farbgebung wie mit den
Federkielen des verletzten Flügels eingeritzt. Die Botschaft,
auf die die Federn des verletzten Flügels weisen, lautet
„Fürchtet euch nicht“.
Der Engel lächelt, doch sein Blick ist nach innen gerichtet.
In einer kraftvollen Geste weist sein rechter Arm nach oben,
auf einen goldenen Halbkreis, in dem sich die aufstrebenden Linien und das Licht konzentrieren. Auch seine linke
Hand scheint in Spannung und deutet mit dem Daumen in
Richtung Regenbogen, der die Botschaft „Fürchtet euch
nicht“ noch zu unterstreichen scheint.
Die Gestalt des Engels geht unterhalb des Rumpfes in eine
durchsichtige Fläche über und verliert sich.
Der Blick des Betrachters bleibt an dem hölzernen Kruzifix
hängen, das in die Bildkomposition integriert ist. Den Hintergrund des vertikalen sowie des linken, horizontalen Teils
des Kreuzbalkens bildet eine dunkle, klar eingegrenzte, nach
oben hin heller werdende Fläche aus Grau- und Blautönen.
Daran grenzt eine bewegt wirkende Fläche aus unterschiedlichen Rottönen an, aus der sich, mit goldener und mit roter Farbe angedeutet, der Umriss eines Herzens hervorhebt.
Eine optische Verbindung zwischen Kruzifix und Engelsgestalt wird durch goldene gepunktete und gestrichelte kurvige Linien hergestellt, die, von der roten Fläche ausgehend, in dynamischer Bewegung zu dem Engel hinführen.
Eine verdunkelte Sonne, ein in einem dunklen Schatten liegender blauer Planet und eine gut ausgebaute Straße, die in
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ein Chaos aus dunklen Rauchwolken und Stacheldraht führt,
stellen weitere Elemente auf der linken Bildhälfte dar. Dieses bedrohliche Szenario hat der Künstler, schemenhaft angedeutet, mit dem Gottessymbol des Auges kontrastiert. Von
diesem gehen, in warmen Erdfarben gemalt, die Konturen
verschlungener Pfade aus, führen hinter das Altarkreuz,
kommen wieder hervor, setzen sich oberhalb des Kreuzes
fort und enden bei der Gestalt des Engels.
Ebenso wie die linke Bildhälfte ist die rechte in düsteren
Farben gehalten und thematisiert das Chaos auf der Erde.
Die Botschaft „Fürchtet euch nicht“ und der Strahl des Regenbogens stehen wie eine Brücke zwischen der herrschenden Finsternis einerseits und der hellen Lichtgestalt des Engels andererseits. Die Strichzeichnung eines Fisches, des
Symbols der ersten Christen, und eines Fischernetzes, des
Symbols des „Menschenfischens“, deuten an, dass die Botschaft nicht ins Leere verhallt ist.
Die Komposition und der Titel des Bildes geben zu denken.
Was ist „wie Engelsflügel“ oder kommt „wie Engelsflügel“
daher? Warum hat der Engel einen gebrochenen Flügel?
Was hat die Engelsfigur mit dem gekreuzigten Christus zu
tun? Unterstreichen die beiden sehr klaren verbalen Botschaften die Bildkomposition oder stehen sie zu dieser in
Spannung? Die folgenden Überlegungen zum Gehalt des
Bildes wollen zu eigenen Interpretationen anregen und weitergeführt werden. Wird dabei um solche oder ähnliche Fragen wie die o.g. „gestritten“, ohne dabei die Vieldeutigkeit
von Bildern und ihren Bedeutungsüberschuss auflösen zu
wollen, kann in der Klasse ein spannender Dialog entstehen, bei dem unterschiedliche Sichtweisen sich gegenseitig
bereichern und ein vertieftes Sehen gelernt wird.
3.
„Wie Engelsflügel“ - ein bedeutsamer
Impuls für den RU
Der Engel stellt das zentrale Element der Bildkomposition
dar. Biblischer Überlieferung folgend tritt er als Bote auf.
Seine erhobene rechte Hand legt das Wesen des goldenen
Lichtes frei. Die Hand und ihr ebenfalls merkwürdig verdrehter Unterarm unterstreichen, dass von hier etwas empfangen wird, etwas, das an verschiedenen Stellen des Bildes als goldene Spuren des Göttlichen zu entdecken ist. Das
Wesen des Lichts wird in Form der einfachen, aber zugleich
ungeheuer schwer zu begreifenden, Botschaft „Gott ist die
Liebe“ verkündigt.
Der Engel wirkt real und irreal zugleich, wie die Engel der
Bibel, die plötzlich und unerwartet auftauchen und ebenso
plötzlich wieder verschwinden. Er zeigt sich wie bei einer
Momentaufnahme und öffnet den Blick für eine Wirklichkeit, die mehr ist, als sie zu sein schien. Der Engel enthüllt
den Kosmos und unseren Planeten als Raum der Gegenwart Gottes, eines Gottes, der/die den Menschen nahe ist
und sie als sein/ihr Gegenüber anruft.
Als weiteres wichtiges Element der Bildkomposition ist der
Engelsgestalt, mit düsteren Farben klar abgegrenzt, das Leben auf der Erde gegenübergestellt. Verschiedene biblische
Symbole verdichten die Bildaussage. Nicht der gerade,
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bequeme Weg führt ins Licht, sondern der schmale, gewundene Pfad. Der Regenbogen als Zeichen des Bundes Gottes
mit den Menschen und die Botschaft „Fürchtet euch nicht“
rufen die Erinnerung an die biblische Zusage wach, dass
Gott auf diesem Weg mitgeht. Das Netz des „Menschenfischers“ und der Fisch als Symbol der ersten Christen versinnbildlichen, dass es Menschen gibt, die diesen beschwerlicheren Weg schon gegangen sind.
Hier gerät nun das Kruzifix als drittes wichtiges Bildelement in den Blick. Zwischen der Engelsgestalt und dem
Leben auf der Erde angesiedelt, nimmt es eine eigentümliche Mittelposition ein, ist nicht richtig auf der Erde aber
auch nicht richtig im kosmischen Raum zu verorten. Diese
Anordnung unterstreicht, ebenso wie das Gottessymbol des
Auges und der verschlungene Pfad, dass Jesus, der
Nazarener, in einer intensiven Gottesbeziehung gelebt und
dass er den schmalen, schwierigeren Weg gewählt hat. Das
Netz neben dem Kreuz nimmt den Gedanken auf, dass das
Leben aller Lebewesen miteinander verknüpft ist und dass
Leben langfristig nur gelingt, wenn die Menschen lernen,
ihre Beziehungen untereinander partnerschaftlich und gerecht zu gestalten. Jesus hat sich als Freund der Sünder und
Zöllner (Mt 11, 19; Lk 7, 34) in solche Beziehungen ganz
hineingegeben, hat die Botschaft, „Gott ist die Liebe“, mit
dem brennenden Feuer seiner Liebe zu Gott und zu den
Menschen wirklich gelebt. Auch wenn er dadurch angreifbar und verletzbar wurde – auf dem Bild zum Ausdruck
gebracht durch die dunkle und die blutrote Fläche bei dem
Kreuz – hat er sich mit Leidenschaft und mit allen Konsequenzen auf dieses Leben eingelassen.
Auf dem Bild „Wie Engelsflügel“ wird das Bedrohliche in
der Wirklichkeit unserer Welt nicht verdrängt, gewinnt aber
unter den Flügeln des göttlichen Boten eine andere Dimension. Der Engel relativiert die Wirklichkeit des Augenscheins
durch die Botschaft, dass die Menschen sich nicht fürchten
sollen, weil das Bedrohliche nicht das letzte Wort hat. Er
öffnet den Blick für Gott als die Macht der Liebe. Diese
Macht kommt nicht zwingend daher, sondern umgreift den
kosmischen Raum sanft wie Engelsflügel. Der gebrochene
Flügel deutet an, dass auch diese Liebe verletzlich ist. Gottes Liebe, zart wie Engelsflügel, braucht die Menschen,
braucht sie als Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an der
Schöpfung. Der Regenbogen, der die Gestalt des Engels
umschmeichelt, symbolisiert mit seinen schillernden Farben das Band, die Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Es ist dies eine Beziehung, in der die Menschen sich
nicht fürchten, sondern Vertrauen haben sollen, dass das
Heilsein und Wohlsein der Erde Gestalt gewinnen können.
Dieses Vertrauen hat Jesus getragen, als er, Kraft aus einer
unmittelbaren Gottesbeziehung schöpfend, Blinde sehend,
Lahme gehend und Kranke gesund machte, indem er ihre
positiven Kräfte mobilisierte und sie auf das hin ansprach,
als was sie von Gott gemeint sind.
Auf dem Bild begegnen wir einem Engel fern jeder religiösen Verklärung der Wirklichkeit. Es zeigt uns den Gottesboten, der schützend den Kosmos umspannt und einer düsteren Welt Worte des Trostes überbringt. Als Sinnbild des
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Schutzes und des Trostes hilft der Engel, vor dem Bedrohlichen in der Wirklichkeit unserer Welt nicht die Augen zu
verschließen. Indem er eindringlich auf die Zeichen der
Transzendenz verweist, lässt er das Kreuzesgeschehen in
einem neuen Licht erscheinen. Damit wird er zu einem Sinnbild für die Hoffnung, dass Zerstörung und Leid künftig
nicht mehr die Erde verdüstern, sondern dass Gottes Liebe,
sanft und schön wie Engelsflügel, in den Beziehungen unter den Menschen Raum greifen wird.
4.
Vorschläge für eine Freiarbeit zu dem
Engelbild des Malers Adi Holzer
1. Wir sammeln erste Eindrücke zu dem
Engelbild des Malers Adi Holzer
Vorbemerkung:
Mit Hilfe der folgenden fünf Arbeitskarten könnt ihr euch
mit dem Bild eines Engels auseinandersetzen, das der Maler Adi Holzer gemalt hat.
Ihr könnt alle Arbeitskarten in Kleingruppen- aber auch in
Einzelarbeit bearbeiten. Wenn in den Arbeitsvorschlägen
von ihr und euch die Rede ist, ist dabei die Anrede du oder
dir immer auch mitgemeint. Bewusst wurde auf den Arbeitskarten das Wort Arbeitsvorschläge verwendet. Es bedeutet,
dass ihr – nach Absprache mit eurem Lehrer/eurer Lehrerin – die Arbeitsvorschläge abwandeln oder auch weitere
Aufgabenstellungen, die euch wichtig sind, bearbeiten
könnt.
Arbeitsvorschläge:
Ö
Nehmt euch die Farbkopie des Engelbildes. Betrachtet das Bild genau und nehmt euch dafür
mindestens 5 Minuten Zeit:
•
•
•
•
•
Was fällt euch ins Auge?
Was findet ihr schön?
Was kommt euch merkwürdig vor?
Wie wirkt das Bild auf euch?
Was würdet ihr den Maler fragen wollen?
Ö
Schreibt eure ersten Eindrücke in Stichworten in
euer Freiarbeitsheft.
2. Wir betrachten das Bild genauer
Arbeitsvorschläge:
Ö Berücksichtigt beim Betrachten des Bildes möglichst viele der folgenden Gesichtspunkte:
•
Beschreibt den Engel.
Achtet auf seine Gestalt, sein Gewand, die Farben.
Sucht passende Verben und Adjektive für den Engel.
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•
Wo befindet sich der Engel auf dem Bild?
Welche weiteren Elemente sind auf dem Bild noch zu
entdecken? Wie ist das Bild aufgeteilt? Berücksichtigt
bei eurer Betrachtung auch die Farben.
Welche Symbole könnt ihr entdecken?
Welche Wortbotschaften erkennt ihr?
Welche Gedanken kommen euch beim Betrachten des
Bildes?
•
•
•
Ö
Sprecht nun eine möglichst genaue Beschreibung des
Bildes auf eine Kassette. Das hat gegenüber dem
Schreiben den Vorteil, dass andere beim Hören der Kassette das Bild betrachten können.
¨ „Ich kann mit dem Bild nichts anfangen. Da sind so
viele Einzelheiten, die nicht zusammen passen. Ein
Engel mit einem gebrochenen Flügel, was soll das?“
¨ „Der Engel gefällt mir. Er nimmt den ganzen Raum
ein und verbindet Himmel und Erde. Irgendwie wirkt
er tröstlich, obwohl der untere Teil des Bildes so
düster und traurig ist.“
¨ „Mit der Christusgestalt und dem Kreuz kann ich
nichts anfangen. Was hat das auf dem Bild zu
suchen?“
¨ „Ich finde den Engel kitschig. Er lächelt so süßlich und sieht ganz anders aus, als ich mir Engel
vorstelle.“
3. Was denken andere Menschen über
das Bild?
•
Die folgenden Aussprüche geben spontane Meinungen wieder, die verschiedene Menschen zu dem Engelbild geäußert
haben.
Vergleicht diese Meinungsäußerungen mit euren
ersten Eindrücken (Freiarbeitsheft).
Ö
Wählt die Meinung aus, die eure Meinung über
das Bild am Besten wiedergibt. Noch besser ist
es, wenn ihr eine eigene Meinung formuliert.
Zeichnet dazu eine Sprechblase (ca. 15x10cm
groß) und schreibt eure Meinung in angemessener Schriftgröße hinein.
Arbeitsvorschläge:
Ö
Lest die folgenden Meinungsäußerungen.
¨ „Ich weiß nicht so recht, was ich von dem Engel
halten soll. Er wirkt mächtig und doch verletzlich.
Er lächelt geheimnisvoll und schaut den Betrachter nicht an. Das Bild macht mich nachdenklich.“
8
'bb' 93-3/2000
Entwerft einen fiktiven Dialog, in dem ihr Jesus fragt,
warum er bei dem Zöllner Zachäus eingekehrt ist (Lk
19, 1-10). Schließt aus dieser Begebenheit (und ggf.
noch aus anderen, euch bekannten), für welchen der
beiden Wege sich Jesus entschieden hat und baut dies
in den Dialog ein.
4. Wir versuchen, das Bild zu deuten (I)
Arbeitsvorschläge:
Ö
Sucht auf dem Engelbild nach den folgenden Elementen:
¨ Der Umriss eines Herzens aus goldener und blut-
•
Lest in der Bibel nach, wann ein Engel sagt: „Fürchtet
euch nicht“ (du findest eine dieser Stellen bei Mk 16,
1-8.) Wie ist „die Sache mit Jesus“ seit seinem Tod unter den Menschen weitergegangen? Ihr könnt eure Gedanken dazu schreiben oder auf einer Collage darstellen. Überlegt, ob ihr dabei das Symbol des Netzes und
das Symbol des Fisches, die ihr beide auf dem Engelbild findet, einbeziehen könnt.
•
Findet heraus, an welchen Stellen auf dem Bild kommt
Gott vorkommt. Notiert Adjektive und/oder Verben, die
zu diesen Stellen passen. Wählt eines der Symbole für
Gott aus. Schreibt oder malt zu dem Symbol, welche
Vorstellung von Gott der Maler dem Betrachter mitteilen möchte.
•
Auf der 3. Arbeitskarte habt ihr Meinungsäußerungen
von verschiedenen Menschen über das Engelbild gelesen. Wählt eine der Äußerungen aus und entwerft eine
Antwort darauf. Schreibt sie auf eine Sprechblase.
Ö
Zum Schluss solltet ihr in jedem Falle die beiden
folgenden Aufgaben bearbeiten:
•
Der Maler hat das Bild „Wie Engelsflügel“ genannt. Wie könnte der Titel gemeint sein? Passt
dieser Titel oder passt ein anderer besser? Unterhaltet euch darüber und nehmt dabei das Gespräch auf Kassette auf.
•
Bildet eine Expertengruppe und sprecht über eure
Ergebnisse (erste Eindrücke, genaue Beschreibung des Bildes auf der Kassette, Sprechblasen
mit Meinungen über das Bild, Karteikarten zu der
Bedeutung einzelner Symbole, eigene Bilder, fiktiver Dialog mit Jesus über seinen Besuch bei dem
Zöllner, Darstellungen zum Gottesbild des Malers, Sprechblasen mit Antworten auf die Meinungsäußerungen, Gespräch über den Titel des
Bildes, weitere Ergebnisse...). Sammelt nun Fragen und Aufgaben, die ihr in einem Gesprächskreis über das Engelbild der Klasse stellen wollt.
roter Farbe
¨ Ein Regenbogen, der sich über das gesamte Bild
zieht
¨ Eine asphaltierte Straße, die ins Dunkle führt
¨ Ein verschlungener Weg, der zu einem Auge führt
¨ Eine Anrede unter dem gebrochenen Flügel
¨ Eine Botschaft auf dem unversehrten Flügel
¨ Spuren von goldenem Licht
Ö Macht euch Gedanken über die Bedeutung der
verschiedenen fett gedruckten Symbole bzw. Wortbotschaften. Beschafft euch ggf. aus Bibeln und/
oder dem ‚Jugendlexikon Religionen‘ Zusatzinformationen. Wählt dann drei Symbole aus, malt
sie auf drei Karteikarten und schreibt daneben
eure Überlegungen darüber auf, was das Symbol
möglicherweise auf dem Engelbild bedeutet.
Ö Gebt dem Engelbild einen Namen.
5. Deutungsversuche (II)
Wer ist der Maler des Engelbildes?
Der Maler und Graphiker Adi Holzer wurde 1936 in der
Nähe von Wien geboren. Er lebt heute in Dänemark. Seine
Arbeiten wurden in der ganzen Welt ausgestellt. Die Altarwand mit dem Engel wurde von ihm im Jahre 1987 gestaltet. Sie kann in der Theodor-Fliedner-Kirche betrachtet werden, die im Innenhof des Krankenhauses Marienstift in
Braunschweig zu finden ist.
Arbeitsvorschläge:
Ö Wählt aus den folgenden Aufgaben mindestens
zwei aus:
•
Stellt euch vor, ihr könnt das Bild des Malers durch
eigene Bilder erweitern. Malt oder klebt ein Bild, das
zu dem Trostwort „Fürchtet euch nicht“ passt und stellt
dar, wovor sich Menschen heute fürchten.
•
Lest in der Bibel bei Mt 11, 19 und bei Lk 7, 34 nach,
was viele Menschen damals über Jesus gesagt haben.
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9
5. Literaturliste
Die folgende Literatur- und Medienliste möge dabei helfen,
zur Bearbeitung des Themas Engel die passende Literatur
zu finden.
5.1 Theologie, Geschichte und Soziologie
P. L. Berger: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz,
Frankfurt/M. 1970.
M. Eliade: Geschichte der religiösen Ideen, Freiburg 1978.
M. Fox, R. Sheldrake: Engel – die kosmische Intelligenz,
München 1998.
R. Kiste, P. Schwarzenau, U. Tworuschka (Hg.): Engel, Elemente, Energien, Balve 1992.
G. Kruhöffer: Die Nähe des Heiligen - biblisch-theologische Überlegungen zu den Engeln, in: Braunschweiger
Beiträge Heft 53 (1990).
E. Stubbe, Die Wirklichkeit der Engel in Literatur, Kunst
und Religion, Münster 1995.
R. Tillich: Systematische Theologie I, Stuttgart 1955, (S.
279-300).
Theologische Realenzyklopädie (TRE), Stichwort Engel.
H. Vorgrimler, Wiederkehr der Engel, Kevelaer 21994.
M. Welker: Über Gottes Engel. In: Jahrbuch für Biblische
Theologie 2, Neukirchen 1987, 194-209.
C. Westermann: Gottes Engel brauchen keine Flügel. Was
die Bibel von den Engeln erzählt, Stuttgart 1978.
5.2 Religionspädagogik
S. Berg: Mit Engeln durchs Jahr, München/Stuttgart 1998.
W. Bednarzick: „Engel“ als Thema der Rock- und Popmusik im Religionsunterricht, in Braunschweiger Beiträge Heft 53 (1990).
S. v. Behlow: Engel, in: religion heute (1987), H.3, 205207.
R. Behme: Kann man Engel fotografieren? Mit dem Unsichtbaren rechnen – Ein Fotokurs, in: religion heute
(1999), H. 37, 60-65.
I. Breitmaier, H. Höger: Engel in der gewerblichen Berufsschule Crailsheim, in: entwurf Heft 3 (1997), 85-86.
A.M. Fröhlich: Engel. Texte aus der Weltliteratur, Zürich
1991.
A. Hett: Sie lassen etwas von Gott spüren. Das Thema „Engel im 3. Schuljahr“, in: forum religion (1987), H.3, 513.
V. Hirth: Unterwegs zu den Engeln. Zur Engel-Literatur in
den zurückliegenden 20 Jahren, In: Christenlehre – Religionsunterricht praktisch 17/1996, 58-60.
E. Kroneberg: Begegnung mit den Engeln, DU 345 der
Medienzentrale der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig.
10
E. Jürgensen: Engel. Feste und Gestalten im Jahreslauf.
Unterrichtsmodelle mit Texten, Liedern, Bildern für den
Religionsunterricht 3.-6. Schuljahr, Lahr 1996.
S. Lieber: Das kann ein Engel gewesen sein. Erfahrungsorientierte Zugänge zur Symbolgestalt des christlichen
Engelphänomens, Heinsberg 1997.
A. S. Reyntjes, Lyrisches Stichwort Gott. Im Spannungsfeld von Literatur und Theologie Folge VII - Von den
Engeln in uns, in allem und zwischen allen, in: religion
heute, Heft 34 (1998), 102-104 (Sek I und II).
R. Schindler: Engel sind nahe, Lahr 1997.
D. Steinwede (Hg.): Er sendet seinen Engel vor dir her.
Geschichten und Bilder von den Boten Gottes, Düsseldorf 1994.
J. Wolff: Stundenblätter Die Botschaft der Engel. Ein
erfahrungsbezogener Zugang zur Gottesfrage,
Sekundarstufe II, Stuttgart/Dresden 1992.
5.3 Kunst
A. Holzer, A. Hertel: Die Botschaft leben – Das Erleben der
Botschaft, Krankenhaus Marienstift 1997, Braunschweig, Helmstedter Str. 35.
W. Bock: Von Engeln und Menschen, 25 Dias, Kunstreproduktionen, TB 465 der Medienzentrale der Ev.luth. Landeskirche in Braunschweig.
G. Knapp, Engel. Eine himmlische Komödie, München/
Stuttgart 1995.
Lang, C. McDannell: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte
des Ewigen Lebens, Frankfurt/M. 1990.
W. Nigg, K. Gröning: Bleibt ihr Engel, bleibt bei mir, Berlin 1996.
A. Rosenberg: Engel und Dämonen. Gestaltwandel eines
Urbildes, München 1967.
G. Weinhold: Engel. Himmlische Boten. Biblisch-spirituelle Sicht. Bildzeugnisse der Völker, Dachau 1989.
Wolff, Uwe (Hg.): Das große Buch der Engel, Freiburg 1995.
A. Rosenberg: Engel und Dämonen. Gestaltwandel eines
Urbildes, München 1967.
E. Zylla: Manchmal sind Engel zu erkennen. Tonbildreihe
mit 40 Dias, Kunstreproduktionen zeitgenössischer
Künstler, TB 581 der Medienzentrale der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig.
Dia Bücherei Christliche Kunst: Schöpfung und Vollendung,
DU 156 der Medienzentrale der Ev.-luth. Landeskirche in Braunschweig.
5.4 Kinder- und Jugendbücher
A. Fine: Ein Engel in der Schule, Zürich 1996 (für GS).
P. Pohl: Glittras Auftrag, Wien 1997 (für OS).
C. Kozik: Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart, Berlin
1994 (für GS und OS).
J. Gaarder: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort,
München 1996 (für Sek I).
'bb' 93-3/2000
fachbeitrag: kirchengeschichte im religionsunterricht
von abwegen und auswegen
olaf kühl-freudenstein
Die Überlieferung kirchengeschichtlicher Ereignisse hat im
Christentum eine lange Tradition. Schon in den christlichen Gemeinden der Antike galt es als obligat, der nachwachsenden Generation - von Märtyrern und Häretikern
erzählend - elementare Kenntnisse der eigenen Geschichte
zu vermitteln; im Mittelalter stand die Überlieferung von
Heiligengeschichten in Blüte, den Reformatoren diente auch
die Kirchengeschichte als Beleg für die Legitimität des Bruches mit Rom1; und in einer Zeit, in der der Bestand der
Kirche vielen gar nicht mehr gesichert schien, hat auch die
Bekennende Kirche dem Unterricht in der Kirchengeschichte besondere Bedeutung beigemessen, weil eben gerade diese
„den Bestand der Gemeinde Christi durch den Wandel der
Zeiten“ sichtbar werden lasse.2 Über Jahrhunderte hinweg
kam man also – mit wohl unterschiedlichen Begründungen – stets zu dem selben Schluss: Zur christlichen Existenz gehört das Wissen um die eigene Geschichte, um die
eigenen Wurzeln.3 Diese Position wird auch heute immer
wieder nachdrücklich vertreten; erst jüngst hieß es dringlich in einer viel gelesenen Zeitschrift, man müsse doch
„unsere Schüler/innen befähigen..., in kirchengeschichtlichen Fragestellungen Deutemuster für gegenwärtige Situationen zu sehen, um das ‘kulturelle Gedächtnis’ (...) zu
entwickeln und zu pflegen.“4
Es spricht also offenbar vieles dafür, im Religionsunterricht kirchengeschichtliche Themen zu behandeln. Wirft
man allerdings einen Blick in die Religionslehrpläne der
verschiedenen Bundesländer, dann bietet sich ein überraschend anderes Bild. Hier sucht man oftmals lange vergeblich nach kirchengeschichtlichen Themen, entdeckt dann
zumeist doch noch das eine oder andere, kommt aber dessen ungeachtet unweigerlich zu dem Schluss, dass die Kirchengeschichte aus dem evangelischen Religionsunterricht
fast verschwunden ist.5
Was ist von diesem merkwürdigen Zustand zu halten? Diesem Zustand, bei dem einerseits mit mannigfachen Gründen auf die hervorragende Bedeutung kirchengeschichtlichen Lernens verwiesen wird, dies aber andererseits kaum
noch stattfinden kann, weil entsprechende Themen kaum
mehr vorgesehen sind? Hier herrscht eine Diskrepanz, die
erläutert und bewertet werden will. In einem Aufsatz, der
sich mit dem Thema Kirchengeschichte im Religionsunterricht befasst, liegt es nun freilich nahe, an dieser Stelle
selber einen Blick in die Geschichte zu werfen und in der
Hoffnung, dabei Antworten auf unsere Fragestellung zu
finden, in groben Linien die Entwicklungen des kirchengeschichtlichen Religionsunterrichts nach 1945 nachzuzeichnen.
'bb' 93-3/2000
Heile Welt der Kirchengeschichte?
Evangelische Unterweisung
In den 50er und frühen 60er Jahren hat die sogenannte
Evangelische Unterweisung die religionspädagogische
Landschaft Deutschlands bestimmt. Bei dieser Konzeption
ging es vor allem darum, eine Begegnung der Schüler mit
Gottes Wort zu ermöglichen. Dieses Wort, so hieß es in
Verfolg der Theologie Karl BARTHS, sei Jesus Christus, dieser Jesus Christus begegne in der Bibel6 und dementsprechend sei Evangelische Unterweisung „Unterweisung im
rechten Umgang mit der Bibel.“7 Diese Ausrichtung auf
die Bibel bedeutete nicht, dass die Kirchengeschichte in
dieser Konzeption ausgeklammert gewesen wäre. Im Gegenteil: Ihr kam die Funktion einer „unentbehrlichen Hilfswissenschaft“8 zu. Die nachbiblische Kirchengeschichte zeige nämlich, so Helmuth KITTEL, dass „die Gabe des Heiligen Geistes nicht auf das biblische Zeitalter beschränkt
ist, sondern Gott diesen seinen Geist gnädig allen Geschlechtern bis zur Gegenwart verliehen hat“.9 Nötig sei es
deshalb, „Beispiele solchen Geistesempfanges aus den verschiedensten Epochen bis zur Gegenwart zu geben“, wobei
bei der Auswahl dieser Beispiele „durchaus eine lebendige
Buntheit herrschen“ dürfe.10
Die Auswahl der kirchengeschichtlichen Themen innerhalb
der Evangelischen Unterweisung war also bestimmt durch
die Kategorie des Heiligen Geistes, dessen fortdauerndes
Wirken an verschiedenen Beispielen nachgezeichnet werden sollte. Wenn wir nun aber davon ausgehen, dass die
Geschichte der Kirche als Institution keineswegs deckungsgleich ist mit diesen „Beispielen solchen Geistesempfanges“,
dann stellt sich die Frage, ob denn der Begriff KirchenGeschichte hier eigentlich passt. Je nachdem, ob man diese
Art der Geschichte von oben oder von unten betrachtet,
drängen sich m.E. eher Begriffe wie Geistes-Geschichte
bzw. Helden-Geschichte auf - wurden doch die „Beispiele
solchen Geistesempfanges“ in aller Regel in einer Weise
präsentiert, die der katholischen Hagio-graphie nicht unähnlich ist.11 Eine Kirchen-Geschichte freilich im eigentlichen Sinne, eine Geschichte also, die Auskunft über das
Werden der Kirche gibt und auch von den in ihren Mauern
bis heute reichlich anzutreffenden Sündern, die wir nach
evangelischem Verständnis alle sind, handelt, eine solche
– so viel ist an dieser Stelle festzuhalten – gab es in diesem
Konzept nicht, sie war nicht einmal intendiert.
Zu diesen theologischen Bedenken kommt ein Weiteres.
Denn wohl mit einigem Recht wurde immer wieder darauf
hingewiesen, dass solcherart Unterricht letztlich ein Bild
11
von Kirche vermittle, für das es keine rechte Entsprechung
in der Gegenwart gebe: „Das Bild der Kirche“, so heißt es
bei LINNEMANN, werde nämlich „nicht durch Märtyrer bestimmt, sondern durch Menschen des Mittelmaßes, an denen sich nicht ablesen lässt, was Christsein ist, da sie sich
anscheinend so gar nicht von ihren nichtchristlichen Zeitgenossen unterscheiden.“12 Bei Schülern aber – so LINNEMANN
weiter - müsse diese Erfahrung der Diskrepanz zwischen
glorifizierter Vergangenheit auf der einen und mittelmäßiger Gegenwart auf der anderen Seite zwangsläufig zur Enttäuschung an der Kirche führen – mehr noch: Sie wirke
sich gar als Glaubenshindernis aus.13
Anderes wäre noch zu diesem Ansatz kritisch anzumerken
- das bis hierher Gesagte sollte indes reichen, um deutlich
werden zu lassen, dass ein Kirchengeschichtsunterricht, in
dessen Mittelpunkt glorifiziert dargestellte Einzelpersonen
stehen, allzu problematische Konsequenzen zeitigt.
Hermeneutischer Religionsunterricht
Die Konzeption der Evangelischen Unterweisung wurde in
den 60er Jahren vom sogenannten Hermeneutischen Religionsunterricht abgelöst. Nachdem die Evangelische Unterweisung den Religionsunterricht als einen gewissermaßen heilsamen Fremdkörper im Schulwesen betrachtet hatte, bestand die Pointe dieser Neukonzeption darin, den Religionsunterricht wieder in die Schule einzubetten – und
zwar nicht durch Anpassung des Religionsunterrichts an
die Schule, sondern umgekehrt durch die Forderung, das
„Christentum zur Grundlage des Schulwesens zu machen.“14
Aber das ist für unsere Fragestellung nur von nebensächlicher Bedeutung. Wichtig ist, dass hier der Kirchengeschichte
eine andere, eine neue Aufgabe zugewiesen worden ist.
Martin STALLMANN, der geistige Vater dieser Konzeption,
stellte zunächst fest, Aufgabe des Religionsunterrichts könne es nicht länger sein, Unterweisung oder gar Verkündigung zu betreiben, weil dies schlicht außerhalb der schulischen Möglichkeiten liege.15 Stattdessen forderte er einen
sogenannten hermeneutischen, einen an den Erkenntnissen und Vorgaben der Bezugswissenschaften orientierten,
kritischen Umgang mit Bibel und Tradition.16 Der Kirchengeschichte war dabei zwar keine wesentliche Rolle zugedacht: Wenn Stallmann von Geschichte oder Tradition
sprach, die im Religionsunterricht zu entfalten seien, dann
meinte er die biblische Geschichte und Tradition, nicht die
der Kirche.17 Welche Funktion hier aber die Kirchengeschichte übernehmen konnte und übernehmen sollte, das
wird bei dem zweiten großen Mann dieser Konzeption deutlich, bei Gert OTTO. Der meinte in seinem ‘Handbuch des
Religionsunterrichts’, sich „mit der Kirchengeschichte beschäftigen bedeutet also: fragen, prüfen, untersuchen, wie
die Generationen vor uns in ihrem Tun und Reden die Heilige Schrift ausgelegt, verstanden und die erfahrene Anrede
verwirklicht haben.“18
Das ist ein Fortschritt gegenüber der Evangelischen Unterweisung. Denn Kirche wird hier insofern angemessener und
realistischer dargestellt, als dieses Konzept nicht historisch
12
und theologisch zweifelhafte exempla fidei in den Vordergrund stellt, sondern schlicht der Wirkungsgeschichte biblischer Texte nachgehen möchte – und das beinhaltet eben
auch nachzuvollziehen, wie beispielsweise die Bibel in der
Geschichte missverstanden worden ist. Ein wichtiger Faktor gelingenden Unterrichts wurde und wird von den Vertretern dieser Konzeption allerdings oft nicht genügend
bedacht: der ‘Faktor’ Schüler. Wie nämlich die Unterrichtsrealität damals und auch heute noch unmissverständlich
zeigt, ist bereits die Bibel für die Mehrheit der Schüler heutzutage so fremd und ohne großen Belang, dass es schon ein
mühevolles Unterfangen ist, bei ihnen Interesse für biblische Geschichten zu wecken. Wenn dies freilich so ist, dann
scheint es mir gänzlich aussichtslos, die Schüler darüber
hinaus noch dafür zu interessieren, wie dieses für sie weitgehend uninteressante Buch in der Folgezeit gewirkt hat,
ob spätere Generationen ihm in ihrem Tun entsprochen oder
eben nicht entsprochen haben. Das mag aus hermeneutischen Gründen wichtig und sinnvoll sein – es ist aber
schlicht nicht praktikabel, weil dafür im schulischen Bereich die nötigen Voraussetzungen fehlen.
Fazit
Zunächst haben wir feststellen können, dass die Kirchengeschichte in den beiden vorgestellten Konzepten keineswegs eine prominente Stellung inne hatte. Sowohl die Evangelische Unterweisung als auch der Hermeneutische Religionsunterricht wiesen der Kirchengeschichte eine Randstellung zu – ein Aspekt, der beim Klagen über heutige
Zustände offenbar vergessen wird. Aber das ist lediglich
ein quantitativer Aspekt; wesentlicher scheint mir in unserem Zusammenhang, dass die Stellung der Kirchengeschichte in den vorgestellten Konzeptionen – unter den Stichworten Glorifizierung und mangelnde Schülerorientierung durchaus auch gewichtige inhaltliche Fragen aufgeworfen
hat. Es bleibt also festzuhalten, dass kirchengeschichtliche
Inhalte nicht erst heute, sondern bereits seit langem ein Problemfall des evangelischen Religionsunterrichts sind – eine
heile Welt hat es diesbezüglich zumindest nach 1945 nicht
gegeben.
Die kritischen Jahre
Die damalige Praxis kirchengeschichtlichen Unterrichts ist
in besonders nachdrücklicher Form in den frühen siebziger
Jahren kritisiert worden – von Vertretern des sogenannten
Problemorientierten Religionsunterrichts. Dass diese Kritik, die sich vor allem gegen die seinerzeit übliche Glorifizierung und gegen die ebenso übliche mangelnde Schülerorientierung wandte, ihre Berechtigung hatte, sollte deutlich geworden sein. Es ging in diesen bewegten Jahren nun
allerdings – auch wenn dies mitunter anders dargestellt
wird19 - nicht darum, kirchengeschichtliche Inhalte aus dem
Religionsunterricht zu verdrängen, sondern darum, Vorschläge für deren nötige Neukonzipierung zu machen. Zwei
dieser Vorschläge, die seinerzeit viel Beachtung gefunden
haben, wollen wir im Folgenden exemplarisch vorstellen
und diskutieren.
'bb' 93-3/2000
Problemorientierter Religionsunterricht - 1
Der Schlüsselbegriff für das Verständnis des Problemorientierten Religionsunterrichts lautete – damaligem Zeitgeist
entsprechend - Emanzipation. Der Religionsunterricht sollte
nun nicht mehr lediglich bilden, er sollte vielmehr eine gesellschaftspolitische Aufgabe übernehmen, er sollte „in Verfolgung seiner gesellschaftskritischen sowie religionskritischen Funktion der tatsächlichen und vermuteten Einengung persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten seitens der
Gesellschaft und der Kirche entgegenwirken und einen
Ablösungsprozess von überkommenen Zwängen und Traditionen im Sinne einer Entlassung in die Mündigkeit und
persönliche Unabhängigkeit ermöglichen helfen.“20 Ein solcherart veränderter Religionsunterricht müsse sich – so die
Forderung BIEHLS - nun aber auch auf Konzeption und Inhalte des Kirchengeschichtsunterrichts auswirken, damit
auch dieser emanzipatorisch wirken könne. Konkret forderte er, fortan den das Evangelium der Befreiungen verkündenden historischen Jesus „als Maßstab zur Beurteilung
der Christentumsgeschichte in Anspruch“21 zu nehmen, um
dann einerseits verfolgen zu können, inwiefern die Kirche
in ihrer Vergangenheit diesem Maßstab gerecht zu werden
vermochte; andererseits sollten forthin auch emanzipatorische Traditionen in Erinnerung gerufen werden, die sich
zu ihrer Zeit nicht durchsetzen konnten, möglicherweise
gar unterdrückt und verfolgt wurden.22 Dergestalt modifiziert sollte dann auch der Kirchengeschichtsunterricht seinen Teil dazu beitragen, „der psychischen und politischen
Befreiung des Menschen“ zu dienen.23
Dieser Vorschlag hat seinerzeit eine bemerkenswerte Diskussion entfacht – vor allem wurde BIEHL mit einigem Recht
vorgeworfen, in seiner Konzeption werde das Evangelium
allzu diesseitig verstanden.24 Wir wollen mit unserer Kritik
aber an anderer Stelle ansetzen und zunächst feststellen,
dass es sich bei diesem Konzept um eine Spielart des bereits vorgestellten wirkungsgeschichtlichen Ansatzes handelte. Sollte im Hermeneutischen Religionsunterricht indes eher allgemein gefragt werden, wie denn die Bibel in
der Geschichte ausgelegt, verstanden und verwirklicht worden ist, so sollte dies hier mit der spezifischeren Fragestellung nach verwirklichter bzw. nicht verwirklichter Emanzipation geschehen. Nun haben wir bei der kritischen Erörterung des Hermeneutischen Religionsunterrichts angefragt,
ob solcherart konzipierter kirchengeschichtlicher Unterricht
denn das Interesse der Schülern finden wird. Wir waren da
skeptisch. BIEHL nun ließ solche kritischen Fragen gar nicht
erst aufkommen. Für ihn war klar, dass sich dieser Unterricht „an der Situation, an den gegenwärtigen und zukünftigen Interessen des Schülers als Subjekt des Lernprozesses“ orientiert.25 Wenn es im kirchengeschichtlichen Unterricht allerdings darum gehen soll zu erkennen, „dass religiöse, soziale und politische Vorstellungen und Einstellungen nicht außerhalb der ökonomischen Ordnung und des
Systems der gesellschaftlichen Beziehungen und Machtverhältnisse zu verstehen sind“ oder dass „ein Zusammenhang
'bb' 93-3/2000
zwischen grundlegenden sozioökonomischen Interessen und
divergierenden religiösen, sozialen und politischen Zielvorstellungen besteht“26 – um nur einige von BIEHLS allgemeinen Zielvorstellungen zu benennen –, dann scheinen mir
Zweifel an der intendierten Schülerorientierung und damit
verbunden an der Praktikabilität auch dieser Konzeption
sehr wohl berechtigt.27
Problemorientierter Religionsunterricht - 2
BIEHL hat in seinem Aufsatz noch eine weitere Möglichkeit
vorgestellt, wie kirchengeschichtliche Themen in einen modernen Religionsunterricht eingebaut werden können. BIEHL
schreibt: „Eine die Schüler interessierende aktuelle Situation“ könne gar nicht „angemessen analysiert werden, ohne
dass der geschichtliche Hintergrund des zur Diskussion stehenden Problems und die Motive und Maßstäbe der in ihr
Handelnden aufgehellt werden.“28 Gemeint ist damit, dass
es eben auch für das Verstehen aktueller Themen einen hohen Gewinn bedeutet, wenn diese aus ihrem geschichtlichen Werdegang heraus nachvollzogen werden können.
BIEHL brachte seinerzeit als Beispiel den damaligen „Streit
um das Anti-Rassismus-Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen“ - hier sei es zur Erhellung der grundlegenden Konfliktkonstellation durchaus hilfreich nachvollziehen zu können, aus „welchen Traditionszusammenhängen“
heraus sich die unterschiedlichen Leitvorstellungen herleiteten.29
Dieser Vorschlag ist m.E. bestechend, denn kirchengeschichtliche Themen treten hier nicht mehr – wie in der
Regel üblich – vereinzelt und ohne erkennbaren inneren
Zusammenhang auf30, vielmehr wird bei diesem Vorschlag
die geschichtliche Perspektivierung zum didaktischen Prinzip des Lernens auf dem Felde zumindest sozialethischer
Themen gemacht. Die Schüler lernen hierbei historisches
Denken nicht nur als nützliches, ja unentbehrliches Hilfsmittel zum Verständnis aktueller Themen kennen, sondern
sie merken darüber hinaus auch, wie solcherart geschichtliche Perspektivierung dazu beiträgt, dass gerade bei kontroversen Themen nicht sogleich die gegensätzlichen Meinungen aufeinander prallen, sondern beim gemeinsamen
Blick in den historischen Entstehungsprozess Diskussionen
versachlicht werden und differenzierter ausfallen.31
In Bayern beispielsweise hat dieses Prinzip im Hauptschulbereich bei den (eher weniger umstrittenen) Themen
Mission und Diakonie Eingang gefunden - bei anderen
(spannenderen) sozialethischen Themen wie der Todesstrafe, der Ausgrenzung von Fremden, des Kriegsdienstes usw.
ist dies ebenso denkbar und wünschenswert.
Und heute?
Den Gang durch die Geschichte brechen wir hier ab. Aus
Platzgründen überspringen wir Modelle wie beispielsweise
den therapeutischen Religionsunterricht und werfen abschließend einen Blick auf die gegenwärtige Situation.
Erinnert sei zunächst daran, dass wir bei der Evangelischen Unterweisung die Personalisierung als didaktisches
13
Auswahlprinzip kennen gelernt haben. Wir haben dieses
Verfahren abgelehnt, weil es mit seiner Neigung, geschichtliche Handlungsträger glorifiziert darzustellen, nicht nur
theologisch bedenklich war, sondern auch problematische
Konsequenzen zeitigte. Nun aber zeigt ein Blick in heutige
Lehrpläne, dass sich dieses Verfahren in den wenigen verbliebenen kirchengeschichtlichen Einheiten erhalten hat:
Seien es die ‘Frauen, die sich trauen’, der ‘Widerstand der
Christen im Dritten Reich’ oder die Reformation: Bei kirchengeschichtlichen Themen wird auch heute noch so munter glorifiziert, als hätte es die Kritik an den exempla fidei
der Evangelischen Unterweisung nie gegeben. Kann kirchengeschichtlicher Religionsunterricht, wenn er denn seine sperrigen Themen veranschaulichen möchte, denn wirklich nicht anders, als auf diese umstrittene Weise Glaubensvorbilder in den Mittelpunkt zu stellen?
Doch, er kann. Auf eine alternative Möglichkeit, die viel
für sich hat und überdies in den letzten Jahren verbreitet
Akzeptanz findet, sei abschließend hier verwiesen: Es handelt sich um das didaktische Prinzip der Regionalisierung.
Bereits STALLMANN, der oben vorgestellte Nestor des Hermeneutischen Religionsunterrichts, wusste um die Vorzüge
des an der eigenen Region orientierten Lernens. Er schrieb:
„Die Schule möchte sich mit ihrem Unterricht in der Nähe
der Lebenswirklichkeit aufhalten, weil Interesse und
Lernbereitschaft der Schüler in dem Maße wachsen, wie sie
spüren, dass sich mit Hilfe des Gelernten konkrete Situationen und ursprüngliche Lebenslagen bewältigen lassen.“ Was
in dieser Weise allgemein gilt, das gilt nun freilich auch für
den Religionsunterricht: „Das Heimatprinzip“, so STALLMANN
weiter, könne und müsse auch in diesem Fach berücksichtigt werden, weil insbesondere „kirchliche Einrichtungen
und Gebäude, Feiern und Gedenktage manche Gelegenheit“
zur Anknüpfung bieten.32 Was STALLMANN dergestalt beschrieb, war und ist freilich nicht selbstverständlich. Denn
zunächst ist gerade der protestantische Religionsunterricht
– dem reformatorischen sola scriptura verpflichtet - traditionell auf das gedruckte Wort fixiert,33 dann galt in den
kritischen 70er Jahren Regionalisierung vielen als provinziell und unwissenschaftlich34 und schließlich sind Religionslehrer in diesem Bereich häufig schlicht nicht kompetent, weil entsprechende Inhalte in ihrer Ausbildung in der
Regel nicht vorgesehen sind.35
Das Prinzip der Regionalisierung stößt also auf Schwierigkeiten – es findet aber dessen ungeachtet in den letzten Jahren verbreitet Zustimmung. So hat auf evangelischer Seite
LÄMMERMANN bereits 1986 darauf hingewiesen, dass sich
„Ereignisse der Kirchengeschichte ... dem Schüler nur erschließen, wenn sie auf die Lebenssituation der Schüler beziehbar sind.“ Deshalb sei „eine kirchengeschichtliche Heimatkunde im Sinne lebensgeschichtlicher Spurensuche zwar
nicht der einzige, wohl jedoch ein bedeutsamer didaktischer
Ansatz für den Kirchengeschichtsunterricht“36, der überdies
auch jene Strukturen aufzubauen helfe, „die – als Zeitperspektive – historisches Verstehen“ überhaupt erst ermöglichen.37
14
Besonders eindrücklich, ausführlich und überzeugend ist
dieser regionalgeschichtliche Ansatz dann aber auf katholischer Seite von HALBFAS vertreten worden. Der wies darauf hin, dass es in jedem regionalen Umfeld eine „bunte
Fülle“ an „konkreten Materialien - an Vorgängen, Geschichten, Dokumenten, Bildern, Bauwerken“ gebe, die zur Belebung des Unterrichts herangezogen werden können.38 Lokaler Kirchengeschichtsunterricht verhelfe den Schülern auf
diese Weise nicht nur zu einem besseren Verständnis ansonsten abstrakter kirchlich-theologischer Themen; vielmehr bewirke er auch, dass die Schüler ihre Umgebung
bewusster wahrnehmen und sich „in sozialen Verflechtungszusammenhängen verstehen lernen“. Auf diese Weise leiste
der Religionsunterricht einen wichtigen Beitrag zur religiösen Sozialisation der Heranwachsenden, er führe zu etwas, das HALBFAS mit dem Begriff „Beheimatung“ beschreibt.39
Deutlich sollte mit diesem kleinen Überblick geworden sein,
dass es sich bei dem Regionalisierungsprinzip um weitaus
mehr handelt, als um ein Mittel zur Veranschaulichung abstrakter Inhalte. Denn gerade das Lernen in der Region bietet den Schülern Hilfestellungen bei der religiösen Sozialisation, bei dem Vertrautwerden mit der Kirche – und erreicht damit genau das, was mit dem Personalisierungsprinzip – so unsere obigen Überlegungen – zu misslingen
droht.
Dazu kommt ein Weiteres: Wer das Lernpotential der eigenen Region in den Unterricht einbeziehen möchte, wird bald
merken, dass hierbei gerade schüleraktive Unterrichtsformen
in Betracht kommen – Unterrichtsformen also, die bei dem
lange Zeit von der Lehrererzählung dominierten Personalisierungsprinzip keine wesentliche Rolle spielten. So schreibt
LENHARD, eine „regionalgeschichtliche Religionsdidaktik“
fordere dazu auf, dass „Projekte zur Erkundung der unmittelbaren lokalen und regionalen Geschichtsspuren erprobt,
Methoden der Oral History zur Erforschung der jüngeren
Geschichte ausprobiert, Exkursionen zu Denkmälern, Kirchen, Museen durchgeführt und eigene Quellen unterschiedlicher Art gesammelt und gesichtet werden.“40 Ein vorzügliches Beispiel für einen solchen schüleraktiven Kirchengeschichtsunterricht hat jüngst EPP geschildert, dessen Schüler sich freiwillig auf kirchengeschichtliche Spurensuche
in ihrer Heimat gemacht haben und dabei soviel zu Tage
förderten, dass daraus – zur Überraschung des Lehrers –
sogar noch eine ansehnliche Ausstellung erwuchs.41
Um einer möglichen Kritik vorzubeugen: Bei solchen an
den regionalen Gegebenheiten orientierten kirchengeschichtlichen Unterrichtsprojekten würde auch von den
Personen die Rede sein, die die entsprechenden Entwicklungen beeinflussten. Diese würden aber nicht mehr im Mittelpunkt stehen und es wäre so die Gefahr übermäßiger Glorifizierung minimiert.
Schluss
Ausgangspunkt dieser Darstellung war der Wunsch, die Diskrepanz zwischen der Randstellung des kirchengeschicht-
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lichen Religionsunterrichts auf der einen, den häufigen Klagen darüber auf der anderen Seite besser verstehen und zu
bewerten zu können. Nun hat sich gezeigt, dass kirchengeschichtliches Lernen im evangelischen Religionsunterricht
nicht per definitionem gut und sinnvoll ist. Vielmehr haben
wir im Gang durch die Geschichte Formen kirchengeschichtlichen Unterrichts kennen gelernt, die problematisch
und zu recht kritisiert worden sind. Entscheidend ist deshalb nicht - und dies sei in Richtung all derer deutlich gesagt, die in der Regel undifferenziert den heutigen Zustand
beklagen -, dass kirchengeschichtliche Themen im evangelischen Religionsunterricht erhalten bleiben. Entscheidend
ist vielmehr, dass eine Diskussion darüber stattfindet, welche kirchengeschichtlichen Themen in welcher didaktischen
Struktur Eingang in die Lehrpläne finden. Wenn hier überzeugende Vorschläge gemacht werden – und die hier vorgestellte geschichtliche Perspektivierung bzw. Regionalisierung halte ich für solche -, dann sollte es in der Tat
dazu kommen, dass die Kirchengeschichte im evangelischen
Religionsunterricht wieder einen breiteren Raum einnimmt.
Wenn im kirchengeschichtlichen Religionsunterricht indes
weiterhin von den großen Glaubenshelden die Rede sein
sollte, dann wäre es wohl besser, wenn kirchengeschichtliche Themen auch künftig eine Existenz ganz am Rande des
Religionsunterrichts führen – und die beschriebene Diskrepanz bestehen bleibt. Es bleibt allerdings zu hoffen, dass hier
Veränderungen stattfinden und dies nicht nötig sein wird.
Anmerkungen
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9
Vgl. bis hierher Rickers, F.: Kirchengeschichte im Religionsunterricht. Ein Literaturbericht, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 6 (1989), S. 175f.
Junge Kirche. Zeitschrift für reformatorisches Christentum, Hg.:
H. Lilje, Göttingen 1938, S. 723ff. Besonderer Nachdruck sollte dabei auf „die Geschichte der Kirche im deutschen Volke“
gelegt werden (724).
Der Begriff ‘Wurzel’ wird vor allem von Halbfas in diesem Kontext verwendet. Vgl. hierzu ders.: Wurzelwerk. Geschichtliche
Dimensionen der Religionsdidaktik, Düsseldorf 1989; hier besonders S. 138ff.
Zur Vereinheitlichung des Schriftbildes werden die Zitate
der neuen Rechtschreibung angepasst.
Andreas Reinert in entwurf. Religionspädagogische Mitteilungen. Hg.: Fachgemeinschaft evangelischer Religionslehrer ... in
Württemberg e.V. u.a., Heft 3 (Kirchengeschichte), Stuttgart
1999, S. 2.
Vgl. die entsprechenden Ausführungen beispielsweise bei
Lämmermann G.: Anmerkungen zu einem kirchengeschichtlichen Unterricht, in: ThPTh 21 (1986), S. 327f. So finden sich
beispielsweise in den neuen bayerischen Lehrplänen für die
Grund- und Hauptschulen nur noch zwei kirchengeschichtliche Themen im Kanon verbindlicher Lehrinhalte.
Vgl. Kittel, H.: Vom Religionsunterricht zur Evangelischen Unterweisung, 3. durchgesehene Auflage, Berlin, Hannover, Darmstadt 1957, S. 11.
A.a.O., S. 12.
Dieser Begriff geht auf Barth zurück, demzufolge die Kirchengeschichte keine „selbständige theologische Disziplin“ ist, sondern nur eben eine „unentbehrliche Hilfswissenschaft der
exegetischen, der dogmatischen und der praktischen Theologie“; vgl. Barth, K.: Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1, Erstausgabe 1932/ Studienausgabe Zürich 1986, S.3.
Kittel, a.a.O., S. 16.
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41
Ebd.
Vgl. die pointierte Kritik von Linnemann, E.: Die Funktion der
Kirchengeschichte. Didaktische Überlegungen und
methodische Konsequenzen, in: Religionsunterricht unterwegs.
Zu Theorie und Praxis eines umstrittenen Faches, Hg.: K.
Wegenast, 2. Aufl., Hamburg 1972, S. 67ff.
A.a.O., S. 69.
Ebd.
Stallmann, M.: Christentum und Schule, Stuttgart 1958, S. 126.
Vgl. a.a.O., S. 190f. und öfter. Vgl. auch ders.: Evangelischer
Religionsunterricht, Düsseldorf 1968, S. 40ff.
Vgl. Stallmann (1968), S. 31f, 50f.
A.a.O., S.29.
Otto, G.: Handbuch des Religionsunterrichts, 2. durchgesehene
Auflage, Hamburg 1965, S. 301.
Vgl. die entsprechende Kritik bei Fikenscher, K.: Neu oder wieder gefragt? Kirchengeschichte im Religionsunterricht, in: Nachrichten aus der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 37
(1982), S. 336.
So die etwas lange, aber m.E. vortrefflich zusammenfassende
Formulierung von Weidmann, F.: Religionsunterricht in Vergangenheit und Gegenwart, in: Ders. (Hg.): Didaktik des Religionsunterrichts, 6. mehrfach veränderte Auflage, Donauwörth
1992, S. 46.
Biehl, P.: Kirchengeschichte und themenorientierter Religionsunterricht, in: Kirchengeschichte im Religionsunterricht. Konzeptionen und Entwürfe, Hg.: Ders. u.a., Stuttgart, München
1973, S. 12.
A.a.O., S. 12.
A.a.O., S. 9. Hervorhebung im Original.
Vgl. Sturm, E.: Didaktische Probleme des Kirchengeschichtsunterrichts, neu abgedruckt in: Arbeitsbuch Religionsunterricht, Hg.: H. Lenhard, 2. Auflage, Gütersloh 1996, S. 250.
Biehl, a.a.O., S. 13.
A.a.O., S. 17. Hervorhebungen im Original.
Vgl. auch die entsprechende Kritik bei Weidmann, a.a.O., S.
47.
Biehl, a.a.O., S. 21.
Ebd.
Vgl. die entsprechende Kritik bei Rickers, a.a.O., S. 187f.
In den Worten Lämmermanns geht es darum, durch historische Bildung „die gelebte Unmittelbarkeit zu transzendieren“;
ohne ein solches historisches Bewusstsein würden die Heranwachsenden zum „Spielball unmittelbarer ‘aktueller’
Bestimmtheiten“; Lämmermann, a.a.O., S. 330 und 336.
Stallmann (1968), a.a.O., S. 81 und 83.
Vgl. Halbfas, a.a.O., S. 239.
Vgl. a.a.O., S. 242.
Vgl. a.a.O., S. 263.
Lämmermann, a.a.O., S. 337. Hervorhebung im Original.
A.a.O., S. 341.
Halbfas, a.a.O., S. 239.
A.a.O., S. 256 und 265. Dass kirchengeschichtlicher Unterricht
auch ohne regionale Orientierung „zu eigenem Engagement in
Kirche und Gesellschaft motivieren“ könne, wird zwar immer
wieder behauptet (vgl. jüngst Adam, G.: Umgang mit der Kirchengeschichte. Fachdidaktische Überlegungen, unter besonderer Berücksichtigung der Reformation, in: Schulfach Religion 15 (1996), S. 16), ist aber aus den obig angeführten Gründen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.
Lenhard, H.: Einführung: Kirchengeschichte im Religionsunterricht, in: Arbeitsbuch Religionsunterricht. Überblicke – Impulse – Beispiele, Hg.: Ders., 3. neubearbeitete und erweiterte
Auflage, Gütersloh 1996, S. 248.
Vgl. Epp, J.: Kirchengeschichtliche Spurensuche, in: Katechetische Blätter 125 (2000), S. 53ff.
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u-einheit:
freundschaft
1. klasse
GS
klaus arndt
1. Std.
Freunde, was ist das?
Kriterien für Freundschaft
Lied: Viele meiner Freunde MA 1
entw. KOP 1/1 oder 1/2/1/3
Ich male mich zu meinem Freund
2. Std.
Es gibt viele Freundinnen/Freunde
Wir fangen neu an /
Meine Schulfreunde/innen
Lied: Schön, schön, schön MA 2
KOP 2
3. Std.
Freundschaft zerbricht - oder?
Eigene Berichte über Streit mit Freund/in
Lehrererzählung MA 3
4. Std.
Wie eine Freundschaft beginnt /
wieder beginnt
Lied: Wenn einer sagt, ich mag dich MA 4
5. Std.
Elmar
Lehrererzählung bis “Guten Morgen“ MA 5
Anmalen und Basteln von Elmar KOP 3
Gemeinsames Sprechen MA 6 1. Strophe
MA 1
Viele meiner Freunde sind jetzt nicht mehr hier.
Ich bin ziemlich traurig, kommt doch durch die Tür.
Meine Freundin fehlt mir hier in diesem Raum,
ohne sie hier bleiben, das gefällt mir kaum.
Ich sitze neben Anne, Petra neben Jan.
Jetzt bin ich mir sicher - so fängt Freundschaft
an.
(Melodie: Alle meine Entchen ...)
6. Std.
Elmar
Beendigung der Lehrererzählung MA 5
gemeinsames Sprechen MA 6
Ausmalen KOP 4
7. Std.
Gott ist mein Freund
Lied: Lieber Gott, ich weine oft MA 6
Arbeitsblatt KOP 5:
in die große Hand eigene Hand und Freundschaftshände hineinmalen
8. Std.
Freunde gewinnt man durch Abgeben und Teilen
Lehrererzählung “Regenbogen finden“ bis:
“im ganzen Ozean.“ MA 8
Ausmalen KOP 6
9. Std.
Regenbogenfisch
Beendigung der Lehrererzählung MA 8
Ausmalen KOP 7
10. Std.
Lied: Lieber Gott, ich lieb dich MA9
Alle meine Freunde sind von Gott geschickt
Malen: Wir bauen mit unseren Freunden/innen eine Sandburg
MA 2
Schön, schön, schön, dich heute hier zu seh’n.
Ich freue mich, dass ich dich seh’
und mit dir in die Schule geh‘.
Schön, schön, schön, dich heute hier zu seh’n.
Fein, fein, fein, ich bin nicht mehr allein.
Für mich macht Schule täglich Freud’,
wir sind zusammen nicht nur heut’.
Fein, fein, fein, ich bin nicht mehr allein.
Gut, gut, gut, wir beide haben Mut.
Wir sind ein Paar, na klar. Jedoch,
wer kommt zu uns bald weiter noch?
Gut, gut, gut, wir beide haben Mut.
Ja, ja, ja, jetzt seid ihr alle da!
Lasst uns zusammen Freunde sein
und Freundinnen, das wird sehr fein.
Ja, ja, ja, jetzt seid ihr alle da!
(Melodie: Hopp, hopp, hopp, Pferdchen, lauf Galopp ...)
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KOP 1/1
KOP 1/2
KOP 1/3
KOP 2
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MA 3
Bine und Per
Bine und Per waren befreundet, solange sie zurückdenken konnten. Bine war einen Tag vor Per geboren;
ihre Mütter hatten in einem Zimmer im Krankenhaus gelegen. Sie hatten als ganz kleine Kinder schon
zusammen gespielt. Sie waren gemeinsam in den Kindergarten gekommen, natürlich in eine Gruppe. Sie
waren unzertrennlich, im Kindergarten, im Haus, im Sportverein - sie gingen beide zum Kinderturnen -,
und selbst im Urlaub brauchten sie sich nicht zu trennen, denn ihre Familien machten gemeinsam Ferien.
Wenn sie friedlich und fröhlich miteinander spielten - und bei ihnen gab es keinen Zank und Streit, kein
lautes Wort und kein Muckschen, dann hörten sie die Erwachsenen manchmal sagen: “Seht einmal,
unser Liebespaar!“ Das fanden sie toll, und sie wurden überhaupt nicht rot.
Es war in der Tat ihr Lieblingsspiel: sie waren ein Ehepaar. Wenn Bine zum Kaufladen ging, um dort für die
kleine Familie mit ihrem Spielgeld die lebensnotwendigen Sachen einzukaufen, kümmerte sich Per um
ihre Kinder, also die Puppen und Bären, und um die vielen Plüschtiere. Er nahm den Puppenwagen, legte
die Puppe Margarete und den Bären Brummi hinein, deckte sie sorgfältig zu, band den Dackel Waldi
(dem mit den Rädern) Halsband und Leine um und machte einen Spaziergang. Manchmal schob er den
Puppenwagen auch zum Kaufladen und wartete auf Bine. Dann schoben sie auf dem Rückweg den Wagen gemeinsam oder Bine hängte sich bei ihm ein.
War Per bei der Arbeit - er war bei der Post Schalterbeamter -, sorgte Bine für den Haushalt. Und wenn sie
beide arbeiteten - Bine arbeitete halbtags im Verkehrskindergarten -, brachten sie die Kinder und die Tiere
zu Oma und Opa.
So konnte es nicht verwundern, dass sie beide in die Klasse 1a kamen und - natürlich - nebeneinander
saßen. So konnten sie sich prima helfen, manchmal auch ein bisschen miteinander quasseln oder voneinander abgucken. Es zeigte sich schon bald, dass die beiden keine Schwierigkeiten in der Schule haben
würden. Zwar konnte Bine schneller eine Schleife binden - sie half dann Per, der da so seine Probleme
hatte, dafür machte ihr Per immer den Reißverschluss ihrer Regenjacke zu.
Als er jedoch heute zu Bine kam, um mit ihr zu spielen, stand sie mit einem abweisenden Gesicht an der
Tür. “Ich spiele nicht mehr mit dir!“, sagte sie. Per spürte, wie sich in seinem Hals ein Kloß bildete und
langsam Tränen in seine Augen kamen. “Warum?“, konnte er nur hinauswürgen, denn auch seine Stimme
versagte. “Weil, weil, weil... Jungen sind doof. Das sagt Tina aus der 1b, und die ist jetzt meine Freundin.“
Per stand nur da und wusste nicht, was er sagen sollte. Er sah Bine traurig an, dann drehte er sich um und
rannte davon.
MA 4
Wenn einer sagt: “Ich mag dich, du,
ich find dich ehrlich gut“,
dann krieg ich eine Gänsehaut
und auch ein bisschen Mut.
Lalalala
Wenn einer sagt: “Ich brauch dich, du,
ich schaff es nicht allein“,
dann kribbelt es in meinem Bauch,
ich fühl mich nicht mehr klein.
Lalalala
Wenn einer sagt: “Komm, geh mit mir,
zusammen sind wir was“,
dann werd ich rot, wenn ich mich freu,
dann macht das Leben Spaß.
Lalalala
Gott sagt zu dir: “Ich hab dich lieb
und war so gern dein Freund.
Und das, was du allein nicht schaffst,
das schaffen wir vereint.“
Lalalala
18
MA 6
Mein Name, der ist Elmar.
Ich bin ein Elefant.
Ich bin ganz bunt gemustert
und deshalb sehr bekannt.
Die andren Elefanten
sind grau, kein bunter Fleck.
Um auch so grau zu werden,
wälzte ich mich im Dreck.
Dann kam der große Regen,
der wusch das Grau mir ab,
so dass ich durch die Wäsche
wieder mein Farbkleid hab’.
Doch jeder meiner Freunde
zeigt mir, dass er mich mag:
er feiert - bunt gestrichen –
mit mir den Elmarstag.
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MA 5
Elmar
Es war einmal eine Elefantenherde. Junge Elefanten, alte Elefanten, große, dicke und dünne Elefanten. Einige sahen
aus wie der hier, oder wie der da, oder wie der da drüben, alle ein bisschen verschieden, aber alle einigermaßen
glücklich, - und allesamt elefantenfarben.
Nur Elmar nicht.
Elmar war ganz anders.
Elmar war buntscheckig.
Elmar war gelb
und orange
und rot
und rosa
und lila
und blau
und grün
und schwarz
und weiß.
Elmar war überhaupt nicht
elefantenfarben.
Wenn Elmar da war, gab es für die Elefanten immer was zu lachen. Manchmal spielte er mit den anderen Elefanten,
manchmal spielten sie mit ihm. Und wenn man sie vor Vergnügen prusten hörte, dann hatte Elmar sich wieder mal
etwas Besonderes ausgedacht. Eines Abends konnte Elmar nicht einschlafen, weil er so viel nachdenken musste.
„Ich weiß nicht, - eigentlich habe ich keine Lust mehr, so ganz anders zu sein als die anderen“, dachte er. Ein buntscheckiger Elefant - wo gibt’s denn so was?“, dachte er. “Kein Wunder, dass sie über mich lachen.“ Und gegen
Morgen, bevor die anderen richtig wach wurden, machte Elmar sich leise und unbemerkt davon.
Er lief durch den Dschungel und traf viele andere Tiere. Die anderen Tiere sagte alle “Guten Morgen, Elmar!“, und
Elmar lächelte und sagte “Guten Morgen!“
Er lief und lief, und endlich fand er, was er gesucht hatte: einen großen Busch, einen großen Busch voller Beeren,
einen großen Busch voll mit elefantenfarbenen Beeren. Elmar ergriff den Stamm mit seinem Rüssel und rüttelte und
schüttelte, dass die Beeren nur so auf den Boden prasselten.
Als der Boden dicht mit den Beeren bedeckt war, legte Elmar sich nieder und wälzte sich - rechtsherum und linksherum, vorwärts und rückwärts. Dann pflückte er ganze Beerentrauben ab und rieb sich überall mit dem Saft ein. Schließlich war nichts mehr zu sehen von dem Gelb, dem Orange, dem Rot, dem Rosa, dem Lila, dem Blau, dem Grün, dem
Schwarz und dem Weiß, und Elmar sah genauso aus wie jeder andere Elefant.
Dann machte sich Elmar auf den Weg, zurück zu seiner Herde. Unterwegs kam er wieder an den anderen Tieren
vorbei.
Diesmal sagten die Tiere zu ihm. “Guten Morgen, Elefant!“ Und Elmar lächelte jedes Mal und sagte “Guten Morgen!“
- zufrieden, dass sie ihn nicht erkannt hatten.
Als Elmar wieder zu seiner Herde kam, standen alle Elefanten still da und hielten ihr Mittagsschläfchen. Keiner bemerkte Elmar, der sich unauffällig in die Mitte der Herde schob. Nach einer Weile wurde Elmar aber doch unruhig. Was war
nur los? Irgendwas schien nicht zu stimmen.
Er sah sich um: der Dschungel war da, der helle Himmel, die Regenwolke, die ab und zu vorüberzog, die Elefanten alles war so wie immer. Die Elefanten? Elmar sah sich um. Die Elefanten standen ganz still und ernst da. Elmar hatte
sie noch nie so stumm und still erlebt. Je länger er sie ansah, desto komischer fand er sie. Schließlich konnte er sich
nicht mehr halten, - er hob den Rüssel und brüllte, so laut er nur konnte: “Buuh!“
Die Elefanten fuhren hoch vor Schreck und purzelten durcheinander. “Du lieber Himmel - was war denn das?“, riefen
sie. Aber dann sahen sie Elmar, der sich vor Lachen nicht mehr halten konnte.
“Elmar!“, riefen sie. “Das kann nur Elmar sein.“ Und dann lachten sie auch los, - ein donnerndes Elefantengelächter.
Sie lachten so laut, dass die Regenwolke sich zusammenzog. Ein gewaltiger Regen rauchte herunter.
Unter den Wassergüssen kam Elmars buntscheckige Färbung wieder zum Vorschein. “Oh Elmar“, jappste ein alter
Elefant. “Du hast uns ja schon oft ganz schön am Rüssel herumgeführt mit deinen Späßen, aber das war die Spitze!
Lange hat es nicht gedauert, bis deine Farben wieder herauskamen!“
“Diesen Tag werden wir von nun an feiern“, sagte ein anderer Elefant. “Jedes Jahr um diese Zeit ist Elmars-Tag, alle
Elefanten verkleiden sich, - und Elmar wird elefantenfarben.“ Und so machen sie es jetzt auch: an einem Tag im Jahr
malen die Elefanten sich bunt an und veranstalten einen großen Festzug.
Und wenn du an diesem Tag einen Elefanten entdeckst, der ganz normal aussieht, elefantenfarben, - dann weißt du
Bescheid: DAS IST ELMAR.
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ku-einheit:
nikolausberger konfirmandenaltar
KU
lothar teckemeyer
„Jesus ist einer wie wir. Aber er hat kein Gesicht, damit
jeder sich in Jesus entdecken kann. Natürlich wissen wir,
dass er früher anders ausgesehen hat. Aber wir malen Jesus
mit Jeans und T-Shirt, damit jeder sich in ihm wiederfinden kann.“ - „Jesus hält den Kreislauf des Lebens mit seiner Liebe zusammen. Deshalb trägt er diesen Ring, auf den
ein Rabe - der steht für das Bedrohliche - und eine Taube die zeigt den Frieden - sitzen.“ - „Er muss einen Heiligenschein haben, aber der ist von einer Dornenkrone umrankt.“
- „Und ganz unten, wie eine runde Plattform malen wir das
Antiatomzeichen hin.“ Auf die Frage, was die Kreise um
Jesus zu bedeuten haben, wird geantwortet: „Unten, die
Plattform, das ist für den Erhalt der Schöpfung und den
Frieden. In der Mitte ist der Lebenskreis, er bedeutet Gerechtigkeit und der Heiligenschein und die Dornenkrone,
die stehen für den Glauben.“
22 Konfirmandinnen gestalten ihr Jesusbild. Es ist das letzte
von 11 Bildern zum Glaubensbekenntnis. Seit 4 Monaten
wird der zweite Artikel des Bekenntnisses im Konfirmandenunterricht behandelt. In jeder Stunde steht ein Verb aus
der Biographie Jesu im Mittelpunkt: empfangen: gelitten,
gekreuzigt, gestorben, begraben, hinabgestiegen, auferstanden, aufgefahren, richten. Geschichten aus der Bibel zu
diesen Worten, eigene Erfahrungen und Ereignisse aus
unserer Zeit werden „zusammengebracht“. Beim Stichwort
„gekreuzigt“ wird die Passionsgeschichte Jesu erzählt. Die
Konfirmandinnen können davon erzahlen, wie Lebenswege durchkreuzt werden können, unerwartet geschieht ein
Unfall, eine Scheidung zerbricht das Familienglück. Zum
Abschluss einer jeden Einheit werden biblische und eigene
Erfahrungen zu einem Bild (1,02 x 0,70 m groß, gemalt
mit Abtönfarben auf Leinen) von mehreren Konfirmandinnen gestaltet.
Wir gehen bei unserer Planung der Unterrichtseinheit davon aus, dass die Schlüsselwörter aus dem zweiten Artikel
des Credo im Aneignungsprozess der Konfirmandinnen eine
Eigendynamik entwickeln und „sich selbst predigen“. Sie
brauchen nicht die erklärenden Bemühungen der Unterrichtenden, um verstanden zu werden. Konfirmandinnen
hören und gestalten sie unmittelbar. Sie nehmen Wörter
des Glaubensbekenntnisses in Gebrauch. Sie bringen sie
mit biblischen Geschichten sowie ihren Lebenserfahrungen in Verbindung. Eine „Gemengelage“ zwischen biblischer Tradition und alltäglichem Leben der Konfirmandinnen entsteht.
Ein Großteil des Unterrichts wird als Gruppenarbeit gestaltet - auch das Malen der Bilder. So wird der Kommunikationsprozess untereinander gefördert. Miteinander reden
und sich austauschen hilft, Dinge zu klären, eigene Mei-
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nungen zu relativieren und nach gemeinsamen Überzeugungen zu suchen, Wörter der Tradition verständlich zu
machen und sie neu zum Klingen zu bringen. Der Unterrichtende achtet darauf, sich nicht all zu sehr einzumischen.
Er ist eher Anleiter, um den Aneignungsprozess biblischer
Tradition im Kontext heutigen Erfahrungswelt zu fördern.
Motivierend für alle ist das gemeinsame Ziel: Ein Altarbild
für die Kirche soll gestaltet werden und während der
Konfirmandenzeit in der Kirche aufgehängt werden.
Bei diesem Prozess entsteht Konfirmandinnen-Theologie:
„Auferstanden“ wird nicht nur als die Auferstehung Jesu
gedeutet. „Auferstehung ist wie eine Pflanze, die wächst...
oder aufersteht. Sie fängt - wie Alles - klein an. Am Schluss
ist sie groß und prächtig. So ist das auch mit der Auferstehung. Niemand kann beweisen, dass Jesus auferstanden ist.
Doch nach seinem Tod wussten die Jünger plötzlich, was
sie tun mussten, denn Jesus war in ihnen und lebte weiter,
um ihnen den Weg zu zeigen. Für uns bedeutet das: Etwas,
das nicht mehr da ist, kann immer wieder in Erinnerung
gerufen werden. Man muss nicht verzweifeln, man sollte
an die Erinnerung glauben. Auferstehen bedeutet für uns
auch: das jemand, der ganz unten ist, auch den Mut und
die Kraft findet, wieder aufzuerstehen.“ So die Deutung
der Konfirmandinnen zu ihrem Auferstehungsbild.
Alle Bilder werden zum Schluss der Einheit zu einem großen Altarbild zusammengefügt. Die Konfirmandinnen erklären dazu:
„Die unterste Reihe zeigt die Bilder zu den Wörtern „empfangen“ und „geboren“. Diese Bilder beschreiben - so die
Konfirmandinnen - das „Werden des Lebens“. Doch auch
das Werden des Lebens steht schon zwischen Hoffen und
Ängsten. Das sieht man an den Träumen der Mutter. Sie
sieht eine schöne Welt, aber auch eine von grauer stickiger
Luft geprägtes Traumbild.
In der zweiten Reihe wird das „Leben“ gezeigt. Hier sehen
Sie die Bilder „gelitten“, „gekreuzigt“, „gestorben“.
In der dritten Reihe sind die Bilder „auferstanden“, „aufgefahren“, „richten“, „hinabgestiegen“ und „begraben“ zu sehen. Das sind die Bilder, die über das Leben hinausweisen.
Auf der linken Seite, stehen die Hoffnungsbilder: „auferstanden“ und „aufgefahren“, auf der rechten die Dinge, die
Angst machen: hinabgestiegen und begraben.
Ganz oben ist Jesus zu sehen. Alle Verben gehören zu Jesus.
Er steht über allem. Er ist ganz oben, er ist der Erhöhte.“
In einem Gottesdienst wird der Altarbild an der Nordseite
in der Klosterkirche in Nikolausberg eingeweiht und vorgestellt und gemeinsam mit der Gemeinde in Gebrauch
genommen: Vor dem Bild wird die Abendmahlsfeier
gestaltet. Eine Konfirmandin erklärt: „Das Altarbild will
21
von Jesus erzählen Es soll dabei helfen, mit Gott ins Gespräch zu kommen und danach zu fragen, was für unser Leben wichtig ist. Es soll unserem Leben Orientierung geben.“
Der Altar ist der Ort, an dem Gottesbegegnung möglich ist,
an dieser Stelle kann Epiphanie geschehen. Hier finden
Gottesverehrung, Anbetung, Opferung, Segnung, Ordination und das Abendmahl statt.
Die Gestalt, der Ort und die Ausschmückung des Altars
haben die Aufgabe, seine religiöse Funktion zu unterstützen. Das Kruzifix erinnert an die Leidensgeschichte Christi, genauso die Passionsgeschichte, die wir auf vielen Altaraufsätzen dargestellt finden. Reliquienschreine zeigen an,
dass „Konkretes“, Körperteile, Kleidungsstücke oder andere Teile von wichtigen Gegenständen aus dem Leben von
Heiligen im Altar selbst verortet sind. Im liturgischen Vollzug wird die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen gegenwärtig, wird Gott persönlich angesprochen, ist er beim
Abendmahl präsent. Bei der Gestaltung eines Altars sind
folgende Fragen hilfreich: Stiftet der Altar zur Sinnsuche
der Gläubigen an, kann er Orientierungshilfe für Menschen
unserer Zeit sein? Unterstützt seine Gestalt das Gebet der
Gemeinde? Ist er Glaubenshilfe?
Ebenso drücken Standort und Aussehen des Altars immer
auch eine Aussage über Gott und den Glauben der Gemeinde aus. Ist Gott „in der Mitte“ der Gemeinde gegenwärtig?
Oder: Bietet mir der Altar Ostung, also Orientierung meines Gottesglaubens an, werde ich ausgerichtet und auf den
Weg gebracht? Werden meine Aussagen und Vorstellung
von Gott durch historische Bilder, (biblische Geschichten
und Heilige) geprägt? Oder: Kann ich das Wirken des lebendigen Gottes in meiner alltäglichen Wirklichkeit entdecken? Verlangt der Gott meines Glaubens Ehrerbietung
oder ist er einladend?
Glauben der versammelten Gemeinde und die Gestalt des
Altars sowie die Handlungen um den Altar bedingen sich
einander. Da - so die Glaubensüberzeugung der Christen Gott ein lebendiger Gott ist und Glaubenssätze und - Überzeugungen immer auch zeit- und ortsgebunden sind, lassen
sich abschließende Aussagen über die Gestalt eines Altar
nie machen. Ein Altar kann nie etwas Endgültiges sein.
Vielmehr muss er immer wieder von der Gemeinde neu
entdeckt, neu gedeutet und neu in Gebrauch genommen
werden, wie sich auch der Glaube stetig erneuert. Bei solch
einer Sicht ist es hilfreich, wenn sowohl Annäherungen also
auch Interpretationen eines Altars offen bleiben und zum
Entdecken des eigenen Glaubens anstiften.
In der Klosterkirche in Nikolausberg gibt es mehrere Altäre. Der älteste stammt aus dem Jahr 12. Jahrhundert. Ein
anderer, der restaurierte Flügelaltar mit 24 Tafeln aus dem
Jahre 1402, der neuste aus den Jahre 1998, von den Konfirmandinnen gestaltet. Er umfasst 11 Tafeln. Wie man ihn
durch Meditation, Predigt, Gebet und der Feier des Abendmahls in Gebrauch nehmen kann, das haben die Konfirmandinnen in Ihrem Gottesdienst eindrücklich gezeigt.
22
Zum Gesamtaltar
Unser Altar besteht aus elf Bildern. Zehn sind zu den Verben, die im Glaubensbekenntnis stehen und den Lebensweg Jesu beschreiben, gemalt worden.
Die Verben lauten: empfangen, geboren, gelitten, gekreuzigt, gestorben, begraben, hinabgestiegen, auferstanden,
aufgefahren, richten. Das elfte Bild stellt Jesus dar.
Wir haben verschiedene Entwürfe zur Anordnung der Bilder gemacht. Für die abgebildete Anordnung haben wir uns
entschieden. Wir möchten Sie bitten, die Bildfolge von der
untersten Reihe her zu lesen.
Die unterste Reihe zeigt die Bilder zu den Wörtern „empfangen“ und „geboren“. Sie beschreiben das „Werden des
Lebens“. Doch schon das Werden des Lebens steht zwischen
Hoffen und Bangen. Das sieht man an den Träumen der
Mutter. In der zweiten Reihe wird das „Leben“ gezeigt. Hier
sehen Sie die Bilder „gelitten“, „gekreuzigt“, „gestorben“.
In der dritten Reihe sind die Bilder „auferstanden“, „aufgefahren“, „richten“, „hinabgestiegen“ und „begraben“ zu sehen. Das sind Bilder, die zeigen, was über das Leben hinausgeht. Auf der einen Seite, von dem Bild „richten“ stehen
die Hoffnungssachen, „auferstanden“ und „aufgefahren“, auf
der anderen Seite die Dinge, die uns Angst machen: „hinabgestiegen“ und „begraben“.
Ganz oben ist Jesus zu sehen. Er steht über allem. Er ist
ganz oben, er ist der Erhöhte.
Zu den Bildern im Einzelnen
Empfangen:
Wir sehen auf dem Bild ein Herz aus den Himmel kommen.
Es ist nicht nur gut, es enthält Liebe und Hass. Die linke
Seite, ist die schlechte, die rechte die gute. Hände nehmen
das Herz in Empfang. Jesus kommt mit Liebe zu den Menschen. Manche nehmen sie mit Freuden auf. Andere dagegen haben Hass und lehnen die Liebe von Jesus ab. Wir
wissen: Jesus liebt uns und will Gutes für uns.
Geboren
Eine Mutter bekommt ihr Kind. Sie hofft auf eine gute Zukunft. Sie träumt davon, dass ihr Kind glücklich aufwachsen wird. Sie hat aber auch Angst, dass es nicht so wird.
Dafür sieht man auf den Bild zwei Träume: Links die gute
Welt und rechts die stinkige Luft und die Hochhäuser. Als
Jesus zur Welt kam, hatten seine Eltern Angst. Jesus ist in
einem Viehstall, in einer Krippe, geboren. Herodes wollte
ihn umbringen. Doch bei seiner Geburt haben viele zu ihm
gehalten: Die Hirten, die Eltern und die Weisen. Wenn ein
Kind geboren wird und alles gut geht, ist die Freude groß.
Aber oft werden Kinder geboren, die nicht gewollt oder
gemocht werden. Wir wünschen uns, dass man Verantwortung übernimmt, wenn ein Kind geboren wird.
Gelitten
Wir sehen arme Menschen, die leiden. Wir sehen, wie sie
sich im Leben mühsam durchschlagen. Sie müssen sich
damit abfinden, dass sie nicht reich sind. Jesus hat armen
'bb' 93-3/2000
Ein Projekt der Nikolausberger Konfirmanden
mit den Schlüsselwörtern (Verben)
des 2. Glaubensartikels zum Thema:
„Wer war Jesus Christus“
Ein halbes Jahr haben die Konfirmanden an dem Altar
gearbeitet, der den Sommer über im Orginal in der Kirche
zu sehen war. Der Altar wurde in einem Gottesdienst
von den Konfirmanden selbst vorgestellt und erklärt.
Die Texte dazu lagen in der Kirche aus
hinabgestiegen begraben
gekreuzigt gestorben
richten
empfangen geboren
gelitten
aufauferstanden gefahren
Jesus
Der
Nikolausberger
Konfirmandenaltar
und kranken Leuten geholfen. Kranke, Blinde, Taube, Krüppel hat er geheilt.
Wir meinen: Arme und kranke Menschen sollte man nicht
ausstoßen. Sie sind auch Menschen. Man muss sich um sie
kümmern. Sie brauchen unsere Hilfe.
Gekreuzigt
Manches im Leben geht einfach daneben: Eine Ehe geht
kaputt. Man kriegt eine schlechte Zensur, auch wenn man
sich angestrengt hat. Krieg und Erdbeben passieren. Täglich geschehen Unfalle, mit denen man nicht rechnet. Erst
ist alles Schön, und dann wird das Schöne durchkreuzt. Jesus ist am Kreuz gestorben. Obwohl er immer für das Gute
war, haben die Leute ihn angegriffen. Sie haben sein Leben
durchkreuzt und ihn ans Kreuz genagelt. Wir lernen daraus: Vieles kann im Leben daneben gehen. Es gibt nicht nur
die guten Zeiten. Das Schlechte kann ganz schnell kommen.
Gestorben
Auf diesem Bild sehen wir, wie ein Baum durch einen Blitz
getötet wird. Der Baum stirbt so qualvoll - wie Jesus am
Kreuz. Der Weg links unten führt in das Leben und der
Abgrund rechts in den Tod. Der Blitz trennt die linke Seite
- das Leben - von der rechten Seite - dem Tod. Jesus wurde
von Judas verraten. Die Regierenden schlugen ihn ans
Kreuz. Dort starb er nach langen Qualen. Jesus ist keine
Ausnahme. Er stirbt wie alle Menschen. Doch: Er stirbt
wie ein Hirte für seine Schafe.
Auferstanden
Wir sehen auf dem Bild eine Pflanze, die wächst... oder
aufersteht. Sie fängt wie alles klein an und wächst. Am
Schluss ist sie groß und prächtig. So ist das auch mit der
Auferstehung. Niemand kann beweisen, dass Jesus auferstanden ist. Doch nach seinem Tod wussten die Jünger plötzlich, was sie tun mussten, denn Jesus war in ihnen und lebte weiter, um ihnen den Weg zu zeigen.
Für uns bedeutet das: Etwas, das nicht mehr da ist, kann
immer wieder in Erinnerung gerufen werden. Man muss
nicht verzweifeln, man sollte an die Erinnerung glauben.
Auferstehen bedeutet für uns: Jemand, der ganz unten ist,
findet den Mut und die Kraft, wieder aufzuerstehen.
Aufgefahren
Wir haben auf diesem Bild folgendes dargestellt: Die hellen, guten und freundlichen Symbole (z.B.: die Sonne) zeigen die im Himmel vorhandene Barmherzigkeit Gottes.
Aufgestiegen in den Himmel heißt: Nach dem Tode werden
die Sünden gut gemacht, um glücklich weiterleben zu können. Wir haben dargestellt, dass es ein wundervolles Jenseits gibt.
Von Jesus wissen wir, dass er alles Mögliche dafür getan
hat, damit alle Menschen in den Himmel kommen können.
Für ihn sind alle es gleich wert, gut weiter zu leben. Er ist
die Bannherzigkeit. Für uns bedeutet das: Jedem wird die
Chance gegeben, aufzusteigen In den Himmel, im Beruf
wie auch bei anderen Sachen im Leben. Das Bild gibt uns
Mut, die Zukunft mit einem Lachen zu sehen.
24
Richten
Die Waage wiegt zwischen Freiheit und Licht sowie Unfreiheit und Dunkel ab. Freiheit und Licht sind wie ein Weg,
der in einem weiten Horizont führt. Unfreiheit und Dunkelheit sind wie ein vergittertes Gefängnisfeld.
Jesus richtet über die Menschen und befreit sie von ihren
Sünden. Wer an ihn glaubt, wird Licht und Freiheit erhalten. Menschen, die gesündigt haben und nicht um Vergebung bitten, können Licht und Freiheit nicht erreichen.
Hinabgestiegen
Auf dem Bild wird gezeigt, wie schnell der Boden unter
jemanden zerbrechen kann und man absteigt. Es stellt dar,
dass man ganz unerwartet am Ende sein kann. Hinabgestiegen in das Reich des Todes kann man auf dem Bild sehr
gut erkennen.
Von Jesus wissen wir: Er war immer und für jeden da. Menschen, die hinabsteigen, hat er mit seiner Liebe und Kraft
gestärkt, damit sie wieder aufsteigen können. Mit seiner
Hilfe haben es viele geschafft.
Mit Liebe und dem Glauben an Jesus ist es auch uns möglich den Hinabsteigenden beizustehen, auch wenn man kein
Geld oder materiellen Dinge hat, um zu helfen. Man sollte
nicht immer nur an sich selbst denken.
Begraben
Die linke Seite ist die schöne Seite des Lebens. Dort sind
eine schöne rote Rose und Vögel. Auf der rechten Seite ist
der Tod. Dort steht eine vertrocknete Kornpflanze. Beide
Seiten sind ganz nah zusammen. In der Mitte ist ein Grab
mit einem Kreuz. Es trennt Leben und Tod. Jesus wurde
verraten. Angeklagt und gekreuzigt. Als er gestorben war,
wurde er in ein Höhlengrab gelebt, vor das ein schwerer
Stein gerollt wurde.
Niemand kann sich dem Tod entziehen,. Wir fühlen bei dem
Gedanken daran Angst und Leere. Man weiß nicht, was
passiert. Jesus konnte sich auch nicht dem Tod entziehen.
Nach seinem Tod hat er für alle Menschen weitergelebt.
Leben und Tod liegen nah beieinander.
Jesus
Jesus ist einer wie wir. Aber er hat kein Gesicht, damit jeder sich in Jesus entdecken kann. Natürlich wissen wir, dass
er früher anders ausgesehen hat. Aber wir malen Jesus mit
Jeans und T-Shirt, damit jeder sich in ihm wiederfinden
kann. Jesus hält den Kreislauf des Lebens mit seiner Liebe
zusammen. Deshalb trägt er einen Ring, auf den ein Rabe der steht für das Bedrohliche - und eine Taube sitzen die
zeigt den Frieden. Er muss einen Heiligenschein haben, aber
der ist von einer Dornenkrone umrankt. Ganz unten, wie
eine runde Plattform, ist das Antiatomzeichen. Die drei
Kreise bedeuten für uns: Unten, die Plattform, das ist der
Erhalt der Schöpfung und des Frieden. In der Mitte ist der
Lebenskreis, er bedeutet Gerechtigkeit im Leben. Der Heiligenschein und die Dornenkrone stehen für den Glauben.
Im Glauben muss man Gutes und Böses zusammenbringen.
Göttingen im Juli 1998
Verf.: Konfirmandengruppe des Jahrgangs 1997/99
'bb' 93-3/2000
u-einheit:
gottesvorstellungen – gottesbeziehungen
GS
ingrid illig
Wo wohnt Gott?
Einmal brachte eine Mutter ihren Sohn zum Rabbi.
Da fragte der Rabbi den Jungen: „Ich gebe dir einen Gulden, wenn du mir sagst, wo Gott wohnt.“
Er antwortete: „Und ich gebe dir zwei Gulden, wenn
du mir sagst, wo er nicht wohnt.“
(Martin Buber)
Didaktische Vorüberlegungen
Die Frage nach Gott ist eine der zentralen Fragen in der
Religionspädagogik. Je intensiver sich Kinder mit ihrer
Wirklichkeit auseinandersetzen, um so häufiger stellen sie
auch die Frage nach Gott. Durchschnittlich fangen die Achtbis Zehnjährigen an, gezielt nach Gott zu fragen und dadurch zu signalisieren, dass die bisherigen Vorstellungen
nicht mehr tragen.
„Sie umkreisen mit vielfältigsten Erklärungsversuchen dieses geheimnisvolle Wesen, das sich so beharrlich ihrem
Wahrnehmen entzieht.“1
Aufgabe von Eltern und Erziehern ist die „Begleitung auf
ihrem Weg der Vorstellungen und Bilder von Gott, die sie
sich selbst erschließen, zu denen sie sich gedanklich durch
Gebrauch ihrer Phantasie und Vorstellungskraft vorarbeiten, mit denen sie ringen – und die sie zu gegebener Zeit
auch wieder hinter sich lassen sollten.“2
Die Kinder müssen es lernen und aushalten, keine fertigen
Antworten zu bekommen, sondern sich gemeinsam auf eine
Suche zu begeben. Sie brauchen Gesprächspartner, die ihnen in ihren eigenen Gedankenspielen ein Gegenüber sind,
die ihre Fragen und Vorstellungen ernst nehmen und ihnen vermitteln, dass dieses Suchen einen Sinn hat und sich
lohnt. Im gemeinsamen Nachdenken über Gott suchen die
Kinder auch Meinungen und Stellungnahmen Erwachsener.
Es kann sich allmählich eine Gottesbeziehung entwickeln
und stärken, hinter der die Gottesvorstellung nach und nach
in den Hintergrund treten kann.
Innerhalb der Lerngruppe zeigen sich vielfältige Gottesvorstellungen. Wenige Kinder beschreiben ein anthropomorphes Gottesbild, einige sehen Gott überall und in den
Menschen, andere halten sich mit Äußerungen über ihr
Gottesbild zurück, wenige beschreiben eine kritische Distanz bzw. ein Nichtvorhandensein Gottes.
Die Vielfältigkeit und die Individualität der Gottesvorstellungen sollen herausgestellt und erweitert werden.
Die Bibel spricht in unterschiedlichen Bildern von Gott,
wobei das anthropomorphe Bild dominiert (Vater, Mutter,
Freund, Hirte), aber auch in Symbolen (Wasser, Brot Sonne, Hand, Quelle) oder in Erscheinungen (Brennender
Dornbusch, Säuseln) zum Ausdruck kommt. Gott ist jedoch
_________________________
1 Harz, Frieder: Mit Kindern von Gott reden, Nürnberg 1997, S. 9
2 Harz, Frieder: Mit Kindern von Gott reden, Nürnberg 1997, S. 24
'bb' 93-3/2000
mehr und anders als durch ein Bild ausgedrückt werden
kann.
Biblische Vorstellungen von Gott haben oft eine Nähe zu
kindlichen Vorstellungen von Gott. Insofern können biblische Bilder die Gedanken der Kinder bekräftigen, aber auch
korrigieren und ergänzen.
Der Holzschnitt von Thomas Zacharias ist für die Erreichung der Ziele geeignet, da er in besonderer Weise den
Aspekt des Vertrauens hervorhebt. Nicht so sehr das Kleine, Unbedeutende, Verlorene wird in den Mittelpunkt der
Betrachtung gestellt, sondern Bewahrung und Begleitung
inmitten von Angst und Dunkelheit. Nicht das Gerettetsein
wie in vielen künstlerischen Darstellungen, sondern das Gesamtbild des Hirten wird deutlich.
Es werden Aspekte angesprochen, die der Entwicklung der
Kinder in dieser Altersstufe entsprechen. Sie erweitern ihren Aktionsradius und suchen zwischen Mut zum Risiko
und Ängstlichkeit ihren Weg. Zwischen Abenteuerlust und
Sehnsucht nach Geborgenheit brauchen die Kinder beides:
Freiheit und Ermutigung, ihren Horizont zu erweitern und
die Möglichkeit der Rückkehr in das „warme Nest“, in die
bewährten, verlässlichen, vertrauensvollen Beziehungen.
Das offene Tor und der Weg stehen als Sinnbild dafür. Das
Verlassen der Gemeinschaft wird nicht negativ bewertet,
es gehört zum Leben dazu. Aber das Bild beinhaltet auch
die Botschaft: Du bist nicht allein! Der Hirte ist bei dir!
Eigene Erfahrungen verdichten sich in der Geschichte vom
Verlorensein, für zukünftige Situationen kann sie zu einer
ermutigenden Zusage werden, zu einem sichtbaren Zeichen
für Gottes Begleiten und Retten.
Methodische Vorüberlegungen
So vielseitig wie Gottesvorstellungen sind, so vielseitig sind
auch die methodischen Vorgehensweisen innerhalb der Unterrichtseinheit. In Filmen, Liedern, Bildern Geschichten
und Gebeten sollen Gottesvorstellungen sichtbar werden,
in kreativen Vorgehensweisen (Schreiben, Malen) können
die SchülerInnen ihren eigenen Ideen Raum geben.
Für die vorliegende Stunde habe ich mich für das Arbeiten
mit einem Bild entschieden. Der Holzschnitt von Th. Zacharias hat einen sehr hohen Aufforderungscharakter, da
viele Einzelheiten sich erst beim zweiten Hinsehen erschließen. Deswegen steht zu Beginn eine Phase stillen Betrachtens, die durch meditative Musik unterstützt wird. In der
folgenden Phase der spontanen Äußerungen sollen die
Kinder gegenseitig ihre jeweilige Sichtweise und ggf.
Interpretation des Bildes wahrnehmen und so zum weiteren Betrachten und Nachdenken angeregt werden. Die sich
so entwickelnde eigene Sichtweise soll dann in der Phase
der Vertiefung schriftlich fixiert werden. Dazu entscheide
25
ich mich für Einzelarbeit, damit jeder seine eigenen Ideen
und Gefühle niederschreiben kann und so idealerweise zu
einem ganz eigenen Vertrauensbild gelangen kann.
Damit die SchülerInnen sich gedanklich in das Bild und so
in die Handlungsweise der Figuren hineinversetzen können, fixieren sie ihren „Standpunkt“ auf dem Foto, sie springen sozusagen in das Bild und das Geschehen hinein. Es
sind Ergebnisse denkbar, die auf der reinen Bildebene bleiben, aber ich erwarte von einigen Kindern, dass sie die Geschichte im übertragenen Sinn schreiben. Die etwas offene
Aufgabenstellung soll der unterschiedlichen Entwicklung
der Kinder entgegenkommen.
Denkbar wäre auch eine Bildanalyse, in der die Teile des
Bildes interpretiert und auf die eigene Situation übertragen
werden. Ich entscheide mich jedoch für die mehr erfahrungsbezogene Zugangsweise, die die kognitive Dimension nicht
so sehr fordert.
Ausgehend von der Verteilung der Klebepunkte auf dem
Poster können einzelne Kinder ihre Geschichten vorlesen,
wobei ich Wert lege auf Freiwilligkeit. Vermutlich werden
nicht alle mit der Bearbeitung des Arbeitsblattes fertig werden, so dass dieses als Hausaufgabe gegeben wird.
Die abschließende Meditation soll die Kinder sammeln, die
Erfahrungen bündeln und sie noch einmal in das Bild eintauchen lassen. In dem abschließenden Vers spreche ich
meine Überzeugung an, nach der ich auch schon gefragt
worden bin.
Sie beschimpfen mich,
sie kläffen mich an
oder sie meiden mich.
Manchmal bin ich wie ein Wolf.
Ich füge jemanden Schmerzen zu
Am Leib oder an der Seele.
Ich kann nicht verzeihen.
Ich kann nicht helfen.
Ich habe keine Geduld.
Ich jage anderen Angst ein.
Da ist es gut,
wenn da jemand kommt,
der die Feinde bremst,
der mich in seinen Schutz nimmt,
der mir einen neuen Weg weist,
der mir Geborgenheit vermittelt,
der sagt: Ich bin bei dir!
So ist für mich Gott.
Lernziele
Die SchülerInnen sollen eine vertrauensvolle und tragfähige Gottesbeziehung anbahnen.
Die SchülerInnen sollen
· die Vielgestaltigkeit Gottes in Aussagen des Alten und
Neuen Testaments kennenlernen.
· Gottesvorstellungen aussprechen, überdenken und erweitern.
Die SchülerInnen sollen
· das Bild von Gott als einem guten Hirten kennenlernen.
· in der Geschichte vom verlorenen Schaf eigene Bezüge
entdecken.
· den guten Hirten als einen fürsorglichen Begleiter kennenlernen, der Schutz und Geborgenheit gibt, der hilft,
aber auch in Freiheit, Selbständigkeit und Eigenverantwortung entlässt.
Medition über den GUTEN HIRTEN
zu einem Holzschnitt von Thomas Zacharias
Meistens fühle ich mich wie eins von den vielen Schafen.
Gemütlich liegen wir beieinander auf der Wiese.
Es ist hell um mich herum.
Ich bin nicht allein.
Ein schützender Zaun umgibt mich.
Das Tor ist offen.
Ich bin nicht eingesperrt.
Manchmal fühle ich mich ganz allein.
Ich habe mich von meinen Mitmenschen entfernt.
Ich bin auf einen gefährlichen Weg geraten.
Wie Wölfe fallen die anderen über mich her.
26
Klebe den einen Punkt an die Stelle, an der du gerne sein möchtest.
Nun erzähle von hier aus,
·
wer du bist,
·
wo du bist,
·
was passiert ist,
·
was du siehst,
·
wie es dir geht,
·
wie es weitergeht,
·
wie die Geschichte endet
oder was du sonst dazu schreiben möchtest ...
Klebe den anderen Punkt an die gleiche Stelle auf das große Bild
vorne!
'bb' 93-3/2000
'bb' 93-3/2000
27
Phase
Einstieg
Erarbeitung
Vertiefung,
eventuell
Transfer
Festigung
Ausklang
Zeit
5'
10'
15'
5'
10'
Lehrer liest Meditationstext (s. Anlage).
Schüler hören mit geschlossenen Augen oder
betrachten noch einmal das Poster.
Schüler beenden oder unterbrechen ihre Arbeit und
betrachten die Verteilung der Punkte auf dem Poster.
Einzelne Schüler lesen ihre Erzählung vor.
Arbeitsauftrag: Schüler sollen sich in das Bild
hineindenken und aus dieser Perspektive erzählen
Schüler bearbeiten das Arbeitsblatt.
Lehrer gibt individuelle Hilfestellung.
Spontane Äußerungen zum Bild
Mögliche Inhalte der Schüleräußerungen:
Wiedererkennen der Geschichte vom guten Hirten
Interpretation der Farben; Deutung der Bildteile
(Weide, Hirte, einzelnes Schaf, Wölfe)
Mögliche Lehrerimpulse:
Vielleicht erinnert dich das Bild an eine Geschichte.
Betrachtet einmal die Farben!
Gib dem einzelnen Schaf eine Stimme!
Was sagt es?
Wo möchtest du gerne sein?
Begrüßung.
Lied: Halte zu mir, guter Gott.
Schüler betrachten still das Poster
vom "Guten Hirten".
Unterrichtsgeschehen
Stilleübung
Schülervortrag
Lehrervortrag
Einzelarbeit
Schüleräußerungen
Lehrerimpulse
Sitzhalbkreis
Sitzhalbkreis
Arbeits- / Sozialform
Geplanter Stundenverlauf
Musik: Buntrock-Phantasie
Arbeitsblatt mit Foto
Klebepunkte
Poster
Liederbuch zum Umhängen;
Poster “Der gute Hirte”
von Th. Zacharias;
Musik: Buntrock-Phantasie
Medien / Material
u-projekt:
fortsetzung und ausbau des
multikulturellen projektes in einer 3./4.
klasse der alfred-teves-schule gifhorn
GS
irmgard damm
Meine Motivation
Mit Schuljahresbeginn 97/98 übernahm ich eine 3. Klasse
mit 23 Schülerinnen (15 Deu. und Auss., 2 Grie., 6 Tu.)
Durch Gespräche während der vorangegangenen zwei Jahre
war ich über die integrativen Maßnahmen im 1./2. Schuljahr vorinformiert. Außerdem hatte ich an den Sitzungen
teilgenommen, in denen sich eine Lehrerinnen-Gruppe mit
dem Islam beschäftigte. Zusammen mit der Ausländerbeauftragten der Stadt Gifhorn hatten wir die Gifhorner
Moschee besucht.
Im Rahmen meiner Arbeit mit der Klasse drängte sich erstmalig im November die Frage auf:
Wie gestalte ich die Adventszeit in einer multikulturellen
Klasse, wenn ich einerseits den christlichen Kindern die
Bedeutung von Advent und Weihnachten vermitteln will,
andererseits in der gesamten Klasse die Erfahrung von Gemeinschaft vertiefen möchte? Die Antwort lag darin, über
die christliche Bedeutung dieser Festzeit in den zwei
Wochenstunden Religion zu sprechen und parallel dazu ein
tägliches Advents-Ritual durchzuführen mit der gemeinsamen Erfahrung von Stille, dem Vortragen von Gedichten,
Singen, Beschenktwerden. Diese Lösung empfand ich als
sehr zufriedenstellend, da ich auf diese Weise beiden Zielen gerecht werden konnte.
Dass dieses Vorgehen auch von der Elternschaft positiv aufgenommen wurde, zeigte sich beim Elternabend im Januar, als türkische Eltern darum baten, aus Anlass des Sekir
Bayram ein kleines Klassenfest mit traditionellem türkischen Gebäck zu feiern. Nach anfänglicher Skepsis von
seilen einiger deutscher Eltern wurde von einem türkischen
Vater der gelungene Umgang mit dem Thema „Advent und
Weihnachten“ angeführt. Somit sei man auch als Elternschaft gefordert, aus vergangenen Fehlern zu lernen und
Schritte aufeinander zu zutun. Für mich war es die Bestätigung, dass sowohl die Arbeit meiner Kollegin in den ersten beiden Schuljahren als auch mein Vorgehen im Dezember Schritte in die richtige Richtung waren.
Nachdem ich zu Beginn des Schuljahres noch nicht sicher
gewesen war, inwieweit ich den vorher eingeschlagenen
Weg weitergehen würde, stand nach diesem Elternabend
für mich fest, dass ich in den folgenden 11/2 Schuljahren
nach weiteren Möglichkeiten suchen wollte, um die Schülerinnen meiner Klasse Erfahrungen mit der jeweils anderen Religion machen zu lassen und sie gleichzeitig in der
Entwicklung ihrer eigenen religiösen Identität zu stärken.
28
Eine Auflistung der einzelnen Projekte befindet sich im
Anhang unter der Überschrift „Multikulturelles Lernen in
einer 3./4. Klasse“
Probleme und Grenzen
Beim gemeinsamen Kochen in der Schulküche unter Mithilfe dreier deutscher und einer türkischen Mutter stellte
sich heraus, dass das von mir besorgte Rindfleisch nicht
beim „richtigen“ Schlachter gekauft und somit für die türkischen Kinder verboten war. Diese Situation führte zu einem Konflikt zwischen der türkischen Mutter und mir. Sie
fühlte sich dafür verantwortlich, alle türkischen Kinder auf
das Verzehrverbot hinzuweisen, ich aber wollte beim gemeinsamen Kochen eine Zweiteilung der Klasse vermeiden, zumal ich mit der Auswahl der Rezepte den islamischen Speisevorschriften meiner Meinung nach bereits genügend Rechnung getragen hatte. Der Vorschlag der Mutter, die Menüfolge zu verändern und in der Zwischenzeit
Fleisch vom türkischen Schlachter zu besorgen, löste das
akute Problem, ohne dass es zu einer Sonderbehandlung
der türkischen Kinder kommen musste.
Die Herbstwanderung mit Übernachtung im Jugendheim
Winkel zeigte eine Grenze auf, die nicht in der Religion
der Muslime sondern in der Auffassung türkischer Eltern
über die Erziehung ihrer Kinder begründet ist. Den vier
türkischen Mädchen wurde die Übernachtung nicht erlaubt.
In mehreren Gesprächen versuchte ich, die betreffenden Eltern umzustimmen. Ich erreichte mein Ziel nicht. Im Verlauf der Diskussionen konnte ich jedoch die verbindliche
Zusage durchsetzen, dass alle vier Mädchen erst nach dem
Abendprogramm um 22.00 Uhr abgeholt würden - gleichzeitig mit nur einem Auto. Morgens um 7.30 Uhr sollten
sie zusammen zum Frühstück wiedergebracht werden. Beides wurde eingehalten.
Die Einladung zum privaten Zelten auf dem Gelände einer
Mitschülerin kurz vor Ende des 4.Schuljahres nahmen insgesamt 14 deutsche, griechische und türkische Kinder an die vier türkischen Mädchen waren nicht dabei.
Persönliches Fazit
Es war richtig, sich der Herausforderung zu stellen, die sich
aus der Klassenstruktur und der geleisteten Vorarbeit ergab. Das behutsame Herantasten und Ausprobieren der Möglichkeiten sowohl im Rahmen des Unterrichts (Advent /
Weihnachten, Sekir Bayram, Gesunde Ernährung) als auch
'bb' 93-3/2000
bei außerunterrichtlichten Aktivitäten (Familienwanderung)
erwies sich als gut; in kleinen Schritten konnte ich mich
der Thematik annähern, Möglichkeiten und Grenzen ausloten und mich über das jeweils gelungene Projekt zur Entwicklung weiterer Ideen motivieren.
ten mit. Über die Speisevorschriften der Muslime war mit
dem Wirt vorher gesprochen worden.
Nach Ablauf des 3. Schuljahres waren meine Überzeugung
von der Richtigkeit des Vorgehens und mein Vertrauen in
die Klassen-Elternschaft so weit gediehen, dass es nicht mehr
viel Mut erforderte, auf dem Elternabend das Konzept für
das 4. Schuljahr vorzustellen. Die uneingeschränkte Zustimmung von allen Seiten war erfreulich. Meine Ideen wurden
sogar in der Weise weiterentwickelt, dass ein deutscher Vater vorschlug, manche Aktivitäten auch auf die Eltern auszudehnen, um vorhandene Barrieren abzubauen. Die fast
vollständige Teilnahme aller Familien sowohl beim späteren Besuch der Kirche als auch beim Gegenbesuch in der
Moschee bewies die Ernsthaftigkeit dieses Anliegens. Im
Verlauf der Arbeit an dem Projekt habe ich folgende Erkenntnisse gewonnen:
September 98: Elterninformation über Idee des religionsübergreifenden Unterrichts für einen befristeten Zeitraum je drei Wochen im Dezember und Januar - je eine Wochenstunde Religion, Ausländer-Fö und Deutsch; Thema: Christen und Muslime lernen einander kennen
Jeder kleine gelungene Schritt, die Schülerinnen für die
Wahrnehmung einer anderen Kultur zu sensibilisieren, motiviert zu weiteren Schritten auf dem Weg der multikulturellen Erziehung.
Der Blick in die fremde Religion schärft den Blick für die
Besonderheiten der eigenen Religion und öffnet den Weg
für die Identifizierung damit.
Das Wissen um die Wurzeln der eigenen Kultur gibt Sicherheit und verringert die Angst vor fremden Kulturen;
die Folge ist eine erhöhte Toleranz gegenüber fremden Kulturen.
Mai 98: Gemeinsames Kochen in der Schulküche im Rahmen des Themas „Gesunde Ernährung“; drei deutsche und
eine türkische Mutter helfen mit.
November 98: Herbstwanderung mit Übernachtung im Jugendheim Winkel Alle Kinder waren dabei; die vier türkischen Mädchen wurden um 22.00 Uhr abgeholt und pünktlich um 7.30 Uhr wiedergebracht. Während der Nacht blieben ein deutscher und ein türkischer Vater dort. An der Versorgung zu den Mahlzeiten waren türkische und deutsche
Mütter und Väter beteiligt.
Dezember 98/Januar 99: 18 Stunden religionsübergreifenden Unterricht
Inhalte:
U-entwurf „Ich sag Gott - Ich sag Allah“
Kinderbuch „Julia und Ibrahim“
Kinderbuch „Selim und Susanne“
Tonbildreihe „Die Kinderbrücke“
Poster zum Thema „Brückenbau“
Besuch einer Kirche
Besuch der Moschee
Januar 99: Familien-Neujahrsfeier
Darbietungen in der Schulklasse, Kaffeetrinken in der Nachbarklasse, gemeinsamer Spaziergang zur Kirche, weitere
Darbietungen dort, u.a. selbst erstellte Kurzreferate aller
Schülerinnen zur Ausstattung einer Kirche Mit Ausnahme
einer Familie, die verhindert war, waren alle türkischen Familien in der Kirche vertreten.
Multikulturelles Lernen in einer 3./4. Klasse
Januar 99: Wir feiern wieder das Fest des „Sekir Bayram“
3. Schj.: 23 Kinder, davon. 15 Deu u. Auss., 2 Grie., 6 Tu.
4. Schj.: 24 Kinder, davon. 16 Deu u. Auss., l Grie., 7 Tu.
Juni 99: Familien-Besuch der Moschee (Sonntag von 10.30
Uhr bis 13.00 Uhr)
Alle Schülerinnen informieren in Kurzreferaten über den
Islam, demonstrieren die Gebetshaltung, erklären die Teile
der Moschee oder lesen aus dem Koran. Außerdem erfolgen noch weitere Darbietungen, u.a. das szenische Lesen
des Buches „Selim und Susanne“ auf deutsch und türkisch
(mit selbst entworfenem Text zum Mittelteil des Buches).
Von 20 Kindern der Klasse nehmen die Familienangehörigen teil, nur 4 Familien sind verhindert.
Im Anschluss laden die türkischen Eltern zu einem Imbiss
ein, der in der Küche der Moschee vorbereitet wurde. Essen, Teetrinken und intensive Gespräche dauern bis zum
frühen Nachmittag.
Advent 97: täglicher Stehkreis um eine gemeinsam gestaltete Festkerze herum (Stille, Adventsverse und Lieder - nicht
christlich. Adventspäckchen), parallel dazu im Religionsunterricht: Adventskranz mit Kerzen, christliche Weihnachtslieder, Bedeutung von Advent, Weihnachtsgeschichte
mit dem Schwerpunkt Hirten
Januar 98: Elternabend-Diskussion über den Sinn einer
gemeinsamen Feier zum „Sekir Bayram“, zunächst kontrovers, dann konstruktiv unter Bezugnahme auf Fehler, aus
denen man in den vorangegangenen Schuljahren gelernt
hätte und Schritte, die man aufeinander zu tun wollte.
Januar 98: Feier des „Sekir Bayram“
Alle türkischen Kinder und drei Mütter kommen in den
Unterricht; wir lernen, essen süßes Gebäck und tanzen gemeinsam.
März 98: Familienwanderung mit Einkehr zum Essen
(Samstag von 11.00 -15.00 Uhr) Nur vier deutsche Familien konnten nicht teilnehmen, alle türkischen Familien mach-
'bb' 93-3/2000
Juli 99: Übernachtung in Zelten auf der Wiese der Großeltern einer Mitschülerin.
Juli 99: Letztes gemeinsames Beisammensein der Familien rund um den Grill der Schule. Die Würstchen werden
auf verschiedenen Grills zubereitet, das Salatbüfett bietet
eine bunte Mischung von Köstlichkeiten verschiedener Nationalitäten.
29
fachbeitrag: den fremden verstehen – frühneuzeitliche
und praktisch-theologische perspektiven
auf eine theologische hermeneutik
des fremden
dieter fauth
Mit dem Thema wird die Frage nahegelegt, warum wir uns
für die Religion des Fremden interessieren sollten. Kurz
geantwortet, kann Fremdes neue Anregungen bieten. Auch
bietet das Fremde mir Anlass, meine eigene Religion in
ihrer relativen Gültigkeit zu erkennen und meine eigene
Theologie pluralistisch zu organisieren. Innerer theologischer Pluralismus ist eine Voraussetzung für die Offenheit
und Bereitschaft zum Dialog, die ein Verstehen des Fremden erfordert. Mit den folgenden Ausführungen wird nun
nicht der Frage nachgegangen, warum wir uns für Fremdes interessieren könnten. Vielmehr wird reflektiert, wie
ein Verstehen des Fremden möglich ist. Zwei grundsätzliche Verstehensansätze können unterschieden werden: Zum
Einen kann Verstehen primär als Einsicht in Verbindendes
zwischen Eigenem und Fremden begriffen werden. Verbleibende Differenzen wären dann erst sekundär und im Lichte dieser gemeinsamen Basis zu bedenken. Im Folgenden
nenne ich diesen Ansatz einer Verstehenslehre „Verbundhermeneutik“. Zum Zweiten kann Verstehen auch primär
als Erkenntnis des je spezifischen Selbstverständnisses des
Fremden und als Einsicht in die Unterschiede zwischen
Eigenem und Fremden begriffen werden, um erst durch
diese Unterscheidung hindurch verbleibende Gemeinsamkeiten zu erkennen. Für diesen, freilich ebenfalls idealtypisch skizzierten, Verstehensansatz wird im Folgenden
der Begriff „Differenzhermeneutik“ gebraucht.
Die Frage nach der Angemessenheit beider Ansätze wird
in der praktischen Theologie und insbesondere in der
Religionspädagogik derzeit heftig diskutiert. Sie steht im
Mittelpunkt einer Abhandlung des Missionswissenschaftlers
Theo Sundermeier über Hermeneutik des Fremden, die einzubeziehen sein wird. Sie steht auch im Zentrum der EKDDenkschrift zum Religionsunterricht, worauf bereits deren
Titelhauptworte „Identität“ (@ Differenz) und „Verständigung“ (@ Verbund) hinweisen. Und auch der Streit um ein
Religionen verbindendes Schulfach LER oder einen differenzierenden konfessionellen Religionsunterricht lässt sich
als Streit um die beiden genannten hermeneutischen Ansätze begreifen.
Im Folgenden wird die Berechtigung von Verbund- und
Differenzhermeneutik reflektiert, indem ausgewählte einschlägige Vorgänge der frühen Neuzeit aufgenommen und
mit der gegenwärtigen Diskussion über eine Hermeneutik
des Fremden in der praktischen Theologie ins Gespräch
gebracht werden. Zunächst folgt ein kurzer, summarischer
Blick über die Hermeneutik des Fremden in der Theologiegeschichte des Christentums. Dann werden mit Johannes
Reuchlin und Thomas Müntzer zwei Gestalten der frühen
30
Neuzeit einschlägig bedacht. Schließlich werden deren historische Hermeneutikansätze und gegenwärtige Ansätze
einer Hermeneutik des Fremden bei Sundermeier sowie ausgewählten Religionspädagogen wechselseitig interpretiert.
1. Hermeneutik des Fremden
in der Theologiegeschichte
Es ist nicht einfach, in der Theologiegeschichte des Christentums Vorgänge oder Denker mit Beiträgen zu einer
Hermeneutik des Fremden zu finden, die auch heute, in der
von Säkularität und Pluralismus geprägten „offenen Gesellschaft“ (K. Popper) Weiterführendes bieten können. Der
im Verbund von historischen und systematischen Erziehungswissenschaftlern 1997 herausgegebene Band zum
„Umgang mit dem Fremden in der Vormoderne“ (gemeint
ist die Zeit von griechischer Antike bis zum Vorabend der
Aufklärung) zeigt ein Verständnis im Christentum vom
Fremden als rechtlosem Sklaven, als Feind, als begehrlichem Besitztum, als Irr-Gläubigem, als Opfer von Pogromen, als „Zuchtrute Gottes“ und anderen Modi mehr, die
heute in keine relevante theologische Richtung mehr integrierbar sind.1 Auch Sundermeier muss als Fazit eines
religionsgeschichtlichen Kapitels seiner Hermeneutik des
Fremden feststellen, dass in der Christentumsgeschichte vor
der Aufklärung eine Variante von „Differenzhermeneutik“
vorherrschte, mit der „Abgrenzung“ die vorherrschende Reaktion auf die Begegnung mit dem Fremden war.2
Auch nach der Aufklärung sind die mit dem modernen Pluralismus kompatiblen Konzepte einer Hermeneutik des
Fremden eher selten, wie ein Band über den „Dialog zwischen den Kulturen“ belegen kann.3 Vor allem zu problematisieren ist das aus der Aufklärung ererbte Konzept der
Assimilation, mit dem Fremdes in die eigene Theologie
möglichst umfassend eingegliedert werden sollte. Die WegFührung zwischen theologischer Verbindung von Eigenem
und Fremdem einerseits und theologischer Assimilation
bzw. gar Eliminierung des Fremden im Eigenen andererseits entspricht einer Grat-Wanderung. Und so führte die
auf Assimilation setzende christliche Hermeneutik des Judentums – jedenfalls nach der These des jüdischen Sozialhistorikers Jakob Katz – auch geradewegs nach
Ausschwitz.4
Die Geschichte des Christentums hat uns also weitgehend
entweder eine offensive Differenzhermeneutik anzubieten,
mit der das Fremde verfeindet wurde, oder aber eine Eliminierung des Fremden durch Assimilation mit dem Eigenen. Was ist angesichts dieses Befundes zu tun? Sollten wir
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im Bereich der Hermeneutik des Fremden jede theologiegeschichtlichen Bemühungen einstellen bzw. historische
Hermeneutik des Fremden nur noch unter der Perspektive
erinnernder Aufarbeitung betreiben?
2. Beiträge theologischer Außenseiter
der frühen Neuzeit
Im Folgenden werden Außenseiter der Theologiegeschichte
– und damit von den in der Geschichte je herrschenden theologischen Richtungen abweichende Hermeneutikmodelle –
erschlossen und für die Bedingungen der Moderne fruchtbar gemacht. Abseits des mainstreams der Christentumsgeschichte finden sich für ihre Zeit partiell anachronistisch
anmutende Denker, die die verschütteten, fremdenverträglichen Weisheitsschätze der Bibel oder andere Quellen für eine positive Fremdensicht zu erinnern vermochten.5 Mein Blick auf die Theologiegeschichte ist auf die frühe Neuzeit beschränkt und kann auch innerhalb dieses Zeitraumes nur Exemplarisches thematisieren. Beleuchtet werden Johannes Reuchlin, der seine Verstehenslehre des Fremden in Auseinandersetzung mit dem Judentum entfaltete
sowie Thomas Müntzer, dem die damaligen Herausforderungen durch den Islam zu bemerkenswerten einschlägigen Einsichten verhalfen.
2.1 Johannes Reuchlin (1455 – 1522)
Reuchlins Verstehen des Fremden fußt unter anderem auf
seiner Kompetenz als Hebraist. Als Mitbegründer der modernen Hebraistik ist er bis heute von Bedeutung. Die theologisch-hermeneutischen Einsichten, die er unter anderem
mit dieser Disziplin erschloss, fanden dagegen weitgehend
nur am Rande Interesse. Ihnen gilt im Folgenden die Aufmerksamkeit. Vorab eine knappe Skizze des historischen
Hintergrunds.6
1510 wurde Reuchlin von Kaiser Maximilian beauftragt,
ein Gutachten über die Güte der jüdischen Bücher zu erstellen. Reuchlin war durch antijüdische Aussagen aufgefallen und erschien daher geeignet, ein vom Kaiser bereits
ausgesprochenes Mandat zur Verbrennung jüdischer Bücher
zu bestärken. Doch seine Studien des Judentums weckten
bei ihm zunehmend religiöse Toleranz. Er entwickelte ein
differenziertes System verschiedener Gattungen jüdischer
Literatur, die er fast alle – mit Ausnahme der jüdischen
Kontroversliteratur – für wert erachtete, sie zu erhalten, ja
sogar dem Christen deren Studium empfahl.7 In der Folge
nahm Maximilian sein Mandat, das der Konvertit Johannes Pfefferkorn im Verbund mit dem Dominikanerorden
erwirkt hatte, zurück. Auch das Laterankonzil von 15121517 sprach sich zugunsten von Reuchlin aus und hob Verbote des Talmuds auf. In humanistischen und theologischen
Kreisen war das Interesse an jüdischem Schrifttum geweckt.
Reuchlin hatte die Jahrhunderte alte Macht der Dominikaner als Inquisitoren gebrochen und wurde damit indirekt
zu einem Wegbereiter für die Reformation. Der
Antijudaismus Luthers zeigt allerdings, dass Reuchlins
Option selbst nicht in die Reformation einging.8 Und auch
die altgläubige Kirche hatte Reuchlins Verstehen des Judentums bald vergessen, wie Bücherverbrennungen großen
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Stils unter Papst Julius III von 1553/54 zeigen. Immerhin
hatte Reuchlin aber für etwa 40 Jahre das Schlimmste verhindern können. Soviel äußerst kurz zum historischen Hintergrund. Nun zur Hermeneutik.
Die Reuchlinforschung sieht in der Hebräischkompetenz des
Humanisten die Basis für die genannte pro-jüdische Entwicklung Reuchlins. Das ist aber nur ein Aspekt. Von entscheidender Bedeutung scheint mir seine theologische Hermeneutik des Fremden zu sein, mit der er damals die jüdischen Texte las.
Reuchlin war geprägt durch Nikolaus von Kues (1401-1464),
dessen Schrifttum er als Student der Pariser Sorbonne kennen lernte.9 Von ihm übernahm er ein spekulatives System,
wonach die Religionen verschiedene Formen der Entfaltung (explicatio) Gottes sind. Demnach sind die Religionen wie alles Geschaffene unterschiedliche Aspekte des einen sichtbaren Gottes (deus visibilis). Aufgabe des Menschen ist es, in der Vielfalt an Entfaltungen Gottes dessen
Einfaltung (complicatio) zu erkennen. Der Mensch soll das
Zusammenfallen der Gegensätze (coincidentia oppositorum)
zwischen den Religionen in Gott bzw. im Mysterium der
Gottesoffenbarung gewahr werden. Augenscheinlich ist dieses hermeneutische Konzept von der Emanationslehre des
Platonismus geprägt. Reuchlin hat den Florentiner Neuplatonismus über Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494)
aufgenommen.10 Was Nikolaus von Kues auf dem Gebiet
der Theologien anstrebte, wollte Pico bei den Philosophen,
nämlich eine Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren in
einer Summa menschlicher Erkenntnis (pax philosophica).
Pico differenzierte mit dem Neuplatonismus zwischen Gottheit (im Bild: die Sonne), ihrer Wahrheit (= Wärme) und
den verschiedenen Formen / Emanationen dieser Wahrheit
(= Lichtstrahlen abnehmender Helligkeit).
Reuchlin entfaltete also auf theologischer und philosophischer Basis eine Hermeneutik, die auf das Verbindende der
Religionen abhob. Gerade bei diesem Modell vom Verstehen des Fremden ist kritisch zu fragen, wie Reuchlin mit
den vorher angedeuteten Problemen der Assimilation des
Fremden umgeht. Im Prinzip liegt die Gefahr der theologischen Assimilation des Fremden der Hermeneutik Reuchlins
allerdings fern, weil die eigene Religion ebenso wie die fremde auf eine dritte Größe (Gott / Gottheit) reflektiert werden
soll und die eigene Religion nicht selbst dieses Absolute,
die Einfaltung (complicatio), darstellt. Auch wird in der
Vorstellung, dass letztlich in jeder theologischen Anschauung eine Emanation dieses Absoluten repräsentiert ist, der
Vielfalt relative Würde verliehen. Hier bleibt Raum für ein
relatives Recht des Differenten, das freilich auf ein Universales hin bezogen werden soll. Relativiert ist die Würde der
Einzelemanation dadurch, dass sie in einem hierarchischen
Gefälle zur vermeintlich höheren Abstraktion gesehen wird.
Trotz der Möglichkeiten in Reuchlins Verbundhermeneutik,
Differenz zu würdigen und Universalisierungen statt Assimilation anzustreben, haben Reuchlin und noch mehr
Reuchlinrezipienten wie Christian Knorr von Rosenroth (17.
Jh.) das Fremde auch theologisch assimiliert. Beispiel für
die Assimilation einer jüdischen Vorstellung in die christliche Theologie bietet die Vorstellung des frühen Reuchlin,
31
der unaussprechbare hebräische Name für Gott im Tetragramm JHVH sei durch das Einfügen eines „S“ zum Wort
„JHSVH“ aussprechbar geworden. Hier werden nicht zwei
religiöse Systeme einem wechselseitigen Verstehensprozess
ausgesetzt, indem sie auf ein im gemeinsamen Verstehensprozess zu formulierendes Drittes – etwa einem wechselseitig verstehbaren Reden von Gott – hin reflektiert werden, sondern die jüdische Religion soll durch Einbettung in
Christliches ihre mutmaßlich verborgene, verdunkelte Wahrheit enthüllen.11 Reuchlin hat also in seinem Gutachten für
Maximilian das Judentum als eigenständige Religion verstanden, die als solche den gleichen Gott bezeuge wie das
Christentum. In Teilbereichen (besonders der Kabbala) kippte diese Verbundhermeneutik allerdings zu einer assimilierenden Hermeneutik.
2.2 Thomas Müntzer (vor 1491 – 1525)
Müntzers Bemühungen um ein Verstehen des Islam stehen
im Kontext eines breiten Interesses am Türken im christlichen Europa des frühen 16. Jahrhunderts.12 Dieses Interesse ist mit der damals noch zunehmenden militärischen und
politischen Macht der Türken erklärbar, die in der Belagerung Wiens 1529 ihren Höhepunkt erreichen sollte. Das
christliche Abendland stand zu Lebzeiten Müntzers möglicherweise in seinem Fortbestand in einem Maße auf dem
Spiel, wie dies zuvor und auch nachher nicht der Fall war.
Müntzer sucht die Situation vermeintlich höchster Bedrohung mithilfe einer theologischen Hermeneutik des Islam
zu bewältigen. Diese Hermeneutik bietet Gelegenheit, außer dem, bereits mit Reuchlin thematisierten, Platonismus
weitere Grundlegungen für eine Verbundhermeneutik des
Fremden kennen zu lernen. Zwar kannte auch Müntzer Platon. Doch lehnte er dessen Vorstellung ab, die Vielfalt irdischer Erscheinungen könnten in einer höchsten Idee verbunden werden. Der an der Abstraktion einer höchsten gemeinsamen Idee von Gott orientierte Mensch ist für Müntzer
wie einer, der träumt zu essen, doch wenn er aufwacht, so
ist sein Verlangen nicht gestillt.13 Statt der abstrakten Idee
sind Müntzer konkrete (Grund-)Erfahrungen der Menschen
wichtig, die er Religionen übergreifend für gleich erachtet.
Mit dem Erlebensmystiker Johannes Tauler (vor 1300-1361)
findet Müntzer diese Gemeinsamkeit nicht in der höchsten
Abstraktion, sondern tief unten im „Abgrund der Seele“.
Müntzers Verbundhermeneutik baut also nicht auf philosophischen, sondern auf anthropologischen Überzeugungen
auf, die daher zunächst kurz skizziert werden.
Nach Müntzer ist Glaube bei den Menschen aller Nationen
und Religionen eine Bewegung des heiligen Geistes in den
Seelen der Menschen. Das Herz, das heißt die Seele, ist der
anthropologische Ort, an dem der Glaube sich bildet und
wirkt. Aufgrund dieser universellen Struktur des Glaubens
gibt es nach Müntzer Geistbegabte in allen Nationen und
Religionen der Erde. Gewissheit in Fragen des Glaubens
kann daher nicht im innerchristlichen Diskurs, sondern nur
im Gespräch mit diesen Begabten aller Religionen bzw.
Nationen gefunden werden.
„Ich predige einen solchen Christenglauben, ... der da in
allen Herzen der Auserwählten auf Erdengleichförmig ist,
32
Psalm 67 [= Ps 66,7f]. Und wenn gleich ein geborener
Türke da wäre, so hat er doch den Anfang dieses Glaubens, das ist die Bewegung des heiligen Geistes, wie vom
Cornelius geschrieben steht, Act. 10. Falls ich daher verhört werden sollte vor der Christenheit, so muss man
[meine Lehre] entsenden, kund tun und schicken allen
Nationen der Menschen, die im Glauben unüberwindliche Anfechtung erduldet hätten, die ihre Verzweiflung
des Herzens gefunden hätten ... Solche Leute möchte ich
als Richter dulden.“14
Die Rückbesinnung auf anthropologisch-psychologische
Anfänge aller Buchreligionen in den Grunderfahrungen des
Menschen (Anfechtung, Verzweiflung) würde nach Müntzer
interreligiöses Verstehen fördern. Diese Grund-Erfahrungen begegnen dem Menschen, wenn er von Gott direkt angeredet wird. Nur wer das „lebendige Wort“ (viva vox) Gottes studiert, wie es „aus dem Mund Gottes“ in die Seele
hinein gesprochen, also persönliche Erfahrung geworden
ist, wird den Dissens mit dem Islam überwinden und wechselseitiges Verstehen anbahnen. Andernfalls wird das christliche Abendland durch den Türken ausgelöscht werden.
Ich begehre nichts anderes von euch [sc. dem Volk], als
dass ihr Fleiß aufwendet, um das lebendige Wort Gottes
aus Gottes Mund selber zu studieren. ... Wer da eine solche Vermahnung verachten wird, der ist jetzt schon überantwortet in die Hände des Türken.“15
Müntzer richtet diese Androhung an die Adresse der Böhmen im November 1521, kurz nachdem die Türken Belgrad, die Hauptstadt des angrenzenden Serbien, erobert
hatten. Seine Worte zeugen von der Auffassung, dass ein
Verstehen mit dem Islam nur möglich ist, wenn die Christen ihren eigenen Glauben erneuern und ihren toten Buchglauben durch einen selbst erfahrenen Geistglauben eintauschen. Andernfalls würde Gott die Böhmen „durch die Türken im kommenden Jahr [sc. also 1522] erschlagen lassen“.16
Gemäß Müntzers bislang entfalteter anthropologisch-psychologischer Grundierung einer Hermeneutik des Fremden
ist Introspektion also ein wichtiges Verfahren, um Fremde(s)
theologisch zu verstehen.
Außer dem Blick nach innen bietet gemäß Müntzer auch
der Blick nach außen, vor allem in den Kosmos und die
Natur, aber auch auf den Verlauf der Geschichte, Möglichkeiten zum interreligiösen Verstehen. Denn dort sei für jeden Menschen eine Ordnung der Dinge (ordo rerum) erkennbar, in der Gott sich manifestiert.17 Für Müntzer ist
„der Gott der Welt über die Zeugnisse seiner Werke von
Natur aus allen bekannt“. Aufgrund der „Ordnung der Dinge“ (ordo rerum) würden „die Werke der Hände Gottes vieles von Gott bezeugen.“18 Müntzer bediente sich des hermeneutischen Verfahrens der Vergleichung (comparatio /
similitudo). So versinnbildliche der Sonnenaufgang die
Auferstehung.19 Insofern könne aus der Ordnung der Dinge
die Auferstehung glaubhaft gemacht werden.20 Außer Gott
und Christus vermögen auch die Weissagungen in der Bibel mithilfe der Natur glaubhaft gemacht zu werden, denn
nach Müntzer „stützt die Natur die Prophetie.“21 Insgesamt
könne „der Sinn der Schriften aus der Natur gesichert“ werden.22 Schließlich verhilft die Natur allen Menschen nicht
nur zum Glauben an Gott, Christus bzw. die biblischen
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Verheißungen. Die Natur selbst ist eine theologische Quelle und schafft Glauben. Daher „bleibe auch ohne die Bibel
die christliche Wahrheit bestehen“.23
Der Hochschätzung einer Schau Gottes in der Seele und
einer göttlichen Ordnung der Dinge als Grundlage interreligiösen Verstehens korrespondiert bei Müntzer als Antithese eine Skepsis gegenüber allen heiligen Schriften im
Verstehensprozess. Nach Müntzer kann bereits innerhalb
einer Religion religiöse Wahrheit nicht in heiligen Texten
gefunden werden.
„... Sankt Paul ... redet da [sc. Röm 10, 8. 20] vom innerlichen Worte zu hören in dem Abgrund der Seele durch
die Offenbarung Gottes. Und welcher Mensch dieses
nicht gewahr und empfänglich geworden ist durch das
lebendige Gezeugnis Gottes, Römer 8 [sc. Röm 8,2], der
weiß von Gott nichts Gründliches zu sagen, wenn er gleich
hunderttausend Bibeln gefressen hätte.“24
Die Bibel vermag keinen Glauben zu schaffen, sondern nur
zu bezeugen.25 Auch im interreligiösen Dialog kommt der
Bibel nur die Funktion zu, den Geist des Glaubens von Juden und Türken zu „bewerten“.
„Sollen wir Christen nun zusammen einträchtig übereinstimmen, Psalm 72 [gemeint ist wohl Ps 68,33] mit allen
Auserwählten unter allen Zertrennungen [sc. Denominationen] oder Geschlechtern [sc. Ethnien] allerlei Glaubens, ... so müssen wir wissen, wie einem zu Sinnen ist,
der unter den Ungläubigen von Jugend auf erzogen ist,
der das rechte Werk und die Lehre Gottes ohne alle Bücher erfahren hat.
Darauf sollte man die Schrift nützen, dass man über solche treffliche Werke ... mit freundlichem Urteil einem
jeden, er wäre Jude oder Türke, Unterrichtung gebe und
bewerte da die Geister, welche von Gott oder vom Teufel
... sind, 1. Joh. 4 [sc. 1. Joh 4, 1 ff].26
Müntzer plädiert also für ein religiöses Verstehen „ohne alle
Bücher“.27 Dagegen würden religiöse Verstehensprozesse,
die auf Schriftzeugnissen, sei es der Bibel oder dem Koran
und deren gelehrten Auslegungstexten basieren, scheitern.
Diese negative Hermeneutik zeigt Müntzer besonders klar
als Geisttheologen. Sie zeigt, dass die Grenze des Verstehens zwischen erfahrenen Gläubigen bzw. Theologen einerseits und Menschen mit nachgeplappertem Glauben bzw.
Buch-Theologen mit „totem Wissen“ andererseits verläuft.
Da es Geisterfahrene und Buchgläubige nach Müntzer in
jeder Religion gibt, verläuft die Verstehensgrenze quer durch
die Religionen und nicht etwa zwischen den Religionen.
Wenn Müntzer die gewaltsame Vernichtung der „Gottlosen“ predigte, richtet sich dies gegen die Geistlosen in jeder Religion bzw. Nation, nicht etwa per se gegen den Fremden. Müntzers Gewalttheorem steht nicht in Beziehung zu
seiner Sicht des Fremden. Im Gegenteil will sich Müntzer
mit dem Fremden als solchem mittels des Diskurses auseinandersetzen.
In Konsequenz der universalistischen Hermeneutik, wie sie
auf der Basis einer theologischen Anthropologie und einer
ordo-Lehre erkennbar wurde, entwirft Müntzer die Vision
einer „universalen Kirche der Auserwählten“ (universa
electorum ecclesia) mit Geistbegabten aus allen Nationen
und Religionen der Erde. Programm dieser Kirche sei es,
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dass „wir Christen nun zusammen einträchtig übereinstimmen, Psalm <67>, mit allen Auserwählten unter allen Sekten oder Geschlechtern allerlei Glaubens“.28 Müntzer verweist in dem gebotenen Zitat auf die Prophezeiung des Psalmisten: „Aus Ägypten werden sie bald erscheinen. Äthiopien wird sich beeilen, sich Gott zu ergeben. Königreiche
der Erde, singet, lobsinget dem Herrn.“ (Ps 68,32f) Der
Antityp dieser universalen Geistkirche ist die Amtskirche
der Christen, die Müntzer als „ecclesia phantastica“ bezeichnet, womit er wohl den göttlichen Auftrag dieser Kirche
bestreiten wollte.29
Müntzers Hermeneutik des Fremden bedarf einer kritischen
Würdigung vor dem Hintergrund seiner historischen Bedingungen. Positiv im Lichte des damaligen Stands der religiösen Toleranz ist Müntzers Überzeugung von der
Dignität des Diskurses und sein Verzicht auf Gewalt gegenüber dem Fremdgläubigen. Hier zeigt sich Müntzer als
Humanist. Weiterführend war auch Müntzers Überzeugung
von der formalen Gleichwertigkeit aller Religionen, insofern allen die Fähigkeit zur Erkenntnis des einen Gottes
zugesprochen wird. Dies äußert sich etwa in der (auch juristisch) vollen Gültigkeit der religiösen Überzeugung von
Vertretern aller Ethnien und Religionen. Für seine Zeit innovativ war auch Müntzers Bemühen, Gemeinsamkeiten
zwischen den Religionen auf der Basis konkreter Erfahrungen der Menschen, sei es in der Seele oder mit der Natur,
zu finden und nicht auf Kosten einer Abstraktion von Erfahrungen in Form religiöser Ideen, wie etwa bei Reuchlin.
– Kritisch zu sehen ist Müntzers Methode, spekulativ vorauszusetzen, es gebe Religionen übergreifend gemeinsame
anthropologische Grunderfahrungen, die theologischen Einsichten voraus gehen sollen. Empirische, auch nur subjektiv-empirische Belege hierfür fehlten Müntzer. Müntzers
Vorstellung, Verbund statt Differenz zwischen den Religionen zu finden, wenn statt der theologisch-dogmatischen
Verstehensebene eine anthropologisch-psychologische
Ebene akzentuiert würde, ist unbegründet optimistisch. An
dieser Stelle macht sich Müntzers – historisch bedingter –
Mangel an konkreter Erfahrung mit Fremden bemerkbar.
Heutige Erfahrungen im interreligiösen Dialog zeigen, dass
die Spannung zwischen Verbund und Differenz zwischen
den Menschen verschiedener Religionen auf der anthropologisch-psychologischen und weiteren kulturellen Ebene
ebenso intensiv zu bearbeiten ist, wie auf der religiösen bzw.
theologischen Ebene. Analoges wie bei Müntzers Konstruktion einer Seelenverwandtschaft aller Menschen gilt für
Müntzers Theorem vom religiösen Verbund aller Menschen
über die vermeintliche Ordnung Gottes in der Natur.
Müntzer legt in die Seele des Menschen bzw. in die Natur
etwas Universelles hinein, um es danach wieder heraus zu
lesen. Auf diese Weise kreiert er einen hermeneutischen
Zirkel (methodische Kritik). Das, was Müntzer heraus liest,
sind christliche Glaubensvorstellungen. Müntzers christologische Prägung beim Verstehenwollen des Fremden steht
in Widerspruch zu den Prinzipien einer Verbundhermeneutik, bei der Vergleichbares zwischen Eigenem und
Fremdem zu einer neuen, idealiter für beide vertiefenden
Einsicht führt und nicht das Fremde dem Eigenen angeglichen wird (inhaltliche Kritik).
33
3. Historische Hermeneutik und
praktisch-theologische Hermeneutik
in wechselseitiger Interpretation
Ich beziehe jetzt den bereits erwähnten Missionswissenschaftler Theo Sundermeier und den Religionspädagogen Karl Ernst Nipkow mit ein. In der praktischen
Theologie haben vor allem diese beiden Persönlichkeiten
zusammenhängend über eine Hermeneutik des Fremden
gearbeitet. Freilich kommt mit Nipkow nur die dem Schwerpunkt nach evangelisch-theologisch reflektierende Religionspädagogik in den Blick. Ich treffe diese Auswahl, weil
es mir um die Reflexion eines theologischen Verstehens des
Fremden geht, das in dieser religionspädagogischen Richtung besonders beachtet ist.30 Thematisch beschränke ich
mich weiterhin darauf, das spannungsgeladene Verhältnis
von Verbund- und Differenzhermeneutik zu reflektieren.
Dieser Aspekt aus der Hermeneutik des Fremden ist Hauptthema sowohl bei Sundermeier als auch bei Nipkow.
Meine Ausführungen zu Reuchlin zeigten den (Neu-)Platonismus als philosophische Grundlage einer Verbundhermeneutik. Sundermeier reflektiert diese Tradition der
Hermeneutik kritisch. Angemessener als die Vorstellung,
Verstehen sei das Finden einer gemeinsamen abstrakten Idee
im Eigenen und Fremden31 ist nach Sundermeier Verstehen
zu begreifen als dialogische Beziehung zwischen dem Ich
und dem Du. In Spannung zu einer platonischen Hermeneutik, wie sie uns bei Reuchlin begegnete, vertritt Sundermeier, dass der Andere bzw. Fremde in diesem Dialog selbst
„konstitutiv für den Menschen und das Menschsein“ sei.
Daher ist nicht die Orientierung des hermeneutischen Prozesses an einem verbindenden Höheren gefragt, sondern die
horizontale Orientierung am Fremden als Mitmenschen.
Doch auch die, platonischer Hermeneutik verwandte,
universalisierende Höherorientierung wird von Sundermeier
in dieser dialogischen Hermeneutik gewürdigt, indem er
außer dem Ich und dem Du ein Es schätzt, gemeint als
„Perspektivierung der Welt“ (61) vom Dialog aus. Ohne
diese Perspektivierung bliebe Verstehen flüchtig, punktuell, ohne „Objektivierung“ und exklusiv, d. h. nur eine Zweier-Begegnung. Die Spannung zwischen Differenz und Verbund vollzieht sich im Verhältnis von Dialog zwischen Ich
und Du und der Perspektivierung des Eigenen bzw. des
Fremden auf das Welt- und Gottesverständnis hin.32 Diskussionswürdig erachtet Sundermeier einen weiteren Ansatz
einer Verstehenslehre, der weder von der Abstraktion noch
vom Dialog, sondern von der diakonischen Begegnung mit
dem Fremden lebt. Dieser hermeneutische Ansatz geht davon aus, dass umfassendes Verstehen des Fremden nicht
möglich sei, sondern nur eine „Spur“ vom Fremden, die in
dessen „Antlitz“ aufleuchtet, begriffen werden kann (64 f).
Gegen die platonisch tradierte Verbundhermeneutik ist bei
diesem Ansatz Suchen wichtiger als Schau, Befragen angemessener als Erkenntnis des Fremden, Zweifel vollkommener als Gewissheit (63 f). Sundermeier veranschaulicht dieses Modell mit der Perikope vom barmherzigen Samariter:
Samariter (Fremder) und geschlagener Jude haben beide
im anderen etwas vom „Antlitz Gottes“ erfahren, doch gibt
es keine Freundschaft, keinen Dank, kein Vertrautsein mit
34
dem Fremden, keine Kontinuität. Das Modell vom barmherzigen Samariter verdeutlicht nach Sundermeier gegen
die platonisch tradierte Hermeneutik auch, dass Verstehen
ein Sich-Erniedrigen-Können bedeutet und der Weg nicht
vom Hässlichen zum Schönen bzw. vom Niederen zum
Höheren geht (70). Doch solle das diakonische Handeln am
Fremden auch nicht für wichtiger erachtet werden als das
Eigene. Im Verhältnis zum Fremden soll man beides beachten: das Eigene und den Fremden, Divergenz und
Konvivenz, Differenz und Verstehen. In seiner Höherschätzung des Fremden im Vergleich zum Eigenen schildere das Modell vom barmherzigen Samariter eine Sondererfahrung, aber nicht „Alltagsleben ... mit dem Fremden“
(70). Sundermeier weiß allerdings auch um die Begrenztheit dieses Ansatzes, denn diakonische Begegnung nicht
Verstehen und impliziert zudem eine asymmetrische Beziehung zum Fremden, die dem Verstehen abträglich ist
(131). 33 So kann Sundermeier in der religionsphilosophischen Tradition insgesamt nur Fragmente einer
Hermeneutik des Fremden erblicken (72).
Immerhin konnte Sundermeiers religionsphilosophische
Grundlegung einer Hermeneutik des Fremden zeigen, dass
eine Balance von Differenz und Verbund anzustreben sei,
wobei der Tendenz nach eine „Differenzhermeneutik“ zu
entfaltet sei, „die das Differente verstehen lehrt, ohne es zu
vereinnahmen, die praktische Hilfe bietet, die Nähe des
Zusammenlebens einzuüben, und zugleich die richtige Distanz bewahrt, die die Identität des Fremden respektiert und
die uns allen gemeinsame Menschenwürde achtet.“ (13) Die
hermeneutischen Ansätze Reuchlins und Müntzers würde
Sundermeier wohl als – wie er formuliert – „Verschmelzungshermeneutik“ kritisieren, bei der das „Verstehen ...
zum Ziel gekommen (ist), wenn die unterschiedlichen Perspektiven identisch werden und die Horizonte verschmelzen“. Dieser Ansatz reiche im Pluralismus nicht mehr aus
(13). – Sundermeiers Überzeugung, die Hinwendung zum
Niederen, leidvoll Erfahrenen sei angemessene Basis einer
Hermeneutik, korrespondiert Müntzers Orientierung der
Hermeneutik an Grund-Erfahrungen, die in Sundermeiers
Rede von der „uns allen gemeinsamen Menschenwürde“
als letzte Begründung der Hermeneutik des Fremden wieder aufscheint.
Bisher wurden mithilfe moderner religionsphilosophischer
Konzepte eine historische Verbundhermeneutik reflektiert.
Im Folgenden soll umgekehrt mithilfe der entfalteten historischen Hermeneutik das Verhältnis von Verbund und Differenz in der gegenwärtigen praktisch-theologischen
Hermeneutik des Fremden bedacht werden und zwar in drei
Aspekten:
(1)
Im Lichte der noch recht einseitigen, methodisch unreflektierten Verbundhermeneutik bei Reuchlin und Müntzer
kann zunächst positiv auffallen, wie in der heutigen praktisch-theologischen Hermeneutik Verstehen als dialektischer
Prozess von Verbund und Differenz begriffen wird, wobei
ein Aspekt den jeweils anderen zugleich beschränkt und
ergänzt. An Stellen, an denen Reuchlin und Müntzer auf
Unvereinbarkeiten mit dem Fremden noch mit Christianisierung antworteten und so auf Kosten des Fremden die Einheit herbeiführen wollten, wird heute Differenz respektiert.
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(2)
Die in der frühen Neuzeit bereits abgedrängten Ansätze einer Verbundhermeneutik können bewusst machen,
wie auch heute die praktisch-theologische Hermeneutik des
Fremden vorwiegend als Differenzhermeneutik entfaltet ist,
bei Sundermeier allerdings abgewogener als bei Nipkow.
Damit wird im Verlauf der vorliegenden Darstellung der
Schritt von der praktisch-theologischen Hermeneutik zur
Religionspädagogik vollzogen.
Ausgehend von gesehenen faktischen Kontroversen zwischen den Religionen bzw. Bekenntnissen hält Nipkow
einen „weichen Pluralismus“, mit dem das Gemeinsame
der Religionen „oberhalb“ ihrer Differenzen gesucht wird,
für unrealistisch. Stattdessen votiert der Religionspädagoge für ein „hartes Pluralismusbild“, mit dem
„durch die Differenzen hindurch“ zu den Gemeinsamkeiten vorgedrungen wird.34 Religionspädagogisch entspricht dem „zunächst“ die Ausbildung einer eigenen
„Identität“ als Voraussetzung für gelingende „Verständigung“ mit dem Fremden.35 Fächerorganisatorisch konkretisiert sich dieser Ansatz in der Schule bei Nipkow in
einem Primat des konfessionellen Religionsunterrichts vor
der Kooperation bzw. gar Integration von Schülern verschiedener Weltsichten in einem gemeinsamen Unterricht.
Historisch erklärt sich diese Einseitigkeit bei Nipkow zugunsten der Differenz als Reaktion auf eine verschärfte
Legitimationskrise des konfessionellen Religionsunterrichts nach der Einigung Deutschlands. Im neuen Erstarken einer verbundhermeneutisch ansetzenden Religionspädagogik, etwa im Schulfach LER, sieht Nipkow eine
unangemessene Renaissance einheitshermeneutischer Systeme der neuzeitlich-europäischen Aufklärung
(Rousseau, Philanthropie / Basedow, Diesterweg), die Religion als ahistorisches Konstrukt oberhalb der historischen Religionen begreife.36
Verstehensansätze, die den Verbund zwischen Eigenem und
Fremden theologisch begründen, scheinen in der Religionspädagogik auch heute abgedrängt zu sein. Ein Faktor hierfür könnte die kirchliche Verfasstheit des Christentums und
auch der Religionspädagogik sein. Institutionen meinen,
Konfessionalität durch Abgrenzung, also Differenz, zeigen
zu müssen. Folgerichtig kommt Müntzer auch zu einer
ekklesiologischen Kritik und entwirft ein, seiner interreligiösen Hermeneutik entsprechendes, universales Kirchenmodell. Entsprechend vermerkt Sundermeier als „tiefe
Fehlentwicklung der christlichen Religion“, dass in der Zeit
des ausgehenden Urchristentums „die Kirche als Institution sehr bald die (..) Grenze zwischen Unglauben und Glauben meinte fixieren zu können und sie durch Taufe und
Kirchenmitgliedschaft festlegte. ... Die Feindesliebe wurde
bald wieder auf die Nächstenliebe, ja auf die Bruderliebe ...
eingegrenzt. ... Die ... Trennung von Innen und Außen, von
Feind und Freund, die Jesus überwunden hat, wird erneut
errichtet“.37
(3)
Der Vergleich zwischen historischer und gegenwärtiger Reflexion des Fremden führt auch zu Überlegungen
über das Verhältnis von theologischer und sozialwissenschaftlicher Grundlegung für das Verstehen Fremder. Während Reuchlin und Müntzer – darin ihrer Zeit verhaftet –
intensiv theologisch und kaum gesellschaftskundlich reflektierten, scheint heute in der Religionspädagogik der sozialwissenschaftlich begründete „Umgang“ mit dem Fremden
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mehr Aufmerksamkeit zu erfahren als das theologische „Verstehen“ des Fremden. Bemerkenswerterweise bieten gerade die führenden Religionspädagogen auf dem Gebiet des
interreligiösen Lernens – Johannes Lähnemann und Udo
Tworuschka – kaum eine hermeneutische Grundlegung
ihres Arbeitens. Lähnemann setzt mit seinen Überlegungen auf der Ebene der theologischen Didaktik ein und zielt
auf die religionspädagogische Praxis ab. Auch möchte
Lähnemann, im Anschluss an Hans Küng, 38 über die
Religionspädagogik ein „Weltethos“ befördern, das primär
dem „Begegnen“ mit dem Fremden dienen soll. Tworuschka
steigt unmittelbar auf der unterrichtspraktischen Ebene in
die Thematik ein (Schwerpunkt: Analyse von Lehrplänen
und Schulbüchern). Eine hermeneutische Reflexion dieser
Ansätze interreligiösen Lernens, die der didaktischen Konkretion vorausgehen müsste, wird nicht geboten. Es scheint,
als ob diese Autoren eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik des Fremden heute, jedenfalls im religionspädagogischen Kontext, kaum mehr für notwendig erachten.
4. Schlussgedanken
Die Aufgaben, die in der Begegnung mit dem Fremden anstehen, werden in der Religionspädagogik kaum mehr
mithilfe der Hermeneutik, sondern primär mithilfe der Ethik
und Moral – wie im Projekt Weltethos – bzw. mithilfe
sozialwissenschaftlicher Konzepte – in Anlehnung an das
interkulturelle Lernen in der Pädagogik – zu bewältigen
gesucht. Absicht meiner Darlegungen war es, diese Akzentuierung des „Umgangs“ mit dem Fremden in Richtung eines „Verstehens“ des Fremden, und zwar eines theologischen, nicht nur gesellschaftskundlichen Verstehens des
Fremden zu ergänzen.
Die heute noch verbliebene theologische Hermeneutik in
der Religionspädagogik wird dem Schwerpunkt nach als
Differenzhermeneutik in Ansatz gebracht. Pluralismus meint
aber mehr als Vielfalt, nämlich beziehungsreich gestaltete
Vielfalt. Daher sollten differenzhermeneutische stärker als
bisher um verbundhermeneutische Ansätze ergänzt werden.
Sundermeiers Analyse des biblischen Begriffs vom Fremden (mit deren Religionen sich Juden und Urchristen dezidiert vergleichend-verbindend auseinandersetzten), die Rezeption hermeneutischer Ansätze in östlichen Religionen
(die als Erlösungsreligionen im Vergleich zu den Versöhnungsreligionen [Judentum, Islam, Christentum] den Verbund der Religionen betonen39) sowie die Erinnerung mystischer Traditionen im Christentum können hierzu dienen.40
Doch das dialektische Wechselverhältnis von Verbund und
Differenz soll bestehen bleiben. Daher sollte eine Hermeneutik des Fremden zugleich die Bedeutung der Differenz
würdigen. Hierbei ist zentral(theologisch) zu gewichten, dass
die Grenze zwischen Verstehen und Nichtverstehen nicht
zwischen Eigenem und Fremden verläuft. Ich kann mir
selbst fremd sein. Die Differenz im Sinne von Mangel an
Verstehen liegt also nicht immer zwischen dem Eigenen
und dem Fremden, sondern oft genug im Eigenen. Nur am
Rande, aber immerhin, ist in den reflektierten historischen
und modernen Ansätzen beachtet, dass Fremdes im Eigenen und Vertrautes im Fremden begegnen kann. Die
35
platonisch informierte Verstehenslehre des Fremden, wie
sie uns bei Reuchlin begegnete, weiß, dass die Wahrheit
Gottes, die in der eigenen Religion als einer von vielen Emanationen enthalten ist, erst durch den Verbund mit anderen
Emanationen, das heißt Religionen, zu ihrer eigenen „Helligkeit“ finden kann, für sich alleine aber dunkel, sich selbst
fremd, bleibt. Müntzer behauptet, dass die Wahrheit des eigenen „Christenglaubens“ nur im Diskurs mit den geisterfahrenen Fremden aus anderen Religionen bzw. Nationen gefunden werden kann. Auch in der Hermeneutik des
Fremden bei Sundermeier wird betont, dass der Mensch den
Fremden braucht, um „im alter Ego sich selbst wieder als
Ganzes konstituieren“ zu können.41 Die Erfahrung der
Fremdheit des Eigenen kulminiert für Juden und Christen
darin, dass sie den eigenen Gott als den ganz Anderen und
Fremden erleben; die „Heiligkeit“ Gottes, die in den eigenen Kategorien „nicht aufgeht“, bricht im Fremden in unser Dasein ein (207). Nicht dass die Fremdheit Gottes im
Fremden ‚entschlüsselt‘ würde; sie wird nur im Fremden
als „Heiligkeit“ gewahr. Fremdheit – eigene und fremde –
ist nicht immer in Verstehen zu überführen. Der eigene Gott
bleibt der Fremde, ja kann ein bis zur Abwesenheit transzendenter Gott sein. Im Verbund mit dem Fremden soll
nicht nur Differenz aufgehoben, sondern als solche verstehbar werden.
Schließlich sei noch eine selbstkritische Rückfrage gestellt,
mit der Thema und verwendete Methode der Abhandlung
in Verbindung gebracht werden sollen: Diese Frage zielt
auf das Verhältnis von Geschichte und modernem Verstehen von Geschichte in dem vorgelegten Beitrag. Der Verfasser sah sich in der Spannung, einerseits die einbezogenen historischen Vorgänge dem Leser von heute möglichst
umfassend verstehbar zu machen, andererseits Überinterpretationen zu vermeiden. Wie weitgehend kann es einen „Verbund“ von Geschichte und moderner
Geschichtsdeutung geben, und inwieweit sollte der Historiker im Umgang mit der Geschichte auch „Differenz“ im
Sinn von Nichtverstehen der Geschichte zulassen? Es gilt,
einerseits Geschichte auszulegen, andererseits das Befremdliche in der Geschichte auch in seiner Fremdheit dem Leser
vor Augen zu stellen. Bei zu extensivem Verstehenwollen
verschwindet die Geschichte hinter der Hermeneutik, im
anderen Falle wird statt Verstehen historischer Positivismus geboten.
– Ders.: Zwischen Messianismus und Zionismus. Zur jüdischen
Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 1993.
5
Vgl. zum biblischen Fremdenbegriff Sundermeier 1996 (wie
Anm. 2), S. 198 - 228.
6
Ausführlich dazu Willehad Paul Eckert, in: Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, Bd. 1/
hg. v. Karl Heinrich Rengstorf – Siegfried von Kortzfleisch,
München 21988, S. 278 – 282.
7
Johannes Reuchlin: Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll (1511), in: Ders.:
Gutachten über das jüdische Schrifttum/ hg. und übersetzt von
Antoine Leinz von Dessauer, Konstanz – Stuttgart 1965, S. 30-82.
8
Diese Formulierung ist freilich pauschal, doch m. E. grundsätzlich richtig. Zwar gibt es bedeutende Differenzen zwischen
Luthers Sicht des Juden, wie sie in bekannten Schreiben von
1523 und 1543 zum Ausdruck kommt. So wurde Luthrs Standpunkt von 1523, der unter dem Eindruck von Reuchlin formuliert wurde, als Ausdruck einer humanistischen Gesinnung Luthers, die der Reuchlins entspreche, gedeutet. Doch kann, im
Lichte von Luthers militantem Antijudaismus von 1543 beim
frühen Luther auch ein taktischer Anteil beim Umgang mit Juden vermutet werden. Luthers Hauptziel war 1523 – übrigens
in Differenz zu Reuchlins Position – die Konversion der Juden
zum Christentum. Als er zwanzig Jahre später sah, dass er dieses Ziel nicht erreicht hatte, äußerte er offenen Antijudaismus.
9
Zum geistigen Fundament Reuchlins wurden Nikolaus von
Kues: De pace fidem (1453). – Ders.: Cribratio Alcorani (1461).
10
Vgl. über Pico Gert Schulten: Giovanni Picos Brief über das
humanistisch-christliche Lebensideal ..., in: Kontinuität und Umbruch. Theologie und Frömmigkeit ... vom 15. zum 16. Jahrhundert/ hg. v. Josef Nolte u. a., Stuttgart 1978, S. 7 – 25.
Reuchlin besuchte Pico in Florenz und studierte ihn später in
Paris, dort wo er auch Nikolaus von Kues las; vgl. Werner Beierswalter: Reuchlin und Pico della Mirandola in TFil 56 (1994)
313 – 336.
11
Vgl. Johannes Reuchlin: De verbo mirifico, Basel 1494, S. 91
(hg. v. Widu-Wolfgang Ehlers u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt
1996): „Als der Logos ins Fleisch hinabstieg, da gingen die Buchstaben [sc. JHVH] in ein klingendes Wort [sc. JHSVH] über.“
Entsprechende Assimilationen jüdischer Vorstellungen mit der
christlichen Kabbala finden sich in Christian Knorr von
Rosenroth: Kabbala denudata, Sulzbach 1677 – 1684. Vgl. zum
theologiegeschichtlichen Hintergrund bei Reuchlin die Ausführungen von Willehad Paul Eckert, in: Kirche und Synagoge ...
21988 (wie Anm. 6), S. 274 – 278, bes. S. 276.
12
Vgl. das immense Schrifttum, verzeichnet in: Tvrcica. Die europäischen Türkendrucke des XVI. Jahrhunderts/ hg. v. Carl
Göllner, Bukarest – Berlin 1961.
13
Vgl. Dieter Fauth: Thomas Müntzer in bildungsgeschichtlicher
Sicht. Zur historischen Verortung einer subjektiven Religionspädagogik, Würzburg 21999, S. 126. 230 f u. ö.
14
Thomas Müntzer: Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe/ unter Mitarbeit von Paul Kirn hg. v. Günther Franz,
Gütersloh 1968 (= MSB), 430, 29 – 431, 7; vgl. 407, 21-23.
15
MSB, 503, 6-16 par. 509, 16-20; 504, 24 – 505, 1; vgl. 507,
15-17.
16
MSB, 494, 16-26.
17
Für die weitere Entfaltung von Müntzers interreligiöser Hermeneutik als Aspekt seiner Anschauung von der Ordnung Gottes können außer den edierten Müntzertexten auch Glossen des
Bemerkungen
1
Der Umgang mit dem Fremden in der Vormoderne. Studien zur
Akkulturation in bildungshistorischer Sicht/ hg. v. Christoph
Lüth – Rudolf W. Keck – Erhard Wiersing, Köln – Weimar –
Wien 1997.
2
Theo Sundermeier: Den Fremden verstehen. Eine praktische
Hermeneutik, Göttingen 1996, S. 97 f. 113 – 124; vgl. sein
Fazit S. 200.
3
Dialog zwischen den Kulturen. Erziehungshistorische und
religionspädagogische Gesichtspunkte interkultureller Bildung/
hg. v. Ingrid Lohmann – Wolfram Weisse, Münster 1994.
4
Jakob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft.
Jüdische Emanzipation 1770 – 1870, Frankfurt am Main 1986.
36
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radikalen Reformers an dessen Handexemplar zu Tertullians
Opera in der Ausgabe Basel 1521 ausgewertet werden, da
Müntzer die antimarcionitischen Texte des Kirchenvaters auf
den Türken reflektierte. Dies war Müntzer möglich, weil er in
„Marcion das Fundament der Türken“ sah und diese wie jener
das Leiden Christi leugneten; vgl. Thomas Müntzer an seinem
Handexemplar von Quintus Septimius Florens Tertullianus:
Opera ..., Basel: Johannes Frobes, 1521 (LB Dresden: Mscr.
Dresd. App. 747) (= TOp.M), S. 17 zu Corpus Christianorum.
Series Latina (= CChr.SL), Bd. 2, Turnholt, 1953, S. 880, 48:
„Marcion fundamentum est Turcarum.“ Müntzer mag insofern
etwas Wahres gestreift haben, als der persische Religionsstifter
Mani sowohl für die Manichäer um Marcion als auch später für
Mohammed wichtig war. – Seinen Vorwurf der Leidensscheu
von Maricon und den Türken bezog Müntzer aus Ricoldos da
Monte Croce (+ 1320) Confutatio Alcorani, die Müntzer wegen der ausführlichen lateinischen Koranzitate und in Ermangelung einer besseren Alternative zu seiner Zeit „Alkoran“ nannte; vgl. Ricoldo da Monte Croce: Confutatio Alcorani; MSB 232,
20-28 ist die Wiedergabe einer entsprechende (in WA 53, 281,
23-33 edierten) Stelle der Confutatio. Zitiert ist Sure 4, 157159. Vgl. auch die von Müntzer gelesene Bemerkung Tertullians
in TOp, S. 17 (= CCr.SL 2, 880. 48).
18
TOp.M, S. 36; vgl. CChr.SL 2, S. 923, 35. Müntzer unterstrich
im Text Tertullians die Worte „... deum mundi omnibus
naturaliter notum de testimoniis operum ...“, schrieb an den Rand
in Majuskeln „ordo rerum“ und glossiere: „Opera manuum dei
multi testantur de deo.“
apriori gefassten Theorien Phänomene untersuchen, die
Reflexionskategorien also nicht aus den zu reflektierenden Gegenständen (dem Eigenen und dem Fremden) ableiten. Nach
Sundermeier gerät bei diesem Verstehensansatz die Subjektivität des Eigenen und vor allem des Fremden aus dem Blick.
32
Sundermeier 1996 (wie Anm. 2), S. 60 – 62 u. ö. bezieht sich
auf den Religionsphilosophen Martin Buber (1878-1965), der
Verstehen als Dialogik zwischen dem Ich und dem Du begriff,
bei dem auf ein Es (die Welt bzw. Gott) hin reflektiert wird.
Nach Buber kann der Mensch sich selbst nicht für sich allein
denken und verstehen, sondern nur in seiner „Beziehung“ zu
der ihm konfrontierten Wirklichkeit, dem Du und dem Es. Sundermeier schätzt die Bedeutung der konkreten Wirklichkeit des
Du für das Verstehen des Eigenen und des Fremden, kritisiert
allerdings die „Exklusivität“ der Zweier-Begegnung bei Buber,
weshalb mit Buber das Verstehen zwischen Gruppen nicht reflektiert werden könne.
33
Mit seinem dritten Verstehensansatz reflektiert Sundermeier
1996 (wie Anm. 2), S. 62 – 70 Emmanuel Lévinas (1905-1995).
Lévinas entwickelte den Humanismus des anderen Menschen,
der sich jeder philosophisch gedachten Einheit und Ganzheit
entzieht. Der Mensch kommt über die Andersheit des anderen
Menschen zur Seinsfrage. Diese Erfahrung der Differenz korrespondiert der Erfahrung eines bis zur Abwesenheit transzendenten Gottes.
34
Karl-Ernst Nipkow: Ziele interreligiösen Lernens als mehrdimensionales Problem, in: Religiöser Pluralismus und interreligiöses Lernen/ hg. v. J. A. van der Ven – H.-G. Ziebertz,
Kampen – Weinheim 1994, S. 197 – 232. - Vgl. die von Nipkow
führend mit erarbeitete Denkschrift der EKD Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts
in der Pluralität .../ ... hg. v. Kirchenamt der EKD, Gütersloh
1994, bes. S. 65.
35
Nipkow 1994 (wie Anm. 34), S. 226. – Mit der Rede von „Verständigung“ und nicht vom „Verstehen“ ist an sich angezeigt,
dass eher eine kommunikationstheoretische als eine hermeneutische Aufgabe ansteht. Allerdings fehlen bei Nipkow kommunikationstheoretische Reflexionen einer Begegnung mit dem Fremden; vgl. hierzu Sundermeier 1996 (wie Anm. 2), S. 77-93.
19
TOp.M, S. 43 zu CChr.SL 2, 935, 7: „Ortus diei post noctem
similitudo resurgentis carnis.“
20
TOp.M, S. 34: „Ex ordine rerum probat resurectionem.“
21
TOp.M, S. 43 zu CChr.SL 2, 936, 9: „Natura iuvat prophetias.“
22
TOp.M, S. 47 zu CChr.SL 2, 942, 34: „Munivit [sc. Tertullianus]
sensus scripturarum ex natura.“
23
TOp.M, S. 47 zu CChr.SL 2, 942, 15: „Sine scriptura etiam
[„etiam“ ist nachträglich übergeschrieben] perseverat veritas
christiana.“
24
MSB, 251, 14-19.
25
MSB, 380, 12f: „Testimonium equidem verbi veri ex
voluminibus est.“
36
Vgl. Dieter Fauth: Religion als Bildungsgut – Sichtweisen in
Staat und evangelischer Kirche, Würzburg 2000, S. 559 - 566.
26
MSB, 278, 23 – 279, 8.
37
Sundermeier 1996 (wie Anm. 2), S. 123.
27
MSB, 277, 32; 278, 35; 293, 21f.
38
28
MSB, 278, 23-27.
29
TOp.M, [b 4]r.
30
Vor allem die religionswissenschaftlich reflektierende theologische
Religionspädagogik (Jürgen Lott, Wolfgang Weiße, ...), die religionswissenschaftliche Religionspädagogik (Karl Erich Grözinger), die
semiotische Religionspädagogik (Bernhard Dressler, Dietrich
Zilleßen), die profane Religionspädagogik (Bernd Beuscher, Dietrich Zilleßen), die erziehungswissenschaftliche Religionspädagogik
(Hartmut von Hentig, Wolfgang Klafki, Achim Leschinsky, Fritz
Oser, Jürgen Oelkers, ...) und andere nichttheologisch reflektierende Entwürfe wären in ihren hermeneutischen Grundlegungen noch
zu bedenken.
Küng möchte mit seinem Projekt Weltethos die Aufgaben im
Zusammenhang mit dem Fremden, über die Ethik bewältigen.
Ethik, nicht Religion, wird als gemeinsamer Nenner gesucht,
von dem aus dann auch theologische Verbindungen zwischen
den Religionen erschlossen werden sollen. Theologisch-hermeneutische Reflexionen finden sich bei Küng annähernd nicht.
39
Vgl. die Reflexion des Religionstyps als Zentrum der Hermeneutik bei Sundermeier 1996 (wie Anm. 2), S. 97 – 127.
40
Für den Protestantismus sind solche Erinnerungen an mystische Traditionen besonders schwierig. Vgl. die zentraltheologische Bedeutung der Mystik im geschichtlichen Verlauf
des Protestantismus dargestellt bei Karl Dienst: Protestantismus
und Mystik – ein Widerspruch?, in: Hildegard von Bingen in
ihrem Umfeld – Mystik und andere Visionsformen in Mittelalter und früher Neuzeit. Katholizismus und Protestantismus im
Dialog/ hg. v. Änne Bäumer-Schleinkofer, Würzburg 2000.
41
Sundermeier 1996 (wie Anm. 2), S. 60; vgl. S.61, wonach der
Fremde „konstitutiv für den Menschen und das Menschsein“ sei.
31
Sundermeier 1996 (wie Anm. 2), S. 56 – 60 entfaltet diese Kritik am Verstehen als Abstraktion vom konkreten Eigenen bzw.
Fremden in kritischer Auseinandersetzung mit Edmund Husserl
(1859-1938) und der von ihm beeinflussten Religionsphänomenologie. Husserl strebte reine Logik an und wollte mit
'bb' 93-3/2000
37
gottesdienst:
„das sollst du büßen!“
jugendgottesdienst zum buß- und bettag
joachim schreiber
MUSIK / BEGRÜSSUNG
SZENE 2: „Der Seitensprung"
LIED : „Danke, für diesen guten Morgen“
SZENE 3: „Der Punkerstreit"
1. Danke, für diesen guten Morgen,
danke für jeden neuen Tag,
danke, dass ich all meine Sorgen
auf dich werfen mag.
2. Danke, für alle guten Freunde,
danke, o Herr, für jedermann, danke,
wenn auch dem größten Feinde
ich verzeihen kann.
3. Danke, für meinen Platz im Leben,
danke für jedes kleine Glück.
Danke, für alles Frohe, Helle
und für die Musik.
MUSIK / ANSPRACHE / AKTION
LIED: „Laudato si“
1.
Laudato si, o mio signor,. Laudato si, o mio signor,
Laudato si, o mio signor! (=Refrain)
Sei gepriesen, du hast die Welt geschaffen,
sei gepriesen für Sonne, Mond und Sterne,
sei gepriesen für Meer und Kontinente,
sei gepriesen, denn du bist wunderbar, Herr!
6.
Laudato sie, o mio signor usw. ...
Sei gepriesen, denn du, Herr, schufst den Menschen!
Sei gepriesen, er ist dein Bild der Liebe!
Sei gepriesen für jedes Volk der Erde!
Sei gepriesen Sei gepriesen - denn du bist wunderbar, Herr!
7.
Laudato si, o mio signor usw. ...
Sei gepriesen, du selbst bist Mensch geworden!
Sei gepriesen für Jesus, unsern Bruder! Sei gepriesen
wir tragen seinen Namen! Sei gepriesen denn du bist wunderbar, Herr!
8.
Laudato si, o mio signor usw. ...
Sei gepriesen, er hat zu uns gesprochen!
Sei gepriesen, er ist für uns gestorben!
Sei gepriesen, er ist vom Tod erstanden!
Sei gepriesen - denn du bist wunderbar, Herr!
9.
Laudato si, o mio signor usw. ...
Sei gepriesen , o Herr, für Tod und Leben!
Sei gepriesen - du öffnest uns die Zukunft!
Sei gepriesen, in Ewigkeit gepriesen.
Sei gepriesen - denn du bist wunderbar, Herr!
4. Danke, für manche Traurigkeiten,
danke, für jedes gute Wort,
danke, dass deine Hand mich leiten
will an jedem Ort.
5. Danke, dass ich dein Wort verstehe,
danke, dass deinen Geist du gibst,
danke, dass in der Fern und Nähe
du die Menschen liebst.
6. Danke, dein Heil kennt keine
Schranken, danke, ich halt mich fest
daran, danke, ach Herr, ich will dir
danken, dass ich danken kann.
LESUNG
Die Geschichte von Kain und Abel
SZENE 1. „Kain und Abel"
LIED: „Ich lobe meine Gott"
1. Ich lobe meine Gott, der aus der Tiefe
mich holt, damit ich lebe (Hallelujah).
Ich lobe meinen Gott der mir die Fesseln löst,
damit ich frei bin (Hallelujah).
Refrain:
Ehre sei Gott auf der Erde, in allen Straßen
und Häusern, die Menschen werden singen, bis
das Lied zum Himmel steigt. - Ehre sei Gott und
den Menschen Frieden (3x)... Frieden auf Erden.
2. Ich lobe meinen Gott, der mir den neuen
Weg weist, damit ich handle. Ich lobe
meinen Gott, der mir mein Schweigen
bricht, damit ich rede.
Refrain: Ehre sei ...
3. Ich lobe meinen Gott,
der meine Tränen trocknet, dass ich lache.
Ich lobe meinen Gott,
der meine Angst vertreibt, damit ich atme.
Refrain: Ehre sei ...
38
Laudato si, o mio signor, Laudato si, o mio signor,
Laudato si, o mio signor! AMEN!
ANSAGEN / GEBETE / MUSIK
SZENE 1: WIEDER MAL IM PARADIES:
DIESMAL MIT KAIN UND ABEL
Abel / Kain / Gott
Abel:
„Hallo Kain, guck mal, was ich für schöne, fette
Schafe zum Opferaltar bringe!“
Kain:
„Klasse, wirklich toll! Aber meine vollen Ähren
sind auch nicht schlecht. Schließlich muss ich
dafür etwas härter arbeiten als Du: Du streunst
nur den ganzen Tag über mit deinen Herden über
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Abel:
die Wiesen anderer Leute, deine Schafe wachsen
von selbst, du musst sie nur füttern.“
SZENE 2: KAVALIERSDELIKT SEITENSPRUNG
„Was soll das Gemecker? Tag und Nacht bin ich
auf den Beinen und beschütze meine Schäfchen
vor Raubtieren und vor anderen Gefahren. Das
ist Stress!“
(Herr und Frau M sind schon lange verheiratet. Doch seit
einiger Zeit haben sie sich auseinandergelebt.)
Kain:
„Dich Luftikus möchte ich mal pflügen und ernten sehen. Du fällst da doch gleich vom Stengel!“
Abel:
„Immer mit der Ruhe: Wir wollen doch mal sehen, was der Chef zu unseren Opfern sagt. Also
drauf auf seinen Altar und schnell entflammt:
(Als Abel das Feuer entfacht, steigt eine große
Rauchwolke gen Himmel: Zeichen dafür, dass
Gott sein Opfer annimmt - Styropor-Wolke oder
Nebelmaschine).
Kain:
„So, hier sind meine Erntegaben: Im Schweiße
deines Angesichts sollst du dein Brot erwerben.
Dieser Satz ist mir immer gegenwärtig, ich bin
wirklich nicht faul!“
(Als Kain die Gaben auf dem Altar verbrennen
will, fängt es an zu qualmen. Die Rauchwolke
verteil sich auf dem Boden - Oder: Styroporwolke
fällt um).
Mann / Frau / Liebhaber / Erzählerin
Mann:
„He, wo willst du denn schon wieder hin?“
Frau:
„Ich geh mal eben einkaufen!“
Mann:
„Ja, ja!“
(Anstatt Einkaufen zu gehen trifft sich Frau aber heimlich
mit ihrem Liebhaber)
Liebhaber: „Hallo Schatzi!“
Frau:
„Hi!“
Liebhaber: „Was ist denn schon wieder los?“
Frau:
„Ach, Hansi nervt mich total. Er sitzt nur noch
vor der Glotze und säuft. Wenn er dann betrunken ist, wird er aggressiv und ...“
Liebhaber: „Liebst du ihn denn noch?“
Frau:
„Nein, ich liebe doch dich!“
Alexi:
„Dann lass dich doch scheiden!“
Abel:
„Na, sieh mal, Du Dödel: Gott findet meine Gaben tatsächlich besser!“
Frau:
„Das werde ich auch tun, aber das ist nicht so
einfach!“
Kain:
„Abel, Du Armleuchter; und Gott da oben, was
soll der Müll, das war nicht fair. Das finde ich
nicht gut!“
Alexi:
„Du musst ich aber mal entscheiden!“
Frau:
„Okay, ich werde es ihm heute abend sagen.“
Alexi:
„Du schaffst das schon!“
Frau:
„Ach, du bist so lieb!“ (Sie geht nach Hause)
Abel:
(Macht ihm eine lange Nase und singt): „Nana
nanana!“
Kain:
„Jetzt verklapst der mich noch. DAS SOLLST
BÜSSEN! Na warte: (Kain geht auf Abel los)
Abel:
„Hilfe, lass mich los. Was habe ich denn getan?“
Kain:
(Mit einem großen Stein drischt er immer wieder
auf Abel ein, bis der sich nicht mehr rührt) DAS
SOLLST DU MIR BÜSSEN, deine verdammte Überheblichkeit!“ (Etwas später beruhigt er sich und rüttelt dem auf dem Boden Liegenden an der Schulter) - „He, was ist los? Warum sagst Du nichts
mehr! Es war doch gar nicht so gemeint. - O,
Sch... er ist ja tot.“
DU
Gott:
„Was fällt dir ein, deinen Bruder zu erschlagen“
Kain:
„Äh, das war ich nicht, der ist da oben runtergefallen!“
Gott:
„Red nicht, du Rachsüchtiger! Ab nun wirst Du
ein Zeichen auf der Stirn tragen und du wirst ein
Außenseiter sein, du Wüterich. Und die Menschen werden ab jetzt immer Bußtag feiern müssen, damit sie an ihre eigenen Fehler erinnert
werden und nicht immer andere zu Sündenbökken machen!“
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(Zu Hause sitzt der Mann völlig betrunken vor dem Fernseher)
Mann:
„Du brauchst auch immer länger fürs Einkaufen!“
Frau:
„Dann geh doch selber!“
Mann:
(Hansi steht auf und brüllt rum) „Du spinnst
wohl! Bin ich die Frau oder du?“
Frau:
„Du mit deiner ewigen Sauferei. Du hängst
nur noch vor der Glotze und ich bin dir doch
völlig egal!“
(Der Mann holt zum Schlag aus und schlägt die Frau zu
Boden)
Frau:
„Ich lass mich scheiden!“
Mann:
„Du blöde Kuh!
DAS SOLLST DU BÜSSEN!“
(Er schlägt so lange auf sie ein, bis sie sich nicht mehr
rührt).
39
SZENE 3: DER PUNKSTREIT!
Erzähler/ Punk 1/ Punk 2/ Eventuell ein paar umhergehende / Leute (Teamer)
(Zwei PunkerInnen sitzen am Straßenrand einer Einkaufspassage. Sie probieren etwas Geld von den dort einkaufenden Leuten zu erschnorren und zu erpöbeln.
Da der eine Punk aber schon wesentlich mehr Geld erschnorren konnte als der andere, war dieser neidisch)
Punk 2: Heut ist ein guter Tag, nicht war? Ich habe schon
über 20,-- DM eingenommen. Wie sieht es denn
bei dir aus?
Punk 1: Na ja, es geht so. Ich habe schon bessere Tage
erlebt! Es sind gerade mal 10,-- DM.
Punk 2: Ist ja nicht so schlimm, du kannst nachher gern
etwas von mir mit abhaben.
Punk 1: Das würde ich echt total cool von dir finden.
Punk 2: Wir können dann ja nachher runter zur
Dönerbude gehen und etwas stopfen. Was meinst
du?
Punk 1: Gar keine schlechte Idee, das könnten wir wirklich machen.
Punk 2: Warte mal bitte kurz, ich muss mal kurz austreten! Achtest du mal eben auf mein Geld?
Punk 1: Ja, klar mach ich das! Ist doch gar kein Problem.
Punk 2: Na gut, dann werde ich jetzt mal zur Toilette gehen!
(In der Zeit, wo Punker 2 zur Toilette ist, nimmt Punker 1
eine Handvoll Geld aus der Tasse von Punker2 und schüttet sie in seine eigene Tasse. Als Punker 2 nun aber wiederkommt, bemerkt er, dass ihm Geld aus seiner Tasse geklaut
wurde. Er guckt in die Tasse von Punker 1 und sieht, dass
dieser auf einmal viel mehr Geld in seiner Tasse hat. Sofort
hat er den Verdacht, dass Punk 1 ihn bestohlen hat.)
Punk 2: Gib es zu, du Armleuchter, du hast mir mein
Geld geklaut. DAS WIRST DU MIR BÜSSEN !
(Er steht auf und schlägt Punk 1 brutal zusammen. Solange
bis dieser bewusstlos auf dem Boden liegt.)
ANSPRACHE
Liebe Schülerinnen und Schüler,
verehrte Lehrerinnen und Lehrer!
„Das sollst du büßen!“ - Wenn Euch ein anderer etwas tut, dann
sagt Ihr das sicher schon mal.
Ja und irgendwie hat sich diese Bedeutung des Wortes „Büßen“
allmählich so bei uns eingebürgert, eingeschlichen:
„Das sollst du büßen!“ - Klar was das heißt:
„Das kriegst du wieder!“ - „Ich lasst mir von dir nichts gefallen.“
Das kennt Ihr ja auch: Auf dem Schulhof brauche ich nur eine Weile
zuzuschauen, dann wird das klar: „Haust du mich, hau ich dich!“ „Klaust du mir was, dann klaue ich dir auch was!“
Büßen hat so allgemein mit Rache, Vergeltung, Revanche zu tun. Aber auch mit Schuld; ein anderer hat sich „bei mir etwas zu Schulden kommen lassen“.
40
Schuld, zu Recht schuldig werden. Denkt an die drei Geschichten
von vorhin:
Bei Kain und Abel ist der Fall ja zunächst klar: Bruder erschlägt Bruder, weil einer neidisch ist auf den anderen.
Aber die Bibel lässt manche Fragen offen: - Warum nimmt Gott das
Opfer von Abel an, das von Kain nicht?
- Eigentlich arbeitet ein Bauer viel schwerer als ein Schäfer. Warum
wird er nicht belohnt.
Dass Kain sauer ist, das ist doch verständlich. Und wer weiß, vielleicht hat Abel ihn ja noch gereizt, so wie Matthias Philipp eine lange
Nase gezeigt hat.
Kain ärgert sich schwarz, ‘sein Zorn entbrannte’, heißt es im Originaltext und er senkte seinen Blick auf den Boden.
So ganz koscher ist das nicht, was mit ihm geschieht; seine Wut ist
verständlich; wer unter Euch würde sich nicht ärgern, wenn Euch
die Eltern oder Lehrer ungerecht behandeln.
Es kommt doch immer wieder vor, dass Geschwister - sogar auch
Jüngere, wie hier, bevorzugt werden. Das macht wütend.
Und trotzdem ist es nicht gut, wenn die Wut voll ausgelebt wird,
wenn das „Büßen“ nur den anderen betrifft - und das, was er zu
Unrecht mehr bekommen hat.
Bei Yvonnes Geschichte mit dem Seitensprung, wo sie ihren „Ehemann“ Hansi wegen Alexis verlässt, da ist es noch deutlicher:
Der Ehemann, der sich nicht kümmert, frustriert seine Frau.
Seine Frau sucht aber einfach das Weite, geht zu einem anderen
Mann.
Dass der dann einen Wutanfall kriegt, ist auch etwas verständlich:
Aber dass er seine untreue Frau „Büßen lassen“ will und sie mit
dem Leben bezahlt, das geht natürlich zu weit.
Schließlich die Geschichte von Sven mit beiden weiblichen Punkern
- (Kai meint, die heißen „Punketten“).
Die eine mopst der anderen das Geld. Ähnlich wie bei Kain und Abel
sieht sie gar nicht ein, warum die andere mehr hat.
So missbraucht sie das Vertrauen der anderen und „verteilt die Beute gerechter“ - nach ihren Vorstellungen.
Die Betrogene rächt sich ihrerseits; auch hier führt das „Das sollst
du büßen“ zum Tode.
Büßen als Strafe, Büßen lassen - aus Rache für angebliche oder
wirkliche Ungerechtigkeiten, die ich abbekomme.
Wo das hinführen kann, zeigen nicht nur die Szenen von unserm
Team hier.
- Denkt an die Geschichte mit dem Schüler aus Bad Reichenhall,
der mit Papas Sportgewehr mehrere Leute erschoss - hier hat die
Wirklichkeit unsere erdachten Szenen eingeholt - denkt an den Schüler aus Meißen, der aus Hass - vielleicht fühlte
er sich ja auch ungerecht behandelt - seine Lehrerin erstach.
Vor allem im zweiten Fall waren sicher Rachegedanken des „dassollst-du-büßen“ im Spiel.
Nein Buße und Büßen, das ist etwas ganz anderes. Das Wort „Buße“
heißt in der Bibel „Umkehr“:
Wer büßt, verbüßt eben keine Strafe! Wer büßt, ändert sich da, wo
es nötig ist.
Es ist so, als würde ich mit dem Auto in eine Sackgasse fahren. Und
um da heraus zu kommen, muss ich wenden - ich kann dann irgendwo nicht weiter.
Wer Buße tut, kriegt nicht eins übergebraten; der peitscht sich auch
nicht aus, wie die sogenannten Geißler im MA.
Nein, wer büßt, der ändert sich; der wird eine anderer Mensch.
Allen Beteiligten in den Szenen würde diese Art Buße gut tun:
- Kain würde seinen Jähzorn zügeln; er würde nicht böse nach unten, sondern optimistisch nach oben zu Gott, nach vorne in sein
Leben schauen.
- Der trinkende Ehemann würde sich mehr um seine Frau kümmern,
die würde sich nicht nach anderen Partner umschauen.
Darum sollte es heißen:
Nicht, das sollst du büßen - sondern:
Wo kann ich umkehren, Buße tun, anders werden, damit es nicht
zum Büßen im Sinne von Rache kommt.
Und so können wir auch zuversichtlich in die Zukunft schauen - genau wie es in der letzten Strophe vom letzten Lied heißt:
„Du Gott, öffnest uns die Zukunft“
Nur gemeinsam können wir etwas schaffen, nicht gegeneinander,
das ist auch Gottes Zukunft mit uns. AMEN
'bb' 93-3/2000
fachbeitrag: über tugend und glück
reinhard loock
„Kannst du mir sagen, o Sokrates, ob Tugend lehrbar ist?
Oder nicht lehrbar, sondern einübbar? Oder weder einübbar
noch lernbar, sondern von Natur oder auf eine andere Weise kommt sie den Menschen zu?“1 Auf diese Art von Menon
am Anfang des gleichnamigen Dialogs angesprochen, antwortet Sokrates gleich darauf: „Ich teile mit meinen Mitbürgern die Armut in dieser Sache und tadle mich, dass ich
über die Tugend gar nichts weiß. Wovon ich aber nicht weiß,
was es ist, wie könnte ich davon wissen, wie beschaffen es
ist?“2 Die Frage also, ob man Tugend von Natur besitzt
oder ob man sie einüben muss oder ob sie lehr- bzw. lernbar ist, setzt das Wissen voraus, was Tugend überhaupt ist.
Und es zeigt sich rasch, dass Sokrates’ eingestandenes
Unwissen klüger ist als Menons hochnäsige Frage. Denn
Menon zählt zwar zunächst den spezifischen sozialen Rollen entsprechende Tugenden auf3 und gibt dann auch einen
rollenunabhängigen Tugendkatalog. Aber er muss voller
Verwirrung bald eingestehen, dass er einfach nicht vermag,
das Eine, was in allen Tugenden die Tugend ist, zu fassen.
Weil diese Frage im ganzen Dialog ungeklärt bleibt, muss
auch die letztlich gegebene Antwort auf die Frage nach der
Lehrbarkeit als zutiefst zweideutig gelten. Sie wird folgendermaßen dargelegt: Tugend ist nicht von Natur aus, sie ist
aber auch keine Erkenntnis und darum nicht lehrbar.
Gleichwohl kann es tugendhafte Menschen geben, denn es
bleibt noch eine weitere, bislang unbeachtete Alternative:
die „richtige Meinung“, die „für das Handeln nicht schlechter und auch nicht weniger nützlich als Erkenntnis ist.“.4
Sie unterscheidet sich durch etwas scheinbar Geringfügiges von Erkenntnis, dadurch nämlich, dass sie sich nicht
vernünftig begründen kann. Am Ende fasst Sokrates also,
freilich mit unüberhörbarer Skepsis, zusammen, „Tugend
sei weder von Natur aus noch könne sie gelehrt werden,
sondern durch göttliche Schickung fiele sie denen ohne Vernunft zu, denen sie zufällt“.5
Unter Menons Antwortversuchen scheint mir eine besonders bemerkenswert. Tugend sei, so definiert er dort, „wenn
man etwas Schönes [bzw. Gutes] begehre, es sich verschaffen zu können.“6 Die Prüfung dieses Satzes richtet sich zunächst nur darauf, was das heißt: etwas Gutes begehren
oder wollen. Gibt es denn etwa Menschen, die etwas
Schlechtes wollen? Wollen nicht alle Gutes? Nun, der Augenschein spricht dagegen, aber woran liegt es, dass manche Schlechtes wollen? Wollen sie das Schlechte nur, weil
sie glauben, dass es gut sei, so dass sie das Schlechte nur
wollen, weil sie nicht erkennen, dass es nicht etwas Gutes
ist? Und dann die Frage in ihrer größten Härte: Kann jemand das Schlechte wollen, wenn er weiß, dass es schlecht
ist? Aber dies hieße nichts anderes als einen Schaden erleiden und unglücklich sein zu wollen, und das ist einfach nicht
wahr: Niemand will unglücklich sein, alle wollen das Gute.
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Dass alle das Gute wollen, verhilft hier zwar nicht zu einer
Bestimmung der Tugend, denn Tugend ist ein qualifizierender Begriff, durch den gerade gutes und schlechtes Handeln unterschieden werden sollen. Aber en passant ist damit eine ebenso einfache wie tiefe Einsicht ausgesprochen:
das Bezogensein auf das Gute ist der unhintergehbare Grund
menschlicher Tätigkeit. Sofern der Mensch sich zu sich
verhalten und wählen kann, zieht er etwas einem Anderen
vor, und der Grund dieses Vorziehens liegt zuletzt in der
Auffassung, dieses sei besser als das Andere. Dass überhaupt das unendliche Leid und Grauen der Welt als empörend und veränderungsbedürftig empfunden werden kann,
beruht zuletzt auf der unvertilgbaren Präsenz der Beziehung auf das Gute, die sich in jeder menschlichen Tätigkeit manifestiert. Selbst bei Adorno, der in seinem Philosophieren wie kaum ein anderer „die reale Hölle aus dem
menschlich Bösen“7 vor Augen hatte, heißt es: „Erkenntnis
hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt
scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion
und bleibt ein Stück Technik.“8
Aristoteles hat seine ganze Nikomachische Ethik auf der
Einsicht in die Unhintergehbarkeit des Guten aufgebaut.
„Jede Technik und jede Erkenntnis“, so lautet ihr erster
Satz, „ebenso Praxis und Entschluss, scheint nach einem
Guten zu streben. Daher wurde treffend das Gute als dasjenige bezeichnet, nach dem alles strebt.“9 Nun gibt es entsprechend der Vielzahl menschlicher Tätigkeiten und Auffassungen viele verschiedene Ziele, für die charakteristisch
ist, dass sie etwas Gutes sind, aber doch nur wegen eines
anderen, höheren Guten angestrebt werden – Ziele, die ihrerseits an sich nur Mittel für andere Ziele sind. Unter dieser Voraussetzung fährt Aristoteles fort: „Wenn es nun ein
Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst willen wollen, das andere aber seinetwegen, und wenn wir nicht alles
wegen eines Anderen wählen – denn so ginge es ins Grenzenlose fort, so dass das Streben leer und sinnlos wäre –,
dann ist dieses Ziel das Gute und Beste.“10 Dieses höchste
Gut, das schlechthin vollendete Endziel alles menschlichen
Strebens und aller menschlicher Tätigkeit, ist das Glück;
denn von ihm können wir zu Recht sagen, „dass es immer
um seiner selbst willen gewählt wird und niemals wegen
eines anderen“.11 Als dieses vollendete Gute ist das Glück
zugleich hinreichend, denn es macht „für sich allein das
Leben begehrenswert und bedarf keines anderen“.12 Dabei
steht es für Aristoteles ganz außer Frage, dass diese Autarkie des guten und glücklichen Lebens nicht individualistisch zu verstehen, sondern auf den Menschen als von Natur
aus politisches Wesen zu beziehen ist.
In aller menschlichen Tätigkeit liegt also ein Wählen; in
allem Wählen erstreben wir das Gute und ziehen es dem
Schlechten vor; und allem Streben nach dem Guten liegt
41
das Streben nach Glück zugrunde - freilich nicht nach diesem oder jenem Glück, sondern nach diesem einzigartigen
Glück, das nicht mehr durch das Hinzutreten auch nur des
geringsten Gutes in höherem Maße begehrenswert würde.
Man missversteht die ganze Nikomachische Ethik, wenn
man von der Einzigartigkeit und Selbstzweckhaftigkeit ihres Grundbegriffs Glück abstrahiert. Nur indem Glück ein
oder der unhintergehbare Selbstzweck ist, nur in dieser präzisen Bestimmtheit kann von ihm her ethische Verbindlichkeit entfaltet werden.
Die konkrete Bedeutung dieses Guten kennzeichnet Aristoteles nun im Ausgang von der Frage nach dem spezifischen
Werk des Menschen. Gut ist das Auge, das seine spezifische Tätigkeit, das Sehen, gut verrichtet; gut ist der Schuster, der Schuhe gut herstellt. In diesem funktionalen, vormoralischen Sinn – das ist wichtig zu beachten – sprechen
die Griechen etwa von der arete, der „Tugend“, eines Messers; sie besteht einfach darin, gut zu schneiden. Das legt
sich schon sprachlich nahe, denn arete, Tugend, ist eine
Substantivbildung zu agathos, gut, und seinem Superlativ
aristos, und wäre ungefähr mit Gutsein, Tüchtigkeit, Vortrefflichkeit zu übersetzen. Auch das hochmoralisch aufgeladene deutsche Wort Tugend ist von taugen abgeleitet und
bedeutet eigentlich Tauglichkeit.
Gefragt ist also, um das menschliche Gute zu bestimmen,
nach dem spezifischen Werk des Menschen. Was den Menschen als Menschen auszeichnet und von allem anderen unterscheidet, ist die Tätigkeit der vernünftigen Seele, so dass
das spezifische Gutsein des Menschen in der guten Tätigkeit der vernünftigen Seele besteht. Daraus ergibt sich die
allgemeine Definition des menschlichen Guten: Es ist „die
Tätigkeit der Seele gemäß ihrer Tugend (Gutsein), und wenn
es mehrere Tugenden gibt, die der besten und vollendetsten
Tätigkeit“.13 Gerade weil Aristoteles in seiner Argumentation vom funktionalen Sinn des Guten ausgeht, wird umso
deutlicher, worauf es hier eigentlich ankommt: Die in jeder
menschlichen Tätigkeit manifeste Bestimmung des Menschen als Menschen besteht gerade darin, über die Funktionalität hinauszugehen und ein Leben zu führen, dessen Telos
selbstzweckhaft in ihm selbst liegt. Nach Glück zu streben,
bedeutet ein Leben zu führen, das bei sich selbst ist, indem
es seine spezifische, in seiner Natur liegende Tätigkeit so
gut wie möglich entfaltet; und das wiederum bedeutet: gemäß seiner vollkommensten Tugend zu leben.
Diesem Grundriss zufolge ergibt sich der allgemeine Begriff
der Tugend aus dem Streben nach dem autarken Selbstzweck
des Glücks, das jeder menschlichen Handlung zugrunde liegt
und das durch die vortreffliche Tätigkeit der vernünftigen Seele realisiert wird. Was die Tugend ist, kann nicht beantwortet
werden, wenn nicht klar ist, was den Menschen als Menschen
auszeichnet, und wenn nicht ein höchster Selbstzweck angegeben werden kann, auf den alle menschliche Tätigkeit bezogen ist. Den engeren Begriff der ethischen Tugenden gewinnt
Aristoteles nun, indem er innerhalb der vernünftigen Seele
ihren logoshaften Teil vom strebend-affektiven Teil unterscheidet, welcher letztere der Vernunft zwar widerstreitet, aber auch
ihr Folge leisten kann. „Zweifach ist die Logos habende Seele,
der eine Teil ist herrschend und hat den Logos in ihm selbst,
der andere hört auf ihn wie auf einen Vater.“14 Die ethischen
Tugenden sind die Vortrefflichkeiten dieses zweiten Seelen-
42
teils, in ihnen manifestiert sich, wie die menschliche Vernunft
am besten mit den Affekten umgeht; und eine ethische Tugend
kann nur die sein, in der sich der Selbstzweck autarken Glücks
realisiert.
Anders als die Verstandestugenden beruhen die ethischen
nicht auf Belehrung, sondern auf Gewöhnung. Dass der
äthos, der sittliche Charakter, aus dem ethos, dem Verhalten, entspringt, meint etwa: durch gerechtes Handeln werden wir gerecht, erhalten wir den Habitus der Gerechtigkeit, der uns umgekehrt gerecht handeln lässt und der nur
dadurch ein Habitus bleibt, dass wir tatsächlich gerecht
handeln. Gerecht sind wir nicht von Natur aus, aber auch
nicht gegen die Natur, sondern „natürlicherweise haben wir
die Anlage, die Tugenden aufzunehmen, und wir verwirklichen dieses Vermögen durch Gewöhnung.“15 Speziell richten sich die ethischen Tugenden darauf, hinsichtlich der
menschlichen Affekte die rechte Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig zum richtigen Handeln zu finden. Der
Mut z. B. ist die ethische Tugend, die sich auf den Affekt
der Furcht bezieht. Haben wir zuviel Furcht und handeln
dementsprechend, werden wir feige; haben wir zuwenig,
werden wir tollkühn. Furcht zu haben ist natürlich und unterliegt keinem Urteil; aber wie wir uns zu unserer Furcht
verhalten, wie wir es situationsgemäß verstehen, unserer
Furcht ihr Recht zu geben, aber auch sie zu überwinden,
wie wir also die Mitte des Muts finden, macht unsere ethische Vortrefflichkeit aus.
Für das Verständnis dieser Konzeption ist es nun entscheidend, dass die Mitte weder im quantitativen Kompromiss
von Feigheit und Tollkühnheit besteht noch in mittelstarken Affekten. Aristoteles kennzeichnet sie vielmehr als ein
Erstes und Höchstes, das sich qualitativ von den Extremen
unterscheidet. Es gibt nur eine einzige Mitte, die asymmetrisch zwischen den Extremen liegt und kein Übermaß kennt,
während es umgekehrt für die Extreme keine Mitte gibt.
Die Mitte resultiert nicht aus den Extremen, sondern die
Extreme bezeichnen die entgegengesetzten Formen, in denen die Mitte verfehlt wird. Als gut bezeichnen wir daher
jemanden, weil er im handelnden Umgang mit seinen Affekten die rechte Mitte zu finden weiß und so das der jeweiligen Sache Angemessene tut.
Das menschliche Gute und Glückhafte, so hatte Aristoteles
allgemein definiert, ist die der Tugend, ihrer Vortrefflichkeit gemäße Tätigkeit der Seele. Was die ethischen Tugenden betrifft, so zeigt sich hier, dass das Treffen der Mitte
eben jene beste Verfassung der Seele bezeichnet. Weil sich
im tugendgemäßen Handeln die Seele in ihrer Bestform realisiert, ist solches Handeln, wie Aristoteles heraushebt, als
solches schon für den Handelnden lustvoll. „Nicht bedarf
sein Leben der Lust wie einer äußeren Zugabe, sondern es
hat die Lust in ihm selbst. Jemand ist nicht gut, der sich an
den guten Handlungen nicht freut“, und geradezu als ein
notwendiges Kennzeichen des sittlich guten Charakter gilt
„die mit den Werken verbundene Lust oder Unlust“.16 Der
ethisch vortreffliche Mensch, der, welcher die rechte Mitte
zu treffen weiß, verwirklicht die Natur der vernünftigen Seele am besten; er ist der exemplarische Mensch, und dies zu
sein, bedeutet auf menschliche Weise glücklich zu sein. Ethische Menschen sind wir, so scheint Aristoteles zu sagen, indem wir streben, uns aus unseren Partikularitäten zu befrei-
'bb' 93-3/2000
en und unseren Charakter zu einem allgemeinen zu machen.
Freilich kommt noch etwas hinzu, denn das bisher Dargelegte betrifft nur die natürliche Tugend, die wir von Geburt
an ausbilden (oder auch nicht). Damit diese natürliche Tugend zur eigenlich menschlichen wird, muss die phronesis,
die Klugheit oder sittliche Urteilskraft hinzutreten. Sie hat
zunächst instrumentelle Bedeutung, indem sie als diejenige Verstandestugend gilt, die ein „richtig überlegender vernünftiger Habitus des Handelns ist in Dingen, die das
menschliche Gute betreffen“, und zwar bezogen auf das
ganze Leben.17 Aber die phronesis ist noch mehr als diese
instrumentelle Vernunft, die das Realisieren der menschlichen Zwecke anleitet. Ethisch vortrefflich ist nämlich nicht
schon der, der natürlicher- oder zufälligerweise in seinem
Handeln das Rechte trifft. Vielmehr sagt Aristoteles, „dass
es nicht möglich ist, ohne Klugheit im eigentlichen Sinne
sittlich gut zu sein, und auch nicht, ohne sittliche Tugend
klug zu sein.“18 Die Cleverness wird also erst in der Beziehung auf die sittlichen Ziele zur Klugheit. Aber auch umgekehrt sprechen wir jemandem erst dann einen sittlichen
Charakter zu, wenn er Klugheit aufweist. Dann erst erfüllt
der Handelnde den vollständigen Begriff ethischer Tugend,
wenn er, bezogen auf das ganze Leben, „erstens wissentlich, zweitens aufgrund einer Entscheidung, die er um der
Handlung selbst willen trifft, und drittens beständig und
ohne Schwanken handelt.“19 Dieser voll entwickelte Begriff
ethischer Tugend fällt nun ziemlich genau mit dem zusammen, was Aristoteles Praxis überhaupt nennt. Im Unterschied
zur techne bzw. poeiesis, die ihr Ziel in einem durch die
Tätigkeit hervorgebrachten Werk haben, liegt das Ziel der
praxis in der Tätigkeit selbst. Damit hat Aristoteles eindrucksvoll begründet, warum ethisches Handeln in sich
selbst lustvoll ist: wer gemäß der ethischen Tugend und als
exemplarischer Mensch handelt, für den liegt das Ziel des
Handelns im Handeln selbst; er lebt gemäß der menschlichen Bestimmung zum Glück, zu dessen Selbstzweckhaftigkeit und Autarkie, jedenfalls soweit das kontingente
Feld des menschlichen Handelns dies zulässt. In dieser entschieden politisch gedachten Verbindung zwischen Glück,
das sich kritisch gegen jede funktionale Bestimmung des
Menschen als Menschen (auch noch des menschlichen
Glücks) wendet, und ethischer Tugend, in der der Einzelne
als exemplarischer Mensch selbstzweckhaft handelt, scheint
mir das tiefe und überaus berührende Motiv der aristotelischen Ethik zu liegen. Oder ganz einfach gesagt: Aristoteles zeigt, wie erfreulich und menschlich es ist, ein tugendhafter Mensch zu sein.
Alasdair MacIntyre, auf dessen Buch After Virtue das wiedererwachte Interesse an Tugendethik hauptsächlich zurückgeht, hat Aristoteles gegen die modernen universalistischen
Autonomie- und Regelethiken ausgespielt. Seiner Auffassung zufolge konzipiert Aristoteles einen funktionalen Begriff des Guten, der es ihm erlaube, das menschliche Ethos
als soziale Rolle innerhalb einer gegebenen Polis und ihrer
Traditionen auszulegen.20 Die Begründung der Moral durch
die Autonomie in der Moderne dagegen sei nicht nur theoretisch gescheitert, sondern habe auch gesellschaftlich zum
Verlust aller substanziellen sittlichen Verhältnisse und Traditionen geführt. Meiner Ansicht nach trifft diese Interpretation nicht zu, sie verkehrt das aristotelische Denken. Ari-
'bb' 93-3/2000
stoteles fragt nach dem Guten für den Menschen als Menschen, und die Antwort Glück meint gegen alles funktionale Gute gerade den einen universalen Selbstzweck, auf den
hin die Polis sich und ihre Traditionen gestalten soll.21 Was
umgekehrt Kant betrifft, der als Hauptvertreter der schlechten universalistischen Moderne angeführt wird, so übersieht
MacIntyre, wie viele andere Kant-Interpreten, dass seine
Ethik nicht nur den kategorischen Imperativ, sondern ebenso
das Gefühl der Achtung enthält. Die Achtung für das Sittengesetz ist „nicht Triebfeder zur Sittlichkeit, sondern ist
die Sittlichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet,
indem die reine praktische Vernunft dadurch, dass sie der
Selbstliebe, im Gegensatze mit ihr, alle Ansprüche abschlägt,
dem Gesetze, das jetzt allein Einfluss hat, Ansehen verschafft.“22 Achtung bezeichnet das Dasein des universalen
Vernunftgesetzes im sinnlichen Subjekt, oder sie ist umgekehrt dasjenige Gefühl, in dem ich mich als einzelne,
kontingente Person meiner reinen Persönlichkeit unterworfen weiß. Genau an diesem systematischen Ort setzt dann
auch Kants Tugendethik ein. „Tugend ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht“, oder auch der Habitus „in freien gesetzmäßigen Handlungen“, der darin besteht, „sich durch die Vorstellung des Gesetzes im Handeln zu bestimmen“. Was für
unser Empfinden vielleicht abstoßend rigoros klingen mag,
hat für Kant gerade mit Glück zu tun: „Der denkende
Mensch nämlich, wenn er [...] seine, oft sauere, Pflicht getan zu haben sich bewusst ist, findet sich in einem Zustande
der Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl Glückseligkeit nennen kann; in welchem die Tugend ihr eigener
Lohn ist.“23 Wie im aristotelischen Zusammenhang zwischen
dem universalen Glückstelos und seiner Verwirklichung in
den besonderen ethischen Tugenden geht es auch in Kants
Tugendlehre um die Realisierung des allgemeinen Moralprinzips in der besonderen Natur des Menschen.24 Tugend
bezeichnet auch hier die elementare Form menschlicher
Selbstgestaltung, durch die wir uns um unserer selbst willen unserem universalen Selbstzweck angemessen machen.
Obwohl MacIntyres historische Begründung also falsch und
sein Vorschlag der „Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft“,25 in denen Tugenden neuerdings zu verorten wären, ziemlich fragwürdig zu sein scheint, kann man an dem
seinem Buch zugrundeliegenden Unbehagen schwerlich vorbeisehen. Ich meine damit nicht so sehr die unbestreitbaren
Vorzüge der Tugendethik gegenüber hochabstrakten modernen Regelethiken. Diese lassen nicht selten vergessen, dass
Handeln eine Sache von einzelnen Subjekten ist und dass
es, wie Aristoteles hervorgehoben hat, „in den Handlungen
um das Einzelne geht“.26 Fürs Einzelne, das sich auch anders verhalten kann, gibt es keine allgemeinen Regeln, und
wegen dieser unaufhebbaren Unbestimmtheit der Praxis bedarf es kompetente, eben tugendhafte Handelnde. Wichtiger ist aber in meinen Augen das von MacIntyre aufgeworfene Problem, warum Tugend tatsächlich in der Moderne
zu einem Begriff geworden ist, dessen Gebrauch im besten
Fall ein Lächeln über das Gutgemeinte hervorruft. Ganz
abstrakt gesagt, ist es wohl so, dass jene Verbindung von
universalem ethischen Prinzip und seiner Besonderung in
den ethischen Tugenden, die bei Aristoteles wie bei Kant
konstitutiv ist, sich aufgelöst hat.
43
Bei Hegel heißt es: „Das Sittliche, insofern es sich an dem
individuellen durch die Natur bestimmten Charakter als solchem reflektiert, ist die Tugend, die, insofern sie nichts zeigt
als die einfache Angemessenheit des Individuums an die
Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört, Rechtschaffenheit ist.“ Er fügt hinzu, „wenn man heutzutage nicht so
viel von Tugend spricht als sonst, so hat dies seinen Grund
darin, dass die Sittlichkeit nicht mehr so sehr die Form eines besonderen Individuums ist.“ Dieser klare Blick in die
moderne bürgerliche Gesellschaft, die nur noch in geringem Maße vom individuellen Handeln getragen wird, bedeutet für Hegel aber wesentlich, dass „derselbe Inhalt“ der
substanziellen Sittlichkeit nur eine andere Form erhalten
hat, „die Form der Allgemeinheit“.27 Ein ganz anderer Ton
wird dagegen hörbar, wenn Nietzsche die Genealogie der
Tugend aus einem rechtlosen Gewaltakt darstellt: „Es kann
erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht
werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein CollectivIndividuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die
Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht
der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang,
dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird
sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe
Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft – und heißt nun Tugend.“28
Verblüffend an dieser wie auch immer zutreffenden Genealogie ist die Deutung, dass Tugend so etwas wie eine Sublimierung bedeutet, durch welche die Einzelnen die Gewalttat ihrer Vergesellschaftung vergessen können. Tugend ist
nichts anderes als der internalisierte und zur zweiten Natur
oder zur Ideologie gewordene Zwang. Damit lässt sich Nietzsches Genealogie als Symptom für ein grundlegendes und
immer wieder umgewendetes Problem der Moderne lesen:
für den Zwangscharakter von Allgemeinheit und Identität,
der alles Differente und Heterogene in sich aufsaugt, um
seine Produktivität zu steigern. Tugend als Form der
Verselbstung, des exemplarischen Menschen, der Realisierung eines universalen Prinzips, erhält in dem Augenblick
das Aussehen von etwas Rückständigem, in dem angesichts
der Gewalt der Totaltitäten der dissidente und exzentrische
Einzelne zum ‘Pardigma’ eines möglichen gelingenden
Lebens werden muss.
Das Bemühen um eine Tugendethik, die nicht eine politisch harmlose Individualethik sein will, sollte gegenüber
dieser Gewalt der Totalitäten nicht blind sein. In seinem
Buch „Totaltität und Unendlichkeit“ hat Lévinas der tödlichen Macht des Könnens, der Freiheit, der Identifikation
des Selben, entgegengehalten: „Diese Infragestellung meiner Spontaneität durch die Gegenwart des Anderen heißt
Ethik.“29 Die Gegenwart des Anderen als Anderen, die nicht
durch eine Form von Selbstheit angeeignet wird, bedeutet,
seine radikale Exteriorität und Transzendenz zu bewahren.
Die Beziehung des Selben und des Anderen darf daher nicht
in eine Form des Ganzen aufgelöst werden. „Dies ereignet
sich positiv als Besitz einer Welt, die ich dem Anderen als
Gabe überreichen kann; d.h. dies ereignet sich als Gegenwart vor seinem Antlitz.“30 Dieser Gedanke des Anderen
und der Gabe macht es zumindest fraglich, ob der Tugend-
begriff nicht dazu tendiert, eine derartige Ethik des Fremden zu nivellieren.
Andererseits kann man sich fragen, welche Erfahrungen
der Gegenwart das Anliegen einer Tugendethik wenig aussichtsreich machen. Der ethische Charakter entsteht durch
ethos, heißt es bei Aristoteles, er ist ein Habitus, die richtige Mitte zu treffen und das Gute, bezogen auf das ganze
Leben, zu erreichen. Dagegen finden wir uns in einer Situation, in der die Voraussetzungen für eine solche Konzeption vollständig zu fehlen scheinen. Das Zerbrechen der
Familien, der Verlust der Traditionen, die Zeitlichkeit von
Videoclips, das Schwinden leibhafter Begegnungen im Zeitalter der Medialisierung, das Entbehrlichwerden des Menschen durch seine technische Herstellbarkeit, die Gewalt
einer hungrigen Ökonomie, die unter dem Diktat gewissermaßen selbstweckhaft wachsender Produktivitätssteigerung
steht, der Terror des Neuen und des Spektakels – das ist
beinahe eine Welt, in der die Heimatlosigkeit und Heterogenität zum Normalfall geworden ist. Dagegen bedeutet
ethos ursprünglich den gewohnten Ort, das menschliche
Wohnen. Trifft diese Beschreibung zu, dann ergibt sich die
merkwürdige Situation, dass die aristotelisch-kantische
Konzeption der Tugend zu einer kritisch-politischen Instanz
wird – zu einer Instanz nämlich, die gegen die rastlose Herstellbarkeit von allem die Verbindlichkeit eines selbstzweckhaften glücklichen Handelns geltend zu machen wagt.
Bemerkungen
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30
44
Platon: Menon 70a
a. a. O. 71b
a. a. O. 71e-72a
a. a. O. 98c
a. a. O 99e
a. a. O. 77b
Th. W. Adorno: Negative Dialektik (1966). Frankfurt 61990, 354
Th. W. Adorno: Minima Moralia (1951). Frankfurt 1981, 333
Aristoteles: Nikomachische Ethik I 1, 1094a1
a. a. O. 1094a18
a. a. O. I 5, 1097a33
a. a. O. 1097b14
a. a. O. I 6, 1098a16
a. a. O. I 13, 1103a2
a. a. O. II 1, 1103a25
a. a. O. I 9, 1099a15; II 2, 1104b3
a. a. O. VI 5, 1140b20
a. a. O. VI 13, 1144b31
a. a. O. II 3, 1104a31
A. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise
der Gegenwart (1981). Frankfurt/New York 1987, 84f.
Zu einer eingehenden Kritik an MacIntyre vgl. E. Tugendhat:
Vorlesungen über Ethik. Frankfurt 1993, 208ff.
I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788), A 134
I. Kant: Metaphysik der Sitten (1797), Tugendlehre, A 46; A 49;
A VIIf.
Eine breitere Darstellung der Konvergenzen zwischen aristotelischer und kantscher Ethik findet sich bei O. Höffe: Ausblick:
Aristoteles oder Kant – wider eine plane Alternative. In: O. Höffe
(Hg.): Aristoteles: Die Nikomachische Ethik (Klassiker Auslegen; Bd. 2). Berlin 1995, 277-303
A. MacIntyre, a. a. O. [Anm. 20], 350
Aristoteles: Nikomachische Ethik II 7, 1107a31
G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821),
§ 150
F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (1878) I 2, §99
E. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit (1961). Freiburg/München 1987, 51
a. a. O. 63
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fachbeitrag: werte und normen oder:
wie können verhaltensleitlinien heute
begründet werden?
- zur begründung sozialen lernens manfred bönsch
Das Problem
-
Eine der größten Untersicherheiten für alle, die in das Geschäft der Erziehung verwickelt sind, besteht heute darin,
nicht mehr zu wissen, zu was erzogen werden soll. In einer
Zeit, in der religiöse oder andere weltanschauliche Normensysteme nicht mehr ungebrochen gelten, in der man zwischen Autorität und antiautoritärer Erziehung hin- und herschwankt, in der Pluralismus scheinbar alle Orientierung
in Frage stellt, ist die Desorientierung massiv. Und trotzdem ist Tag für Tag das Bemühen notwendig, für humane
und gerechte Verhältnisse einzutreten. Aber wo könnten
allseits akzeptierbare Verhaltensnormen herkommen? Die
Gefahr eines Laisser-faire oder ungebrochen autoritärer Verhältnisse ist immer dann besonders groß, wenn ein Normenhorizont im Nebel liegt. Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, für die alltägliche Beziehungsarbeit einen
Begründungsrahmen zu entwickeln, der unabhängig von
gruppen- oder milieu-spezifischen Normen und Werten
(Konfessionen u.a.m.) gelten können müsste.
-
Die Setzungen
Wenn man von religiösen und weltanschaulichen Gesellschaftskonzepten absehen will -und das scheint in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen geboten -, gibt es zwei Setzungen
für ein Konzept sozialen und individuellen Verhaltens:
Die Setzungen für soziales und
individuelles Verhalten
a.) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948
Die wichtigsten Aussagen
-
-
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten
geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Jeder Mensch hat das Recht auf freie Meinungsäußerung, hat
Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.
Jeder Mensch hat ein Recht auf soziale Sicherheit und Bildung.
Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in
der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit
möglich ist.
b.) Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland,
rechtskräftig verkündet am 23.05.1949
Die wichtigsten Aussagen
-
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
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-
Jeder Mensch hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt.
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Männer und Frauen sind gleichberechtigt.
Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des
religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
Jeder hat das Recht auf Meinungsäußerung und Unterrichtung
aus allgemein zugänglichen Quellen.
c.) Das niedersächsische Schulgesetz m der Fassung
vom 27.9.1993
Die wichtigsten Aussagen
(§2: Bildungsauftrag)
Die Schüler sollen fähig werden
Die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden
zu lassen,
nach ethischen Grundsätzen zu handeln,
ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz zu gestalten,
Konflikte vernunftgemäß zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen,
sich Informationen zu verschaffen und sich ihrer kritisch zu
bedienen.
Wenn man die erzieherisch besonders relevanten Implikate
dieser Setzungen herausdestilliert, kann man folgende
Struktur entwickeln und beschreiben:
Gesellschaftliche Normen
-
Gleichheit
Freiheit
Brüderlichkeit
Sicherheit
Bildung
Recht, aber auch Pflichten
Verantwortung
Verhaltenserwartungen (Rechte und Pflichten)
-
Freie individuelle Entfaltung bei Sicherung dieser für jeden anderen auch
Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz in den Beziehungen zu anderen
Vernunftgemäße Lösung von Konflikten zur Sicherung der Normen
Personenrechte
-
Die Würde des Menschen ist unantastbar
Das Recht auf freie Entfaltung, soweit nicht andere beeinträchtigt werden
Freiheit des Glaubens, des Gewissens, des Bekenntnisses
Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsbeschaffung
Die maßgeblichen Aussagen zielen auf eine demokratische
und soziale Gesellschaft, die aus Individuen mit hohen Individualrechten besteht. Diese werden immer nur zu halten oder zu erringen sein, wenn die Verpflichtung aller auf
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die Grundwerte gesichert werden kann. Dies schafft eine
Dialektik, die allgemeine Verhältnisse der wünschenswerten Art nur gelingen lassen wird, wenn möglichst viele, im
besten Fall alle, sich an den Normen orientieren und durch
ihr Verhalten einen Beitrag zur Erringung und Sicherung
der Normen leisten. Die Individualrechte haben nur Bestand
in entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen, und diese werden nur bestehen bei äquivalentem Verhalten der Individuen (Verhältnisse und Verhalten bedingen sich).
Anders gesagt: Hohe Ansprüche verlangen ein anspruchsvolles Verhalten. Eine Ansammlung von Egoismen würde
die sozialen Implikationen vernachlässigen. Eine demokratische und humane Gesellschaft entsteht aber auch nicht
durch desinteressiertes, passives Verhalten. Damit ist die
Bedeutung sozialen Verhaltens als gesellschaftlich-politisches deutlich ausgedrückt.
Das Menschenbild aus erziehungstheoretischer Sicht
Das in den genannten Setzungen enthaltene Menschenbild
(anthropologische Grundannahmen) ist für den Referenzrahmen „Erziehung“ folgendermaßen zu beschreiben:
• Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. D.h., dass nicht erst Erziehung zu Humanität und vollem Menschsein führt, sondern diese Voraussetzung für Erziehung sind. Das im Verständnis der Schule heute noch steckende Anstaltsrecht, wonach Schülerinnen einen Status minor haben, kollidiert mit diesem
Grundansatz. Die Würde des Menschen ist unantastbar,
dies gilt uneingeschränkt für den Schüler/die Schülerin.
Sehr konkret heißt dies z.B., dass Bloßstellen und Blamieren vor der Klasse nicht legitimierbar sind, weil sie
allemal die Würde einer Person verletzen. Selbstverständlich gilt dies für jeden (SchülerInnen, LehrerInnen,
HausmeisterInnen, RaumpflegerInnen u.a.m.).
• Alle Menschen sind mit Vernunft und Gewissen begabt.
Dies mag der eine oder andere für bestimmte Altersstufen in Frage stellen. Erziehungstheoretisch bedeutet dieser Satz, dass die Vorstellung, Erzieherinnen könnten
bis zum Erreichen eines Vernunftstatus stellvertretend
die Normen und Werte vergeben, nicht haltbar ist. So
früh wie möglich ist notwendigerweise über Beziehungsarbeit und Vertragsdenken das an Regeln, Normen und Verabredungen auszuhandeln, was die Modi
des brüderlichen/schwesterlichen Umgangs sind. Und
die Verantwortung für die Formulierung und Handhabung liegt damit auch sehr früh auf beiden Seiten.
• Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Dieser Satz
hat für alle institutionalisierten Beziehungsverhältnisse
die praktische Folge, dass aufgestellte Normen, Regeln,
Anforderungen immer für beide Seiten solcher Verhältnisse gelten, also reversibel sein müssen. Höflichkeit gilt
für beide Seiten, Pünktlichkeit auch. Anforderungen
werden nur überzeugend sein, wenn sie von beiden Seiten gelebt und repräsentiert werden. Und nur so ist auch
die Einklagbarkeit möglich. Wenn jemand unter Ungerechtigkeit leidet und ihre Aufhebung fordert, hat er die
Legitimation nur in entsprechend eigenem Verhalten.
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•
Das Recht auf freie Meinungsäußerung, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit wird sich nur durchhalten lassen, wenn jeweils mit dem Äquivalent auf der
anderen Seite zu rechnen ist und wenn gleichzeitig das
Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit berücksichtigt bleibt. Schrankenloser Egoismus oder rechthaberische Ideologie sind damit aufgehoben und zu ersetzen
durch verantwortliche - und das heißt immer dem anderen gegenüber verantwortbare - Einstellungen und
Handlungen.
In der Summe ist in den Setzungen der Menschenrechte,
des Grundgesetzes und des niedersächsischen Schulgesetzes ein Menschenbild impliziert, das eine hohe Meinung
vom Menschen hat, ein großes Vertrauen in ihn setzt und
Ansprüche an das Zusammenleben formuliert, die eine neue
Erziehung, verstanden als ein zentraler Auftrag an Beziehungsarbeit, fordert. Autoritäres Gehabe, Laisser-faire sind
nicht die Orientierungspunkte, sondern kommunikative
Ethik ist der archimedische Punkt, der Ziel und gleichzeitig
den Weg angibt.
Die materiellen Surrogate oder:
Lebensbedingungen können dagegen stehen
Es wäre illusionäre Pädagogik, wollte man nur die Postulate markieren, ohne auf die realen Bedingungen einzugehen. Wenn Menschen in Verhältnissen leben, die nichts oder
nur wenig von den Implikaten beinhalten (Armut, Arbeitslosigkeit, tägliche seelische Not, Unterdrückung, Not, Hunger u.a.m.), verliert der pädagogische Impetus schnell seine Glaubwürdigkeit. Die vorstehenden Ausführungen verlangen daher gesellschaftliche Verhältnisse, die in etwa an
den Ansprüchen an die Menschen orientiert sind. Und hier
liegt zweifellos ein großes Problem. Wenn Gesellschaftspolitik und Erziehungsanspruch auseinanderfällen, entsteht
ein irreparabler Bruch. Wer ständig Hunger hat, wird schwer
auf Rücksichtnahme zu verpflichten sein. Wer Ungerechtigkeiten ständig erlebt, wird schwer auf Gerechtigkeit zu
verpflichten sein. Wer den Menschen als Wolf erlebt, wird
nur schwer zum Lamm werden.
Der alte Satz von Marx „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ hat nach wie vor eine elementare Bedeutung. Die Verhältnisse müssen einem Individuum es auch ermöglichen,
human, gerecht, brüderlich/schwesterlich zu sein. Tun sie
dies nicht, werden Menschen an den Verhältnissen scheitern. Die Nahtstelle von Pädagogik und Politik ist damit
markiert. Angesichts der aktuellen Diskussion über Rechtsradikalismus und Gewalt und angesichts sich verschlechternder Lebensbedingungen für viele muss man feststellen,
dass Erziehung/Erziehungsarbeit immer nur so viele Chancen hat, wie eine Gesellschaft sie ihr gibt!
Die Umsetzungen
Die Frage ist dann aber doch, wie sich die Setzungen in
praktizierbare Verhaltensnormen umsetzen lassen. Es wird
dabei in absteigender Linie nach sozialen Tugenden, Spielregeln, Umgangsqualitäten, Kooperationskompetenzen,
strategischen Verhalten und sozialen Vereinbarungen unterschieden.
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1. Soziale Tugenden
Tugend, lat. virtus, meinte ursprünglich Tauglichkeit oder
Tüchtigkeit. Da diese bei Menschen meist auch sittliche
Haltungen voraussetzt, nahm das Wort mehr und mehr diese Bedeutung an. Heute meint der Begriff überwiegend sittliche Einstellungen. Wenn man den vorstehend entwickelten Begründungsrahmen anerkennt, kann man auf die häufig gebrauchte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Tugenden verzichten. Soziale Tugenden sind dann
Verhaltensorientierungen, die den Umgang mit Anderen bestimmen sollen. Man kann wohl folgende soziale Tugenden nennen:
1.1 Achtung vor dem Anderen
Die Grundtugend ist die Achtung vor dem Anderen. Sie
hält an, die Würde eines anderen Menschen unabhängig
von Alter, Geschlecht, Religion, Erscheinungsbild, sozialer Herkunft, evtl. Behinderung und konkretem Verhalten,
das defizitär erscheinen mag, zu achten und das eigene Verhalten danach auszurichten. Sehr konkret wirkt sich dies
gegenüber vermeintlich oder tatsächlich Schwächeren aus.
Missachtung, Geringschätzung, Abwertung, Vernachlässigung, Bloßstellung, Blamieren sind Verhaltensweisen, die
sich bei Beachtung dieser Tugend verbieten. Jeder Mensch
verdient als Mensch vorurteilsfrei Respekt und Achtung,
auch wenn er sich unmittelbar vielleicht so verhält, das man
zu Ablehnung oder gar Missachtung tendiert. Gerade in
solchen kritischen Situationen schlägt sich diese soziale
Tugend in der Art der Reaktion, der Sprache, der Gegenargumentation und in der Ablehnung einer als negativ anzusehenden Position nieder. In jedem wird gewissermaßen
ein Kern von Menschlichkeit angenommen, der zu Achtung zwingt. Das Vorvertrauen in diese unverlierbare Würde und Einzigartigkeit hat im übrigen häufig die Wirkung
einer bezwingenden Freundlichkeit, die das vielleicht zunächst nicht Sichtbare hervorlockt und damit auch beim
Gegenüber wach wird.
In den Beziehungen zwischen Älteren und Jüngeren, Qualifizierteren und weniger Qualifizierten, Stärkeren und
Schwächeren, Eloquenteren und weniger Eloquenten wird
diese Tugend besonders wichtig, weil nur sie die Echtheit
einer Beziehung sichert. Man kann dann von Statusvorteilen
absehen (Titel, Ämter u.a.m.), um sich unverstellt zwischenmenschlich zu verhalten.
1.2 Gerechtigkeit
Gerechtigkeit wird in der christlichen Ethik dreifach beschrieben: als eine die Rechte und Pflichten der einzelnen
gegeneinander ausgleichende Gerechtigkeit (justitia
commutativa), als eine die Rechte und Pflichten gegenüber
der Gemeinschaft festlegende oder „austeilende“ Gerechtigkeit (justitia distributativa), als eine alle einzelner der
Gemeinschaft verpflichtende oder ‘gesetzliche’ Gerechtigkeit (justitia legalis). Damit sind die drei Aspekte gegeben,
die das Zusammenleben bestimmen sollten:
Soziale Verhältnisse, speziell schulische Verhältnisse, müssen tendenziell darauf abgestellt sein, dass Rechte und
Pflichten gerecht, d.h. gleichmäßig verteilt sind, dass Gleichbehandlung besteht, dass Normen und Regeln bestehen, die
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gegenüber jedem einzelnen gleich sind, dass alle sich an
bestehenden gerechten Regeln und Verhaltensweisen orientieren.
Für die Schule hat dies sehr praktische Konsequenzen. In
der Leistungsbeurteilung z.B. bedeutet Gerechtigkeit, dass
im vorhinein festgelegte Kriterien und Prozeduren bekannt
sind und für alle gleich angewendet werden. Die bekannten
Befunde deuten immer wieder daraufhin, dass dies häufig
nicht der Fall ist. Im Alltag bedeutet Gerechtigkeit, dass
unabhängig vom Geschlecht und Herkommen Regelverstöße
gleich behandelt werden, dass sich Lehrer/-innen auch an
die Rechte und Pflichten halten, die Schüler/-innen aufgetragen sind. Wenn Pünktlichkeit gilt, gilt sie für beide Seiten. Wenn Höflichkeit gilt, gilt sie für beide Seiten. Wenn
unterschiedliche Voraussetzungen für die Erbringung von
Leistungen bestehen, ist es nur gerecht, diese entsprechend
zu würdigen.
1.3 Fairness
Sich fair zu verhalten, meint ehrlich, anständig, unparteiisch zu sein. Diese soziale Tugend schließt unmittelbar an
Gerechtigkeit an. Ehrlich, anständig und unparteiisch zu
sein, meint Gleichbehandlung gegenüber jeder Person, meint
Ehrlichkeit, also Motive und Taten zuzugeben, meint Unparteilichkeit in der Würdigung und ggf. Sanktionierung
von Verhaltensweisen. Auch hier ist wieder ein dreifacher
Aspekt festzuhalten.
Fairness kennzeichnet zunächst einmal das Verhalten jedes
Einzelnen. Er steht ehrlich zu seinem Verhalten, gibt
Fehlverhaltensweisen zu. Fairness kennzeichnet Interaktionen. Nicht Verschlagenheit, Vorteilssuche, Ellenbogenverhalten sind die Norm, sondern die Orientierung an Regeln, die jedem gleiche Chancen sichern, die den Anderen
achten, die ihn nicht verletzten wollen, die Benachteiligungen benennbar machen, die den eigenen Vorteil nur soweit
zulassen, wie er Vorteile auch für jeden anderen sichert.
Fairness zeigt sich schließlich in der Einschätzung von Verhaltensweisen. Motiv, Verhalten und Ergebnis können
differenzierend auseinandergehalten werden. Regelverstöße
können fair gegenüber dem Regelverletzer geahndet werden. Rache und Vergeltung sind nicht die herrschenden Maximen. Eine Entschuldigung kann ausgesprochen und angenommen werden.
1.4 Disziplin
Disziplin wird häufig als äußere Zucht, Ordnung besonders
von Körperschaften wie Schule, Militär, Beamtentum u.a.m.
verstanden. Sie ist dann ein durch Hierarchie und Fremdbestimmung gekennzeichnetes Ordnungsmittel. Dies hat sie
auch in den Geruch des Fragwürdigen gebracht. Disziplin
ist aber immer auch als innere Zucht, besser als Selbstdisziplin, als freie sittliche Leistung verstanden worden. In diesem Sinn ist sie für befriedigende und befreiende zwischenmenschliche Verhältnisse eine unerlässliche soziale Tugend.
Sie meint dann die Fähigkeit jedes einzelnen, bestehende
Normen, Regeln und Verabredungen zu achten und einzuhalten. Sie meint dann die gemeinsame Arbeit an verabredeten bzw. aufzustellenden Verhaltensorientierungen und
die gemeinsame Bemühung um Einhaltung und Wahrung.
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Regeln und Verabredungen sind veränderbar, solange sie
gelten, sind sie zu beachten. Und es bedarf immer wieder
große Mühe, eigene Trägheit, Sorglosigkeit, Nachlässigkeit
zu überwinden, um interaktionelle Standards einzuhalten.
Disziplinarbeit, Selbstdisziplinierung sind ständige Aufgaben, um für sich und Andere befriedigende Verhältnisse zu
schaffen. Die kleine Vorteilssuche, die bequemere Regelverletzung sind häufig verlockender und kurzfristig günstiger, so dass der Verzicht auf den eigenen Vorteil immer wieder schwer ist. Disziplin bedeutet dann Einschränkung,
Selbstverpflichtung gegen Verlockungen, eigene Emotionen,
Bezähmung des u.U. stark entwickelten Egoismus.
1.5 Hilfsbereitschaft
Die freie Entfaltung des Individuums steht immer in einer
dialektischen Beziehung zu Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit. Wenn gesellschaftliche Verhältnisse nicht bloß ein
einigermaßen ausgeklügeltes System von Egoismen sein
sollen, ist die Orientierung am Anderen immer sofort mitzudenken. In einer Gesellschaft, in der Konkurrenz, Ellenbogenverhalten, Narzismen verbreitet sind, kann Selbstbestimmung, ein an sich hohes Gut, nur in einer Art Sozialbindung bestimmt werden. Dies bedeutet, eine soziale Tugend ‘Hilfsbereitschaft’ zu formulieren. Sie meint, die ständige Bereitschaft, dem Schwächeren, Benachteiligten,
Belasteteren in seinen Bedrängnissen zu helfen; bereit zu
sein, von den eigenen Ressourcen etwas abzugeben. Hat ein
Mitschüler ein Problem, kann man versuchen, ihm zu helfen. Kommt er bei einer Aufgabe nicht weiter, löst man sie
mit ihm. Hat ein(e) Lehrer/-in eine Auseinandersetzung mit
einem Anderen, kann man versuchen zu vermitteln. Die
Caritas (lat. Liebe) im Sinn der praktischen Nächstenliebe
ist hier gemeint als Grundverhaltensweise, Auge und Ohr
für den Anderen zu haben und sich auf seine Nöte einzulassen, wenn er Kummer hat, wenn er Misserfolg hat, wenn er
benachteiligt ist, wenn er ein praktisches Problem hat (stark
beladen vor einer geschlossenen Tür).
1.6 Konfliktfähigkeit
Soziales Lernen kann nicht nur als undifferenzierte Friedfertigkeit verstanden werden. Der Widerstreit der Motive,
Einsichten, Interessen und Leidenschaften gehört zum Leben der Menschen. Konflikte über zentrale handlungsleitende Normen, unerledigte Konflikte (versäumte Entscheidungen und Klärungen), situative Konflikte (Zornausbrüche, körperliche Auseinandersetzungen) bestimmen den
zwischenmenschlichen Alltag, wenn nicht ständig, so doch
oft. Sie können zwischen Individuen, zwischen Kollektiven, zwischen Kollektiven und Individuen bestehen. Sie sind
nicht als defizitäre Merkmale zu verstehen, sondern als
wichtige und potentiell produktive Weiterentwicklungen zwischenmenschlicher Verhältnisse. Dies gilt besonders für den
Makrobereich gesellschaftlich-politischer Verhältnisse, aber
auch für den Mikrobereich der einzelnen Schule/Klasse.
Wichtig ist daher eine ‘geregelte’ Konfliktaustragung. Während die genannte positive Einschätzung eines Konflikts
eine entscheidende Voraussetzung ist, kommen weitere hinzu
wie etwa ein Minimum von Kontakt und ‘Sichtbarkeit’. Die
Verhaltensweisen der Parteien sind nicht darauf ausgerich-
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tet, die andere zu zerstören, zu bezwingen, zu unterwerfen.
Sind diese Grundeinstellungen vorhanden, besteht das
Handlungsrepertoire in verbalen Interaktionen (Argument,
Gegenargument, Überzeugung und Überregung) und in einer geregelten Verfahrensweise (Konfliktaustrag), die in die
Zeit hinein Verfahrensschritte vorsehen kann, die die
Entscheidungsmodi festlegt (Abstimmungen, Schiedsrichter, Kompromisse u.a.m.).
Den Konfliktaustrag auf diese Weise zu lernen, ist wohl für
Lehrer/-innen und Schüler/-innen das Schwerste im Bereich
sozialen Lernens. Die soziale Tugend, die dabei als Lernergebnis sich zeigen könnte, wird hier mit Konfliktfähigkeit
bezeichnet. Sie ist in demokratischen und sozialen Verhältnissen, die dem vorstehend entwickelten Begründungsrahmen folgen, eine entscheidende soziale Tugend.
1.7 Toleranz
Toleranz (lat. tolerans: ertragen) meint die Duldsamkeit gegenüber, das Geltenlassen abweichender Überzeugungen
und bezieht sich besonders auf Glaubens-/Bekenntnisfreiheit. Seit der Aufklärung bezieht sich Toleranz als soziale
Tugend auch auf die Achtung vor dem Recht des Gewissens. So ist Toleranz sicher eine ganz wichtige Verhaltensnorm angesichts der Menschenrechte, des Grundgesetzes
und des niedersächsischen Schulgesetzes.
Freilich muss Toleranz immer daraufhin geprüft werden,
ob sie grenzenlos ist oder ob sie richtig nur in einem explizierten Normenrahmen verstanden werden kann. So ist Toleranz juristisch schon früh darauf begrenzt worden, dass
die zu tolerierende Meinung immer nur so weit reicht, als
sie die Menschenrechte oder die innerhalb eines Staates und
den in ihm geltenden Gesetzen niedergelegte Rechtsüberzeugung nicht verletzt. Dies ist wohl wichtig, da man sonst
Rechtsradikalismus, Unmenschlichkeit, Unterdrückungsverhältnisse u.a.m. tolerieren müsste.
Wie alle sozialen Tugenden ist auch Toleranz nicht eine
absolut zu nehmende Tugend, sondern auszumessen in einem übergeordneten Normenrahmen. Glaubens- und Meinungsfreiheit sind keine absoluten Lebensrechte, sie sind
ihrerseits eingebunden in einen Kontext. Und damit wird
Toleranz wie alle anderen sozialen Tugenden eine praktisch
nicht leicht zu handhabende Tugend. Ist sie einerseits überhaupt erst einmal zu lernen (z.B. gegenüber dem Andersgläubigen), so sind andererseits mögliche Fehlformen ständig zu prüfen. Es gibt eine sog. repressive Toleranz (ich
toleriere dich, wenn du die hier geltenden Spielregeln akzeptierst), es gibt eine permissive Toleranz, die über NichtAkzeptierbares hinwegzieht (Gewalttätigkeiten werden widerspruchslos hingenommen, weil man feige ist oder dieses
als notwendiges Ausagieren definiert), es gibt eine falsche
Toleranz gegenüber ungerechten Gesetzen, weil sie eben
Gesetze sind. Toleranz zu lernen ist schwerer, als das auf
den ersten Blick hin aussehen mag.
2. Umgangsgualitäten
Sind mit den sozialen Tugenden grundsätzlichere soziale
Verhaltensorientierungen beschrieben worden, so meint der
Terminus „Umgangsqualitäten“ Verhaltensrichtungen, die
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unabhängig von einem explizierten Orientierungsrahmen
und gleichwohl in hoher Affinität zu ihm zwischenmenschlich gesehen Voraussetzungen schaffen, mit deren Hilfe vieles überhaupt thematisierbar wird und die gleichzeitig soziale Klimata schaffen, in denen es sich auch ohne
grundsätzlichere Verständigung leben lässt. Dies ist für den
Alltag in der Familie, in der Schule, im Verkehr, im Betrieb
sicher nicht unerheblich. Um zu verdeutlichen, was gemeint
ist, seien solche Umgangsqualitäten auch aufgelistet und
beschrieben.
2.1 Freundlichkeit
Freundlichkeit ist eine eminent wichtige Umgangsqualität
zwischen Menschen. Sie bietet gleich mehrere Teilqualitäten
an: Offenheit gegenüber einem Mitmenschen,
Wahrnehmungsbereitschaft (da bist du und ich nehme dich
wahr), Zuversicht (ich habe keine Angst vor dir, ich gehe
gern auf dich zu), Wärme und Heiterkeit (Kontakt ist mir
angenehm und soll es für dich auch sein. Heiterkeit und
Gelassenheit machen den Alltag besser). Freundlichkeit beinhaltet die Botschaft: ich gehe davon aus, dass man mit
dir gut sprechen kann, ich will es jedenfalls versuchen. Sie
beginnt mit nonverbalen Kontaktangeboten (aufmerksamer
Blick, Lächeln, der Schritt auf den Anderen zu), setzt sich
fort mit einem Gruß und einem freundlichen Wort.
2.2 Empathie (Einfühlungsfähigkeit)
Freundlichkeit hängt sicher mit einer weiteren Umgangsqualität eng zusammen, die man heute gern Empathie nennt
und meint, dass man sich in die Befindlichkeiten und Bedürfnisse eines Anderen schnell einfühlen kann. Dafür ist
eine gewisse Sensibilität eine gute Hilfe, weil die für Befindlichkeiten und Bedürfnisse ausgefahrenen „Antennen“ einen besser wahrnehmen lassen, ob Angst, Vorbehalt, Sorge
oder auch Arroganz, Aggressivität den Anderen bestimmen
und welches wohl die Ursachen dafür sein könnten. Empathie ermöglicht und verbessert das Zuhören-können und das
Ausreden-lassen, zwei heute häufiger fast verlorengegangene Teilqualitäten des Umgangs miteinander.
2.3 Einwirkungsfähigkeit
Die bisher beschriebenen Umgangsqualitäten könnten den
„sozialen Verhaltenstyp“ schnell in eine einerseits defensive (wenn die Anderen halt so nicht sind) und andererseits
missionarische Haltung bringen (der, der ewig weich und
verständnisvoll sein will). Deshalb ist die Komplettierung
von Umgangsqualitäten in diese Richtung wichtig. Mit Einwirkungsfähigkeit ist gemeint, Interaktionen und Situationen auch nach den eigenen Befindlichkeiten und
Bedürfhissen gestalten zu können. Nicht nur das Andere,
auch die Ich-Botschaften sind für einen produktiven Umgang miteinander wichtig. Da soziale Situationen häufig
nicht von allein gut sind oder werden, ist neben dem Angebot auch der Anspruch einzubringen (mir wäre es lieb,
wenn..., ich brauche hier eine Klärung, mir geht es so und
so, u.a.m.). Mit dem Begriff der Ich-Botschaft lässt sich am
besten ausdrücken, was mit Anspruch gemeint ist: das Ich
in seinem So-Sein artikuliert und gestaltet Interaktionen mit.
Mit dem „Neutrum“ in sozialen Fragen ist deshalb so schwer
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umzugehen, weil man nie so recht weiß, was es meint und
was es möchte. Dies schafft schnell Irritationen und auch
Verhaltensfehler.
2.4 Regelorientierung
Das ‘Du’ und das ‘Ich’ benötigen neben der Grundqualität
der Freundlichkeit und den Wahrnehmungs- wie
Artikulationsweisen (das ‘Ego’ zeigt sich in konkreten Bezug auf das ‘Alter’) möglichst schnell eine Regelorientierung
für soziale Situationen. Gemeint ist damit eine möglichst
schnell erreichbare bzw. mittelbare Orientierung über die
zugelassenen und (erst einmal) auszulassenden Kommunikationsmodi in konkreten Situationen. Diese Regelorientierung ist meistens vorhanden in Gestalt von Konventionen (Lehrer/-in siezt man. Älteren machen man in der Straßenbahn Platz, körpernahe Begrüßungsformen unterlässt
man etc.). Aber es gibt auch immer wieder Irritationen, wenn
die Regelorientierung asymmetrisch und nicht reversibel ist
(ein Lehrer kann sich jederzeit äußern, ein Schüler nur, wenn
er sich meldet; eine Lehrerin kann eine Schülerin beschimpfen, Umgekehrtes ist nicht möglich). In solchen Fällen sind
möglichst schnell stattfindende Regelklärungen mit Begründung wichtig, damit die Verletzung von einseitig gesetzten
Konventionen nicht frühzeitig zu Kommunikationsstörungen führt. Gemeinsame Gespräche über die wechselseitig zu beachtenden Regeln können hier eine wichtige Umgangsqualität sein.
3. Operative Kompetenzen
Wenn die Überlegungen so weit gediehen sind, kann man
auf sog. operative Kompetenzen zu sprechen kommen, die
für bestimmte soziale Situationen wünschenswert bzw. erforderlich sind. Zwei Bereiche sollen hier etwas genauer
dargestellt werden.
3.1 Kooperationskompetenzen
Mit Anderen kooperieren zu können, ist in der Regel schwieriger, als man zunächst annimmt. Auch wenn man die vorausgehend beschriebenen sozialen Tugenden und Umgangsqualitäten als gegeben ansehen kann, bleiben spezifische
Erfordernisse, die zu erfüllen jeder erst einmal lernen muss.
3.1.1 Initiieren, Planen, Verabreden
Für Gruppenarbeit oder Projektarbeit z.B. ist zu Beginn für
gelingende Kooperation besonders wichtig, dass jeder Initiative, Anregung, Produktivität einbringt, dass Interessen
geäußert oder entwickelt werden, dass miteinander über
Arbeitsansätze und -möglichkeiten gesprochen wird, dass
man sich bespricht und schließlich verabredet, also schließlich Entscheidungen trifft. Dabei muss man die Zeit kalkulieren, die man insgesamt hat und die man für die Planung
verwenden will. Man muss Interessen abgleichen, Kompromisse finden, vorhandene Kompetenzen aufeinander abstimmen. Arbeitsziele und -phasen festlegen, die Arbeit verteilen. Dies sind ziemlich komplexe Anforderungen. Häufig
ist Gruppenarbeit nicht so effektiv, weil die für die erste
Phase wichtigen Kompetenzen nicht vorhanden sind.
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3.1.2 Initiativ sein. Beitragen, Helfen
Ist die Aufgabe klar, muss jeder Beteiligte mit Initiativverhalten, Beiträgen, wechselseitigem Helfen eine gemeinsame Arbeit voranbringen können, wenn sie nicht schnell
darnieder liegen soll. Der verabredete Plan ist gewissermaßen der Vertrag, der alle bindet. Da es aber nicht um schlichte
Aufgabenausführung geht, sind Initiative und Produktivität wichtig, um in ja immer begrenzter Zeit auf arbeitsteilige Weise das gesetzte Ziel zu erreichen.
3.1.3 Reflektieren und Beziehungen pflegen
Um in einer Gruppe wirksame Kooperation zu realisieren,
ist ein quasi „doppelstöckiger Prozess“ wichtig. Geht es einerseits um die Bearbeitung des gegebenen Plans, ist andererseits die Steuerung, die ja von der Gruppe geleistet werden muss, wichtig. Konkret:
das zwischenzeitliche Reflektieren des Arbeitsprozesses (sind wir im Plan, entspricht das, was
wir machen, noch unseren Intentionen?) und die
jederzeitige Beziehungspflege (mach du doch
auch mal mit, lasst uns auch einmal eine Pause
machen, soll ich dir helfen, kannst du mir hier
mal helfen, bei uns ist die Stimmung im Moment
nicht gut, woran liegt das, was können wir dagegen tun) sind wichtige Begleit- und Steueraktivitäten, die von jedem wahrgenommen werden müssen.
3.1.4 Verantwortung für das Ergebnis
Kooperation heißt, der Arbeitsprozess und auch das Ergebnis stehen in der gemeinsamen Verantwortung. Wenn es
gut läuft, zeichnet es alle aus, wenn das Ergebnis schlecht
ist, ist dafür auch jeder verantwortlich. So heißt Kooperation von Anfang an, dass jeder in der gegebenen Zeit auf die
Erreichung eines alle befriedigenden Ergebnisses hin mitarbeiten muss und Verantwortung übernimmt. Überschaut
man die in aller Kürze skizzierten Kooperationskompetenzen, kann man zusammenfassend sagen, sie werden sich nur erlernen und schließlich realisieren lassen,
wenn soziale Tugenden und Umgangsqualitäten relativ weit
entwickelt sind.
3.2 Strategisches Denken und Verhalten
Die anfangs dargestellten normativen Setzungen zielen auf
das Leben in einer demokratischen, sozialen und rechtsstaatlichen Gesellschaft. Diese kommt nur zu Leben, wenn
auf sie aktive und verantwortliche Bürger/-innen setzen
kann. D.h., dass über die Gestaltung der sozialen Beziehungen im Nahbereich hinaus operative Kompetenzen für
die Gestaltung gesellschaftlich relevanter Entwicklungen
wahrgenommen werden können. Das meint im einzelnen
folgendes:
3.2.1 Öffentliche Aktionen
In der Verfolgung öffentlicher Anliegen werden immer wieder Informationskampagnen, Demonstrationen und Einflussnahmen/Einmischungen wichtig sein. Diese inhaltlich
zu begründen. Solidaritätspotentiale zu aktivieren, Aktivi-
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täten zu organisieren bedarf besonderer Kompetenzen (Treffs
organisieren, Positionen argumentativ entwickeln und vertreten, Plakate und Spruchbänder anfertigen, Aktionen terminieren und realisieren, Demonstrationen anmelden, Kontakte aufnehmen, Gremien ansprechen u.a.m.). Diese müssen zur selbstverständlichen „Ausrüstung“ sozialverantwortlicher Individuen gehören.
3.2.2 Satzungen und Geschäftsordnungen handhaben
Innerhalb bestehender Institutionen (Schulen, Vereine, Parteien usw.) lassen sich wirksame Aktivitäten nur entfalten,
wenn man gelernt hat, Satzungen und Geschäftsordnungen, also die Kodifikationen und Konventionen institutionalisierter Meinungsbildungs- und Handlungsprozesse,
handhaben zu können. Auch die Bildung neuer Vereinigungen für solidarisches Handeln ist hier zu nennen.
Strategisches Denken und Verhalten meint also, mittel- und
längerfristige Prozesse öffentlichen Engagements zu konzipieren und realisieren. Dabei sind neben den interaktiven
Standards weitergehende Kompetenzen nötig. Sie sind in
aller Kürze angesprochen worden.
Schluß
Der entwickelte Zusammenhang von normativen Setzungen
(Menschenrechte, Grundgesetz, Schulgesetz), sozialen Tugenden, Umgangsqualitäten und operativen Kompetenzen
ist nicht als Kausalzusammenhang zu verstehen (Wenndann-Formulierungen). Die gedankliche Konstruktion ist
eher die eines Begründungsrahmens mit konkretisierenden
Belegen für tägliche soziale Situationen, die Interaktionen
zwischen Individuen verlangen und Kommunikation, Kooperation sowie Aktivitäten von Menschen nötig machen.
Humanität realisiert sich in Zwischenmenschlichkeit! Und
genau hier liegt in der aktuellen Situation das Defizit.
Literatur
Manfred Bönsch: Schulpädagogische Publikationen
Manfred Bönsch: Unterrichtskonzepte. Baltmannsweiler: Burgbücherei Schneider, 1986
Manfred Bönsch: Schüler aktivieren. Hannover: Hahnsche Buchhandlung, 19943
Manfred Bönsch: Schule verbessern. Hannover, Hahnsche Buchhandlung, 1990
Manfred Bönsch (Hrsg.) : Offener Unterricht in der Primär- und
Sekundarstufe I. Hannover, 1993
Manfred Bönsch: Üben und Wiederholen im Unterricht. München:
Verlag Ehrenwirth, 19932
Manfred Bönsch: Variable Lernwege. Ein Lehrbuch der Unterrichtsmethoden. Paderborn; Verlag Schöningh, 19952
Manfred Bönsch: Die beste Schule für mein Kind. Freiburg i.Br.: Herder Verlag, 1994
Manfred Bönsch: Zur Grundlegung sozialer Lernprozesse heute. Weinheim: Beltz Verlag, 1994
Manfred Bönsch: Differenzierung in Schule und Unterricht. München: Ehrenwirth Verlag, 1995
Manfred Bönsch: Didaktisches Minimum. Prüfungsanforderungen
für Lehramtsstudentinnen, Neuwied: Luchterhand Verlag, 1996
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fachbeitrag: lernen lernen in religion –
wie konstruktivistisch-lerntheoretische ansätze
sich auf religionsdidaktische fragestellungen
übertragen lassen
norbert ammermann
1. Einleitung
Konstruktivistische Lernforschung setzte sich zum Ziel,
begriffliches Konstruieren bei Schülerinnen und Schüler
fördern zu helfen. Die Schwerpunkte dieses Ansatzes lagen also nicht bei der didaktischen Aufbereitung von
Unterrichtsinhalten, der Elementarisierung von Lernschritten oder der Fragen der Lernzieloperationalisierungen und
Lernzielkontrollen. Ergänzend wird stattdessen gefragt, wie
Schülerinnen und Schüler das Lernen lernen, und wie ihre
Lehrerinnen und Lehrer eben dieses Lernen von ihren Schülerinnen und Schüler erlernen können. Die Operationen
des Erkennens und die individuellen Kategorisierungen sind
für diesen Ansatz von Interesse; dabei geht er von der
konstrukttheoretischen Prämisse aus, das wir nur über subjektive Interpretationen einer als real angenommenen Realität verfügen, und Unterrichtsinhalte nur als subjektive
Theorien in den Köpfen von Schülerinnen und Schüler und
Lehrerinnen und Lehrer vorfindbar seien. Dass um diese
typische Annahme des radikalen Konstruktivismus immer
noch heftig gestritten wird, soll aber hier nicht weiter beschäftigen. Der Frage, der ich nachgehen möchte, ist vielmehr diese: In der Religionsdidaktik wird die Verzahnung
fachwissenschaftlicher Inhalte favorisiert. Unklar ist aber,
wie diese Verzahnung letztendlich elementardidaktisch zu
verstehen und zu bewerkstelligen ist. Ich möchte dieser Frage aus konstrukttheoretischer Perspektive nachzugehen versuchen. Dazu gebe ich zunächst ein Beispiel, wie der bereits klassisch zu nennende radikale Konstruktivist Ernst
von Glasersfeld diesen auf lerntheoretische Fragen anzuwenden sucht. Sodann führe ich einige Beispiele herkömmlicher fachdidaktischer Unterrichtsverzahnung an, um zuletzt diese aus konstrukttheoretischer Perspektive zu erläutern und auf religionspädagogische Fragestellungen zu übertragen versuche.
2. Ein klassisches Beispiel
konstruktivistischer Lernauffassung
Der Position des Behaviorismus, Lernen sei ein Resultat
der Verstärkung von Stimuli, wird im radikalen Konstruktivismus endgültig der Abschied gegeben. Glasersfeld weist
darauf hin, dass, wenn auch diese Position in ihrer Extremität nicht mehr in der Didaktik rezipiert werde, sie doch
latent noch wirksam sei: „Als Ergebnis haben wir nach wie
vor Tests, die von den Schülern nicht mehr verlangen, als
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das zu reproduzieren, was sie vom Lehrer gehört oder im
Schulbuch gelesen haben“1. Und manche Schüler sind – in
ganz konstruktivistischer Manier – hier schlauer als die
Lehrerinnen und Lehrer: Sie lesen nicht Texte, sondern die
Interpretationen von Texten oder beschaffen sich die Lehrerhandbücher, um in den Kopf ihres Lehrers hineinzuschauen und dessen Ansprüchen Genüge zu tun2. Genauer stellt
Glasersfeld die Annahme externer Stimuli in Frage, die es
nach konstruktivistischer Auffassung nicht gibt: der Organismus nimmt ausschliesslich die Recodierung interner
Stimuli wahr, die in Interrelation mit externen Reizen entstehen können, aber nicht müssen. Anders ausgedrückt: jeder Bauer weiss, dass er das durstige Pferd nur zum Wasser
führen, es aber nicht zum Trinken zwingen kann. Denn
das Trinken werde durch interne Stimuli, durch das Durstgefühl veranlasst, nicht aber durch ein externes Stimuli wie
der Anblick von Wasser. Gab es noch eine Zeitlang die Unterscheidung zwischen externen und internen Stimuli in
der Psychologie, so wurden letztere von den Behavioristen
doch kategorisch, weil nicht beobachtbar, ausgeklammert.
Dieser Ausschluss hatte zur bedauerlichen Folge, dass das
begriffliche Lernen in der Lerntheorie lange Zeit vernachlässigt blieb. Stattdessen seien einseitig externe Stimulusauffassungen favorisiert worden. Im Alltag der Schule wirkt
sich das so aus: „In schulischen Umwelten gibt es verschiedene charakteristische Verstärkungen, zum Beispiel Lob,
Belohnungen und Noten. Alle diese sind Beispiele externer
Motivatoren, denn es wird eine Tätigkeit aufgenommen,
um den versprochenen Anreiz zu bekommen, ob das nun
ein Stern ist, der auf einen Schulaufsatz geklebt wird, oder
eine gute Note in einem Zeugnis“3. Die Vernachlässigung
begrifflichen Lernens zeige sich dann beispielsweise im Extremfall darin, dass Kinder, die auswendig gelernt haben,
dass 12 x 12 = 144 ist, die Frage, was 12 x 13 sei, nicht
beantworten können. Zur Wahrnehmung interner Denkoperationen wurden sie nicht oder zu wenig angeregt.
Glasersfeld nimmt dagegen an, dass es noch eine andere
Quelle anhaltender Lernbereitschaft gibt: „Der Anreiz, neue
Probleme zu bewältigen, entspringt mit grosser Wahrscheinlichkeit der lustvollen Befriedigung, die durch die erfolgreichen Lösungen von Problemen in der Vergangenheit
hervorgerufen wurde. Es ist die Faszination, eine Möglichkeit zu erkennen, sie auszuarbeiten und ein Ergebnis zu
erzielen, das allen Überprüfungen standhält, die man selbst
durchführen kann“4. Im Grunde gibt damit Glasersfeld den
Annahmen kognitivistischer Lerntheorien Recht, die wieder
auf der in den fünfziger Jahren entwickelten Psychologie
51
der persönlichen Konstrukte von G.A. Kelly aufbauen, in
der dieser die Maxime „man as scientist“ ausgab und den
Menschen als aktiven Konstrukteur und Überprüfer der von
ihm geschaffenen Wirklichkeitskonstruktionen ansah.
Als Beispiel konstruktivistischer Lernauffassung führt
Glasersfeld aus, wie im Prozess des Lernens von Einheit,
Vielheit und Zahl konstruktivistische Annahmen zum Verständnis weiter helfen. Ich möchte dieses Beispiel auf den
Schulalltag übertragen:
Schon im Grundschulalter zeigen viele Kinder eine Faszination für den Begriff der Unendlichkeit. Was steckt hinter
dieser Faszination? Wenn Kinder rechnen lernen, in einfachsten elementaren Schritten also lernen, dass ein Apfel
und noch ein Apfel zwei Äpfel sind, bilden sie mengentheoretische Operationen aus. Sie müssen lernen, um eine
Anzahl beliebiger Dinge eine nur von ihnen subjektiv vorgenommene Grenze zu ziehen und zu sagen, dass diese
Menge an Äpfeln aus vier Äpfel bestehe. Die „vier“ drückt
aber keine Eigenschaft der Äpfel aus, sondern ist eine subjektiv vorgenommene Konstruktion. Entscheidungsprinzipien können räumlicher oder auch zeitlicher Natur
sein. So würden auch wir als Erwachsene sagen, dass eine
Uhr, die viermal schlägt, vier Uhr anzeige. Wenn aber in
einem Raum vier Uhren stehen und diese zum selben Zeitpunkt viermal schlagen würden, so kämen wir nicht auf
den Gedanken, zu sagen, es habe eben vier Uhr geschlagen.
Mengentheoretische Zuschreibungen sind nicht per se gegeben, sondern werden aktiv konstruiert in Form von
Eigenschaftszuschreibungen und Definitionen. Kinder haben so zweierlei zu lernen: sie lernen einmal, dass ich zu
einem Ding ein weiteres Ding dazulegen und diese Menge
dann als „zwei Dingsda“ bezeichnen kann. Ein guter Didaktiker würde aber nicht bei diesem Schritt stehen bleiben. Er würde vielmehr den Kindern zu helfen suchen, sich
der mentalen Operation dessen, was sie da tun, bewusst zu
werden. Indem die Kinder eine konstrukttheoretische Perspektive einnehmen, sagen sie sich quasi: „Ich führe jetzt
eine mentale Operation aus und lege zum Gegenstand x
einen weiteren Gegenstand x und habe dann zwei x ... und
diese mentale Operation kann ich beliebig oft wiederholen“. Die Zahl „unendlich gross“ drückt dann aber keine
konstruierte Eigenschaft von Mengen aus. Sondern sie
drückt das Resultat meiner Erkenntnisoperationen aus, nämlich dass ich eine Operation geschaffen habe, die sich beliebig oft wiederholen lässt. Mit dieser Operation kann ich
eine beliebige Anzahl von Problemstellungen lösen: Ich kann
Susis drei Bonbons und Karls sechs Bonbons zusammenzählen. Und ich kann diese Operation rückwärts ausführen
und solange „wegzählen“, bis für Karl, Susi und mich je
drei Bonbons übrig bleiben. Schliesslich gelange ich an
Grenzen meiner mentalen Erkenntnisoperationen: ich kann
acht Bonbons nicht solange wegzählen, dass für jeden drei
übrig bleiben. Aber ich kann für meine mentale Operation
eine neue Wirklichkeit konstruieren und „hypothetische“
Bonbons schaffen: Karl steht noch ein Bonbon zu, und ausstehende Mengen bezeichne ich dann als negative Zahlen.
Wieder lerne ich nicht, dass 8 – 9 = –1 ist, sondern ich
52
lerne eine Operation dadurch weiter ausführen zu können,
indem ich hinter ihrer scheinbaren Grenze eine neue Wirklichkeit negativer Zahlen konstruiere und obendrein mit
dieser Annahme pragmatische Lösungen erziele (Karl ist
einverstanden, dass er sein „-1“ Bonbon zu einem späteren
Zeitpunkt erhält.
Glasersfeld selbst führt die Fähigkeit des Menschen,
mengentheoretische Annahmen zu operationalisieren, auf
neurologische Verarbeitungsmuster sensomotorischer Signale zurück5. Dieser Erklärungsweg soll uns hier nicht weiter
interessieren. Was ich als erstes Fazit festhalten möchte, ist
folgendes: Lernen sollte zwei Ebenen beinhalten. Ich lerne
eine Operation, mit der ich die Lernziele erreiche (beispielsweise: 2 und 2 ist vier). Und ich lerne, wie ich diese Operation lerne (ich lege eines zum anderen, ziehe einen Kreis
darum und definiere die Eigenschaft als „vier“). Kurz
gefasst: Ich lerne lernen!
Glasersfeld führt aber auch einige konstrukttheoretische
Betrachtungsweisen von Sprachverwendung an. Die Sprache des Klassenraums ist eine andere Sprache als die Sprache des sonstigen Umfeldes. Oft werden sich Lehrende dessen nicht oder nur kaum bewusst. Doch ist der Sprachgebrauch an bestimmte Regeln gebunden, die nur im Klassenzimmer existieren. Eine Verhaltensregel wird nun stillschweigend von den Schülern vorausgesetzt, wenn das
Problemlösen als didaktisches Werkzeug eingeführt wird.
Diese Verhaltensregel ist, dass Schüler erwarten, dass
Problemlösen Spass macht. Glasersfeld führt als Beispiel
jene Kinder des Purdue-Projektes an, die sich am Ende der
Stunde um den Lehrer drängeln und um neue „Probleme“
bettelten. Viele Leser werden sich an die Zeit erinnern, in
der die Lektüre von Kinderkrimis weitaus der Lektüre von
Lese- oder Rechenbücher vorgezogen wurden, da sie in detektivischer Manier Kinder als Problemlöser darstellten.
Nicht zuletzt mochte auch deshalb der Roman „Sophies
Welt“ ein so breites Publikum anziehen, da in ihm Philosophie als Problemlösungsgeschichte verpackt wurde.
Sind die hier dargestellten Ausführungen und Annahmen
konstruktivistischer Lerntheorien auf religionspädagogisches Arbeiten zu übertragen? Und wenn ja, in
welcher Form soll man sich das vorstellen?
3. Konstrukttheoretische Beispiele
religiösen Lernens
Analog zu diesen Überlegungen könnte die Übertragung
konstruktivistischer Annahmen für die Religionspädagogik
klären helfen, ob und wie Schülerinnen und Schüler in ihrem religiösen Lernen ebenfalls die Ebenen quasi mengentheoretischen Lernens und operativer Massnahmen aufweisen. Ich glaube, dass sich diese Ebenen sehr wohl aufweisen lassen und gebe dazu einige Beispiele aus Gesprächen
mit Schülerinnen und Schüler über ihren Glauben wieder.
Es handelt sich um Gespräche, die mit Grundschulkindern
aus Aachen und Leipzig geführt wurden6, und in denen sich
'bb' 93-3/2000
stellenweise diese operativen unterschiedlichen Ebenen zeigen.
Das erste Beispiel bezieht sich auf das Problem der Allgegenwart Gottes:
I: Hattest du früher, als du noch kleiner warst, eine andere
Vorstellung von Gott? – Katrin: Da habe ich mir gedacht,
Gott ist irgendwie einfach da. Er ist da. Da dachte ich immer, das ist wie so ein unsichtbarer Himmel über uns, wo er
ist. Also, unter uns, immer überall ... I: Denkst du jetzt anders über Gott? – Katrin: Nö, eigentlich nicht viel, aber
ich kann ihn jetzt mit etwas vergleichen. Früher konnte ich
das nicht – I: Womit vergleichst du jetzt Gott? –Katrin:
Naja, mit den Tieren halt ... (wie die Tiere) macht der ja
keinen Krieg ... hat also Fähigkeiten, die hat immer ein
Tier von ihm7.
Katrin dachte erst in unbestimmten Begriffen von Gott, der
irgendwie überall da sein. Nach einer konkreten Vorstellung befragt vergegenständlicht sie Gottes Allgegenwart,
indem sie ihn mit den Tieren vergleicht. Im Verlauf des
Interviews wurde deutlich, dass Katrin damit meinte, dass
Gott additiv viele Eigenschaften von Tieren verkörpere. Die
Allgegenwart Gottes kann so nur erkenntnismässig
operationalisiert werden, indem sie „heruntergebrochen“
wird auf eine Vielzahl von Eigenschaften.
Als Gegensatz könnte das Interview mit Markus herangezogen werden, der Gott mit den Hobbys beschäftigt malte,
die er selbst ausübt (mikroskopieren, chemische Versuche)8.
Für ihn besteht gar keine Notwendigkeit, Gott in genuin
theologischen Kategorien begrifflich zu erfassen zu suchen.
Silvia malte eine Kerze
und begründete ihre Darstellung damit, dass Gott
für sie wie ein Licht sei,
das über uns strahle12; Gott
kann ich nur als Licht bezeichnen. Yvonne malte
Gott als Farbenanordnungen ähnlich dem
Spektrum des Regenbogens und ordnete diesen
Farben je eine andere emotionale Kategorie zu13.
Ausgiebiger diskutieren
möchte ich das Bild von
Corinna14, das hier als Abbildung angefügt ist.
Über ihr Blatt schrieb sie
nur quer Ich habe kein
Bild von der Gestalt Gottes, denn es reicht mir zu
wissen, dass es i(h)n gibt.
Im Interview gibt der Interviewer seine Hilflosigkeit mit
dieser Antwort zu erkennen und fragt nach, wie Corinna
Gott sich den vorstelle. Corinna gibt abstrakte, dogmatische Antworten (Schöpfer), bezieht sich auch auf das Bilderverbot, das sie irgendwo einmal gehört habe – diese Antwort-
Ganz anders die Problemlösung von Klaus9. Er malte eine
Welt voller glücklicher Menschen, in das Bild ein YingYang-Zeichen hinein, ein Hochhaus und ein ärmliches Haus
und würde das Bild mit „Frieden“ betiteln, antwortet aber
auf die Frage, was er bei Gott fühle, ganz anders: I: Ein
gutes Gefühl oder ein schlechtes Gefühl? – Klaus: Weiß
ich nicht. Ich weiß überhaupt nicht, ob es den überhaupt
gibt. Ich kann mir den eigentlich ziemlich wenig vorstellen.
Entweder es ist einfach so ein Geist oder eben so ein Mensch,
der vom Himmel af uns herabschaut, oder sonst was. Aber
ich meine, ich habe kein schlechtes Gefühl, wenn ich über
ihn nachdenke. Klaus greift also zu anthropomorphen Kategorien. Gott ist für ihn wie ein verlängerter, „übermenschlicher“ Mensch.
Auch ein Blick auf die Kinderzeichnungen mit den Gottesabbildungen ist aufschlussreich. Die meisten Kinder verfassten anthropomorphe Zeichnungen. Aber einige Zeichnungen deuten darauf hin, dass hier Kinder ihre Operationen
religiösen Erkennens reflektiert haben. So malt Edith auf
die Aufforderung, Gott zu malen, zwei Menschen, von denen die Frau dem Mann aufzustehen hilft10. Auf die Frage,
wo denn in dem Bild Gott zu finden sei, antwortet sie: In
den Gedanken.
Markus malte eine Sonne und begründete dies damit, dass
Gott wie die Sonne überall sei11.
'bb' 93-3/2000
versuche zeigen deutlich, dass diese Fragestellung ihr nicht
mehr adäquat ist. Umgekehrt aber spricht sie von ihrer lebendigen Gottesbeziehung; sie bittet und dankt Gott bei den
täglich anfallenden Problemen und Problemlösungen. Auf
der konstruktivistischen Sprachebene liesse sich sagen, dass
Corinna die Operation ihrer religiösen Erkenntnis über Gott
53
(Anthropomorphisierung, Metaphorisierung, Symbolisierung) reflektiert und nachvollzogen hat. Gott zu malen heisst
nicht mehr, ein Abbild zu zeichnen, sondern es heisst, sich
bewusst zu machen, dass er immer wieder neu und anders
gemalt werden kann. So wie in Glasersfeld MathematikBeispiel die Zahl „unendlich gross“ keine konstruierte
Eigenschaft von Mengen ausdrückte, so drückt Corinnas
„Bild“ keine konstruierte Eigenschaft Gottes mehr aus (z.B.
eben nicht abbildbares Abbild zu sein). Sondern sie drückt
das Resultat ihrer Erkenntnisoperationen aus, nämlich eine
Operation geschaffen zu haben, die sich beliebig oft wiederholen lässt. Ähnlich wie in Glasersfeld Rechen-Beispiel
kann sie mit der Reflexion dieser Operation eine beliebige
Anzahl von Problemstellungen lösen: So wie dort Bonbons
beliebig aufteilbar werden, da die Operation bekannt ist,
passt ihr nicht-abbildbarer Gott in alle möglichen Problemkonstellationen. In ihrem Fall ist es der Interviewer, der an
die Grenzen dieser mentalen Erkenntnisoperation gelangt15.
Nicht von ungefähr benennt sie ein Paradoxon biblischer
Erzählungen, die ihr besonders gefallen: Der Dornbusch,
der nicht verbrennt, obwohl er brennt.
Mein Vorschlag in Anknüpfung an die vorhergehenden Ausführungen ist: Eine fachdidaktische Verzahnung ist auf der
Ebene mengentheoretischer Aussage nur als Agglomeration fachdidaktischer Inhalte vorzunehmen. Die eigentliche
fachdidaktische Verzahnung vollzieht sich auf der Ebene
der Reflexion der Operationen von Erkenntnis.
Speziell im theologisch-religionspädagogischen Kontext
haben Kinder bzw. Jugendliche z.B. folgende Erkenntnisoperationen zu reflektieren:
•
Unterscheidung von Bildhälfte und Sachhälfte in den
Gleichnissen Jesu.
•
Unterscheidung der unterschiedlichen Intentionen von
Mythos und wissenschaftlichem Bericht (z.B. Schöpfungsbericht, Flutgeschichten).
•
Unterscheidung von Lehrsätzen und Erfahrungssätzen
(z.B. in der Theodizeé-Frage: wie kann ein allgemeines Attribut [Gott ist Liebe] mit den Diskrepanzen individueller Erfahrungen vereinbart werden?)
•
Unterscheidung von Sätzen kausaler Verallgemeinerungsketten von existentiell-subjektbezogenen
Sätzen (z.B. der Apfel fällt zu Boden ... alle Gegenstände fallen zu Boden ... Es gibt ein Gesetz, das besagt: alle Gegenstände auf der Erde fallen zu Boden. –
Dagegen: Man sagt, Gott ist Liebe .. es gibt Situationen, da erfahre ich diesen Satz/erfahre ihn nicht ... Ich
glaube, hoffe, wünsche, das Gott sich als der Liebende
erweisen wird).
4. Konstruktivistische Lerntheorie als
Hilfe zu fachdidaktischen Verzahnungen
Methodisch gehen Überlegungen zu fachdidaktischen Verzahnungen oft so vor, dass ein bestimmter Gegenstandsbereich als obere Kategorie bestimmt wird, aus dem die fachdidaktischen Perspektiven dann als untergeordnete Kategorien abgeleitet werden. Beispielsweise schlugen Studentinnen und Studenten eines Seminars folgende fachdidaktische Verzahnung für die Kategorie „Wasser“ vor:
Schreiben & Lesen sollten den Schwerpunkt auf die Behandlung von Wassergedichten und Wassergeschichten legen, die Heimatkunde sollte sich die heimische Gewässerlandschaft vornehmen, im Rechnen sollten das Liter als
Mengen- und Raummaß behandelt werden, und in Religion sollte der symbolische Gehalt von Wasser erschöpfend
behandelt werden (Flutgeschichten, Meeresstillung, Taufe
u.a.m.). Völlig unklar blieb aber, wie die didaktische Verzahnung verlaufen sollte. Ersichtlich wurde, dass eine solche fachdidaktische Verzahnung den Kindern nur als ein
willkürlich ausgewähltes Sammelsurium gewässerter Anliegen erscheinen könnte.
Weiter führte ein anderes Beispiel: Die fachdidaktische Verzahnung wurde als gemeinsames Projekt entwickelt. Der
Besuch eines Klostermuseums sollte entsprechend den fachdidaktischen Inhalten aufbereitet werden. Dreh- und Angelpunkt war dann die Rekonstruktion des Lebens der Mönche in alter Zeit. Was lasen und was schrieben sie? Was
findet sich auf den Klosterinschriften geschrieben? Wie kleideten sie sich, hielten Vieh, besorgten ihre Nahrung? Worin bestand die besondere Spiritualität ihres Lebens? Wie ist
die Klosteranlage geometrisch angeordnet? Welche Raummaße finden sich in ihr? Und was sollte diese Anlage in
geistlicher Hinsicht aussagen?
54
Diese zu reflektierenden Erkenntnisoperationen liegen aber
ebenso den Lernstoffen in anderen schulischen Fächern zugrunde, z.B.:
•
Bildhälfte und Sachhälfte in der Funktion von Metaphern (Deutsch / Kunst) unterscheiden lernen
•
Mythische Annahmen in naturwissenschaftlichen Sätzen oder Theorien (z.B. die Annahme eines Äthers vor
der Relativitätstheorie; die Annahme von Zentrifugalund Zentripetalkräften vor den Planetengesetzen; die
Mystifizierung des Chaos-Begriffs als gemeinsamer
Nenner in so unterschiedlichen Theorien zur Mikrophysik, Ökonomie, Management)
•
Lehr- und Erfahrungssätze: Probleme deduktiver und
induktiver Beweisführungen im mathematischen Bereich (z.B. in Differential- und Integralrechnung)
•
Kausal-verallgemeinernde und existential-subjektbezogene Sätze: Abbruch der Kausalität im quantenmechanischen Kosmos, in mikrobiologischen Bereichen
/ Musik als technisches Handwerk und subjektiver Ausdruck.
Eine Verständigung fachdisziplinärer Verzahnung erfolgt
so nicht mehr primär über eine Agglomeration didaktischer
mengenmässiger Inhalte, sondern über eine interdisziplinäre Evaluierung von unseren Operationen der Erkenntnis.
'bb' 93-3/2000
Hier wäre eine wichtige Anregung konstruktivistischer Lernforschung aufzugreifen, wie er von Siebert16 vorgeschlagen
wurde: Lehrende an Schulen sollten turnusmässig fremde
Stoffinhalte lehren müssen! Das hiesse beispielsweise, Religionslehrerinnen und Religionslehrer vermitteln einmal
auch Stoffinhalte naturwissenschaftlicher und sprachlicher
Fächer, naturwissenschaftliche Lehrkräfte vermitteln einmal auch Inhalte in Religion, Ethik, Philosophie, wie auch
musischer Fächer usw. Die Leitidee dieses Vorschlags ist,
dass Schülerinnen und Schüler dann effektiv lernen können, wenn sie Problemlösestrategien mit ihren Lehrerinnen und Lehrer und Lehren erarbeiten können. Nicht abstrakte Inhalte, sondern die Bewusstmachung und Infragestellung erkenntnisleitender Konstrukte bilden so den
Schwerpunkt der Unterrichtsgestaltung, und diejenigen
Lehrerinnen und Lehrer haben etwas Besonderes zu bieten,
die eine fremde Thematik, ungewohnte Inhalte sich didaktisch erschliessen müssen. Ich möchte freilich dafür plädieren, einen solchen Wechsel evaluativ zu begleiten und die
Konstruktbildungen der Lehrenden qualitativ zu erfassen,
um diese Vorgehensweise nicht als didaktischen Scherz, sondern als Exploration didaktischer Bildungsvermittlungsweisen zu etablieren.
Eine abschließende Geschichte (frei nach Brecht) mag mein
Anliegen illustrieren: Als Galileo Galilei die Kardinäle aufforderte, doch einen Blick durch sein Fernrohr zu werfen,
um die Jupitermonde mit eigenen Augen zu sehen, erwiderten diese nicht zu Unrecht, was ihnen ein Blick durch
ein Rohr helfen könne, das eben so konstruiert sei, dass
man das sehe, was es zeigen soll. Die Aufklärungsfeindlichkeit der katholischen Kirche wurde so elegant begründet. Für unsere Gegenwart wäre jedoch weiterführend
zu sagen, dass jede (natur- wie geistes)wissenschaftliche
Disziplin durch ihre selbstkonstruierten Rohre in die Welt
schaut. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo es darauf
ankommt, von unseren selbstgebastelten Rohren hochzublicken und uns gegenseitig Auskunft geben zu können über
deren Beschaffung, die uns einen Teilausschnitt von Welt
so und nicht anders sehen lässt. Wir haben voneinander zu
lernen, wie wir lernen. Was zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen zu einem vordringlichen Problem wird,
kann im Raum der Schule elementarisiert werden als fachdidaktische Verzahnung der Unterrichtsdisziplinen unter der
Perspektive ihrer Erkenntniskonstrukte, deren variable
Handhabung die Schülerinnen und Schüler und Schüler
erlernen sollten.
gegenüber standen. Manches „Sehr gut“ resultierte aus
dieser quasi metatheoretischen Perspektive, die mit
Abstand betrachtet nichts anderes war als die geglückte Rekonstruktion der didaktischen Konstruktionen der
Unterrichtenden.
3
Rieber, A pragmatic view of instructional technology,
in: Tobin, K. (Hg.), The practice of constructivism in
Science Education, Washington 1993, 193-212
4
Glasersfeld, a.a.O., 291
5
Glasersfeld, a.a.O., 272
6
Ich beziehe mich auf Arnold, U., Hanisch, H. & Orth,
G., 24 Gespräche über Gott und die Welt, Stuttgart 1997
7
vgl. 6, S. 179 ff.
8
Anm. 6, 16
9
vgl. Anm. 6, 29 ff.
10 vgl. Anm. 6, 71
11
vgl. Anm. 6, 135 f.
12 vgl. Anm. 6, 145, 147; so auch Bettine ebd., 192f.;
Christina ebd., 219; Sofie malte eine Sonne mit einem
inwendigen Alpha und Omega, ebd., 288.
13 vgl. Anm. 6, 207 f.
14 vgl. Anm. 6, 274
15 So fragt dieser permanent nach den bildhaften Vorstellungen Corinnas über Gott, ohne eine in seiner Sicht
befriedigende Antwort finden zu können, da sein Konstrukt mit ihrem Konstrukt über Abbildbarkeit grundsätzlich inkompatibel ist; vgl. Anm. 6, 28f ff.
16 Siebert, H., Pädagogischer Konstruktivismus, Neuwied
1999
Anmerkungen
1
Glasersfeld 1996, S. 286
2
Aus meiner eigenen Schulzeit kann ich noch gut erinnern, welch inneres „Aha“-Erlebnis es war zu verstehen, welche Art von kritischer Auseinandersetzung mit
dem Unterrichtsstoff die Lehrenden bevorzugten, was
ihre Lieblingsinterpretation von Schillers Räuber war,
welchen Problemlösungsstrategien sie völlig abgeneigt
'bb' 93-3/2000
55
buchtipp
Buchtip
EVA RECHLIN U. MAREIKE WESSELS (ILL.)
Zoff im Advent. Eine Geschichte für 24 Tage;
farbig illustr., E. Kaufmann-V., Lahr 2000, 112
S. kart. 2200
„Alle Jahre wieder kommt das Christuskind auf die Erde
nieder.... – ja freilich, aber es kommt auch alle Jahre wieder
die liebe Familie Tholeo aus Brasilien nach Deutschland rüber. Und damit nehmen durchaus dramatische, vorweihnachtliche Ereignisse ihren Lauf. Das heißt, sie nähmen ihn
nicht in schöner Regelmäßigkeit mit so viel Zoff, wenn nicht
Tante Adele wäre, Mamas altmodische ältere Schwester. Sie
nämlich ist die Gastgeberin der brasilianischen Equipage.
Leider aber ist „Tante Dela“ völlig unbeliebt bei den drei
brasilianischen Kindern ihrer Schwester Hanna: „Quatschtante“ ist von allen Komplimenten, die man für sie übrig hat,
noch das freundlichste.
Noch ehe man überhaupt die erste Buchseite aufgeschlagen hat, lässt einen eine solch brisante Familien - Konstellation schon erahnen, wie aufregend es in den 24 Geschichten des weihnachtlichen Erzähl- und Vorlesebuchs zugehen
wird, wenn sich die drei munteren, zu allerlei Streichen aufgelegten kleine Brasilianerlein den Erziehungsversuchen
einer durch die strapaziöse häusliche Pflege von Onkel und
Oma sichtlich gestressten Tante zu entziehen suchen. Um
das Allerschlimmste zu verhindern, hat der Himmel zwar
schon über dem Atlantik einen Begleitengel ins Reiseflugzeug eingeschleust – aber ein dunkler, schattenhafter
Gefolgsgeist des Teufels ist auch mit von der Partie – und
so nehmen die vorweihnachtlichen Komplikationen, kaum
ist man in Frankfurt Airport gelandet, ihren Lauf.
Übrigens: am Ende wird es dennoch ein prächtiges Christfest, was man schon daran sieht, dass selbst Tante Adele
meint, so schön habe der Christbaum noch nie ausgesehen! Da hat sich das Teufelsgeistlein längst entnervt verflüchtigt, der Begleitengel schwebt wieder bei Gott im Höhern
Chor - und leider, leider sind auch die 24 spannenden Geschichten am Heiligen Abend alle wieder zwischen ihren
beiden Buchdeckeln verschwunden, wo sie geduldig warten, bis, wie alle Jahre wieder zum Advent, das liebe Christuskind kommt, aber auch die Familie Tholeo aus Brasilien na, wenn das mal keinen Zoff gibt! . . . (s. oben!).
E. ÜBELACKER
Sternbilder und Sternzeichen, mit farbigen
Illustr. und Zeichnungen; Reihe „Was Ist
Was“, Band 99, Tessloff-V., Nürnberg‚ 95/1,
48 S. Großformat, 1990
Wussten Sie eigentlich, dass der alte Jäger Orion, den wir
Jahr für Jahr in seinem Sternbild über dem südlichen Horizont bewundern, ein berüchtigter Himmels – Casanova war?
Jedenfalls war er’s so lange, bis er sich eines Tages lüstern
an der badenden Jagdgöttin Artemis aufgeilte. Die fand
das gar nicht lustig und verwandelte den Spanner zur Strafe, schwupps, in einen stattlichen Hirsch. Irgendwie aber
müssen das seine Jagdhunde nicht gerafft haben. Die jedenfalls erkannten ihren Jägermeister nicht wieder,
verfrühstückten ihn kurzerhand als wohlschmeckendes Wild-
56
bret und beleben seither mit diesem gemeinsam sternbildlich
das hohe Himmelszelt.
Da war der Fuhrmann Erichthonios besser dran. Der hatte
zwar bei der vorgeburtlichen Austeilung der Gliedmaßen anstelle von zwei süßen Babybeinchen versehentlich ein glitschiges Schlangenschwänzlein abbekommen. Dennoch
aber, man höre und staune, brachte er es trotz seiner beträchtlich eingeschränkten Fortbewegungsmöglichkeiten
immerhin bis zum König von Athen. Da es ihm jedoch täglich lästiger wurde, auf seine lahmarschigen Sänftenträger
angewiesen zu sein, erfand er kurzerhand den vierrädrigen
Rennwagen, - was wiederum die Götter so stark beeindruckte, dass sie ihn als leuchtendes Vorbild für alle vom Schicksal Gebremsten als Sternbild hoch an den Himmel hievten.
So, wenn Sie nun weiter wissen wollen, wie Wasserschlange, Rabe, Becher oder Drache über uns am Sternenzelt ihre
Bleibe fanden, oder wer einstens auf der Leier spielte, und
warum Herkules den Höllenhund Zerberus mit bloßen Händen erwürgte – wenn Sie diese und weitere Himmels – Geschichten zur Abrundung Ihres eigenen Weltbildes kennenlernen bzw. bei Ihren Unterrichtsbemühungen zu den beiden biblischen Schöpfungsgeschichten kenntnisreich einfließen lassen möchten, dann kann Ihnen der vorl. Band nützlich sein:
• alle 88 Sternbilder werden vorgestellt und die Namen
der auffälligsten Einzelsterne genannt;
• die Tierkreise werden beschrieben und erklärt (auch
die Tierkreiszeichen der Schicksalsdeuter sind aufgelistet und die Grundannahmen astrologischer Deutelei
kurz vorgestellt, dies aber nur ganz am Rande),
• dem Verständnis dienliche astronomische Grundbegriffe werden erläutert;
• besonders spannend sind zahlreiche, sich um die
Himmelsbilder rankende Erzählungen aus der griechischen Mythologie.
Man kann das Buch, das sich, nebenbei, auch als Geschenk
für junge Sternenforscher/innen eignet, nicht nur im
Geografie – Unterricht gut gebrauchen, sondern auch unter
den Arm klemmen, wenn man am späten Abend zur
Himmelsbeobachtung aus dem Haus tritt. Eine Adressenliste im Anhang lädt überdies dazu ein, die wichtigsten Planetarien und Sternwarten in Deutschland, Österreich und der
Schweiz zu besuchen. Diese Einrichtungen erbauen meist
das ganze Jahr über auch den astronomischen Laien mit
leicht verständlichen Vorträgen samt Demonstrationen an
ihren künstlichen Himmelskuppeln.
PH. WEGENAST U. M. BALTSCHEIT (ILL.)
Wo ist Papa? Eine Weihnachts - Bildergeschichte zum Gleichnis vom verlorenen Schaf;
in: ‚Neue Reihe Religion‘; farbig illustriert;
Kaufmann - V., Lahr 2000, 28 S., 2400
Letztes Jahr hieß es: ‚Lukas haut ab‘! - und heuer hat es
Papa erwischt: er ist einfach weg! Natürlich, als vielbeschäftigter, berufstätiger Familienvater ist er das Jahr über
immer mal wieder weg. Das kann man verschmerzen,
schließlich gibt’s ja noch Mama – und die ist zum Glück nie
'bb' 93-3/2000
weg. Allerdings – ein einziges Mal im Jahr kann man auf Papa
um alles in der Welt nicht verzichten, da muss er unbedingt
her; und das ist an Heiligabend. Nur – diesmal ist er halt nicht
da! Wo ist Papa?
Die Weihnachtsgeschichte (für Kinder ab 5 und mindestens
die halbe Grundschulzeit) von Lukas, Lisa, Mama und Papa
spitzt sich dramatisch zu, als die Familie zusammen mit ihren Gästen an der großen, festlich gedeckten Tafel sitzt, der
Braten angerichtet ist, aber Lisa und Lukas nicht anfangen
wollen, ehe der abhanden gekommene Vater (in der Werkstatt schließlich!) aufgestöbert worden ist: er hatte, nach langem Herumsuchen, das bei den Krippenfiguren unterm Weihnachtsbaum noch fehlende schwarze Schaf endlich gefunden und soeben kunst- und liebevoll wiederhergerichtet. In dieser Bildergeschichte übernehmen erst die beiden Kinder, danach der abhanden gekommene Vater die Positionen
des Hirten aus dem Gleichnis vom Verlorenen Schaf. Die
Idee des Autors: Wie jener damals seine Herde, so lassen
Lukas und Lisa heuer die am Tisch zum Festmahl versammelte Familie zurück, um den Vater zu suchen. Bei diesem
wiederum ist es ganz ähnlich: er kann nicht mitfeiern, ehe er
nicht das fehlende schwarze(!) Schaf gefunden hat. Erst dann
nämlich ist das Figuren - Ensemble der Weihnachtskrippe
komplett, ganz so, wie die Liebe Gottes immer erst dann
vollendet ist, wenn zu seinem Volk auf Erden, zu seiner großen Christenfamilie hinzukommt, was außen vor war.
Zur Aufmachung des Buches: Die Illustrationen sind so aussagekräftig, dass der Autor mit jeweils wenigen, kurzen, diese begleitenden Sätzen auskommt. Wohltuend! Darüber hinaus zeigt die moderne Bilder- (Comic-) und Textgestaltung,
wie ein Gleichnis aus längst vergangenen Tagen vor die heute
immer noch brennenden Fragen des Zusammenlebens in
der einen Welt führen kann und dabei uralte Empfindungen
von Ersehntem, von Warten, Finden und Gefundenwerden
aktualisiert.
Im Anhang des stabil gebundenen Kinderbuches erwartet
die erwachsenen (Vor-) Leser/innen ein Nachwort. Dieses
erläutert die Verzahnung des genannten Gleichnisses (Lukas 15, 1 – 7) mit der Bilderbuchgeschichte.
Summa: der religionspädagogische Ansatz der Buchreihe
ist überzeugend, weil er einem glaub – würdigen, nämlich
sowohl christologisch fundierten, als auch lebensnah orientierten Konzept verpflichtet ist. Anders gesagt: das biblische Gleichnis entfaltet seine Brisanz neu, indem es sich
situationsspezifisch, nämlich in einer aktuellen Familiengeschichte konkretisiert.
RENATE SCHUPP U. ANNE GRENADINE (ILL.)
Meine Weihnachtskrippe. Die Weihnachtsgeschichte zum Lesen, Basteln und Spielen.
Farbig illustriert, mit einer Kulisse zum Aufstellen. Kaufmann-V., Lahr 2000, 32 S., 2200
Wenn Küster Pappkorn oder Mesnerin Frau Dittel, kaum dass
wieder Advent geworden ist, im Chorraum der Kirche die große Weihnachtskrippe aufstellen, dann ist diese meist derart
vielfältig und vorzüglich ausgestattet, so absolut komplett halt,
dass einem noch jedesmal der Mut entfällt, sich selbst ans
Werk zu machen., um dem Christkind daheim, im Wohnzimmer unterm Tannenbaum, eine bescheidene Bleibe einzurichten. Vielleicht ist es Ihnen bisher auch so ergangen.
Sollte dem so sein, dann können Sie jetzt aufatmen: Die Autorinnen legen ein Buch vor, das zeigt, wie man mit ganz
einfachen Mitteln eine dennoch wunderschöne Weihnachtskrippe ausstaffieren kann. Und das geht so: immer, wenn
einer dieser anheimelnden Adventsabende ins Leere zu
vertröpfeln scheint, kommt auf den Familientisch, was im
'bb' 93-3/2000
Haushalt an einfachen Materialien und Resten aufzutreiben
ist. Daraus basteln Urahne, Ahne, Mutter und Kind, jedenfalls alle, die beisammen sind, mit Phantasie und Liebe den
Vorlagen des Buches folgend, die aus den biblischen
Weihnachtsgeschichten bekannten Personen und Figuren
in der üblichen Reihenfolge ihres Auftretens - und stellen sie,
sobald vollendet und vorzeigbar ausstaffiert - Stück für Stück
in die mitgelieferte stabile, aufklappbare Stall – Kulisse. Fertig ist die Krippenspiel – Truppe!
Müßig zu erwähnen, dass sich das alles nicht minder vorzüglich auf und an Schultischen bewerkstelligen lässt: da erwüchse dem Grundschul – RU die dankbare Aufgabe, die
versammelte Schulgemeinde zur Weihnachtsfeier mit dem
Anblick einer sehenswerten, gemeinschaftlich gebastelten
Krippe zu erfreuen!
Der Höhepunkt: was sich in Bethlehem begeben hat zu der
Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war, kann jetzt unter
dem häuslichen Tannenbaum oder im Klassenzimmer von
Anfang bis Ende nachgespielt und solcherart lebendig werden. Die Texte der biblischen Bethlehem – Geschichte sind
zwischen die Basteltipps abschnittsweise eingestreut . Alles
ist leicht verständlich, zumeist in Dialogform geschrieben und
deshalb von den Kindern leicht nachspielbar.
Übrigens: die Autorinnen weisen darauf hin, dass sich „Meine Weihnachtskrippe“ auch für jüngere Kinder gut eignen
dürfte, vor allem als Bilderbuch zur Erstbegegnung mit der
Geburtsgeschichte Jesu. Da ist sicher was dran.
Wie auch immer: die (unverständlicherweise oft als langweilig gefürchteten) Adventsabende sind heuer gerettet! Selbst
meine beiden Zehn- und Zwölfjährigen meinten, ich dürfe
das Besprechungs – Exemplar aber auf gar keinen Fall verschenken!
WAGNER, DOROTHEA U. IRMTRAUD GUHE (ILL.)
Lichter strahlen im Advent. Ein Adventskalender zum Vorlesen und Ausschneiden;
farbig illustr.; mit einem Poster (A 2); Kaufmann-V., Lahr 2000, 52 S., 2200
Adventszeit ist Erzähl-, ist Vorlesezeit. Klar. Abends, beim Kerzenschein an Mama gekuschelt oder später, wenn Vater bei
Thomas und Sarah am Bett sitzt und vorliest – immer entsteht diese trauliche Atmosphäre, die einen umfängt wie
später im Leben vielleicht nie mehr wieder.
Seit über einem Vierteljahrhundert gehen die Lektor(inn)en
des Lahrer Verlags, die um die Chancen dieser einzigartigen
Jahreszeit wissen, Eltern, Erzieherinnen und Lehrer/innen mit
Adventskalendern zur Hand, um die Kinder an den 24 langen Dezember - Abenden erzählend oder vorlesend zum
Christtag zu begleiten, wo dann die Weihnachtsgeschichte
in Bethlehem angekommen ist, und Menschen und Engel
„Gott in der Höhe“ die Ehre geben. Es ist, in immer neuen
Variationen mitgeteilt, stets diese uralte, geheimnisvolle Geschichte, die uns und unsere Kinder alle Jahre wieder in ihren Bann schlägt.
Inhalt des Kalenders diesmal: Annalena und Manuel überlegen abends gemeinsam mit ihrer Mutter, ob jemand am zu
Ende gehenden Tag eine Freude erlebt hat. Für jede Freude
dürfen die Kinder abwechselnd eine Papierkerze ins Fenster
kleben. Auf diese Weise sind schließlich am Hl. Abend nicht
nur 24 Freuden zusammengekommen, es kleben auch 24
kleine Papier - Kerzen im Fenster und es sind über allem
unversehens 24 ereignisreiche Vorlese - Alltagsgeschichten
entstanden.
Alle kleinen Kalender – Fans blicken diesmal durch viele Fenster in die Zimmer zweier verschneiter Häuser. Davor, auf dem
Gehsteig, spielen Kinder im Schnee. Freilich, überall, wo’s
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was zu sehen gibt, klaffen erstmal Lücken: sobald jedoch
Abend für Abend nacheinander die 24 Bildchen aus dem
Kalender sorgfältig herausgeschnitten und aufgeklebt sind,
ist das Poster bunt und komplett und eine Zierde für jedes
Klassen–, Kinder- oder Weihnachtszimmer.
Mit dem diesjährigen Kalender dürfte man schon im Kindergarten gut zurechtkommen. Auch die Schüler/innen mindestens der ersten drei Grundschul – Klassen werden ihre Freude daran haben. Mancherorts lassen Lehrer/innen in der Adventszeit den Schultag mit einer „Kerzen – Besinnung“ beginnen. Da könnte der Kalender nicht erst abends daheim,
sondern schon gleich morgens zum Schulbeginn gute Dienste leisten.
VELKD, ARBEITSGRUPPE KINDERKATECHISMUS U.
SABINE GERKE (ILL.)
Erzähl mir vom Glauben. Ein Katechismus
für Kinder; farbig illustr.. Mit einem eingelegten
Heft für Eltern und Erziehende. 6., völlig neu
bearb. Auflage; Gütersloher Verlagshaus und
Kaufmann-V., Lahr 2000, 80 S., 2980
Da ist er also, leicht verschlackt und bildgrafisch vereinheitlicht: der neue Kinderkatechismus der VELKD, bearbeitet von
einem frisch zusammengesetzten Expertenteam. Unverändert geblieben ist die Idee, unverzichtbar die Aufgabe: schon
unsere 4 – 8jährigen Kinder sollen Antwort haben, wenn sie
fragen nach Glauben und Leben.
Zum theologischen Hintergrund der Texte dürfte es, wie immer bei derlei Publikationen, die eine oder andere Rückfrage resp. Alternative geben, so, wie dies beim Katechismus
der ersten fünf Auflagen auch schon der Fall war (man erinnere sich etwa an eine dem VELKD – Katechismus plagiativ
nachempfundene Publikation aus der Ecke des mehr
fundamentalistisch ausgerichteten Buchgewerbes).
Vermutlich werden deshalb Experten, wenn sie schon kein
Haar in der Suppe suchen, zumindest doch zum einen oder
anderen Knackpunkt wohlmeinende theologische oder
religionspädagogische Varianten beizusteuern sich erbötig
zeigen. Das ist gut so und dürfte nach alter Tradition im Herausgeberkreis offene Ohren und intensives Mitbedenken finden. Das ändert allerdings nichts daran, dass es zum Konzept des VELKD – Kinderkatechismus‘ keine Alternative geben dürfte.
Was überhaupt nicht heißt, dass sich nicht das eine oder
andere noch verbessern ließe. Wer z.B. Werner
SCHINDELINs Kinderkalender „Ostern oder das Geheimnis
des Lebens“ kennt (Vgl. unsere Besprechung in 'bb‘ 87,
S.49), der wird mit dem Katechismus - Kapitel „Ostern“ kaum
zufrieden sein. Andrerseits: Über den Tod („Wenn jemand
gestorben ist“) ist schon in der Erstausgabe mit so viel
Empathie und Ehrlichkeit geschrieben worden, dass es jedem Vergleich mit dem, was sonst in Kinderbüchern zum
Thema zu lesen war, allemal standhielt; durch die Überarbeitung hat es jetzt sogar eher noch hinzugewonnen, was mit
Fug und Recht auch für die Kapitel Umwelt / Schöpfung
(„Was uns anvertraut ist“) und Wochenende / Sonntagsgottesdienst („Wenn Sonntag ist“) gelten darf.
Um den Überblick zu vervollständigen, hier die weiteren Themen: „Wenn ich Geburtstag habe“ – „Was wir in der Kirche
erleben“ (Taufe) – „Wenn alle eingeladen sind“ (Abendmahl)
– „Wenn es Weihnachten wird“ und „Wenn Menschen sich
verstehen“ (Pfingsten).
Legt man den seitherigen neben den neuen Katechismus,
dann wirkt der überarbeitete homogener als der Erstling, hat
also auffällig gewonnen, sagen die einen. Manche von ihnen
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begrüßen vor allem, dass die Fotos eliminiert wurden, die
nie so recht hätten überzeugen können. Dass man auch die
eingestreuten Liedtexte samt Noten rausgenommen habe,
schade dem Gesamtbild nicht, sie seien verzichtbar: wozu
gebe es schließlich Gesangbücher.
Dennoch finden sich gegen die Neuausgabe zwei gewichtige Einwände, von denen man sich wünschte, sie würden
vom Herausgeberkreis sehr ernst genommen: bei einer kleinen Umfrage in der unmittelbaren Umgebung des Rezensenten (Grundschulkinder, Elternkreis, Erzieherinnen) war der
Tenor durchgängig:
• „Der alte Katechismus war gerade in dem Nebeneinander ganz unterschiedlicher Medien unverwechselbar. Wie erinnerlich, hatte seinerzeit die Frankfurter
Künstlerin, Hetty Christ, verschiedene Maltechniken,
Fotos, Zeichnungen und Liedverse mit Notenbild einzelnen Erlebnisebenen zugeordnet;. Der neue Katechismus hat kein unverwechselbares Gesicht mehr. Er
sieht jetzt aus wie andere Kinderbücher auch und wirkt
viel langweiliger.“
• „Beides, sowohl das große Tisch – Bild auf den Umschlagseiten, als auch die Physiognomien der Personen im Innern des Buches wirken schematisierter, nicht
mehr so vielgestaltig und lebendig, wie dies bei der
Erstausgabe der Fall war. Das Buch könnte womöglich
auch deswegen an Akzeptanz verlieren.“
Und die Kinder? Denen wird mit Sicherheit nicht entgehen,
dass der katholische Priester in der großen, bunten Sitzrunde
des Covers keinen Platz mehr gefunden hat ( - das kommt
davon, Herr Ratzinger! -). Hingegen wurde sein orthodoxer
Kollege zu Tisch gebeten (die 'Russis‘ wird’s freuen), und
der evangelische Pfarrer ist, seit er 1984 erstmals Platz nahm,
sichtlich gealtert (hat dafür an Leibesumfang und Alterssichtigkeit gewonnen, seine Brille hat ausgedient). Die Kinder
werden jammern: statt Kuchen gibt`s nur noch Brot auf dem
Tisch; und, wieder mal typisch: die Alten haben flaschenweise Rotwein da stehen – von Cola, Limo oder wenigstens
Sprudel jedoch weit und breit keine Spur!
Fazit und nochmals gesagt: Trotz berechtigter Einwände ist
der VELKD - Kinderkatechismus nach wie vor ohne Alternative. Deshalb werden die Kindergärten ihre inzwischen arg
zerfledderten Katechismus – Exemplare gern zum Papiercontainer tragen und sich freuen, dass sie neue bekommen.
Bei den Grundschulen wird’s nicht viel anders aussehen.
Pat(inn)en haben jetzt wieder ein prächtiges Weihnachts –
Geschenk für Sarah und für Benjamin, und vielleicht wird ja
mit der Zeit das 'KK – Ensemble' (Kerze/Kinderkatechismus)
zum Standardgeschenk bei Taufen, oder, wie man derzeit
schlichter, nämlich flachdeutsch zu sagen beliebt: „Kult“!
Zu wünschen jedenfalls wäre dies einem Kinderbuch, welches weder das Glaubenszeugnis von Vater und Mutter ersetzen noch es gar überflüssig machen will. Mose, der als
Vermittler der 10 Gebote Gottes Vorvater aller Katechismusschreiber war, wusste, dass du zu antworten haben wirst,
„wenn dich nun dein Sohn heute oder morgen fragen wird
und sagen: Was sind das für Zeugnisse, Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat“ (5, Mose
6,20)? Der jüngste Spross der Katechismus – Familie der
VELKD darf als eine zeitgemäße Antwort auf diese Frage
gelten und steht damit in einer uralten, großen Tradition biblisch - reformatorischer Bemühungen um Glauben und
Leben.
Wilhelm Reinmuth
'bb' 93-3/2000
THOMAS GÖRNITZ
Quanten sind anders, Spektrum-Verlag 1999
Um Missverständnissen vorzubeugen: hinter dem seltsamen
Titel des Buches von Thomas Görnitz verbirgt sich nicht etwa
ein Essay über die sozialpsychologische Bedeutung schmutziger Füße im historischen Kontext, sondern der anspruchsvolle Versuch, die fremdartige und bis heute nicht vollständig verstandene Welt der Mikroteilchen und ihrer Wechselwirkungen auf anschauliche Weise neu zu interpretieren. Aber
wen, außer ein paar Spezialisten, könnte die Besprechung
eines solchen Buches interessieren? Durchschnittlich gebildete Leser würden ja schon bei der Frage nach der genauen Formulierung des Newtonschen Gravitationsgesetzes das
Handtuch werfen und sie nicht beantworten können. Wozu
auch?! Wie erst könnten sie dann den erkenntnistheoretischen Fallstricken einer Theorie, die nicht einmal Physikern
ganz klar ist, irgendwelchen Charme abgewinnen? Genau
hier setzt Görnitz‘ zentrale These an: auch wenn die meisten
Menschen nichts oder nur wenig von klassischer Physik verstehen, so wird doch ihr Denken von eben dieser Physik
nachhaltig bestimmt. Man achte einmal darauf, wie oft Leute
davon reden, dass dieses oder jenes funktionieren müsse.
Da werden Geschäfte angekurbelt, die dann wie geschmiert
laufen, weil man sie mit viel Energie vorangetrieben hat, dabei manchem Mitarbeiter schon mal gehörig Dampf machen
musste, so dass derzeit objektiv gesehen, ... und man erhoffe sich dadurch für den Markt ganz neue Impulse! Sogar Goethe, der sich stets als Feind dieser in erster Linie auf Descartes
und Newton zurückgehenden Denkweise verstand, spricht
an entscheidender Stelle von den Triebrädern aller Natur‘.
Görnitz charakterisiert die klassische Physik demgemäss als
eine Physik der Objekte. Trotz der in vielfältigen technischen
Anwendungen manifestierten Erfolge dieser Denkweise liefert sie doch nur ein unvollständiges Bild des Universums.
Spätestens in menschlichen Beziehungen nämlich versagt
dieses Objektdenken, wie jeder weiß, der seine Partnerin/
seinen Partner zu lange als Objekt behandelt hat und sich
jetzt sein Frühstück selbst zubereiten darf!
Demgegenüber sei die Quantenphysik, so Görnitz, eine Physik der Beziehungen, die es streng genommen nicht erlaubt, Teile der Welt isoliert zu betrachten. Alles steht mit allem in Wechselwirkung! Dieser Satz, so banal er verschiedentlich auch gewendet wurde, eröffnet tiefe Einsichten in
das So-Sein unserer Welt. Die damit verknüpfte Denkweise
erlaubt ein neues und besseres Verständnis vernetzter Strukturen; und dazu gehören Atome ebenso wie Ökosysteme
oder eben die menschliche Gesellschaft, die ja aus Individuen, also Unteilbaren, d.h. also aus Atomen besteht. Nun komme jetzt bitte niemand mit dem Einwand, Individuen und Atome seien natürlich in gleicher Weise teilbar wie z.B. ein Stück
Zucker, dazu bedürfe es im ersteren Fall nur eines scharfen
Schwertes, im zweiten etwa einer Neutronenquelle. Nur danach sind Individuen wie Atome nicht mehr das, was sie
waren, der Zucker hingegen ist auch nach der Teilung noch
Zucker geblieben!
Görnitz‘ Buch ist ein brillantes Feuerwerk aus lehrreichen
Perspektivenwechseln für jedermensch! Für Kenner der Physik ist es ein grundlegendes Werk, das fundiert über das von
dieser Welt Erfahrbare nachdenkt. Der persönliche Werdegang des Autors (nachzulesen im Buch!) erklärt seine hervorragende Fähigkeit, tiefgründige Wahrheiten einfach und
zugleich klar verständlich mitzuteilen. Ich kenne kaum ein
empfehlenswerteres Buch zu diesem Thema!
Wulf Winter
'bb' 93-3/2000
HARRY NOORMANN,. ULRICH BECKER,
BERND TROCHOLEPCZY (HRSG.)
Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik. Verlag W. Kohlhammer GmbH,
Stuttgart 2000, 325 S., 3990
Gleich im Vorwort wird deutlich gemacht, aus welcher Perspektive dieses hilfreiche Arbeitsbuch sich entwickelte. “Die
ausgiebigen Gespräche über Konzept und Inhalt sind von
der geteilten Überzeugung geleitet worden, dass Religion
künftig in schulischer Bildung ihren Ort finden wird, soweit
Religionspädagog(-inn)en sich ihrer Aufgabe und Kompetenz im gesuchten, offenen Dialog mit anderen Fächern und
Anschauungen zu vergewissern lernen.” Während Harry
Noormann die Grundlagen referiert, über Religionsfreiheit,
Religionskompetenz und Religionsdialog zur Frage nach der
Religionspädagogik heute kommt, geht Lother Kuld der Religion in Kindheit und Jugendalter nach. Eine kritische Würdigung der entwicklungspsychologischen Theorien und eine
Abhandlung der kindgerechten Vermittlung von Religion folgt.
Matthias Hahn stellt die Frage nach dem Rollenverständnis
der Lehrerinnen und Lehrer.
Ulrich Becker gibt einen sehr differenzierten geschichtlichen
Überblick über den derzeitigen Stellenwert des Religionsunterrichts und zeigt auf, welche Chancen der schulische Religionsunterricht heute und in Zukunft haben kann: “Durch
einen konfessionellen, interkonfessionellen und interreligiös
geöffneten Religionsunterricht lassen sich zwei Ziele gleichzeitig verfolgen: Vertrautheit mit der eigenen Religion und
Fähigkeit zur Verständigung mit anderen Religionen und Weltanschauungen.” (S.109) Bernd Trocholepczy fasst die Fluchtpunkte der religionspädagogischen Praxis und Theorie zusammen: Konzeption, Problem und/oder Überlieferungsorientierung, Selbstreflexivität und/oder Sachorientierung.
Die Geschichte der Religionspädagogik bzw. auch des Religionsunterrichts und die vielen Konzeptionen bis hin zur Pluralität gehen über in den Praxisteil. Christine Lehmann geht
der Frage der Unterrichtsvorbereitung nach, Planung des Religionsunterrichts, während Kirsten Hanf den möglichen
schriftlichen Entwurf vorstellt. Nicht zuletzt spricht Dietmar
Peter zu “Religionsunterricht und Internet”. Ein Glossar, ein
Sachregister und wichtige Literaturhinweise bei jedem Beitrag machen dies Werk zur einer Orientierungshilfe für Studenten, aber auch für Weiter- und Fortbildung, wie für einen
persönlich.
ULRICH BECKER, FRIEDRICH JOHANNSEN,
HARRY NOORMANN
Neutestamentliches Arbeitsbuch für
Religionspädagogen. 2. überarbeitete Auflage. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1993,
1997, 296 S., 3400
Wir hatten schon die erste Auflage sehr positiv gewürdigt
und sind den Verfassern und dem Verlag dankbar, dass dieser Band wieder zu haben ist. Es ist nicht nur eine herkömmliche Einführung in das Neue Testament oder dessen Entstehung, sondern stellt Themen vor, die auch im Religionsunterricht regelmäßig zu behandeln sind: Bergpredigt, Gleichnisse und Wundererzählungen, Armut und Reichtum, Beten
und Vaterunser, Passion Jesu, Freiheit und Hoffnung, Mann
und Frau, Abendmahl, Ethik. Die Kinder und Jesus, Kind und
Glaube. Neu hinzugekommen ist die Einheit “Ostern / Auferstehung”. Ein Thema, das uns sowohl im Herbst, um Ostern,
aber gewiss auch bei jedem Todesfall – immer wieder – fragen lässt nach dem Neuen über den Tod hinaus, das in Jesu
Auferstehung ihren Anfang genommen hat.
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Was oft den Religions- und Konfirmandenunterricht erschwert, ist dessen Eigenart, dass man ganz persönlich Stellung beziehen muss. Spätestens im Unterricht stellen uns
die Schüler diese Fragen. Hier erhalten wir eine Orientierung,
die nicht engführt, sondern zum Mitdenken öffnet. Immer
wieder werden innerhalb der Texte besondere literarische
Texte und Aufgaben für Studierende und Schüler gestellt.
Wir alle sind und bleiben Fragende und Lernende. Hierzu ist
dieser Band hervorragend geeignet.
FRIEDRICH JOHANNSEN
Alttestamentliches Arbeitsbuch für
Religionspädagogen (unter Mitarbeit von
Simone Ferme). 2., überarbeitete Auflage.
Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1987, 1998,
311 S., 3600
Dass dieses Werk jetzt als 2. überarbeitete Auflage auf unserem Tisch liegt, können wir nur begrüßen. Diese Orientierungshilfe in paperback nimmt man gerne zur Hand. Hier
werden die Grundfragen und Daten des Alten Testaments
so angesprochen, dass man nicht lange wissenschaftliche
Abhandlung durchblättern muss. Allgemeinverständlich geschrieben und logisch aufgebaut, ist dies Werk für Studierende der Theologie und der Religionspädagogik gedacht,
aber auch für Lehrerinnen und Lehrer, die zu den wichtigen
Themen des Alten Testaments, deren Theologie und
Wirkungsgeschichte einen Überblick und Einblick gewinnen
wollen. Die zwölf Kapitel: 1. Kanonisierung, 2. Entstehungsgeschichte, 3. Gott der Befreiung, 4. Urgeschichte, 5. Erzelternerzählungen, 6. Königszeit, 7. Prophetie, 8. Gesetze
und Gebote, 9. Die Rolle der Frau, 10. Hiob – Leiden, 11.
Leben und Tod, 12. Ursprünge Israels. Ein Register und
kopierbare Landkarten beschließen diesen Band und öffnen
ihn zugleich für die Nutzung der Studierenden und der Praktiker zugleich.
JOHANNES LÄHNEMANN
Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive. Vandenhoeck &
Ruprecht, Göttingen 1998
Johannes Lähnemann, Neutestamentler, Religionswissenschaftler und Religionspädagoge in Erlangen/Nürnberg, bekannt geworden besonders durch seine Publikation “Weltreligionen im Unterricht” und zahlreiche Dokumentationsbände seiner Weltreligionsforen, setzt sich hier mit der interreligiösen Situation auseinander. Erfahrungen aus anderen
europäischen Ländern, aber auch aus den Ballungszentren
unseres Landes, veranlassen die Überlegungen, dass christliche Erziehung heute den Blick auf das Zusammenleben der
Religionen ernst nehmen muss. Die Besinnung auf den eigenen Glauben und zugleich die Öffnung für andere Religionen, besonders der vor Ort und deren Kulturen, werden (und
sind es in manchen Gegenden schon jetzt) notwendige Koordinaten evangelischer Religionspädagogik.
Lähnemann zeigt hier nicht nur eine geschichtliche Perspektive der Religionspädagogik vor, sondern geht gezielt und
konkret auf die religiösen Fragen der Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen religiös-kulturellen Kontexten ein.
Nach einer Einführung in den gegenwärtigen Welthorizont
religiöser Erziehung wird nach dem eigenen Glauben gefragt
und anschließend die Öffnung für andere Kulturen und Religionen in der Geschichte der evangelischen Religionspädagogik. Nicht erst im 4. und 5. Kapitel werden die Konkretionen und die Praxisbezüge für die unterschiedlichen
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Schulformen deutlich. Ein Namensregister und ein hilfreiches
Literaturverzeichnis beenden diesen Band. Bemerkenswert
und wegweisend für den Religionsunterricht ist Lähnemanns
“Lernen in der Begegnung”, was auf allen Seiten des Werkes durchklingt und was er auch persönlich praktiziert:
“Es ist nicht zufällig, dass diese Religionspädagogik mit dem
Nachdenken über den ‚Glauben‘, die Grundeinstellung und
die Ausbildung der Religionslehrerinnen und -lehrer, endet:
Als Anwälte des Evangeliums für ihre Schülerinnen und Schüler in einer pluralen Welt haben sie eine Schlüsselstellung für
eine Evangelische Religionspädagogik im Kontext lebender
Religionen. Sie können in aller menschlichen Begrenztheit
und Vorläufigkeit, die ihnen das Evangelium zugesteht,
• Orientierung geben von dem Weg Jesu als dem Weg
Gottes für die Menschen her;
• einen unverwechselbaren Beitrag leisten für eine humane, gesellschaftlich und theologisch verantwortete
Erziehung und Bildung;
• offen sein für Begegnung und Dialog mit Menschen und
Traditionen anderen Herkommens, deren Präsenz in unserem Bildungssystem ausdrücklich zu begrüßen ist.”
(S.440)
WERNER THIEDE
Sektierertum – Unkraut unter dem Weizen?
Gesammelte Aufsätze zur praktisch- und
systematisch-theologischen Apologetik.
Friedrich Bahn Verlag, Neukirchen-Vluyn 1999,
271 S., 2980
Werner Thiede ist uns nicht nur durch seine Aufsätze in den
vergangenen Heften der “braunschweiger beiträge” bekannt,
sondern besonders durch seine vielen Publikationen als
Weltanschauungsbeauftragter. Zu nennen sind insbesondere: Scientology – Religion oder Geistesmagie; Esoterik – die
postreligiöse Welle sowie Die mit dem Tod spielen (Okkultismus, Reinkarnation, Sterbeforschung). Hier nun wird die aktuelle Diskussion um den Sektenbegriff nochmals aufgenommen und weitergeführt. Die Zeugen Jehovas werden als Sekte zwischen Fundamentalismus und Enthusiasmus kritisch
gewürdigt. Neue sektiererische Gruppen und deren Verwendung der Johannesoffenbarung werden vorgestellt. Andere
aktuelle Themen werden sind: Todesnähe und
Reinkarnationserfahrungen; Spiritualität, Fundamentalistischer Bibelglaube. Der derzeitige Leiter der Evangelischen
Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Dr. Reinhard
Hempelmann: “Zentrale Fragen einer christlichen Apologetik werden anhand konkreter Herausforderungen und Themen in überzeugender Weise vor Augen geführt. Das Grundsätzliche wird mit dem Konkreten in einen fruchtbaren Zusammenhang gebracht. Thiede gelingt es vor allem, deutlich zu machen, dass christlicher Glaube antwortender Glaube ist, der sich durch fremde Glaubensauffassungen herausfordern lässt und sein Nein zu versekteten Formen des Religiösen von einem grundlegenden Ja zum christlichen Zeugnis her ausspricht.” Thiede selbst: “Von ihrem inhaltlichen
und konzeptionellen Austausch kann die in der Welt von
heute mehr denn je erforderliche Apologie des christlichen
Glaubens nur profitieren.” (S.266) Nicht nur dieser handliche paperback-Band und die erwähnten anderen, sollten in
keiner Bibliothek fehlen.
Manfred Kwiran
'bb' 93-3/2000
i n h a l t 'b b' 9 3
liebe leser
1
hans-georg babke
meditation:
marc chagall „der hereingetragene mensch“ -
3
sigrid lunde
u-vorschlag:
engel im religionsunterricht
gs
christine lehmann
fachbeitrag:
kirchengeschichte im religionsunterricht
5
11
von abwegen und auswegen
olaf kühl-freudenstein
u-einheit:
freundschaft
gs
klaus arndt
ku-einheit:
nikolausberger konfirmandenaltar
ku
lothar teckemeyer
u-einheit:
gottesvorstellungen – gottesbeziehungen
gs
ingrid illig
u-projekt:
fortsetzung und ausbau
des multikulturellen projektes
gs
16
21
25
28
irmgard damm
fachbeitrag:
den fremden verstehen
30
dieter fauth
gottesdienst:
„das sollst du büßen!“
joachim schreiber
fachbeitrag:
über tugend und glück
41
reinhard loock
fachbeitrag:
werte und normen oder:
wie können verhaltensleitlinien
heute begründet werden?
45
manfred bönsch
fachbeitrag:
lernen lernen in religion
51
norbert ammermann
buchtipps
fortbildungsangebote des arp&m
56