Neue Zürcher Zeitung Hip, Hype, Hurra!

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Neue Zürcher Zeitung Hip, Hype, Hurra!
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Palais de Tokyo Renovation
avenue de Président Wilson 13
Paris, Frankreich
© Paul Raftery / ARTUR IMAGES
Hip, Hype, Hurra!
Der Palais de Tokyo in Paris - ein Symbol des Aufbruchs
SAMMLUNG
Neue Zürcher Zeitung
ARCHITEKTIN
Mit der Eröffnung des Palais de Tokyo, eines grossen, flexiblen Zentrums für
zeitgenössische Kunst, sieht sich Paris derzeit bereits und wieder im Rang einer
Kunstkapitale der Welt. Ob es sich dabei um eine Zukunftsvision oder um eine
Chimäre handelt, wird sich allerdings erst noch weisen müssen.
Lacaton & Vassal
FUNKTION
Museen und Ausstellungsgebäude
PLANUNGSBEGINN
2000
von Marc Zitzmann
«Paris est redevenue la capitale internationale des arts», titelte «Le Monde» am 1. Januar
2000. Ein Scoop? Nein: ein frommer Millenniumswunsch, publiziert als Teil einer Serie
namens «Bonjour 2000 Fiction». Es ist ein verbreiteter französischer Jammerrefrain, dass
die Grande Nation nicht nur in Sachen Arbeitslosenquote beziehungsweise
Bruttoinlandprodukt pro Kopf mittlerweile auf den elften und zwölften EU-Platz gerutscht
sei, sondern auch ihren kulturellen «Rang» nicht habe halten können. Als Trendsetter sei
Frankreich im Bereich der Gegenwartskunst längst überholt: was die Organisation von
Ausstellungen betrifft etwa von Amerika, Deutschland und der Schweiz. So zu lesen in
einem viel kommentierten Bericht, den das Aussenministerium Mitte 2001 veröffentlicht
hat.
AUSFÜHRUNG
2001
MITARBEIT PLANUNG
Florian de Pous, Jalil Amor, Mathieu
Laporte, David Pradel, Emanuelle
Delange
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Fest steht, dass die goldenen Tage lang zurückliegen und heute andere Länder den Ton
angeben. Woran das liegt? Womöglich an der Bedeutungslosigkeit des französischen
Kunstschaffens - so jedenfalls war es zu hören in einer jener unsäglichen «Debatten», die
periodisch im Blätterwald aufflammen, seit Claude Levi-Strauss 1981 in einem Artikel das
«Métier perdu» der heutigen Künstler beklagt hat; besonders schwefeldampfend etwa
1996, als Jean Baudrillard und Jean Clair, der Direktor des Pariser Picasso-Museums,
Thesen vorbrachten, die Patrick Barrer zusammen mit den Stellungnahmen von Alliierten
und Kontrahenten unter dem selbstredenden Titel «(Tout) l'art contemporain est-il nul?»
herausgegeben hat (Editions Favre, Lausanne 2000).
Immerhin: Nach der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre und kurz vor der sich
abzeichnenden heutigen Rezession bot das Jahr 1999 Frankreichs Künstlern einen
(kleinen) Trost mit der angekündigten Schaffung eines ausschliesslich ihnen und ihren
Werken geweihten Zentrums. Der nun Anfang dieser Woche im Pariser Palais de Tokyo
eröffnete «Site de création contemporaine» ist für viele französische Kommentatoren ein
Symbol und Hoffnungsträger für ein Wiederaufblühen der hiesigen Kunstszene.
Die Architekten, Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal aus Bordeaux, bekannt für
Low-Budget-Arbeiten wie die Maison Latapie in Floirac, ein Wohnhaus mit integrierten
(lebenden) Pinienbäumen in Lège Cap-Ferret und das türkisch angehauchte Café des
© Paul Raftery / ARTUR IMAGES
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Wiener Architekturzentrums, haben mit knappsten Mitteln (4,75 Millionen Euro für 8700
Quadratmeter, davon 3500 für den eigentlichen Ausstellungsbereich) vorwiegend
technische Eingriffe vorgenommen. Der dem Staat gehörende, 20 600 Quadratmeter
grosse Westflügel des 1937 erbauten Palais de Tokyo sollte zunächst in eine «Maison du
cinéma» verwandelt werden. Als sich dieses Projekt zerschlug, waren bereits 12,2
Millionen Euro für Entrümpelungsarbeiten verpulvert worden: Den Quasi-Rohzustand vom
Baubeginn 2001 haben die beiden Architekten bewahrt. So schlittert der Besucher auf
glattem Boden durch eine unter einem Glasdach mit graziös gewellten Sonnensegeln
mäandernde Riesenhalle, deren Backstein- und Betonwände tiefe Risse, Schmierereien
oder Farbkleckse aufweisen und die sich von einem alternativen Künstleratelier in einem
besetzten Haus nur durch kostenpflichtigen Eintritt, monumentale Dimensionen und
emsiges Putzpersonal unterscheidet.
Geleitet wird der gemeinnützige Verein von zwei Kunstschaffenden, die das - mit 1,75
Millionen Euro die Hälfte des Jahresbudgets tragende - Kulturministerium ernennt. Bis
2003 sind das Nicolas Bourriaud und Jérôme Sans, zwei in den sechziger Jahren
geborene Kritiker und Ausstellungsmacher, die frischen Wind in die französische
Kunstkritik gebracht haben. Ihr programmatisches Konzept setzt auf Flexibilität und
Publikumsfreundlichkeit: mit Öffnungszeiten von 12 bis 24 Uhr, einer Fülle von
Ausstellungen, die parallel, aber mit unterschiedlicher Dauer laufen, mit sieben
Studienresidenzen für junge Künstler, «Mediatoren» statt stumpfen Saalwächtern und
zahllosen Nebenveranstaltungen.
Grundsätzlich stellt sich die Frage: Warum eine solche Institution in Paris? Eine Kunsthalle
nach deutschem oder schweizerischem Vorbild existiert bereits mit der 1991 umgebauten
Galerie nationale du Jeu de paume. Auch das staatliche sowie das städtische Museum für
zeitgenössische Kunst (im Centre Pompidou beziehungsweise im Ostflügel des Palais de
Tokyo) beleuchten regelmässig das heutige Kunstschaffen. Sollte der Palais de Tokyo
kompensieren, dass erstere Institution vornehmlich die etablierte Avantgarde feiert, die
zweite weder das Geld hat noch die einstige Flexibilität, um dicht am Puls der Jetztzeit zu
bleiben, und die erfreulich engagierte dritte - nun ja: der Stadt gehört und nicht dem Staat?
Wie dem auch sei: Die Eröffnung des «Site de création contemporaine» darf nicht
vergessen machen, dass es sowohl in Paris (mit dem am 17. Januar im Osten eröffneten
«Plateau») als auch in der sogenannten Provinz etliche der neuen und neuesten Kunst
gewidmete Institutionen gibt. Neben den einschlägigen Museen, die in den letzten
Jahrzehnten in Bordeaux, Lyon, Marseille, Nizza, Saint-Etienne, Strassburg und
Villeneuve-d'Ascq (wieder)eröffnet wurden, zählt man landesweit 49 vom Staat
mitgetragene Kunstzentren. Unter ihnen finden sich so wichtige Institutionen wie «Le
Magasin» in Grenoble, «Les Abattoirs» in Toulouse, die Villas d'Arson in Nizza und
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Noailles in Hyères, die Collection Lambert in Avignon sowie das Institut d'art contemporain
in Villeurbanne - nebst dem Palais de Tokyo, der Galerie du Jeu de paume und dem
«Plateau» in Paris.
Des Weiteren sind zu nennen der Fonds national d'art contemporain (FNAC) und die
Fonds régionaux d'art contemporain (FRAC). Ersterer hat seit 1878 über 70 000 Werke
zusammengetragen; die jährlichen Ankäufe in Höhe von 3,2 Millionen Euro gehorchen
nicht einer musealen Logik, sondern sollen eine repräsentative Momentaufnahme der
jeweiligen Epoche bieten. Die 1991 unter der Esplanade von La Défense eingerichtete
Reserve ist allerdings mit etwa 17 000 Werken inzwischen so überfüllt, dass die
Angestellten Anfang 2001 in Streik getreten sind. Das regionale Pendant zum FNAC sind
die - vom Staat mitfinanzierten - 23 FRAC: Neben amorphen (An-)Sammlungen findet man
hier auch Fonds mit thematischen Schwerpunkten wie Architektur (Centre), Zeichnungen
(Picardie) und Photographie (Limousin). Seit ihrer Schaffung 1982 haben die FRAC über
14 000 Werke von fast 3000 Künstlern zusammengetragen, freilich mit bescheidenen
Ankaufsetats von je 100 000 bis 150 000 Euro im Jahr.
Doch die möglichen Protagonisten einer Revolution der zeitgenössischen französischen
Kunstszene sind weder die öffentlichen Institutionen noch die Galerien, sondern die
Privatsammler. Lange Zeit galten diese in Frankreich als verschlafen. Das hat sich
geändert - nicht erst seit der «Globalisierung» des Kunstmarkts mit der Aufhebung des
Monopols der französischen Auktionatoren und der Eröffnung von Filialen der
internationalen Marktbeherrscher Christie's und Sotheby's. Jäh bewusst wurde das einer
breiten Öffentlichkeit mit der Ankündigung des Baus einer Milliardenstiftung bei Paris durch
den Christie's-Besitzer François Pinault (NZZ 3. 11. 01). Schon zuvor hatten Galeristen wie
Yvon Lambert (im Hôtel de Caumont in Avignon) ihre Sammlung der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht. Blieb ein ähnliches Projekt von Daniel Templon in Fréjus im
Treibsand der französischen Bürokratie stecken, richtet Antoine de Galbert derzeit in
einem 2700 Quadratmeter grossen Industrieatelier am Pariser Boulevard de la Bastille eine
eigene Stiftung ein. Nimmt erst Pinaults Erzrivale Bernard Arnault, der nicht minder
begüterte Besitzer des Auktionshauses Phillips, den Handschuh auf - man hört, er sei
dabei, eine konkurrierende Sammlung zu konstituieren -, könnten die «Jeunes Artistes
Français» bald eine ebenso (finanz)kräftige Unterstützung finden wie unlängst die «Young
British Artists» durch Charles Saatchi. Wird Paris demnach erneut zur «Capitale
internationale des arts»? In Erwartung der goldenen Tage kann man im Palais de Tokyo
schon einmal grünen Tee schlürfen . . .
[ Palais de Tokyo - Site de création contemporaine: 0(033)1 47 23 54 01 ]
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Palais de Tokyo - Renovation
Neue Zürcher Zeitung, 25.01.2002
WEITERE TEXTE
Eine Hyper-Factory für Querdenker, Elena Sorokina, TagesAnzeiger, 25.01.2002
Techno im Kuratorenparadies, Olga Grimm-Weissert, Der Standard, 23.01.2002
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