Dr. med. Mabuse-Schreibwettbewerb 2010 „Was wir wollten – was
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Dr. med. Mabuse-Schreibwettbewerb 2010 „Was wir wollten – was
Dr. med. Mabuse-Schreibwettbewerb 2010 „Was wir wollten – was wir wurden“ Die Texte sind gelesen, die Sieger unseres Schreibwettbewerbs 2010 stehen fest: Die Kinderärztin Petra Kaiser gewinnt den ersten, die Hebamme und Journalistin Martina Erich den zweiten und die Altenpflegerin Christine Ebert den dritten Preis. Unser Dank gilt aber allen TeilnehmerInnen, die uns Einblicke in ihr Leben und ihre Arbeitserfahrungen gewährt haben! Trotz Arbeitsverdichtung und wirtschaftlichem Druck finden die meisten immer wieder die Kraft, neue Freiräume zu suchen, und sagen: „Mein Beruf ist ein schöner Beruf.“ Wir wünschen allen LeserInnen eine ermutigende Lektüre! P.S. Die Texte von Martina Eirich und Christine Ebert werden in den kommenden Dr. med. Mabuse-Ausgaben veröffentlicht. Hier können Sie sie bereits online lesen! 1. Preis Die Freude hochhalten Petra Kaiser, Kinderärztin Am Anfang war das Nicht-Wollen: Nachdem der Berufswunsch Torfrau im Fußballnationalteam ad acta gelegt war, fragte meine Großmutter – ehemalige MTA – immer mal hoffnungsfroh, ob ich nicht Medizin studieren wolle? Jahrelang war meine Antwort die gleiche: „Auf keinen Fall, viel zu naturwissenschaftlich, bloß nicht, Physik und Chemie und so, nicht mein Ding.“ Ein Beruf mit persönlichem Feedback: die Entscheidung Bis zum Abi war eigentlich klar: Sprachen und irgendwelche Gesellschaftswissenschaften studieren, reisen, Journalistin werden, und nach vielen Mühen und würdelosen Artikeln über Jahresversammlungen der lokalen Hühnerzüchtervereine würde ich eines Tages meinen ersten Artikel zentral platziert kriegen, auf der dritten Seite einer großen Zeitung. Einen Artikel über ein Unrecht, irgendwas, irgendwo, derart zu Herzen gehend, zu Tränen rührend und den Kopf erbost schütteln lassend, dass Tausende LeserInnen aktiv werden, analog zum amnesty international Gründungsbeispiel. Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de 1 Dann kam das Aha-Erlebnis. Mein Vater las Zeitung beim Sonntagsfrühstück und sein Eigelb kleckerte auf die Zeitung. Das war es. Auch auf meinen Herzblutartikel würden Leute achtlos ihr Frühstücksei kleckern, die Seite umdrehen ..., fertig. Damit wurde mir schlagartig klar: ein Beruf ohne persönliches Feedback, das ist nichts für mich. In den Wald schreien, nicht wissen, wer was hört und ob überhaupt jemand hört ..., nein. Bloß nicht! Gesundheit ist politisch: der Weg durchs Medizinstudium In dieser Phase stellte wieder jemand – diesmal eine Mitarbeiterin aus dem Altenheim, in dem ich jobbte – die Frage: „Warum studierst du nicht Medizin?“ Die Antwort wurde zögerlich: „Warum nicht?“ Warum, wusste ich allerdings auch nicht ... Okay, MedizinerInnentest absolviert, erst mal „nur so“, und einige Zeit später habe ich quasi testweise angefangen. Zum Glück kamen schnell die „richtigen Kreise“: über Fachschaft und Unipolitik merkte ich, wie radikal politisch „Gesundheit“ sein kann, gedacht werden kann; wie eine Forderung wie „Gesundheit für alle“ beispielsweise das Allermeiste von dem beinhaltet, was ich politisch richtig finde; wie attraktiv ein Beruf ist, der überall auf der Welt gebraucht wird und ausgeübt werden kann. Kurzum – ich blieb dabei. (Wobei das Studium auch quälend war. Die Professoren überheblich. Der Uniklinikbetrieb ein Graus. Studierende in erster Linie lästig. Ob ich das sehenden Auges zumindest in Deutschland so noch mal machen würde, bezweifle ich.) Nun wollte ich also Ärztin werden. Und – ähnlich wie am Anfang – bis zum zweiten Staatsexamen war noch klar: Allgemeinmedizin, Familienmedizin und eine fundierte psychosomatische Zusatzqualifikation, das mache ich; somatisch fit, evidenzbasiert und gut strukturiert, menschlich für alles offen und therapeutisch geschult, die perfekte Hausärztin für alle. Tja, dann kam das Praktische Jahr (PJ), für das ich im Wahlfach Kinderheilkunde gewählt habe – darin hatte ich nie famuliert, das lag mir im Studium gut, und als Hausärztin für die ganze Familie wäre etwas fundierte Pädiatriekenntnis ja auch von Nutzen. Damit war es um mich geschehen und ich wurde, was ich bis jetzt zehn Jahre später noch bin: Kinderärztin. Vielfältig und anspruchsvoll: die Kinderheilkunde Mit Kindern arbeiten geht nicht nach Schema F. Ja, Eltern können das Nervigste sein an meinem Beruf, aber, hey, ich wollte ja mal „family doctor“ werden. Wo sonst hat man immer Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de 2 automatisch mit dem ganzen Dreiecks- (oder Zwei-, Vier-, Fünfeck-) Gespann der Familie zu tun? Das erste Lebensjahr ist ein einziges Interaktionsensemble. Kinder können Symptomträger kranker Eltern sein, ein krankes Kind stellt die gesamte Familie auf die Probe und so weiter. Alles ist stets ausgesprochen ganzheitlich zu betrachten – das wollte ich schon immer. Sowohl beim Auf-die-Welt-Kommen als auch beim Aus-der-Welt-Scheiden immer wieder mal dabei sein zu müssen und auch zu dürfen, das bewegt mich sehr und daraus ziehe ich persönlich viel. Kinderheilkunde ist ein „somatisch“ extrem anspruchsvolles Fach, nirgendwo anders sind die zehn häufigsten Diagnosen derartig diversifiziert. Wir sind Breitband-InternistInnen, HNOÄrztInnen, DermatologInnen, GynäkologInnen, NeurologInnen, PsychologInnen, SozialpädagogInnen, UrologInnen ..., ganz zu schweigen von Stoffwechselerkrankungen, syndromalen Erkrankungen und dem großen Raritätenkabinett angeborener seltener Probleme. Die Bandbreite der Gewichtsklassen meiner PatientInnen geht von 400 Gramm bis 160 Kilo. Das macht die Kinderheilkunde zu so einem vielfältigen Berufsfeld. Ohnehin finde ich es im Gesundheitswesen so charmant, dass Menschen aller Herkunftsländer und aller sozialen Klassen zu mir kommen, bei mir als Kinderärztin auch noch die aller Alterstufen: von Routineuntersuchungen beim gesunden Neugeborenen über Dramen auf der Neo-Intensivstation, dem hundertsten nächtlichen Beratungsgespräch, weil das Baby wieder schreit, bis zum Notfallmanagement bei Meningitis und Sepsis; von Diagnosenübermittlung und Langzeitbetreuung von vielen verschiedenen schweren und zum Glück oft auch leichteren akuten oder chronischen Krankheiten bis zu Interventionen bei Suizidversuchen oder Lifestyle-Beratung Jugendlicher – langweilig wird es nie. Was sich verändert hat, was sich ändern müsste: die Kehrseite Seit ich meine Arbeitszeit auf 75 Prozent reduziert habe, finde ich meine Work-Life-Balance weitgehend gelungen. Die Kehrseite ist die für das Krankenhaus übliche Seite: unbezahlte Überstunden, unzureichend ausgeglichene Wochenend-, Feiertags- und Nachtarbeit, zu wenig Anerkennung und Wertschätzung durch Vorgesetzte und KollegInnen, immer geringere Gestaltungsspielräume, Personalnot, Entsolidarisierung, sobald alle nur noch ums eigene Überleben im System kämpfen. Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de 3 Was sich ändern müsste? Eine neue Generation AusbilderInnen, ProfessorInnen und Chefs muss ran. Als ich in London zum Beispiel mit auf Visite in einer Neo-Intensivstation war und die Oberärztin sich für die Fragen der Studierenden bedankte, sie mit Namen anredete und in eine Diskussion verwickelte, war ich sprachlos. Standesdünkel, patriachale Strukturen, die Verwechslung von Engagement im Beruf mit der Bereitschaft, sein Sozialleben aufzugeben, Multiple-Choice-Verblödung und bilaterales Frontendenken (Somatik versus Psycho, Evidenz versus Erfahrung) sind nur einige Schlagwörter. Insbesondere aus dem angelsächsischen Ausbildungssystem ließe sich eine Menge lernen. Von Gesundheitspolitik fange ich an dieser Stelle nicht an. Würde ich den Arbeitsplatz Krankenhaus nicht so sehr mögen, hätte ich mich schon in eine Praxis oder Ähnliches abgeseilt. Der schönste Beruf der Welt: ein Privileg Ich wollte – natürlich – die Welt besser machen, ursprünglich mit Worten. Jetzt habe ich für manch ein Kind und seine Familie Gutes bewirken können, manchmal Unsicherheit gestiftet, anderenorts beruhigen können. Ich habe manche Kollegen zur Arbeitszeitreduktion ermuntern können und manchen Studierenden die Pädiatrie schmackhaft gemacht; und ich schaffe es immer wieder (längst nicht immer!), die Freude am Job hochzuhalten. Und: ich fühle mich sehr privilegiert, sagen zu können, dass ich den schönsten Beruf der Welt habe. Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de 4 2. Preis Vom wahren Leben berührt Martina Eirich, Hebamme und Journalistin Vom Berufsberater getestet und für die Finanzwelt als sehr geeignet in die Welt geschickt, besah ich mir diese. Meist attraktive Menschen bevölkerten sachliche Gebäude in Tempelgröße. Ihre Berufsbezeichnungen fanden viel Anklang in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis. Die Finanzleute lasen Bilanzen und erstellten selbst welche. Im Grunde bestand ihre ganze Tätigkeit aus der Jongelage von Zahlen. Irgendwie fiktiv und irgendwo auch wie im Zirkus. Mein Kopf fühlte sich angesprochen, doch in mir rumorte es – eine Welt, in der Menschen wie Gebäude mich glatt wie Teflon streiften. Ich fühlte mich ein in meine Zukunft und sah ein volles Bankkonto, ein chices Auto, ein tolles Outfit, Karriere, aber auch gähnende Leere, was tiefe, ja selbst tiefere Gefühle betraf. Deutlich sprach mein Bauch: Lass Dich vom wahren Leben berühren! Der innere Glanz: Ich werde Krankenschwester Ich sah mich im wahren Leben um, erlebte Heime voller schwer erziehbarer Kinder. Andere, in denen es nur behinderte oder kranke oder alte Menschen gab. Es erschlug mich nahezu, überforderte mich, soeben der Pubertät entwachsen. Doch gerade deshalb zog es mich in diese fremde Welt, die mir nicht äußeren, sondern inneren Glanz versprach, nicht eine noble Berufsbezeichnung, mit der ich auf Partys punkten konnte, sondern eher ein Naserümpfen hervorrief und kein volles Bankkonto herausspringen ließ. Ich wurde also Krankenschwester, und die meisten Menschen meines Umfelds schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Ich bereute es nie, wenngleich es harte Lehrjahre waren. Die Ordensschwestern regierten ihre Stationen wie Zerberusse und die Halbgötter in Weiß beugten sich der Macht in steifen Roben. Der Wind drehte jedoch abrupt, wenn die Nonnen zur Vesper im Refektorium verschwanden, und wehte für kurze Zeit ärztlich-säkular. Dies erforderte Flexibilität, förderte Einfühlungsvermögen und ließ mich Selbstdisziplin üben. Die Kranken wurden nach Notwendigkeit und nicht nach Stoppuhr gepflegt. Ihre Angehörigen überschütteten uns mit Komplimenten, Torten und füllten unsere Kaffeekasse. MannsfaustDr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de 5 große Dekubiti schwanden vor unseren unermüdlichen Händen und Augen. Die Arbeit machte Sinn und selbst die Begleitung Sterbender Freude. Als Mädchen an der Schwelle zur Frau musste ich mich nicht über Akten beugen, Finanzanalysen erstellen und mithilfe dieser den erlauchten Kreis Betuchter weiter verfestigen, sondern durfte den allerletzten Sätzen reifer Frauen lauschen, die mir als Mitgift die Essenz ihres Lebens schenkten. Und jedes Mal wieder eine Ode an das Leben aus dem Munde der Sterbenden. Mein Herz hüpfte zwischen Trauer und Glück. Ich kostete ausgiebig, schenkte den Sterbenden meine Ohren und erfuhr vor allem von den Frauen viel über wenig oder nicht gelebtes Leben. Wie sie um ihre verstorbenen, verhinderten und abgetriebenen Kinder trauerten. Wie wenig ihnen ihre berufliche Karriere an der Pforte zum Tod wog, wenn sie dafür Opfer in Form von Kindern hatten bringen müssen. Immer wieder kreisten ihre letzten Gedankenströme darum. Immer wieder beschworen sie mich, niemals ein Kind in meinem Bauch einem Mann zu opfern, niemals ein Kind zu verhindern, das mich deutlich als Mutter erwählt hat und niemals die Erziehung meiner Kinder beruflichem Ehrgeiz unterzuordnen. Welch ein Sack an Empfehlungen. Und in den Zeitungen und im Fernsehen drohte Alice Schwarzer, dass sich Frauen meiner Generation nicht wieder dem alten Frauenjoch beugen sollten. Wie kreierte ich nun meine Zukunft als Frau, als Krankenschwester, vielleicht auch als Mutter? Verlangen nach mehr: das Psychologie-Studium Ich hatte tief blicken dürfen, und es trieb mich weiter in ein Studium der Psychologie. Statistiken und Versuchsabläufe pflasterten die Semester und ließen mich mein Tun beständig zwischen dem Gefühl von sinnhaft und dem von sinnlos einordnen. Am Ende des Grundstudiums zog es mich aus der Universität hinaus und weiter in eine Zeitungsredaktion, um Jahre später schließlich Frauen zu lauschen, die den Beruf der Hebamme ausübten, um darüber zu schreiben. An diesem Tag bekam ich Respekt vor der Tätigkeit, die ich ausübte: dem Journalismus. Der Blick von außen kann gnadenlos sein. Und er soll gnadenlos sein. Ich erkannte die unglaubliche Spanne des Hebammenberufs, ebenso wie seine gesellschaftliche Dimension. Doch ich sah auch die Zerrissenheit vieler Hebammen. Bei der einen lag dieser eine tiefe Depression Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de 6 zugrunde, weil sie sich total verausgabt hatte inklusive zerbrochener Ehe und verschwundener Kinder. Andere waren in einem Helfer-Syndrom gefangen oder übten den Beruf machtvoll gegenüber den Frauen aus. Fast alle liebten ihren Beruf. Doch weshalb war kaum eine als Frau glücklich? Was zerrte und zehrte so an ihnen? Ich bin eine von ihnen: Hebamme Wo hatte ich die letzten Jahre verbracht? Weitestgehend am Schreibtisch! Ich wollte nicht zurück. Es zog mich nicht magisch zu den Hebammen. Ich musste nicht zu ihnen und konnte mich mit keiner von ihnen als Frau identifizieren. Dennoch spürte ich deutlich: Ich war anders, aber eine von ihnen, denn was war Hebamme für ein Beruf! Alles fügte sich an diesem Nachmittag. Nach einem Anruf an einer Hebammenschule und einem Vorstellungsgespräch hatte ich wenig später einen Ausbildungsplatz. Vom ersten Tag im Kreißsaal machte sich dann ein unerhörter Gedanke in mir breit. Ein Gedanke, der wider jeglichen Zeitgeist einfach nicht Ruhe gab, sondern mich intensiv beschäftigte: Ich fragte mich, wer solch ein System hatte einreißen lassen, meist gesunde Frauen zur Geburt in eine Klinik gehen zu lassen. Die seinerzeit noch moderaten Eingriffszahlen hatten auch damals schon längst die noch heute von der WHO empfohlenen übertroffen. Was hatten gesunde Menschen in einer Klinik verloren? Besonderheiten gehörten dagegen öfter, Notfälle unbedingt dahin. So verbrachte ich die vergangenen 15 Jahre damit, mich als Hebamme zu schleifen, schwangere Frauen lesen zu lernen, Notfälle von Besonderheiten zu unterscheiden, Geburtshilfe unter einfachen Bedingungen zu studieren und praktisch umzusetzen. Denn bestätigt wurde mein erstes Gefühl im Kreißsaal inzwischen vielfach wissenschaftlich: Weniger ist meist mehr oder: Man muss viel wissen, um wenig zu tun. Jede Intervention birgt Risiken. Doch ganz selbstverständlich werden Eingriffe in Zeiten, in denen das Geld eben mit diesen selbst und nicht mit dem Verhindern von ihnen verdient wird, auf die Schwangeren und Gebärenden abgewälzt, anstatt human und weise zu fragen, ob der Eingriff als solcher nicht vermeidbar gewesen wäre. Da Gutachter meist ebenfalls eingriffsreich sozialisiert sind, dreht sich das Rad weiter in Richtung: Viel ist besser, weniger schlechter. Heute arbeite ich als Hausgeburtshebamme und erfahre, dass gerade Frauen, die nicht selten als typisches Kind der Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de 7 programmierten Geburtsmedizin oder selbst per Kaiserschnitt geboren wurden, den Wunsch nach einer natürlichen Geburt bei ihren eigenen Kindern haben. Es fehlt ihnen nicht an Bildung, Sport und Geld. Gefühlsleben und weibliches Körperbewusstsein wurden in der Erziehung dieser jungen Frauen jedoch oft sträflich zugunsten von perfekter Optik, Leistungsbereitschaft in Schule und Ausbildung und dem Eifern nach ökonomischen Werten vernachlässigt. Selbstverletzungen sind nicht selten, die von starkem Gefühlsstau erzählen, wie auch Bequemlichkeit und Schmerzempfindlichkeit, weil ihre Erziehung sehr an den Werten unserer Medien- und Werbewelt orientiert per se also auf die Abgabe von Eigenverantwortung zielte. Geschenk und Gnade Deshalb höre ich gut zu. Ich muss ehrlich sein. Mich weder in ein Ideal verrennen, wie Frauen heute gebären sollten, noch mich komfortabel hinter dem Argument verschanzen, dass sie es alle bequem wollen und bequemes Arbeiten damit rechtfertigen. Ja, ich sehe mich bei denjenigen, die natürlich gebären wollen und dafür offen sind auch als Nach-Erzieherin. Als Begleiterin im Lebensumbruch, den eine Schwangerschaft und ein Kind oft mit sich bringen, die ihnen ehrlich sagt, was ihre Eltern versäumten. Dies zu äußern ist wider den Zeitgeist, dies zu tun nicht bequem, dafür ist das Ergebnis unübertrefflich: Eine Frau zu erleben, die nach mühsamen Stunden ihr Kind aus eigener Kraft geboren hat, ist Geschenk und Gnade. Eine andere Seite meines Berufes ist die Diskrepanz aus Vergütung und Verantwortung. Kann es sein, dass ein solch altes Kulturgut, wie das Gebären in den eigenen vier Wänden von einer hohen Haftpflichtprämie zerstört werden kann? Warum werden AKW-Unfälle oder KfzSchäden nach oben hin begrenzt, die Höhe des Schmerzensgeldes bei Geburtsschäden bislang aber noch nicht? Deshalb werde ich auch zukünftig mein Maß an Engagement dem der werdenden Eltern anpassen. Fragen sie wie gehabt fleißig nach Hausgeburtshilfe und setzen sich politisch dafür ein, bin ich weiterhin Tag und Nacht für sie da. Festhalten am Beruf um jeden Preis werde ich dagegen nicht. Vielen meiner Kolleginnen macht die Zukunft Angst. Mir nicht. Gerade weil ich vier Kinder habe. Wenn unsere Gesellschaft die Industrialisierung der Geburt wünscht, wäre das der Lauf des Lebens. Beweglich zu bleiben macht meine Trauer leichter. Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de 8 3. Preis Auf der Suche nach Freiheiten Christine Ebert, Altenpflegerin Eine meiner Motivationen, Altenpflegerin zu werden, war die, einen dauerhaft gefragten, schönen Beruf zu haben, mit dem sich das nötige Geld verdienen lässt. Außerdem übt die Beschäftigung mit alten Menschen eine große Anziehungskraft auf mich aus. Wenn ich gefragt werde, warum eine Akademikerin nicht etwas „Besseres“ mache, werde ich meist zornig, denn ich kann nicht verstehen, warum alte Menschen nicht auch einmal eine Akademikerin als Pflegekraft verdient haben sollen. Dieser Zorn erwächst aus der Erkenntnis, dass Altenpflege mehr ist als betten, lagern, waschen, windeln, füttern (dass es geeignetere Begriffe für diese Tätigkeiten gibt, ist mir völlig bewusst, aber ich verwende diese Begriffe an dieser Stelle ebenfalls sehr bewusst). Biografieorientiert pflegen Meine altenpflegerische Karriere begann ich sehr bodenständig im Alter von 19 Jahren als ungelernte Hilfskraft auf der Pflegestation eines Altenheimes. Völlig unvorbereitet und ohne große Ideale legte ich los und empfand die Atmosphäre als sehr bedrückend. Also versuchte ich, so oft wie möglich mit den BewohnerInnen zu lachen, das half und hilft auch heute immer wieder! Den Entschluss, mich als Altenpflegerin ausbilden zu lassen, fasste ich erst drei Jahre später. Den Lehrstoff sog ich auf wie ein Schwamm und als „frisch Examinierte“ stand für mich fest: Ich wollte biografieorientiert und individuell alte Menschen begleiten. Ich habe dann lange Jahre in der ambulanten Pflege gearbeitet und den Eindruck gewonnen, dass die auf Altenpflege spezialisierte Fachkraft dort nicht gefragt ist, sondern eher eine flexible AllroundPflegerin. Ich bin trotzdem in der ambulanten Pflege geblieben, da eine individuelle Betreuung in der eigenen Häuslichkeit meines Erachtens besser zu leisten ist als in einem Altenheim. Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de 9 Keine Pflegemaschine Nach zwei Jahren Berufstätigkeit hatte ich die erste Krise: Ich fühlte mich wie eine Pflegemaschine, die Leistungen der Pflegeversicherung ausführt. Das Thema Zeit in Kombination mit Wirtschaftlichkeit war stets allgegenwärtig, ich sollte zügig und effizient arbeiten und nur das ausführen, was mit den Kostenträgern vertraglich vereinbart war. Dazu gehörten biografische Gespräche nicht. Ich habe dann gelernt, mich auch über kleine Erfolge zu freuen, wenn ich zum Beispiel schön mit den Pflegebedürftigen gesungen oder beim Waschen mit ihnen über „Früher“ geplaudert habe. Heute, nach 14 Jahren, habe ich mich mit den Zeitvorgaben irgendwie arrangiert (einhalten kann ich sie oft nicht); ich finde es inzwischen faszinierend, herauszufinden, wie in fünf Minuten eine qualitativ hochwertiges Kurzgespräch mit einem Pflegebedürftigen geführt werden kann, auch wenn es offiziell nicht vereinbart wurde. Ich bin ständig auf der Suche nach den Freiheiten, die uns Pflegenden im Raster der Vorgaben noch bleiben, und experimentiere mit dem Thema „effiziente Selbstpflege“ oder „Kultur der Pause“. Lautstarker Protest wäre nötig Letztendlich sind Empfindungen wie „Funktionieren-Müssen“, „Fremdbestimmtheit“ oder „Sparsamkeitszwang“ Erfahrungen, die auch in anderen Berufen an der Tagesordnung sind. Im Falle der Pflege wirken sie sich aber unter Umständen verheerend aus: Nicht selten ist selbst die notwendige Grundversorgung im geforderten Zeitrahmen nicht mehr würdig zu leisten. Die Pflegebedürftigen – gerne auch „Kunden“ genannt – sind oft nicht in der Lage, ähnlich einem gesunden Kunden, Konsequenzen aus möglicher Unzufriedenheit zu ziehen. Alte Menschen können sich dem Zeitdruck, der aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsteht und in ambulanten sowie stationären Zusammenhängen gleichermaßen besteht, nicht anpassen. Naturgemäß werden sie immer langsamer und ihre Bedürfnisse individueller. Phänomene wie „Gewalt in der Pflege“ sind ein erschütterndes Symptom der Situation. Als Altenpflegerin sehe ich mich ständig in der Pflicht, eigentlich lautstark protestieren zu müssen. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich persönlich habe meinen Arbeitgeber so gewählt, dass ich in meinem Arbeitsumfeld keine Gewalt dulden muss. Da ich aber auch Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe 10 Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de bezogen auf die Gesellschaft solidarisch handeln möchte, habe ich permanent das Gefühl, insgesamt zu wenig zu tun – für mich, die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen und die KollegInnen anderer Arbeitgeber. Dies auszuhalten gehört zu meinem Berufsalltag wie die Übergabe. Trotz allem Wie sieht es denn nun aus mit meiner Ursprungs-Motivation? Mein Beruf ist gefragt, mehr denn je, in der Pflege droht mal wieder Fachkräfte-Mangel. Das nötige Geld zu verdienen ist selbst als Single dennoch nicht einfach; aus Studiengründen und zur Burn-out-Prophylaxe arbeite ich häufig in Teilzeit, mittlerweile bieten viele Arbeitgeber Vollzeitstellen auch nicht mehr an. Ob ich so bis 67 weitermachen kann, weiß ich nicht – denn auch ich werde einmal älter und langsamer, und dass Rücken, Knie und Psyche dauerhaft mitspielen, kann keiner garantieren. Trotz allem: Altenpflegerin ist ein schöner Beruf! Immer wieder war es – zumindest mir persönlich – möglich, dies zu erfahren, und beklagen möchte ich mich nicht. Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe 11 Der Siegertext ist bereits in der Mai/Juni-Ausgabe von Dr. med. Mabuse Nr. 191, S. 73–74, erschienen. www.mabuse-verlag.de