Frankenstein (1931) - Das Dokument des Grauens
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Frankenstein (1931) - Das Dokument des Grauens
Ba n dI I I :1 9 3 0-1 9 3 2 I t ’ sAl i v e !-Di eSt u n d ed e rUn t o t e n Das Dokument des Grauens Eine Chronik des Horrorfilms Band 3 It’s Alive! - Die Stunde der Untoten Ralf Ramge Vollausgabe, Version 1.01, Stand: 27. Dezember 2014 Im Vertrieb von: Freshpics Studios Ramge, Postfach 66, 3123 Belp, Schweiz [email protected], http://retro-park.ch Das Dokument des Grauens Eine Chronik des Horrorfilms Band 3: It’s Alive! - Die Stunde der Untoten von Ralf Ramge Mit Bibliografie und Index Zur Verfügung gestellt für nichtkommerzielle Veröffentlichung und Verwendung c 2004 - 2015 Freshpics Studios Ramge, alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto vorne: Boris Karloff und Marylin Harris, „Frankenstein“, c 1931 Universal Pictures Umschlagfoto hinten: „Island of Lost Souls“, c 1932 Paramount Inhaltsverzeichnis 1 Einführung 1 2 1930 9 3 Le sang d’un poète (1930) 45 4 The Bat Whispers (1930) 59 5 Dracula (1930) 81 6 Drácula (1931) 123 7 Eine kurze Reise durch die Zeit 145 Grant Wood: American Gothic (1930) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Peter Kürten, der Vampir von Düsseldorf (1883 - 1931) . . . . . . . . . . . 149 8 M (1931) 171 9 Svengali (1931) 205 10 Die Mythen: Im Labor des Wahnsinns Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . Curriculum Vitae: Victor Frankenstein . . . Dr. Frankensteins weiterer Werdegang . . . Arzt und Dämon: Dr. Jekyll und Mr. Hyde . Das verbrecherische Genie: Jack Griffin . . Unfreiwillige Mutationen: André Delambre Facetten des Irrsinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 222 229 255 290 312 323 333 11 Frankenstein (1931) 351 12 Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1931) 393 13 1931 437 i Das Dokument des Grauens 14 Freaks (1932) 453 15 Murders in the Rue Morgue (1932) 511 16 Vampyr: Der Traum des Allan Grey (1932) 541 17 Die Mythen: Im Bann des Voodoo Der Vodun Westafrikas . . . . . . . Der haitianische Vodou . . . . . . . Voodoo in New Orleans . . . . . . . Der Zombie . . . . . . . . . . . . . Voodoo auf der Leinwand . . . . . . 579 580 582 584 588 594 ii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Dokument des Grauens Abbildung 10.119: Filmplakat, USA 1931 346 Kapitel 11 Frankenstein (1931) Universals Frankenstein (1931)1 gilt bis heute als der einflussreichste und prägendste Film, welchen das Horrorgenre je hervorbrachte. Als er kurz vor Ende des Jahres 1931 in den Kinos anlief, gelangte das Horrorgenre zu seiner endgültigen Reife. Von nun an wussten die Kinogänger, was ihnen drohte, wenn sie sich zum Besuch eines Horrorfilms entschlossen: Verstörung, Angst, Entsetzen. Vorbei waren die Zeiten, in welchen man sich sicher sein konnte, dass auf der Leinwand alles mit rechten und politisch korrekten Dingen zuging. Das Publikum strömte in die Kinos hinein, um Frankenstein (1931) zu sehen - und nicht wenige Zuschauer entschlossen sich zu einer nicht minder eiligen Flucht, als hier dann ein Film über die Leinwand flimmerte, welcher sie aus ihrer behüteten Realität herausriss, sie in eine Welt des Grauens katapultierte und in eine Ecke drängte, aus welcher es nur zwei Auswege gab: den Ausgang des Kinosaals oder die Ohnmacht. Die kompromisslose Mischung aus Faszination und Grauen, welche Frankenstein (1931) auf sein Publikum losließ, spaltete die Kinowelt zutiefst. Bei vielen Zuschauern überwog die Faszination und sie trugen die Kunde eines spektakulären Tabubrechers in die Welt. Andere hingegen waren vorrangig für das Grauen empfänglich und Frankenstein (1931) unternahm als erste amerikanische Filmproduktion nichts dagegen, dieses Grauen zu mildern. Die Folge waren Aufschreie in den Medien und konservativen Institutionen, bis hin zu ausgewachsenen Zensurskandalen. Frankenstein (1931) war nicht nur ein skandalträchtiger Film. Er ist auch handwerklich von hoher Bedeutung für das Kino. Inhaltlich definierte er die Legende um Frankenstein und seine Kreatur neu. Wenn der durchschnittliche Mensch von heute den 1 Frankenstein (Universal, USA 1931, Regie: James Whale, Drehbuch: Francis Edward Faragoh, Garrett Fort, Robert Florey, John Russell (basierend auf dem Roman Frankenstein, or the Modern Prometheus von Mary Wollstonecraft Shelley sowie dem Bühnenstück Frankenstein: An Adventure in the Macabre von Peggy Webling und John L. Balderston), Kamera: Arthur Edeson, Musik: Bernhard Kauhn, Maske: Jack P. Pierce, Spezialeffekte: John P. Fulton, Ken Strickfaden, Darsteller: Colin Clive, Boris Karloff, Mae Clarke, Edward Van Sloan, Dwight Frye, John Boles, Frederick Kerr, Lionel Belmore, Marylin Harris, Bildformat: 1.20:1, Tonformat: Movietone, Laufzeit: ca. 71 Minuten) 347 Das Dokument des Grauens Namen Frankenstein hört, assoziiert er diesen vor allem mit einem künstlichen Monstrum, welches mordend durch die Landschaft streift, wiederbelebt durch die Kraft der Elektrizität in einem alten Gemäuer mit Hilfe brummender und funkensprühender Apparaturen, von klobiger Gestalt und durch Narben entstellt. Diese Vorstellung ist ein fester Bestandteil nicht nur des Kinos oder der Literatur, sondern eine Tradition und ein fester Bestandteil vor allem der amerikanischen Kultur geworden; so sehr, dass sie sich in hunderten anderer filmischer und literarischer Werke und auch in kulturellen Ereignissen wie dem Feiern des Halloween-Festes unauslöschlich festgesetzt hat. Mit Mary Wollstonecraft Shelleys Roman hat diese Assoziation jedoch nicht das Geringste zu tun. Der Urheber dieser Bilder in unseren Köpfen ist alleine dieser Film, Frankenstein (1931). Abbildung 11.1: Filmplakat, USA 1931 Im März 1931 befand sich Universal in einer desaströsen finanziellen Lage. Durch das Fehlen einer eigenen Kinokette war Universal auf unabhängige Kinobesitzer angewiesen und hatte somit ein schweres Problem bei der Vermarktung. Der Konkurrenzdruck der Marktmacht der großen Hollywoodstudios war erdrückend. Hinzu kam noch Missmanagement, in Folge dessen sich Carl Laemmle schon längere Zeit hatte vorwerfen 348 11. Frankenstein (1931) lassen müssen, er betreibe Vetternwirtschaft mit seinen europäischen Verwandten. Die wirtschaftliche Depression tat ihr übriges. Dracula (1930) war zwar ein großer Erfolg aus Universals Produktionsstätten, doch dieser Film lief erst im Februar 1931 flächendeckend in den Kinos an und sein Erfolg kam zu spät. Universal stand vor dem Abgrund. Im März 1931 wurden 350 Mitarbeiter auf die Straße gesetzt, um Personalkosten einzusparen. Kurz danach musste das Studio für sechs Wochen geschlossen werden. Es war klar, dass Dracula (1930) nicht ausreichen würde, um das Studio zu retten und eine solide Basis für einen Neuanfang zu schaffen. Ein ähnlich erfolgreicher Nachfolger musste her, und zwar möglichst sofort. Aber dies war leichter gesagt als getan. Tod Browning hatte sich nach der Fertigstellung von Dracula (1930) wieder umgehend in Richtung MGM abgesetzt. Außerdem waren dem Film zähe Verhandlungen und hohe Lizenzzahlungen vorausgegangen, derartiges konnte sich Universal nicht schon wieder leisten. Daher war die erste Herausforderung, binnen kürzester Zeit ein ähnlich vielversprechendes Material zu finden, aus welchem man einen Film machen könnte. Der gedankliche Sprung von Stokers Dracula, or the Undead zu Shelleys Frankenstein, or the Modern Prometheus ist nicht sonderlich anstrengend. Beides sind beliebte Klassiker der Horrorliteratur und haben somit aus Sicht eines Vertriebsmenschen und Managers ähnliche Grundvoraussetzungen für eine filmische Adaption. Shelleys Idee war zwar bereits von Thomas Edison mit Frankenstein (1910) verfilmt worden, aber damit konnte man leben. Dass der Roman nur durch Inkaufnahme heftiger Abstriche verfilmt werde könnte, erschien als verschmerzbar, denn von Frankenstein hatten die meisten Menschen bereits gehört, aber den Roman nie gelesen und daher auch nur ein schwammiges Bild von seinen Inhalten. Diese Idee hatte im Vergleich zur Realisierung von Dracula (1930) aber auch einen Vorteil: Mary Shelleys Roman war ungleich älter und bereits nicht mehr durch das Urheberrecht gedeckt, also konnte man hier ähnlich teure Lizenzkosten wie im Falle von Bram Stokers beinharter Witwe wohl vermeiden. Aber nur fast. Denn ähnlich wie im Jahr zuvor bei Dracula (1930) stieß man auf eine Bühnenfassung von Frankenstein, or the Modern Prometheus, die seit 1927 in England aufgeführt wurde. Dieses Bühnenstück der Autorin Peggy Webling war wiederum durch das Urheberrecht geschützt und, schlimmer noch, es genoss diesen Schutz sogar nach amerikanischem Recht, denn es existierte eine Fassung, welche für den Broadway geschrieben worden war und deren Filmrechte in der Hand jenes Mannes lagen, mit welchem Universal seit dem Rechtedesaster des Vorjahres möglichst nichts mehr zu tun haben wollte: Horace Liveright. Aber immer der Reihe nach, denn diese Verstrickungen sind nicht ohne weiteres auf Anhieb zu durchschauen. Der Londoner Theaterproduzent Hamilton Deane brachte im Jahr 1927 etwa zeitgleich mit seiner Dracula-Produktion auch Frankenstein: An Adventure in the Macabre auf die Bühne. Im Gegensatz zu Dracula erwies sich Frankenstein jedoch als Flop. Die 349 Das Dokument des Grauens sehr angestrengt und langatmig wirkende Produktion erntete nur wenig Beifall und stand stets im Schatten des Dauerbrenners aus Transsylvanien. Die von Peggy Webling verfasste Frankenstein-Fassung litt unter den gleichen Symptomen wie Deanes erster Versuch, Dracula auf die Bühne zu transportieren; während es bei Dracula relativ schnell Abhilfe in Form einer Überarbeitung durch John Balderston gab, ließ diese Unterstützung bei Frankenstein jedoch noch einige Zeit auf sich warten. Deane fragte wiederholt bei Balderston an, ob er sich auch Frankenstein annehmen könne, aber Balderston zeigte sich zurückhaltend. Bei diesem Stück erschienen ihm Hopfen und Malz als verloren. Nichtsdestotrotz wurde Horace Liveright im Rahmen seiner Bemühungen, Dracula auf die amerikanischen Bühnen zu bringen, auch auf Frankenstein aufmerksam. Und so begann er Balderston zu drängen, Frankenstein für den amerikanischen Markt aufzubereiten. Es war das Jahr 1928, als sich Hamilton Deane angesichts John Balderstons Sturheit genötigt sah, sich selbst an Frankenstein zu versuchen. Er überarbeitete Peggy Weblings Skript und schaffAbbildung 11.2: Hamilton Deane in der te es immerhin bis zu einer Aufführung Rolle des Monsters in Frankenstein: An im Londoner West End im Februar 1930, Adventure in the Macabre mit sich selbst in der Rolle von Frankensteins Kreatur (welche in Weblings Bühnenstück auch erstmals wie ihr Erschaffer den Namen Frankenstein trug). Im Laufe der Zeit hatte Hamilton Deane es immerhin vollbracht, John Balderston zur Unterzeichnung einer Option auf eine Frankenstein-Überarbeitung zu bewegen, welche im Laufe des Jahres 1931 ausgelaufen wäre. Und Balderston gedachte inzwischen nicht mehr, diese Frist verstreichen zu lassen, denn seine Erfahrungen mit Dracula hatten ihm inzwischen gezeigt, dass der Duft des Geldes nur selten etwas mit gutem Geschmack oder gar künstlerischem Anspruch zu tun haben muss. Seine Bedenken gegenüber der intellektuellen Wertlosigkeit der Frankenstein-Aufführung wurden durch die Verlockung des schnellen Reichtums regelrecht vom Tisch gefegt. Diese Entwicklung registrierte Horace Liveright mit Freude und er beauftragte John Balderston umgehend, eine für das Jahr 1931 angedachte amerikanische Bühnenfassung zu entwickeln. John Balderston kontaktierte daraufhin Peggy Webling, um in Zusammenarbeit mit ihr eine neue, bessere Fassung des Bühnenstückes zu entwerfen. Die Chemie zwischen den beiden Autoren stimmte und Horace Liveright nutzte die Gelegenheit umgehend, sich die US-Rechte an dieser überarbeiteten Fassung und darüber hinaus auch gleich noch 50% der Optionen an eventuellen Filmrechten zu sichern. Hamilton Deane sollte 350 11. Frankenstein (1931) die Aufführungsrechte für Europa behalten und so schien ein akzeptabler Konsens gefunden zu sein, welcher alle vier Beteiligten zufriedenstellen sollte. Diese Konstellation hätte Universal jedoch nur Nachteile gebracht. Aufführungsund Filmrechte in der Hand Liverights, mit dem man sich schon bei den Verhandlungen zu Dracula (1930) überworfen hatte, nein, das wollte man wirklich nicht. Zu Universals Glück kam es jedoch zum Streit zwischen Liveright auf der einen und Balderston/Webling auf der anderen Seite. Liveright schaffte es nicht, John Balderston und Peggy Webling in Ruhe an ihrem Manuskript feilen zu lassen. Er hatte ständig neue Ideen und sein Fehler war, diese unter Zuhilfenahme aller Mittel durchsetzen zu wollen. Zwischen Peggy Webling und ihm kam es zum offenen Eklat und auch John Balderston zeigte sich zunehmend gereizt wegen Liverights Einmischungen. Als Universal an Balderston herantrat, begann sich die Geschichte zu wiederholen und es sollte erneut damit enden, dass Horace Liveright wie ein begossener Pudel im Regen stehenbleiben würde. Liveright hatte sich die Film- und Bühnenrechte für die USA gesichert, doch wie erwähnt galten diese nicht ewig und liefen 1931 aus. Durch den Börsencrash hatte jedoch auch Liveright finanzielle Probleme und nicht die Mittel, eine solche Produktion fristgerecht zu verwirklichen. Seine Versuche, seine Rechte an Universal zu verkaufen, schlugen fehl; in Hollywood war niemand daran interessiert, sich auf ein Geschäft mit der Nervensäge Liveright einzulassen. Somit blieb Liveright zuletzt nur die Möglichkeit offen, die Filmrechte an John Balderston und Peggy Webling zu verkaufen. John Balderston wusste natürlich über die miserable finanzielle Lage Universals Bescheid und ihm war klar, dass er nicht mehr von Lizenzzahlungen wie im Falle von Dracula (1930) träumen durfte. Man einigte sich stattdessen auf ein anderes Lizenzmodell: Balderston und Webling erhielten 20.000 Dollar plus eine Gewinnbeteiligung von einem Prozent an Frankenstein (1931)2 . Am 8. April 1931 wurde der Vertrag unterzeichnet und die Filmrechte an Peggy Weblings Arbeit wanderten in den Besitz Universals. Aber bis zum glücklichen Ende war es noch ein weiter Weg voller Missgeschicke und Verwirrungen. Wir sprachen bereits über die Planungen Universals, Dracula (1930) einen weiteren Horrorfilm hinterherzuschieben, auf dass sich dessen Erfolg hoffentlich wiederholen möge. Was für ein Film dies sein sollte, war noch im März 1931 offen und die drei 2 Dies sollte sich etwa 20 Jahre später zum Nachteil Universals auswirken. Im Jahr 1952 erhielt Universal Post von John Balderston und den Erben der fünf Jahre zuvor verstorbenen Peggy Webling. Sie reichten eine interessante Klage gegen Universal ein, in welcher sie eine Ausschüttung der Prozente für alle Frankenstein-Filme forderten, welche Universal seit Frankenstein (1931) produziert hatte, anstelle nur für den Film von 1931 selbst. Ihre Begründung: Nur durch Frankenstein (1931) sei die gesamte Franchise überhaupt erst ermöglicht worden. Universal gab schließlich klein bei und schaffte sich die Kläger durch eine Zahlung von $100.000 ein für allemal vom Hals. Ein teurer Spaß, wenn man bedenkt, dass Universal zu diesem Zeitpunkt keine Pläne hegte, die Frankenstein-Franchise noch weiterhin zu nutzen. 351 Das Dokument des Grauens Favoriten waren Verfilmungen von Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue, H.G. Wells’ The Invisible Man und natürlich Shelleys Frankenstein, or the Modern Prometheus. Die Ideen- und Autorenwerkstatt Universals erhielt den Auftrag, die drei Vorlagen zu evaluieren und ein brauchbares Konzept abzuliefern. Und dies sollte natürlich möglichst gestern geschehen. Der Chef dieser Abteilung, Richard Schayer, lud daraufhin den französischstämmigen Regisseur Robert Florey zu einem Mittagessen ein. Wir sind Florey bereits als Regisseur von The Coffin Maker (1928) flüchtig begegnet, doch der Grund, weshalb Schayer sich entschloss, Florey zu kontaktieren, war ein gänzlich anderer. Florey war ein bekannter und umgänglicher Regisseur, der dem Horrorgenre eng verbunden war. Dies drückte sich zwar nicht in seiner Filmografie aus, aber umso mehr in seinem Lebenslauf, denn als Jugendlicher arbeitete er im Pariser Théàtre du Grand Guignol und er liebte die expressionistischen Horrorfilme, welche die Europäer in den 20er Jahren produzierten. Fachlich hatte er als Experimentalfilmer auf sich aufmerksam gemacht und er hatte den Ruf, praktisch an die Wand gefahrene Projekte wie The Cocoanuts (1929) der Marx Brothers noch retten zu können. Ein talentierter Regisseur mit Expertenwissen im Bereich des expressionistischen Horrors und der Gabe, missionskritische Projekte noch auf den letzten Drücker in einen Erfolg zu verwandeln, war natürlich die allererste Wahl. Richard Schayer bot ihm The Murders in the Rue Morgue, The Invisible Man und Frankenstein, or the Modern Prometheus an. Florey sah in letzterem das größte Potential. Poes Schauermärchen hatte einen Gorilla als zentralen Charakter und dieses Gebiet war in den vergangenen Jahren von Hollywood bereits intensiv breitgetreten worden. The Invisible Man erschien ihm als zu wenig als Horrorfilm realisierbar und das einzige, was aus seiner Sicht gegen eine Verfilmung von Shelleys Roman sprach war, dass Frankenstein (1910) bereits existierte - aber dieser Film war zum Glück schon in Vergessenheit geraten. Florey war von Schayers großzügigem Angebot natürlich begeistert. Dank Schayers Kooperation erschien es Florey als möglich, ein fünfseitiges Konzept zu entwerfen und dieses Carl Laemmle jr. zu präsentieren - in der Hoffnung, dass dieser davon angetan wäre und er dann auch auf dem Regiestuhl Platz nehmen dürfe. Florey machte sich sofort ans Werk und verarbeitete Shelleys ausschweifenden Roman zu einem filmtauglichen Konzept. Er strich massiv Elemente Shelleys, reduzierte die Spielorte auf einige wenige Sets und verdichtete die Handlung auf normale Spielfilmlänge. Von Mary Shelleys Original blieb dabei nicht mehr viel übrig, aber Robert Florey schaffte es, Shelleys Geist und ihre Aussage zu bewahren. Zu den wesentlichsten Aspekten von Floreys Entwurf zählten vor allem das durchweg düstere Ambiente in Form eines verfallenen Gemäuers, die brachiale Monstrosität von Frankenstein Geschöpf, welches durch Florey zu einem wahren Monster wurde und natürlich die Elektrizität als lebensschaffendem Impuls. Kurz gesagt: Robert Florey schuf die expressionistische, am Gothic orientierte Grundlage des Films, welche das Genre prägen würde. Darüber hinaus war sein Skript auch der Inbegriff des Leinwandschreckens; 352 11. Frankenstein (1931) Mitleid mit der geschundenen Kreatur war von Florey nicht vorgesehen, das Monster war schlichtweg böse und brutal, von seinem Schöpfer gnadenlos gefoltert. Am 16. und 17. Juni fanden Testaufnahmen statt, die inzwischen als ausgesprochen legendär gelten, was vor allem darin begründet ist, dass jegliches Ergebnis dieser Dreharbeiten als verschollen gilt. Robert Florey führte Regie, der angesehene Paul Ivano bediente die Kamera und als Darsteller hatte Florey die führenden Darsteller aus Dracula (1930) verpflichtet. Edward Van Sloan spielte Dr. Waldman und Dwight Frye übernahm die Rolle von Fritz, Frankensteins Assistenten. Und auch Bela Lugosi war mit von der Partie, wobei mit seiner Teilnahme jedoch die Probleme begannen. Es wäre bestimmt nicht angemessen zu behaupten, Lugosi sei sein Erfolg mit der Rolle des Grafen in Dracula (1930) zu Kopfe gestiegen. Aber das sowieso schon ausgeprägte SelbstbewusstAbbildung 11.3: Robert Florey sein Lugosis erhielt hierdurch und den seitdem um seine Person stattfindenden Rummel einen gewaltigen Auftrieb. Universal hatte ihn als den neuen Lon Chaney beworben und die Frauen warfen sich dem geheimnisvollen ungarischen Charmeur scharenweise vor die Füße. Bela Lugosi war der Inbegriff eines Hollywoodstars. Als Robert Florey ihm die Rolle Frankensteins anbot, sagte Lugosi natürlich umgehend zu. Die Rolle des verrückten Wissenschaftlers erschien ihm als geradezu auf ihn zu geschneidert, denn seit Dracula (1930) betrachtete sich Lugosi selbst als die Verkörperung des europäischen Gentlemans mit dem Hang zum Mysteriösen. Den Überlieferungen nach soll Bela Lugosi etwas befremdet dreingeschaut haben, als ihm klar wurde, dass er nicht für die Rolle des Wissenschaftlers unterschrieben hatte, sondern vielmehr für jene des gleichnamigen Monsters. Hiermit hätte Lugosi sicherlich leben können, doch der wenig wortscheue und noch weniger zurückhaltende Darsteller explodierte förmlich, als er das Skript und die Details zu den Testaufnahmen erhielt. Lugosi empfand diese vorrangig als ein Sammelsurium von Beleidigungen. Er sollte nicht sprechen, sondern nur grunzen! Die Kreatur war ein tumber Klotz, künstlerisch weit unter seinem Niveau! Und schlimmer noch, er sollte bei den Dreharbeiten durch die Kulissen von Dracula (1930) wanken! 353 Das Dokument des Grauens Wodurch konnte die Rolle zu diesem Zeitpunkt noch einen Reiz auf Bela Lugosi ausüben? Die Antwort liegt auf der Hand: durch die Maske. Lugosi gehörte noch zu der alten Schule von Darstellern, für welche es eine Selbstverständlichkeit war, dass sie den von ihnen dargestellten Charakter und somit auch sein Aussehen weitgehend selbst definierten. Bei Dracula (1930) hatte sich Lugosi wiederholt gegen den Maskenbildner Jack Pierce durchgesetzt und dem Vampirfürsten letztlich jenes Aussehen gegeben, welches Lugosi bereits während seiner Theaterzeit vorzeigte. Und niemand kann Lugosi vorwerfen, dass er sich hierbei einen Fehltritt geleistet habe, eher das Gegenteil war der Fall gewesen. Daher erscheint es als logisch, dass Lugosi gedachte, bei den Frankenstein-Tests analog zu verfahren. An dieser Stelle beginnen die historischen Überlieferungen jedoch, ausgesprochen ungenau zu werden und es ist inzwischen nahezu unmöglich, hier harte Fakten von Legendenbildung zu unterscheiden. Es ist bekannt, dass Lugosis Maske in die Katastrophe führte und letztlich Lugosis eigene Filmkarriere nachhaltig beeinträchtigte. Unklar hierfür sind jedoch die genauen Ursachen. Edward Van Sloan berichtete viele Jahre später, dass Lugosis Maske ausgesprochen lächerlich gewesen sei. Er habe ausgesehen wie Paul Wegeners Golem. Auch andere Interviewpartner erzählten in ihren Rückblicken, dass Lugosi eine grausam geschmacklose Maske getragen habe, deren Krönung eine opulente Perücke gewesen sei. Van Sloan berichtete auch, die Maske sei unter der Hitze der Scheinwerfer teilweise geschmolzen und habe der Kreatur nicht etwa ein monströses Aussehen verliehen, sondern vielmehr den Eindruck eines Clowns erweckt. Der amerikanische Filmhistoriker John T. Soister ging in seinem Buch Of Gods and Monsters noch einen Schritt weiter Abbildung 11.4: Bela Lugosi während der zeigte sich davon überzeugt, dass diese Arbeit an seiner Maske für Dreharbeiten zu Maske einen Racheakt Jack Pierces geDracula Lugosi (1930) wegen Dracula (1930) darstellte. Pierce war dafür berüchtigt, dass genüber er sein Atelier schon beinahe diktatorisch leitete und eine Sitzung mit ihm für viele Darsteller als Abstecher in eine Visagistenfolterkammer endete; herbe Auseinandersetzung zwischen ihm und dem störrischen Ungar dürften unvermeidlich gewesen sein, zumal sich Jack Pierce auch zeitlebens darüber aufregte, dass Lugosi stets seine 354 11. Frankenstein (1931) eigenen Geschmäcklereien mit unglaublicher Sturheit durchzusetzen versuchte. Trägt Jack Pierce wirklich die Verantwortung dafür, dass Bela Lugosi in der Gestalt eines Tonklotzes und eingehüllt in dicke Kleidung durch die Hitze der Scheinwerfer und des kalifornischen Sommers stapfte? Ausschließen kann man es nicht, aber da keiner der unmittelbar Beteiligten mehr am Leben ist und da auch keine Filmaufnahmen oder Fotographien von den Dreharbeiten mehr existieren, wird die genaue Ursache des Debakels wohl für immer im Dunkeln bleiben. Ebenso unklar ist, was genau der Grund für Lugosi darauf folgendes Ausscheiden aus der Produktion war. Lugosi behauptete zeitlebens stets, er habe hier einen Schlussstrich gezogen, vor allem weil die Rolle weit unter seinem Niveau gewesen sei. Es gibt aber auch Berichte darüber, Carl Laemmle jr. habe sich bei der Sichtung des eine Rolle umfassenden Testmaterials kringelig gelacht und Lugosi daraufhin gefeuert. Nach dieser Vorführung beendete Laemmle auch die Zusammenarbeit mit Robert Florey. Florey wurde umgehend sämtlicher Verpflichtung im Rahmen des Abbildung 11.5: Ehemalige Erzfeinde Frankenstein-Projektes entbunden und schließlich doch noch vereint: Jack Pierihm wurde angekündigt, er würde bald ce und Bela Lugosi am Set für Son of mit einem Ersatzprojekt betraut werden. Frankenstein (1939) Robert Florey protestierte umgehend und pochte auf die Einhaltung seines Vertrages. Doch dann musste er lernen, dass sein Vertrag lediglich garantierte, dass er aufgrund seiner bisherigen Leistungen in diesem Projekt einen Horrorfilm für Universal inszenieren durfte - es stand mit keinem Wort geschrieben, dass dies Frankenstein (1931) sein musste. Robert Florey wurde aus dem Projekt entfernt und wurde einige Zeit später mit dem weniger herausfordernden Murders in the Rue Morgue (1932) betraut. Darüber hinaus wurde auch sein Name aus der Produktionshistorie und somit aus den Credits von Frankenstein (1931) getilgt, was wiederum für ständige Diskussionen unter Historikern sorgt, denn viele der innovativen neuen Elemente aus Frankenstein (1931) können auf Robert Floreys erste Rohfassung zurückgeführt werden. Mit dem Ausscheiden Robert Floreys aus dem durchaus zeitkritischen Projekt wurde dieses unangenehm verzögert. Floreys Konzept wurde grundlegend überarbeitet und hierbei auch die Vorlage von Peggy Webling stärker berücksichtigt. Dies hatte vor allem Auswirkungen auf die beabsichtigte Darstellung der Kreatur. Im Bühnenstück war sie ein Opfer ihres Schöpfers und keineswegs ein Täter, wie es Florey umzusetzen beabsichtigte. Hamilton Deanes Inszenierung war dafür bekannt, dass sie einen 355 Das Dokument des Grauens Gegenpol zu seiner Dracula-Adaption darstellte, denn hier war das Ungeheuer plötzlich der Sympathieträger. Das Publikum sollte es als happy ending werten, wenn sich Hamilton Deane in der Maske des Monsters am Ende im Halbdunkel der Bühne über Dr. Frankenstein beugte und Deane, begleitet von vielen Blitzen und Donnergrollen, sich anschickte, ihm die Kehle herauszureißen, was darin gipfelte, dass er einen mit roter Farbe durchtränkten Schwamm theatralisch zu Boden warf. Dies war der Racheakt der gepeinigten Kreatur in einem Stück, welches einen großen Wert auf einen humanistischen Kontext legte. In einer Szene ging Deane sogar so weit, die Kreatur eine (natürlich ausgestopfte) Taube durch ein geöffnetes Fenster in die Freiheit zu entlassen. Auf den Film färbte dies letztlich ab, denn auch hier wird Verständnis für Frankensteins Monster erzeugt, wobei allerdings dessen Gestalt noch durchaus furchteinflößend bleibt. Floreys Handschrift wurde nicht vollständig aus den verschiedenen Fassungen der Drehbücher getilgt. Ähnlich verhielt es sich mit den Bauten. Floreys düsteres Ambiente sollte erhalten bleiben und auch seine Idee der Lebensspendung durch Elektrizität wurde nicht angetastet. Zum Vergleich: In Peggy Weblings Stück war die Erschaffungsszene äußerst unspektakulär, indem sich Hamilton Deane einfach von einem Tisch erhob. Mary Shelley blieb hier unspezifisch über die Vorgänge und ließ offen, wie der Kreatur das Leben eingehaucht wird. Es hätte durchaus das Werk eines Alchemisten oder eines Zaubertranks sein können, aber von der Urgewalt eines Blitzschlages ist in der Romanvorlage in keinster Weise die Rede. Man ist sich heute sicher, dass Robert Florey den Film und auch die Mythologie um Frankensteins Monster nicht minder als der Regisseur des Films prägte - und als umso ungerechtfertigter wird heute die Tatsache gewertet, dass Robert Floreys Name in den Credits des fertigen Films nicht mehr auftaucht. Da wir gerade den Regisseur von Frankenstein (1931) erwähnten - nach Floreys Abgang hatte man natürlich das Problem, dass mit ihm auch der potentielle Regisseur das Projekt verlassen hatte und ein Nachfolger gefunden werden musste. Ganz zu schweigen davon, dass die Rolle des Monsters plötzlich nicht mehr besetzt war und auch noch andere zentrale Rollen wie jene von Frankenstein und seiner Verlobten Elizabeth noch immer ohne Darsteller waren. Wie prekär die Lage für Universal mittlerweile geworden war, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass das Abservieren Floreys und Lugosis keineswegs von Anfang an beabsichtigt war. Carl Laemmle jr. hatte sogar bereits ein Filmplakat drucken lassen, auf welchem Bela Lugosis Name prangte. Die einzige Front, an welcher es nicht kriselte, war jene des Drehbuches; hier hatte der Autor Garrett Fort seit April an einer Filmadaption von Weblings Bühnenstück gearbeitet und drei Monate nach Produktionsstart war dies das einzige Gebiet, auf welchem Fortschritte verzeichnet wurden. An allen anderen Ecken hingegen herrschte Krisenstimmung. Die Lösung kam in Form eines Engländers daher. James Whale war ein aufstrebender Regisseur, der innerhalb weniger Jahre einen Ruf als ausgesprochener Spezialist für Kriegsfilme erworben hatte. Seine Karriere kam in Fahrt, als er 1929 in London das Kriegsdrama Journey’s End auf die Theaterbühne brachte, unterstützt von Darstellern 356 11. Frankenstein (1931) wie George Zucco und Laurence Olivier. Die Kritiker lobten Whales Aufführung in den höchsten Tönen und vor den Theaterkassen bildeten sich tagtäglich lange Schlangen. Selbst als Laurence Olivier wenige Tage nach der Uraufführung das Ensemble verließ, schädigte dies den Erfolg von Journey’s End in keinster Weise; James Whale besetzte die Hauptrolle des Stückes mit dem Schauspieler Colin Clive neu und der Erfolg setzte sich fort. Schließlich schaffte es Whale mit einer an den amerikanischen Markt angepassten Version von Journey’s End sogar an den Broadway und auch hier wurde er gefeiert. Seine Eintrittskarte nach Hollywood hatte er somit sicher, denn der überragende Erfolg von Journey’s End forderte eine Filmversion geradezu heraus. James Whale flog 1930 nach Hollywood und kontaktierte dort Paramount. Durch sein Auftreten als wortgewandter Engländer wurde Howard Hughes auf ihn aufmerksam. Hughes befand sich damals in einer Bredouille, denn er zählte zu jenen Filmemachern, welche den richtigen Zeitpunkt für den Start in das Tonfilmzeitalter verschlafen hatten. Hughes hatte gerade sein Flieger-Kriegsdrama Hell’s Angels (1930) abgedreht, allerdings als reinen Stummfilm. Eine Vermarktung konnte er deshalb so gut wie vergessen, denn Stummfilme waren nicht mehr angesagt. Daher gab er James Whale die Chance, sich zu beweisen. Er beauftragte Whale damit, Dialogszenen für Abbildung 11.6: James Whale Hell’s Angels (1930) zu drehen. Whale akzeptierte und es endete glimpflich. Der Film wurde ein Erfolg, spielte bei etwas über 8.000 Dollar Produktionskosten etwa 3 Millionen wieder ein und war am Ende auch als Oscaranwärter für die beste Kamera im Gespräch. Journey’s End (1930) folgte auf dem Fuße. Dieser Film war nicht nur James Whales erste eigenständige Regiearbeit. Er brachte auch gleich noch seinen alten Hauptdarsteller Colin Clive in der Rolle des Captain Dennis Stanhope unter. Journey’s End (1930) war aufgrund alter Vertragsbindungen als eine Produktion der englischen Tiffany Pictures ausgegeben und in der Folgezeit kostete es James Whale einige Verrenkungen, bis er sich aus sämtlichen Verbindlichkeiten herausgelöst hatte und für Universal Waterloo Bridge (1931) inszenieren durfte, seinen nächsten Film. Waterloo Bridge (1931) war ein Kriegsdrama. Aber es war eines der inhaltlich etwas provokanteren Art. Mae Clarke spielte die Hauptrolle der Myra Deauville, einer Hure, welche sich in eine Liebesaffäre mit dem kanadischen Soldaten Roy stürzt, jedoch ohne ihn über ihre Vergangenheit aufzuklären. Ein glückliches Ende bleibt den beiden jedoch verwehrt, weil Myra während eines Luftangriffes auf London zu Tode 357 Das Dokument des Grauens kommt. Neben Mae Clarke war noch Frederick Kerr zu sehen und, noch am Anfang ihrer Karriere, Bette Davis. Mit der Besetzung der Rolle Myras durch Mae Clarke hatte James Whale gezeigt, dass er sich durchaus durchsetzen konnte, wenn es um die künstlerische Leitung eines Films ging; nachdem er bei den Dreharbeiten zu Hell’s Angels (1930) beinahe an den Versuchen verzweifelt war, aus der Hauptdarstellerin Jean Harlow einwandfrei artikulierte Laute heraus zu wringen, weigerte er sich bei Waterloo Bridge (1931) beharrlich, ein weiteres Starlet für die Rolle zu verpflichten und griff auf die damals unbekannte Mae Clarke zurück. Diese Entscheidung erwies sich als richtig, denn Mae Clarke lieferte eine hervorragende Arbeit ab. Waterloo Bridge (1931) wurde mit Lob überschüttet und James Whale schaffte mit diesem Film seinen endgültigen Durchbruch. Universal gab ihm als Belohnung freie Hand bei der Wahl seines nächsten Projektes. James Whales Glücksgefühle über diesen Blankoscheck hielten sich jedoch in Grenzen als er sah, welche Projekte ihm zur Wahl standen. Da Universal am Rand der Pleite stand, konzentrierte man sich dort vornehmlich auf das Kerngeschäft und der größte Vorjahreserfolg des Studios war Lewis Milestones All Quiet on the Western Front (1930). Oh nein, nicht schon wieder ein Kriegsfilm, dachte sich Whale und suchte nach Alternativen. Aber es schien keine solche zu geben. Nur noch ein banales Gruselfilmchen mit dem Titel Frankenstein (1931) schien übrig zu sein und auch dieses entsprach nicht unbedingt Whales Vorstellungen eines erstrebenswerten Eintrags in der eigenen Filmografie, zumal hier bereits der Karren augenscheinlich in den tiefsten Dreck gefahren worden war. Aber alles erschien besser als noch ein weiterer Kriegsfilm, denn abgesehen davon, dass James Whale von dieser Materie wirklich genug hatte, wäre er hiermit bewusst in die Falle getappt und müsste fortan den Ruf eines Kriegsfilmregisseurs zeitlebens mit sich herumschleppen. Also sagte er für Frankenstein (1931) zu, das aus seiner Sicht geringere Übel. Außerdem war ihm freie Hand zugesagt worden und unter diesen Bedingungen erschien es besser, diesen Film zu drehen, als sich bei anderen Studios zu bewerben. Whales erster Schritt war, Floreys Entwurf, mit welchem das Debakel einst begann, genauer zu betrachten. Der Entschluss reifte, dieses Skript komplett zu verwerfen. Der inzwischen von den Laemmles unter Vertrag genommene Darsteller Henry Frankensteins, Leslie Howard, folgte kurz hinterher. An seiner Stelle engagierte James Whale seinen alten Weggefährten Colin Clive. Bette Davis war eine heiße Kandidatin Carl Laemmle jrs. für die Rolle der Elizabeth, doch sein Onkel Carl Laemmle zögerte - er sah in Bette Davis ein kommendes Sexsymbol und wollte sie sich für einen Film aufheben, in welchem er ihr größtes Kapital, nämlich ihre langen Beine, besser in Szene setzen konnte. James Whale bereitete diesem ständigen Für und Wider ein Ende, als er Bette Davis ablehnte und stattdessen Mae Clarke als Elizabeth verpflichtete. Als alten Baron Frankenstein, den Vater des experimentierenden Henrys, verpflichtete er Frederick Kerr, der ebenso wie Mae Clarke in Waterloo Bridge (1931) mitspielte und dort in den Szenen, in welchen er auftauchte, den anderen Darstellern die Show stahl. 358 11. Frankenstein (1931) Edward Van Sloan und Dwight Frye hatten Glück und wurden von James Whale in die finale Besetzungsliste von Frankenstein (1931) übernommen. Nun fehlte nur noch ein Darsteller ... jener des Monsters. James Whales Lebensgefährte David Levy, der sich unter seinem Künstlernamen David Lewis im Laufe der folgenden Jahren einen guten Ruf als Produzent erarbeiten würde, sah sich eines Tages das Gefängnisdrama The Criminal Code (1931) von Howard Hawks an. Dort wurde er auf einen Nebendarsteller aufmerksam, welcher ihm wie geschaffen für die Rolle des Monsters erschien. Dieser junge Mann hieß William Henry Pratt und er schien eines der unzähligen jungen Talente zu sein, welche jede Tätigkeit annahmen, um sich in Hollywood durchschlagen zu können. Eigentlich wollte er Schauspieler sein, aber er kam über Nebenrollen nicht hinaus, seit er 1916 in einem ersten Film mitgewirkt hatte. Auch das Ändern seines Geburtsnamens in den exotisch klingenden und sein beeindruckendes Äußeres untermalenden Namen Boris Karloff half hier nur wenig. Trotz seiner fast 80 Filmauftritte schlug er sich bis ins Jahr 1931 vornehmlich mit Hilfsarbeitertätigkeiten durch; im Sommer des Jahres 1931 war er gerade als Traktorfahrer im Holzlager Universals tätig. Aber Karloff war frohen Mutes und ließ keine Gelegenheit aus, sich um neue Rollen zu bewerben. So auch an jenem Mittag. Karloff saß geschniegelt und gestriegelt und mit seinem besten Anzug bekleidet in der Kantine, um noch schnell ein Häppchen zu essen und sich danach auf ein Vorsprechen zu begeben, als ihm der Keller plötzlich eine Nachricht von einem Gentleman auf einem silbernen Tablett überreichte, der an einem der Nachbartische saß. Karloff nahm den Zettel entgegen und versäumte für den Rest seines Lebens keine Gelegenheit um zu erzählen, wie er, herausgeputzt wie zu seiner eigenen Hochzeit, die Nachricht las, in welcher James Whale ihm die Rolle eines Monstrums anbot. Karloff war ein Opportunist. Dementsprechend begab er sich an Whales Tisch und sagte zu. James Whale fertigte eine Portraitskizze Karloffs an, in welcher er jene Gesichtsmerkmale betonte, welche ihn an Karloffs Aussehen faszinierten: die hohe Stirn, die tiefsitzenden Augen und die Wangenknochen. Diese Zeichnung zeigte er Jack Pierce und legte ihm seine Idee dar, wie das Monster aussehen könnte. Parallel arbeiteten bereits mehrere Designer Universals an Konzepten und sie produzierten ein wildes Allerlei von Vorschlägen hinsichtlich der Erscheinung des Monsters. Einige der Zeichnungen tendierten zu der Erscheinung eines geistig zurückgebliebenen, grobschlächtigen Mannes, andere übersäten sein Gesicht mit Beulen und Geschwülsten, einige erinnern heute an Außerirdische, welche Filmen der 50er Jahre entsprungen zu sein scheinen, der Designer Karoly Grosz lieferte gar die Zeichnung eines Roboterkopfes ab. Von letzterem wurde die Idee zweier in Höhe des Nackens am Hals befestigter Stahlbolzen, über welche der Kreatur der Strom in den noch leblosen Körper schießen sollte, übernommen. Von den restlichen Entwürfen überlebten nur die häufig auftretenden 359 Das Dokument des Grauens Gemeinsamkeiten einer hohen Stirn sowie wulstiger Augenbrauen. Das endgültige Aussehen des Monsters sollte schließlich in den Händen von Jack Pierce liegen. Basierend auf Whales Grundidee begann er, Karloffs natürliche Gesichtsmerkmale zu betonen. Er verlängerte Karloffs Stirn noch ein wenig nach oben und flachte seinen Schädel ab, sodass er an einen Topf erinnerte, in welchen sein Schöpfer das fremde Gehirn einfach platzieren könnte. Die wulstigen Knochen unter den Augenbrauen wurden mit großen Mengen Nasenkitts geAbbildung 11.7: Jack Pierce (links) und formt. Karloffs Gesicht wurde anschlieBoris Karloff (mitte) während der Drehar- ßend grau geschminkt - zumindest am beiten beim Betonen der Delle in Karloffs Anfang, bis jemand die Idee hatte, stattdessen die Farbe grün zu benutzen. Wange Karloff ließ all die Prozeduren geduldig und gefügsam über sich ergehen. Sehr zur Freude von Jack Pierce natürlich, der in Boris Karloff das genaue Gegenteil des von ihm wegen seiner ständig Nörgelei und Besserwisserei verhassten Lugosi erlebte. Karloff arbeitete auch kräftig mit; so empfand er während einer Sitzung seine Augen als zu lebhaft für das Monster und brachte Jack Pierce hierdurch auf die Idee, eine kräftige Portion Wachs auf Karloffs Augenlieder zu schmieren, sodass dieser sie unmöglich ganz öffnen konnte und was Frankensteins Monster einen durchweg zombieähnlichen Blick verlieh. Sehr zum Leidwesen Karloffs übrigens, denn seine Augen entzündeten sich aufgrund dieser Tortur ständig. Genauere Beobachter entdecken bei dem Monster auch stets eine markante Delle in seiner rechten Wange. Auch dies war eine Idee Karloffs. In Karloffs Gebiss prangte eine Zahnbrücke, welche sich über drei Zähne erstreckte. Diese Brücke nahm er heraus und somit konnte er seine Wange ein Stück in seinen Mund hineinsaugen - fertig war ein maskenbildnerisch nur schwer umsetzbarer Effekt. Aber jetzt haben wir so viel über die Vorgeschichte des Films geschrieben, dass es an der Zeit ist, dass wir uns den Film ansehen. Wir werden dies wieder häppchenweise tun, durchsetzt mit einigen Hintergrundinformationen und anderen Details zu bestimmten Szenen. Vorhang auf für einen der großen Klassiker des Horrorfilms! Der Film beginnt ausgesprochen ungewöhnlich, nämlich mit einem Prolog. Bei frühen Aufführungen von Dracula (1930) erschien Edward Van Sloan nach dem eigentlichen Ende des Films auf der Leinwand und bereitete die Zuschauer darauf vor, das Filmtheater ohne wackelige Knie zu verlassen. Bei Frankenstein (1931) entschloss sich Universal, eine derartige Szene vor den tatsächlichen Filmbeginn zu setzen. 360 11. Frankenstein (1931) Bei Universal war man sich darüber im Klaren, dass man sich mit Frankenstein (1931) recht weit aus dem Fenster lehnte. Der Film ging weiter als je ein Film zuvor und zeigte Szenen, deren Intensität und Potential zur Provokation nicht unterschätzt werden durften. Man befürchtete, Frankenstein (1931) sei zu heftig für das zeitgenössische Publikum ausgefallen. Heftig genug, um es zu verprellen. Aber dies durfte nicht passieren, denn schließlich wurde der Film ja gedreht, um Universals leere Kassen zu fül- Abbildung 11.8: Edward Van Sloan eröfflen. Daher wurde schon im Vorfeld der net den Film mit einer Warnung Vermarktung aus diesem Element Profit geschlagen. Im Trailer von Frankenstein (1931) wurde erstmals in der Filmgeschichte ein Film als Horror tituliert, was sowohl einen ehrlichen als auch einen umsatzfördernden Effekt mit sich bringen sollte. Der Prolog des Films schlug in die gleiche Kerbe, denn auch hier wurde nochmals darauf hingewiesen, dass empfindliche Gemüter mit dem Film überfordert sein könnten: „Wie geht es Ihnen?“, beginnt Edward Van Sloan seine Ansprache. „Herr Carl Laemmle denkt, es sei unhöflich, Ihnen diesen Film ohne eine freundliche Warnung zu präsentieren. Wir werden nun die Geschichte von Frankenstein erzählen, einem Wissenschaftler, der einen Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen wollte, ohne hierbei auf Gott zu zählen. Es ist eine der eigenartigsten Geschichten, welche je erzählt wurden. Sie erzählt von den zwei großen Mysterien der Schöpfung - dem Leben und dem Tod. Ich glaube, sie wird Sie erschauern lassen. Sie könnte Sie schockieren. Sie könnte Sie sogar ängstigen. Also, falls Sie denken, dass Sie ihre Nerven einer solchen Anspannung nicht aussetzen können, ist jetzt Ihre Chance zu ... nun, wir haben Sie gewarnt!“ Universal nahm die eigene Befürchtung, dass Zuschauer durch den Film in hohem Maße schockiert werden könnten so ernst, dass ein knappes Dutzend Autoren auf diese kurze Begrüßung angesetzt wurden. Unter den Autoren befand sich übrigens auch John Huston, der spätere Regisseur von Klassikern wie The Maltese Falcon (1941), The African Queen (1951) und Moby Dick (1956) - sein Entwurf gehörte jedoch zu jenen, welche verworfen wurden. Dieser Vorspann entstand jedoch erst nach Abschluss der eigentlichen Dreharbeiten; mehr dazu später. Nach dieser kurzen Einlage beginnt dann der Vorspann des Films. Hier gibt es gleich mehrere Dinge, die uns auffallen. Als erstes wäre zu nennen, dass der Vorspann nicht wie damals meistens üblich aus Standbildern besteht. Es handelt sich vielmehr um eine durchgehende Animation. In der ersten Titelkarte, in welcher der Titel des 361 Das Dokument des Grauens Films genannt wird, sehen wir im Hintergrund das stilisierte Gesicht eines Mannes. Mit zu Klauen gekrümmten Händen starrt er ins Publikum, aus seinen Augen scheinen Lichtstrahlen zu schießen. Wenn Sie nun denken, es handele sich um ein Standbild, dann sehen Sie ganz genau hin; das Antlitz des Mannes wächst beständig. Mit seinem Blick möchte er scheinbar das Publikum hypnotisieren und seine Krallen sind erhoben, um es zu packen. Ein sehr subtiler Effekt. Auch das darauf folgende Hintergrundsmotiv hat die Hypnose als Leitthema. Es erscheint das undeutliche Gesicht eines anderen, dem Anschein nach älteren Mannes, Um ihn herum dreht sich ein Meer aus Augen im Uhrzeigersinn. Dem Motiv vieler Augen begegnet man des Öfteren in der traditionellen Darstellung von Zauberern. Die Musik, welche Sie hier hören, stammt von einem Komponisten namens Bernhard Kauhn. Kauhn arbeitete in seiAbbildung 11.9: Dier erste Titelkarte des nem Leben an mehr als 250 Filmen mit, Films aber er schaffte es nie zu einem großen Bekanntheitsgrad. In vielen dieser Filme wurde er auch nicht namentlich erwähnt. Neben Frankenstein (1931) finden sich in seiner Filmografie als Komponist und Dirigent auch etliche Filme, welche wir noch unter die Lupe nehmen werden; hierzu gehören Doctor X (1931), The Most Dangerous Game (1932), The Old Dark House (1932), Mystery of the Wax Museum (1933), King Kong (1933) und noch einige andere; abseits des Horrorgenres arbeitete er zum Beispiel an Filmen wie The Scarlet Empress (1934) mit Marlene Dietrich mit, ebenso wie bei A Farewell to Arms (1932), A Star is Born (1937) und Gone With the Wind (1939). Bernhard Kauhn ist einer jener Mitarbeiter Hollywoods, welcher mitgeholfen hat, wichtige Filme und damit auch unser Filmempfinden zu prägen, aber die stets als Unbekannte unsichtbar im Hintergrund verblieben. Kauhns Titelmusik zu Frankenstein (1931) ist auch die einzige Musik, welche in dem ganzen Film zu hören ist. James Whale ersetzt die Filmmusik nach dem Ende des Vorspanns durch eine ausgefeilte Geräuschkulisse, wie zum Beispiel durch das Hundegebell in den letzten Minuten des Films. Wie wir in bisherigen Filmbesprechungen schon wiederholt dargestellt haben, waren in jenen frühen Tagen des Tonfilms musikalische Untermalungen von Filmszenen noch nicht üblich und es ist hier schon bemerkenswert, dass Universal bei Frankenstein (1931) eine eigene Titelmelodie komponieren ließ, anstelle wie üblich auf die Wiederverwertung klassischer Musik zu setzen. Die suggestive Kraft von Musik in Filmen war damals noch kein Thema, worüber Filmemacher und Produzenten nachdachten und daher ist es umso bemerkenswerter, dass sich James Whale dieses Potentials durchaus bewusst war und mit Frankenstein (1931) einen Film schuf, welcher zwar nach dem Vorspann komplett ohne Filmmusik 362 11. Frankenstein (1931) auskam, dies aber auch noch heute kaum auffällt. In der zweiten Titelkarte werden John Balderston und Peggy Webling als Urheber der Vorlage des Films genannt. Erwartungsgemäß ist Horace Liveright hier nicht erwähnt. Die dritte Texttafel wurde alleine für James Whale reserviert, die vierte gehört den Darstellern. Beachten Sie hier, dass Boris Karloff an dieser Stelle nicht namentlich genannt wird. Als Darsteller des Monsters ist ein großes Fragezeichen angegeben. Dies ist ein Teil des Personenkults, welchen Universal im Vorfeld der Aufführung von Abbildung 11.10: Die Namen der DarstelFrankenstein (1931) um Boris Karloff ler - aber einer bleibt unbekannt aufbaute. Das Fehlen von Karloffs Namen in der Darstellerliste ist jedoch nicht die Idee Universals gewesen, sondern man hat sie sich von Richard Brinsley Peakes Bühnenfassung aus dem Jahr 1823 abgeschaut. Eigentlich sollte der Film als erste Einstellung eine Prozession zum Friedhof zeigen, die schwarzgekleidete Trauergemeinde nebst Sarg zum Klang der Totenglocke. Diese Szene wurde zwar gedreht, aber sie fiel dem Schneidetisch zum Opfer. Sie ist in der Fortsetzung Bride of Frankenstein (1935) zu sehen. Stattdessen sehen wir Close-Ups auf die Gesichter der Beerdigungsgesellschaft. In dieser Szene lässt James Whale bereits seinen unterschwelligen und bissigen Humor aufblitzen, für welchen er berühmt wurde. Die Kamera schwenkt langsam von rechts nach links über die Gesichter der Anwesenden hinweg. Männer jeden Alters, ebenso Frauen, der Priester, ein Gehilfe lässt eine Totenglocke leise bimmeln, noch mehr Besucher und letztlich eine Statue des Todes. Wenn Sie ihre Lauscher brav aufgesperrt haben, dürfte Ihnen schon in dieser Einstellung der Ton aufgefallen sein. Noch bevor ein Bild auf der Leinwand zu sehen ist, hören wir die Stimme des Pfarrers, der die Totenmesse in lateinischer Sprache hält. Latein ist eine alte Sprache mit nicht minder altertümlichem Klang, was in dieser Szene bereits fundamental wichtig für die Errichtung einer Grundstimmung ist. Die Totenglocke tut hierzu ihr Übriges auf der akustischen Ebene. Die Stimmung der Bilder befindet sich hierzu im Einklang. Unbewegte Gesichter, in schwarze Tücher gehüllt, ein diffuser Bildhintergrund und zum Abschluss der Anblick des Todes, dargestellt als durch ein mit einem Umhang bekleideten Skelett. Es sind nur wenige Sekunden vergangen und schon hat James Whale durch eine konsequente Ausnutzung seiner Möglichkeiten dem Film eine düstere, für die damalige Zeit sogar abgrundtief düstere Färbung mit auf den Weg gegeben. Eigentlich ist noch gar nichts passiert, es fand abgesehen von dem im Hintergrund zu hörenden Sermon des Priesters noch nicht ein363 Das Dokument des Grauens mal der Hauch eines Dialogs statt, und schon rutschte der Kinogänger des Jahres 1931 beunruhigt auf seinem Sitz herum. Damit dürfte auch klar sein, weshalb sich Whale dazu entschied, die angesprochene Prozessionsszene aus dem fertigen Film zu entfernen. Die hier gezeigte Eröffnung erfüllt alle ihre Aufgaben in gleichem Maße. Die Grundstimmung des Films wird umgehend etabliert, der Zuschauer weiß immer noch sofort, was er gerade sieht, inhaltlich geht auch nichts verloren - Whale befreite den Film nur von überflüssigem Ballast. Diese Einstellung endet inmitten der Kamerabewegung in einem harten Schnitt. Der Schnitt erscheint nicht nur als unangebracht platziert, er ist es eigentlich auch. Die ursprünglich gedrehte Einstellung zeigte eine noch weiterführende Kamerafahrt bis zu Henry Frankenstein und seinem Gehilfen Fritz, die sich hinter einem Grabmal verstecken. Diese Kamerafahrt ging Whale wohl zu lang und er sah in dem harten Schnitt das kleinere Übel. Dies ist ein typisches Ergebnis, wenn Mängel bei der eigentlichen Inszenierung vor Ort nachträglich im Schneideraum ausgebessert werden. Als die Besucher der Beerdigung die Grabstätte verlassen, beginnt der Totengräber mit seinem Werk. Achten Sie auch hier wieder auf den Ton, als dieser den Sarg mit Erde zuzuschaufeln beginnt. Das Geräusch des Aufpralls der Erde auf den Sargdeckel ist überdeutlich. James Whale ließ hierfür ein Mikrophon in den Sarg legen, welches den Ton aufzeichnete. Wir sehen zwar den Totengräber bei der Arbeit, aber unsere Ohren erzählen uns, wie es sich anhört, begraben zu werden. Die gruselige Tendenz des Anfangs wird hierdurch fortgesetzt. Whale tat hier jedoch auch etwas, was inzwischen für Horrorfilme sehr typisch ist, aber damals keineswegs dem Bild entsprach, welches von den Interessen des Publikums existierte: Er konfrontierte in dieser Szene wie auch im Rest des Films seine Zuschauer ständig mit Dingen, über welche sie nicht bewusst nachdenken wollen. Er ließ keinen Raum mehr, um unangenehme Dinge einfach verdrängen zu können. Dies war einer der Aspekte des Skandals, welcher nach der Premiere des Films losbrach. Als der Totengräber mit der Arbeit fertig ist, zündet er sich eine Pfeife an. In dieser Einstellung haben Sie die bislang beste Gelegenheit, sich den Hintergrund der Szene anzusehen. Fällt Ihnen etwas auf? Genau, wir sehen hier weder Landschaft noch Himmel, sondern eine bemalte Wand. Die Szene ist nicht im Freien, sondern im Studio gedreht. Nachdem auch der Totengräber von der Bildfläche verschwunden ist, kriechen Frankenstein und Fritz aus ihrem Versteck. Wir erkennen sofort, dass Henry Frankenstein ein Mann mit einem Problem ist: er wirkt gehetzt, vorsichtig wie ein Verbrecher und das fettige, ihm in die Stirn hängende Haar entspricht auch nicht jenem eines gepflegten Gentlemans. Dies passte jedoch umso besser zu seinem Darsteller, Colin Clive. Clive war psychisch krank, er war innerlich zerrissen und hatte einen Hang zu Depressionen. Daher war er auch ein Alkoholiker, der ständig trank und man hatte im Vorfeld der Produktion Sorgen, dass der von James Whale ausgesuchte Colin Clive die Produktion ruinieren könnte. Aber James Whale kannte seinen bewährten Hauptdar364 11. Frankenstein (1931) steller gut und wusste, wie er ihn führen musste. Abbildung 11.11: Nach getaner Arbeit gibt es ein DiePfeifchen Figur des buckligen Dieners Fritz kommt in Shelleys Roman nicht vor. Sie ist jedoch auch keine Erfindung dieses Films, wie man vielleicht annehmen möchte. Fritz tauchte erstmals in frühen Bühnenadaptionen auf. Dwight Frye hatte mit Fritz seine zweite Rolle innerhalb eines Jahres, in welcher er extreme Persönlichkeiten darstellen musste; der Vorgänger war die Rolle Renfields in Dracula (1930) gewesen. Dies roch stark nach einer stereotypen Zukunft, was aber letztlich keine Rolle spielen sollte. Ja- Abbildung 11.12: Frankenstein und Fritz mes Whale war von Frye begeistert und graben eine Leiche aus die beiden drehten nach Frankenstein (1931) noch weitere vier Filme miteinander. Frankenstein und sein Diener begeben sich umgehend zu Werke und graben den frisch Beerdigten wieder aus. Diese Szene wird gerne als Beispiel für James Whales schwarzen Humor genannt. Hinter den beiden Männern ist am rechten Bildrand erneut die Statue des Todes zu sehen und mit seinem ersten Schaufelstich befördert Frankenstein, dessen erklärtes Ziel bekanntlich ist, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, eine kapitale Ladung Dreck in das Gesicht des Sensenmannes. Dies geschieht herrlich beiläufig und fällt bei oberflächlichem Sehen nicht sofort auf. Nachdem der Sarg teilweise aus dem Grab gewuchtet worden ist, wird das Publikum über das Vorhaben aufgeklärt. In einem Close-Up blickt Frankenstein in die Kamera, tätschelt seinen Sarg und kündigt an, dass der Insasse nur ruht und auf ein neues Leben wartet. Dann geht es weiter. Der Sarg landet auf einem Karren und die 365 Das Dokument des Grauens beiden Grabschänder machen sich auf den Weg zu der nächsten Leiche. Die folgende Szene war nach dem damaligen Empfinden ebenfalls an der Grenze zur Geschmackslosigkeit angesiedelt. Frankenstein und Fritz gehen zu einem an einer Kreuzung stehenden Galgen, von welchem noch ein Erhängter baumelt. Frankenstein weist Fritz an, auf den Galgen zu klettern und den Körper loszuschneiden. Wie kontrovers derartige Inhalte damals waren, wird nachvollziehbar, als auch Fritz plötzlich Skrupel zu haben scheint. Er weigert sich zuerst, Abbildung 11.13: Ein Galgen am Weges- doch Frankenstein setzt sich durch. Fritz rand durchtrennt das Henkersseil, die Leiche fällt zu Boden und Frankenstein beginnt sofort, sie zu untersuchen. Doch das Genick ist gebrochen und das Gehirn somit nutzlos. Frankenstein blickt wieder in die Kamera und verkündet seine Erkenntnis: Sie müssen ein anderes Gehirn finden! Diese Möglichkeit ergibt sich in der medizinischen Fakultät der Stadt Goldstadt. Dr. Waldman führt vor Studenten eine Autopsie durch. Dr. Waldman hat bei seiner Vorlesung einen ungebetenen und unbemerkten Zaungast, denn Fritz schaut heimlich durch ein Fenster zu. Auch hier baute James Whale wieder eine provokante Aufnahme ein, als er zu Beginn die nackten Füße der ansonsten mit einem Tuch bedeckten Leiche in die Richtung der Kamera ragen ließ. Dr. Waldman referiert über die Unterschiede zwischen den Gehirnen eines normalen Menschen und denen eines Verbrechers. Hier lauert bereits der nächste Schockeffekt für die zeitgenössischen Kinogänger, denn die in Alkohol eingelagerten Gehirne werden in einem Close-Up gezeigt. Währenddessen erklärt Dr. Waldman die „wissenschaftliche Erkenntnis“, dass kriminelle Veranlagungen in Form von physischen Degenerationen an den Gehirnen erkennbar seien. Mit dem Kommentar, dass die beiden Gehirne zur genaueren Betrachtung im Hörsaal verbleiben würden, beendet Dr. Waldman seine Vorlesung und die Studenten strömen in die Flure der Universität hinaus. Hierin steckt ein kleiner logischer Fehler, denn niemand scheint sich für Dr. Waldmans Exponate zu interessieren und mehr noch, Dr. Waldman verlässt den Hörsaal als letzter und hätte die beiden Gehirne dann auch logischerweise wegräumen können, aber hier hatte eine straffe Erzählung wohl Vorrang vor einer lückenlosen Kontinuität. Derartige Kontinuitätsfehler von allerdings deutlich kritischerer Natur werden wir im weiteren Verlauf des Films noch einige entdecken. 366 11. Frankenstein (1931) Abbildung 11.14: Das abnorme Gehirn in der ersten Einstellung... Abbildung 11.15: ... und hier in der zweiten: Unterschiedliche Etiketten Bereits die nächste Szene beherbergt einen deutlichen Regiefehler. Fritz dringt in den Hörsaal ein, um eines der beiden Gehirne zu stehlen, welche in der Szene zuvor bereits gezeigt wurden. Dort trugen die Gläser jeweils zwei schreibmaschinenbeschriftete Etiketten. Im Falle des kranken Gehirns stand auf dem einen die belustigende, pseudolateinische Bezeichnung dysfunctio cerebri, auf dem anderen in englischer Sprache abnormal brain. Dieses zweite Etikett wurde nun durch ein handschriftliches ersetzt, welches deutlich eindringlicher darauf hinweisen soll, dass sich darin das Hirn eines Verbrechers befindet. Natürlich ist es narrativ notwendig, dass der Zuschauer zweifelsfrei über den Inhalt der Gläser informiert ist und daher ist es auch nachvollziehbar, wenn die Schriftzüge normal brain und abnormal brain überdeutlich und schon fast Hinweisschildern gleich auf den Gläsern prangen. Dies entschuldigt jedoch nicht, dass diese warnenden Beschriftungen nicht auch bereits in der ersten Szene in dieser Form auf die Behälter geklebt wurden. Fritz stiehlt zuerst das gesunde Gehirn, doch durch einen lauten Gongschlag, woher auch immer dieser gekommen sein mag, erschrickt er und lässt das Glas fallen. Da Fritz anscheinend nicht weiß, was er nun tun soll, greift er stattdessen zum den kranken Gehirn. Diese Diebstahlsszene ist ebenfalls kein Bestandteil des Buches, aber spätestens durch ihre Parodie in Young Frankenstein (1974) wurde sie zu einem Klassiker. Hier sei erwähnt, dass die Idee zu dieser Szene nicht aus einem der Bühnenstücke entlehnt wurde, sondern in der Tat aus Frankenstein (1931) stammt. Die nächste Szene bleibt vor allem wegen ihrer mutigen Inszenierung in Erinnerung. Nachdem die bisher erzählte Geschichte mit dem Diebstahl des Gehirnes bereits ins Rollen gekommen ist, geht Frankenstein (1931) jetzt wieder einen Schritt zurück in die Exposition. Es werden zwei neue Charaktere vorgestellt, nämlich Victor Mo367 Das Dokument des Grauens ritz und Henry Frankensteins Verlobte Elizabeth. Hinzu kommt noch ein Wechsel des räumlichen Standortes. Wie wird derartiges normalerweise dem Publikum nahegebracht? Die herkömmliche Art und Weise für solch einen Wechsel ist ein sogenannter establishing shot, eine bewusste Verbindung zwischen der zuletzt gezeigten und der neuen Szene, damit der Zuschauer möglichst weich in den Szeneriewechsel eingeführt wird und, wie es böse Zungen formulieren würden, nicht zu denken braucht. Von solchen Verbindungseinstellungen gibt es eine Vielzahl von Varianten, aber das Grundprinzip ist immer gleich. Zuerst wird der Ort des Geschehens in einer Totalen gezeigt. Dies kann das Innere eines Hauses sein, ein Haus von außen, eine aus der Luft gefilmte Panoramaansicht einer Stadt oder auch, wie man es in Filmen aus der Science Fiction des Öfteren sieht, ein ganzer Planet. Ungeschickt inszenierte Filme nehmen hier auch gerne Untertitel zur Hilfe, welche den Ort des Geschehens explizit nennen. Danach wird der Schauplatz enger eingegrenzt, indem die unmittelbare Umgebung des Geschehens mit den Darstellern in einer weiteren Totalen gezeigt wird und dann beginnen die Close-Ups auf die Protagonisten selbst. Hierdurch werden Filme simpel erzählt, der Regisseur muss kein Könner sein und der unbedarfte Zuschauer darf sein Hirn an der Kinokasse abgeben - alle sind glücklich, mit Ausnahme anspruchsvoller Cineasten. James Whale wagte es, diese Grundregel des kommerziellen Erzählens zu brechen. Die Szene stellt einen neuen Schauplatz und neue Charaktere vor, aber Whale bettet den Zuschauer hier nicht auf weiche Kissen, sondern reißt ihn unvermittelt aus der bisherigen Geschichte heraus und irritiert ihn somit. Whale kehrt die traditionelle Regel solcher establishing shots um und beginnt mit den Nahaufnahmen. Zuerst wird ein Portraitfoto Henry Frankensteins eingeblendet. Henry kennen wir bereits und wir ahnen noch nicht, dass ein Standortwechsel erfolgte. Nach einigen Sekunden folgt der nächste Close-Up, als ein etwas älteres Dienstmädchen eine Tür öffnet und einen Besucher ankündigt. Auch jetzt ist noch alles im Lot. Die Irritierung setzt ein, als nach dem nächsten Schnitt das Gesicht des Besuchers gezeigt wird. Es handelt sich um Victor Moritz, was wir jedoch noch nicht wissen und dementsprechend sind wir nun erstmals verwirrt. Holla, wer ist denn das? Nun gut, Henry Frankenstein wird uns darüber wohl aufklären. Spätestens jetzt erwarten wir eine Ansicht aus der Totalen, in welcher Henry Frankenstein seinen Besucher namentlich begrüßt und in die Szene einführt, so etwas wie „Hallo, Victor, mein guter Freund“. Aber weit gefehlt, es kommt keine Totale, sondern ein weiterer Close-Up, und schlimmer noch, wir sehen ein weiteres unbekanntes Gesicht. Es handelt sich um Elizabeth, aber auch sie wurde uns noch nicht vorgestellt. Der Close-Up wird gehalten, während sich Elizabeth erhebt und erst dann erfolgt die Erlösung durch eine Totale. Und siehe da, James Whale hat uns erfolgreich geleimt, denn das opulent ausgestattete Zimmer, welches wir nun sehen, ist uns gänzlich unbekannt und will auch gar nicht in das nüchterne und düstere Ambiente, welches wir als Umwelt Frankensteins gewohnt sind, hineinpassen. Erst jetzt wird uns klar, dass wir ein Geschehen beobachten, welches an einem gänzlich anderen Ort spielt und auch erst jetzt, als Elizabeth ihren Gast begrüßt und der Blick368 11. Frankenstein (1931) winkel für die Dialogszene in eine Halbtotale wechselt, dämmert uns allmählich, wer die Personen auf der Leinwand eigentlich sind. Abbildung 11.16: Inverser establishing shot: Zuerst Frankenstein... Abbildung 11.17: ... dann ein CloseUp auf Victor Moritz... Abbildung 11.18: ...und mit Elizabeth auf ein weiteres neues Gesicht...l Abbildung 11.19: ...und erst jetzt folgt der Schnitt in die Totale. Man kann sich darüber streiten, ob James Whale mit diesem Kniff einen dramaturgischen Vorteil erzielte oder nur ob hier nur der Spieltrieb aus ihm hervorgebrochen war. Die Bedeutung der gesamten Szene für den Film ist relativ gering und es erscheint nicht als lohnenswert, hier den Zuschauer zum Denken zu zwingen und diese Szene durch die insgesamt vier Nahaufnahmen von Gesichtern als dramatisch erscheinen zu lassen. Aber auch wenn man sich darüber streiten kann, ob diese Einführung denn nun sinnvoll gewesen sein mag oder nicht, ist eines nicht zu bestreiten: James Whale war Feuer und Flamme, wenn es darum ging, etwas Neues auszuprobieren und auch in seinen zukünftigen Horrorfilmen war er stets darauf erpicht, sein Publikum in irgendeiner Weise zu sticheln. Ebenso zeigt diese Dramaturgie, dass James Whale ein wirklicher 369 Das Dokument des Grauens Meister seines Faches war, denn ein mittelmäßiger Regisseur hätte diese Szene entweder völlig anders inszeniert und, falls nicht, mit Sicherheit in den Sand gesetzt. In dem nun beginnenden Dialog erfahren wir, dass Elizabeth sich Sorgen um den in der Ferne weilenden Frankenstein macht und deshalb Victor Moritz bat, zu ihr zu kommen. Seit vier Monaten hatte sie nichts mehr von ihm gehört und sein Brief, welcher heute bei ihr eintraf, erscheint ihr als sehr mysteriös und von einem ihr fremden Frankenstein geschrieben. Wir sehen hier wieder einen interessanten Regietrick James Whales. Bevor er Elizabeth aus Frankensteins Brief vorlesen lässt, baut er eine physische Präsenz Frankensteins auf. Hierzu gehen Elizabeth und Moritz beiläufig zu einem Klavier, auf welchem Frankensteins Portrait steht, welches wir zu Beginn der Szene gesehen haben. Das Portrait steht der Kamera zugewandt vor Elizabeth im Bildvordergrund und während sie die Zeilen des Briefes vorzulesen beginnt, ist Abbildung 11.20: Elizabeth liest Franken- der an einem weit entfernten Ort weilensteins Brief vor de Frankenstein dennoch Teil der Szene. Heutzutage werden solche Szenen in der Regel durch Überblendungen oder ein Voice-Over realisiert, was mittlerweile zu einem Regieklischee verkommen ist, vor allem weil es fast nur noch in schlechten Filmen benutzt wird. In Frankenstein (1931) spricht zwar noch nicht Frankenstein selbst zu uns, aber er ist bereits Teil der Szene. Der Inhalt des Briefes erklärt uns, was wir über den Leichendieb der Anfangsszenen wissen müssen. Er lebt abseits von Goldstadt in einem alten Wachturm, wo er und sein Assistent Fritz ungestört und vor allem unbeobachtet ihren Experimenten nachgehen können. Elizabeth legt dazu noch eine Rückblende auf das Parkett, als sie Victor von ihrer Verlobung mit Frankenstein berichtet, jener Nacht, in welcher sie von Frankensteins geheimnisvoller Entdeckung erfuhr. Über die Natur dieser Experimente weiß sie nichts - der Zuschauer jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr wohl. Falls es doch jemanden geben sollte, der sich den Film ohne Vorkenntnisse ansieht, so weiß er jedoch, dass diese Experimente nicht ganz koscher sein können, denn schließlich wurden hierfür eine Leiche und ein Gehirn gestohlen. Diese Kenntnisse, welche Elizabeth und Victor fehlen, versetzen den Zuschauer in eine göttliche Perspektive. Victor verspricht Elizabeth, mit Frankensteins altem Professor Dr. Waldman zu sprechen, denn vielleicht weiß dieser mehr über Frankensteins Experimente und Allgemeinzustand. Dr. Waldman kennen wir bereits - er war jener Professor, welchem das Gehirn entwendet wurde. 370 11. Frankenstein (1931) Elizabeth bedankt sich bei Victor, woraufhin dieser erwidert, für sie würde er ans Ende der Welt reisen. Oh oh oh, der junge Mann ist offensichtlich verliebt. Wahrscheinlich sperrt er sich auch deshalb nicht dagegen, dass Elizabeth ihn zu Dr. Waldman begleitet... Diese Szene beherbergt den ersten von mehreren Makeln des Drehbuchs. Wo lebt Elizabeth? Victor behauptete, er sei vor drei Wochen Henry Frankenstein zufällig beim Spazierengehen im Wald begegnet. Wie das, wohnen Elizabeth und Victor etwa in der Nähe von Goldstadt? Aber falls dies der Fall sein sollte, weshalb ist Elizabeth dann auf Briefe Frankensteins angewiesen und hat monatelang nichts von ihm gehört? Außerdem sind „Henry“, „Elizabeth“ und „Victor“ typische angelsächsische Namen. Dies ist ein Widerspruch, welchen der Film nie auflöst. Hier fallen zwei Dinge auf. Erstens spielt der Film offensichtlich im deutschsprachigen Raum. Nicht nur der fiktive Name der Stadt Goldstadt deutet darauf hin, sondern Dr. Waldman spricht wiederholt „Herr Frankenstein“ aus und nennt Elizabeth einmal auch ein „Fraulein“. Zweitens spielte Edward Van Sloan hier offensichtlich die Rolle, welche er am besten beherrschte, nämlich sich selbst. Sein Dr. Waldman gleicht dem ebenfalls von ihm verkörperten Dr. van Helsing aus Dracula (1930) wie ein Ei dem anderen. Die gleiche Körpersprache, die gleiche Betonung der Worte, der gleiche Charakter. Auch inhaltlich sind sich die beiden Rollen sehr ähnlich. In dieser Nacht beginnt Frankensteins großes Experiment. Wir sehen den mächtigen Wachtturm, in welchem Henry Frankenstein experimentiert, als Glasgemälde. Auf dessen Dach wurschtelt Fritz an einer Antenne herum. Frankenstein selbst befindet sich in seinem Laboratorium. Achten Sie hier auf das Bühnenbild. Ken Strickfaden, damals Universals Zauberer bei allem, was mit Elektrizität zu tun hatte, schuf hier mit einem Budget von etwa $10.000 das klassische Labor eines mad scientists. In dieser Szene ist es nur Kulisse, doch späterhin wird sich Strickfadens Laborausstattung in einem summenden, brutzelnden und funkensprühenden Moloch verwandeln. Dieses Laboratorium sollte späterhin auch noch in mehreren anderen Filmen auftauchen und unzählige andere Produktionen sollten es kopieren. Beachten Sie auch das generelle Layout des Sets im Vergleich zu anderen Produktionen, welche Sie kennen. Das Bühnenbild in Frankenstein (1931) ist von ausgesprochener Vertikalität, so manches wuchert während des Films in die Höhe. Frankensteins Laboratorium, welches nicht ohne Grund in einem Turm anstelle einer Schlossruine angesiedelt wurde, ist hier das berühmteste Beispiel für eine vertikale Ausrichtung von Bildinhalten anstelle der üblichen Horizontalen, welche eher dem menschlichen Gesichtsfeld entspricht. Frankenstein wartet auf einen nahenden Sturm. Durch einen Blitzschlag soll seine Kreatur zum Leben erwachen. Die letzte Generalprobe verläuft sehr gut und in 15 Minuten wird der Sturm nahe genug sein, um das Experiment durchzuführen. Doch dann klopft es an der Eingangstür des Turmes. 371 Das Dokument des Grauens Es sind Elizabeth, Victor und Dr. Waldman, die im strömenden Regen stehend Einlass begehren. Widerstrebend lässt Frankenstein sie herein und beschwört Elizabeth, ihn nicht weiter bei seinem Experiment zu stören und wieder zu gehen, doch seine ungebetenen Gäste lassen sich nicht abwimmeln. Als Victor ihm vorwirft, er sei verrückt, sie wieder in die stürmische Nacht zu jagen, wirkt das auf Frankenstein wie ein rotes Tuch. Abbildung 11.21: Frankensteins (rechts Mit den Worten, er würde ihnen zeigen, unten) in seinem Labor ob er verrückt sei, bittet er seine Besucher in sein Laboratorium. Dort fordert er seine Gäste auf, sich zu setzen - Victor, mit welchem ihm anscheinend keine Sympathien verbinden, im Befehlston, Elizabeth liebevoll und Dr. Waldman recht bestimmend, nachdem dieser schon damit beginnt, sich für Frankensteins Versuchsobjekt zu interessieren. Frankenstein erklärt Waldman, worum es in seinem Experiment geht. Aus heutiger Sicht ist diese Begründung aufgrund ihrer Naivität recht drollig: Entgegen zu Waldmans Lehre, dass ultravioAbbildung 11.22: Das Gefühl, Gott zu sein lette Strahlung die höchste Strahlung im Farbspektrum sei, habe er den Strahl entdeckt, welcher erstmals Leben auf die Erde brachte... Das Experiment kann beginnen. Begleitet von der Geräuschkulisse der elektrischen Apparate, welche hier vortrefflich eine dramatische Filmmusik ersetzt, wird der Labortisch mit der darauf liegenden Kreatur in die Höhe gehoben, hinauf in das tobende Blitzgewitter auf dem Dach. Nach einiger Zeit lässt Frankenstein den Tisch wieder herab und harrt auf ein sichtbares Ergebnis. Dies folgt sobald, als die Kreatur ihren Arm zu heben beginnt. „Es lebt!“, ruft Frankenstein in dieser berühmten Szene, immer wieder, es wird zu einem Rausch. „Im Namen Gottes! Nun weiß ich, wie es sich anfühlt, Gott zu sein!“ Dr. Waldman und Victor eilen zu ihm, um ihn zu stützen und zu bändigen. Das Bild wird abgeblendet, doch der Zuschauer weiß dennoch, dass Henry Frankenstein die Grenze der physischen Erschöpfung überschritten hat. 372 11. Frankenstein (1931) Nach dem Szenenwechsel sehen wir Elizabeth und Victor bei Henrys Vater, dem Baron Frankenstein. Sie berichten ihm, Henry befinde sich auf dem Wege der Besserung, doch der alte Baron spürt, dass etwas faul ist. Und hier lauert wieder eine Inkonsistenz des Drehbuches. Baron Frankenstein kann nämlich nicht verstehen, weshalb sich sein Sohn aus dem elterlichen Anwesen und einem Leben im Luxus in eine alte Windmühle verkrochen habe. Wir wissen jedoch aus Dialogen und der Totalansicht von Henry Frankensteins Zuhause, dass er nicht in einer Windmühle, sondern in einem alten Wachturm seinen Experimenten frönt. Interessanterweise hat sich der Mythos einer Windmühle beständig gehalten und sich auch in Fachliteratur niedergeschlagen. Baron Frankenstein erhält einen weiteren Besucher, den Bürgermeister von Goldstadt. Der Bürgermeister möchte wissen, wann denn nun endlich die Hochzeit zwischen Henry Frankenstein und Elizabeth stattfinden werde, denn der ganze Ort habe sich schon darauf vorbereitet und man wolle endlich Gewissheit. Der Zuschauer hat jetzt jedoch vor allem die Gewissheit, dass eine frühere Frage somit geklärt ist: Elizabeth und Henry Frankenstein stammen tatsächlich aus Goldstadt, sie tragen englische Namen und Elizabeth kam in den Monaten der Ungewissheit über das Schicksal ihres Verlobten in der Tat nicht auf die Idee, nach ihm zu schauen. In solchen Details stinkt das Drehbuch in der Tat zum Himmel. Der alte Baron ist sich sicher, dass sich Henry bei einem anderen Weibe versteckt. Und er hat jetzt die Nase voll, denn Elizabeth wartet, die Bewohner der Stadt wartet und vor allem er selbst wartet. So macht er sich auf, seinen missratenen Sohn selbst aufzusuchen. Dieser erholt sich, indem er den Ausgang seines Experiments überwacht, begleitet von Dr. Waldman. Waldman ist mehr als nur skeptisch gegenüber Frankensteins Errungenschaft. Frankenstein hält für ihn - und auch die Zuschauer - ein kurzes, aber intensives Plädoyer für die Wissenschaft. Dann erfährt er von Dr. Waldman, dass das gestohlene Gehirn jenes eines Kriminellen war. Frankenstein ist kurz beunruhigt, doch dann flüchtet er sich in die Aussage, es handle sich hierbei sowieso nur um ein Stück toten Gewebes. Dr. Waldman sieht sich letzten Endes zu einer unheilvollen Prophezeiung genötigt: Frankenstein habe ein Monster erschaffen und es werde ihn zerstören! Frankenstein ist jedoch nicht von einer Weiterführung des Experimentes abzuhalten. Dr. Waldman möchte abwarten, bis die Kreatur, welche bislang in völliger Dunkelheit gehalten worden sei, erstmals das Licht sieht. Kaum hat er es ausgesprochen, ertönen schlurfende Schritte von der nahegelegenen Treppe! Die Szene, in welcher das Monster erstmals zu sehen ist, spiegelt die Empfindsamkeit des zeitgenössischen Publikums durch seine Inszenierung wieder. Dadurch wird die Szene auch interessant, denn inzwischen hat sie, auch durch den Bekanntheitsgrad von Karloffs Maske, ihre Wirkung weitgehend verloren. Damals gehörte diese Szene zum Schockierendsten, womit das Publikum in all den Jahren konfrontiert worden war. 373 Das Dokument des Grauens Heute treibt sie jedoch nur noch beneidenswerte Kinder unter die Bettdecke, im Jahr 1931 reichte sie allerdings noch für drohende Ohnmachten der anwesenden Damen. Wir hören die Kreatur vor die Tür schlürfen, bis diese sich langsam öffnet. Der Blick wird auf die Umrisse Karloffs freigegeben, welche sich hünenhaft im Türrahmen abbilden. Karloff steht mit dem Rücken zum Raum, um hier nicht zu viel zu früh zu verraten. James Whale setzte hier einen Schnitt und der Film zeigt einen Close-Up auf Karloffs Kopf. Karloff dreht sich langsam zur Kamera um und sein schreckliches Gesicht wird langsam Abbildung 11.23: Frankensteins Monster sichtbar. Kaum hat er sich ganz umgedreht, die Zuschauer hatten nach dem ersten Entsetzen noch nicht genug Zeit für eine genauere Betrachtung, geht Whale in einen extremen Close-Up von Karloffs Gesicht über. Die Fratze des Monsters blickte überdimensional von der Leinwand herab, während nicht wenige Zuschauer mit ihren Fingern nach dem Riechsalz tasteten. Nun kommt der Augenblick, welchen abzuwarten Frankenstein Dr. Waldman bat. Er öffnet die Dachluke, durch welche sich das Sonnenlicht wie ein Heilsbringer über die Kreatur ergießt. Von der Schönheit des Lichts geblendet reckt sie ihre Arme zur Sonne empor. Für Frankenstein ist dies der Beweiß, dass in dem Monster Menschlichkeit und Sinn für das Schöne und Gute schlummert. Lassen Sie uns anlässlich dieser Szene noch einmal zu der bereits angesprochenen vertikalen Ausrichtung des Films zurückkehren. Seit der Stelle, an welcher ich dies erwähnte, sind Ihnen bestimmt noch andere Kameraeinstellungen aufgefallen, in welchen James Whale diese Vertikalität praktiziert. Es gab zum Beispiel mehr vertikale Kamerafahrten als horizontale Bewegungen. Immer, wenn Frankenstein zu der Dachluke aufschaut, ist die Kamera am Boden platziert und schaut ebenfalls nach oben. Es gab wiederholt Einstellungen, in welchen die Kamera oberhalb der Darsteller positioniert wurde und man auf diese herabschaut. Und des Öfteren tauchten vertikal ausgerichtete Bildelemente auf, wie zum Beispiel die hohe Wendeltreppe, welche zur Eingangstür führt oder auch Ketten, welche im Vordergrund des Bildes von der Decke des Laboratoriums herabhängen. Die Lichtszene ist unter all diesen Szenen der Höhepunkt. Die Sonne scheint auf die Kreatur herab. Inmitten des Lichtstrahls reckt das Monster seine Hände dem Licht entgegen. Eine derartige Inszenierung war 1931 in hohem Maße unüblich. In Fran374 11. Frankenstein (1931) kenstein (1931) zählt nicht mehr das Detail, sondern die stark expressionistische Bildkomposition. Da wir gerade davon sprachen: Kaum ein anderer amerikanischer Langfilm war bis dahin so stark vom Expressionismus geprägt wie Frankenstein (1931). Die folgende Szene ist hierfür ein Paradebeispiel. Nachdem Fritz in das Labor stürmte und dem Monster mit einer Fackel zu nahe kam, drehte die Kreatur durch und wurde wieder in ihr Gefängnis gesteckt. Dort ist sie nun, angekettet und mit ihrem Schicksal haAbbildung 11.24: Das Licht als Heilsbrindernd. ger Konzentrieren Sie ihren Blick in dieser Szene nicht zu sehr auf Boris Karloff, sondern beachten Sie das Drumherum. Der Schatten des herumfuchtelnden Karloff projiziert einen für die deutschen Expressionisten typischen Schatten an die Wand. Kaum etwas ist rechtwinklig, die Wände sind schräg, so wie es 12 Jahre zuvor Das Cabinet des Dr. Caligari (1919) erstmals vormachte. Und wie auch in jenem Film sind die Lichtstrahlen, welche durch das kleine Fenster in die Zelle dringen, auf die Wände aufgemalt. Dies ist nicht die einzige Szene, welche durch Expressionismus glänzt. Im Gegenteil, er zieht sich durch den ganzen Film und schlägt sich auch in Bauten wie der Wendeltreppe nieder. Aber in der Zelle des Monsters ist der expressionistische Einfluss, welchen der Film mit hoher Wahrscheinlichkeit Robert Florey verdankt, am offensichtlichsten. Fritz hat sich inzwischen darauf verlegt, die Kreatur zu quälen. Das Monster hat Angst vor Feuer und Fritz nutzt dies weidlich aus - wann hat ein Krüppel wie er denn sonst die Gelegenheit, mit einer noch untergeordneteren Kreatur so umzugehen, wie der Rest der Menschheit mit ihm? Frankenstein indes hat resigniert. Der Wutausbruch des Monsters hat ihm gezeigt, dass sein Gehirn in der Tat von krimineller Natur ist und auch wenn er Dr. Waldmans Forderung, die Kreatur zu tö- Abbildung 11.25: Das Monster in seiner ten, noch kein Echo gefunden hat, ist sein Zelle Experiment dennoch ein Fehlschlag. 375 Das Dokument des Grauens Frankensteins Gutmütigkeit verfliegt, als die Todesschreie von Fritz durch den Turm gellen. Frankenstein und Waldman stürzen in die Zelle, in welcher sie Fritz vorfinden - von dem Monster erhängt, an seiner eigenen Peitsche. Die Männer schaffen es noch, aus der Zelle zu entkommen, bevor das Monster sie ergreifen kann, aber die Tür wird wohl nicht lange halten. Nun wehrt sich Frankenstein nicht mehr dagegen, die Kreatur mittels einer Injektion zu betäuben und sie danach zu töten. Dr. Waldman und Frankenstein verpassen der Kreatur eine Spritze und sie bricht auf dem Boden vor ihrer Zelle zusammen. In diesem Augenblick klopfen der alte Baron Frankenstein und Elizabeth an die Tür. Schnell schleifen sie den Körper des Monsters wieder zurück in die Zelle und hier lauert der nächste Kontinuitätsfehler: die erhängte Leiche von Fritz ist nicht mehr vorhanden. Elizabeth findet Frankenstein in einem desolaten Zustand vor, geschwächt fällt er zu Boden. Baron Frankenstein und Elizabeth beschließen, Frankenstein mit nach Hause zu nehmen. Dr. Waldman verspricht, Frankensteins Aufzeichnungen an sich zu nehmen und die Kreatur schmerlos ins Jenseits zu befördern. In der nächsten Szene lauert der nächste Logikfehler. Dr. Waldman hat das Monster wieder auf den Labortisch gebettet und macht sich daran, ihm das Abbildung 11.26: Gleich packt die Kreatur Leben wieder zu nehmen. Er entschließt zu und tötet Dr. Waldman sich, den Körper völlig zu zerlegen - und anstelle das Monstrum einfach zu töten, horcht er erstmal nach dem Vorhandensein eines Herzschlages. Dies mag dramaturgisch passen, ist jedoch zweckentfremdet. Inhaltlich passt es insofern, als dass die Kreatur Dr. Waldman packt und zu würgen beginnt ... dann erfolgt ein Schnitt und wir sehen das Monster, wie es die Treppe hinab in Richtung des Ausganges aus dem Turm stolpert. Einige Zeit vergeht. Henry Frankenstein genest in der väterlichen Villa und dann ist es schließlich soweit, der Tag der Hochzeit naht. Achten Sie auf die Stelle, an welcher Baron Frankenstein Champagner an die Bediensteten ausschenken lässt und er ein Prosit auf das „House of Frankenstein“ ausspricht - nun wissen Sie, worauf sich der Titel der vierten Fortsetzung, House of Frankenstein (1944), bezieht. Ebenso dürften Sie sich wundern, weshalb der Film, welcher bislang aus Kostengründen vollständig im Studio gedreht worden war, hier dann plötzlich richtige Sets unter freiem Himmel präsentiert, als sich Baron Frankenstein von den Bewohnern der Stadt feiern lässt und diese danach ausgelassen durch die Straßen tanzen. Diese Sets wurden keineswegs extra für Frankenstein (1931) gebaut, sondern es handelt sich um das Recycling eines 376 11. Frankenstein (1931) Sets von All Quiet on the Western Front (1930). Das Monster bekommt von den Feierlichkeiten in der Stadt nichts mit. Es wandert durch die Wälder und stößt auf einen kleinen Hof am Rande eines Sees. Dort wohnt die kleine Maria mit ihrem Vater Ludwig. Auch sie wollen in die Stadt, um an der Feier teilzunehmen, aber vorher hat Ludwig noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Er bittet Maria, bis zu seiner Rückkehr mit ihrer Katze zu spielen. Maria begibt sich zu dem Rande des Sees, wo sie auf Frankensteins Monster Abbildung 11.27: Der wiederverwendetrifft. Maria schreckt nicht vor der Krea- te Set aus Universals Vorjahreserfolg All tur zurück, sondern lädt sie zum Spielen Quiet on the Western Front (1930) ein. Maria schenkt dem Monster eine Blume. Es riecht daran und ein Lächeln überzieht sein Gesicht. Zum ersten Mal begegnet ihm jemand mit Liebe. Maria zeigt ihm, wie man Schiffchen baut. Dazu wirft sie eine Blüte in das Wasser. Die Blüte geht nicht unter, sondern treibt auf der Wasseroberfläche. Die Kreatur ist entzückt und wirft eine Blüte hinterher. Auch diese geht nicht unter. Von der Schönheit des Anblicks gebannt greift die Kreatur nach Maria, möchte auch sie auf das Wasser setzen. Doch Maria fällt in das Wasser und geht sofort unter. Die Kreatur ist entsetzt und in Panik flieht sie vom Ort des Geschehens. Zu dieser Szene gibt es eine nette Anekdote zu ihrer Entstehung. Boris Karloff protestierte gegenüber James Whale dagegen, das Mädchen ins Wasser zu werfen. Seiner Meinung nach solle das Monster mit dem Kind nur spielen, um seine eigene Unschuld zu zeigen. Daher verlangte Karloff, dass James Whale das Drehbuch an dieser Stelle entsprechend abändern möge. Doch James Whale argumentierte dagegen. Ihm ging es nicht nur um die Unschuld des Monsters, zumal dieses gemeinsame Spiel in der Szene sowieso gezeigt wurde. Whale wollte mehr, denn er wollte die tragische Situation hervorheben, in welcher sich die gegen ihren Willen erschaffene und nun von allen gehasste Kreatur befindet. Daher war es unabdingbar, dass das Mädchen stirbt, es musste passieren, ob Karloff dies mochte oder nicht war irrelevant. Karloff gab sich daraufhin geschlagen. Marilyn Harris, die Darstellerin der kleinen Maria, war von der Idee, ins Wasser geworfen zu werden, verständlicherweise nicht begeistert. Es kostete James Whale einiges an Überredungskunst, um auch ihr Einverständnis zu bekommen. Also machte 377 Das Dokument des Grauens man sich so schnell wie möglich an die Aufnahme, bevor Marylin es sich wieder anders überlegte. Die Kamera lief, Karloff hob Marilyn hoch, er warf sie ins Wasser ... und Marilyn ging nicht unter, weil sie zu nahe am Ufer gelandet war. Dementsprechend musste die Szene nochmal wiederholt werden und dies wurde nun zu einem echten Problem für James Whale, denn die triefnasse Marilyn hatte jetzt absolut keine Lust mehr. Whale bat sie, doch Marilyn sagte nein. Whale flehte sie an, doch Marilyn sagte immer noch nein. Whale versprach ihr, er würde ihr alles geben, was sie wolle, wenn sie die Szene nur nochmal wiederholen würde. Abbildung 11.28: Das Unheilige und die Und Marilyn war einverstanden. Ihre Unschuld, erster Teil Mutter hatte sie nämlich auf eine strikte Diät gesetzt und somit war Whales Angebot sehr verlockend; sie verlangte ein Dutzend hartgekochter Eier. Die Szene wurde nochmal gedreht. Dieses Mal warf Karloff sie so weit, wie er nur konnte und alles verlief wunschgemäß. Zur Belohnung erhielt Marilyn daraufhin nicht nur ein, sondern zwei Dutzend Eier. Dass Marilyn sich überhaupt traute, diese Szene zu drehen, lag in ihrem großen Vertrauen zu Boris Karloff begründet. Ihrer Mutter ging sie soweit möglich aus dem Weg, was vor allem darin begründet lag, dass diese sie zu einem Kinderstar machen wollte und recht streng war. Als Marilyn an diesem Morgen zum Set fahren sollte und sie Karloff in seiner vollen Maske in seiner Limousine sitzen sah, ließ sie ihre Mutter stehen und lief zu dem großen Mann, weil sie mit ihm fahren wollte. Es war sozusagen Liebe auf den ersten Blick. Womöglich kommt Ihnen die Einstellung, in welcher Maria dem Monster gegenübersteht, bekannt vor. Vor allem in Verbindung mit dem Überreichen einer Blüte drängen sich hier Assoziationen zum Ende von Wegeners Der Golem: Wie er in die Welt kam (1920) auf. Da Robert Florey ein großer Verehrer der expressionistischen deutschen Stummfilme war, ist dies mit Sicherheit kein Zufall und die Szene von ihm so entworfen. In Goldstadt naht der große Moment der Trauung. Elizabeth bekommt es mit der Angst zu tun. Sie befürchtet, dass irgendetwas Schreckliches passieren und sich zwischen sie und ihren Bräutigam stellen wird. Außerdem vermisst sie Dr. Waldman schrecklich, denn eigentlich sollte er bereits hier sein... Das Zwiegespräch wird durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Es ist Victor und er bittet Frankenstein zu sich. Er überbringt ihm die Nachricht von Dr. Waldmans Tod. Er wurde im Turm gefunden, ermordet! 378 11. Frankenstein (1931) Fragen Sie sich bitte nicht, weshalb sofort feststeht, dass Dr. Waldman ermordet wurde. Dies ist ein weiterer Makel des Skripts. Victor berichtet Frankenstein, das Monster sei in der Nähe der Stadt gesehen worden. Auch dies ist problematisch, denn außer Frankenstein, Victor und Elizabeth lebt niemand mehr, der von der puren Existenz des Monstrums etwas weiß. In diesem Moment schallt ein lautes Grollen durch das Haus. Das Monster! Die beiden Männer sind sich einig, dass es sich im ersten Obergeschoss aufhält. Weshalb auch immer. Abbildung 11.29: Das Unheilige und die Sie stürzen nach oben, finden jedoch Unschuld, zweiter Teil... und ein Regiefehnichts. Das Grollen ertönt nochmals, al- ler so muss es wohl im Keller sein und die beiden Männer laufen wieder hinab. Wie uns die nächste Szene zeigt, ist das Monster gar nicht im Haus, sondern schickt sich an, durch ein Fenster in das Zimmer zu steigen, in welchem Victor und Frankenstein Elizabeth eingeschlossen haben. Das Monster tappt an Elizabeth heran, als sie vergeblich versucht, die Tür zu öffnen und als sie sich umdreht, sieht sie den Schrecken, der sie bedroht! Und wieder können Sie einen Regiefehler entdecken, wenn Sie auf Details achten. Behalten Sie Elizabeths mehrere Meter langen Hochzeitsschleier im Auge, als sie zur Tür geht, während Karloff ihr mit ausgestreckten Armen hinterherstolziert und Elizabeth sich dann umdreht. Es ist problemlos zu erkennen, dass hier ein starkes Gewicht auf eine stilvolle Inszenierung gelegt wurde, denn der Schleier spannt sich extremst unnatürlich. Das Ende des Schleiers wurde am Boden befestigt, damit sich die Schleppe hinter Elizabeth herzieht. Leider dreht sich Mae Clarke so stürmisch um, dass der Stoff dabei zu einer geraden Linie gespannt wird. Dies fällt aufgrund der Unheimlichkeit des gezeigten Vorgangs normalerweise erst bei wiederholtem Sehen auf, aber dennoch: Auf jenem der vielen verschiedenen Filmplakate, welches diese Einstellung als gemaltes Motiv zeigt, sieht es irgendwie natürlicher aus... Sofort im Anschluss folgen drei Close-Ups, welche oft parodiert werden. Dies ist kein Wunder, denn sie fordern es geradezu heraus. Zuerst sehen wir Elizabeths Gesicht in Großaufnahme, während sie einen Schrei loslässt. Es folgt unmittelbar ein Close-Up auf das Gesicht des Monsters, welches aus einem Mundwinkel heraus knurrt, oder zumindest einen Laut ausstößt, welcher ein Knurren darstellen soll. Gleich darauf erfolgt wieder ein Schnitt auf Elizabeths Gesicht, wo sie ihren Aufschrei wiederholt. Parodien 379 Das Dokument des Grauens wiederholen dieses Hin und Her gerne gleich mehrfach. In den im Haus spielenden Szenen haben wir außergewöhnlich viele Kontinuitätsund Regiefehler erlebt. Ganz zu schweigen von der großen und unbeantworteten Frage, woher das Monster wusste, in welches Haus es eindringen musste und wie es unentdeckt dahin gelangen konnte. Und warum schloss Frankenstein seine Elizabeth überhaupt in dem Zimmer ein? Das sind alles sehr große Zufälle. Doch das Schlimmste haben wir überstanden, einen Nachschlag gibt es aber noch: Ludwig trägt die Leiche Marias in die Stadt und es ist eine unverrückbare Tatsache, dass das Mädchen nicht in den See gefallen und ertrunken ist - selbstverständlich wurde auch sie ermordet, was Ludwig umgehend kundtut, und zwar passenderweise natürlich direkt vor dem Standesamt, wie ein an der Wand des Gebäudes angebrachtes Schild verrät. Frankenstein plant indes, die Heirat abzusagen. Zuerst muss er seine Kreatur töten. „Mit diesen Händen habe ich ihn erschaffen, mit diesen Händen werde ich ihn vernichten!“ So viel die Welt rettenden Pathos in einem Satz muss ein Mann im Angesicht seiner Hochzeit erstmal zustande bringen. Doch er ist nicht der Einzige, der sich auf die Suche nach der Kreatur begibt. Mit der einbrechenden Dunkelheit formiert sich in den Straßen Goldstadts der mit Fackeln ausgerüstete Mob, der fortan in vielen zukünftigen Filmen noch zu sehen sein sollte. Ludwig soll mit einem Trupp den Wald durchstöbern und Frankenstein führt die Männer an, welche in den Bergen das Monster suchen. Der Bürgermeister selbst wird eine Gruppe befehligen, welche das Gebiet um den See durchforstet. Frankenstein führt seine Männer und ihre Suchhunde in das felsige Gebirge. Diese Szenen sind interessant gemacht. Eigentlich wirken sie schon beinahe dilertantisch, denn die Schauspieler irren hier zwischen Felsen umher, welche unverkennbar künstlicher Natur und vor bemalten Studiowänden positioniert wurden. Aber dies stört nicht, im Gegenteil. Zusammen mit einer exquisiten Beleuchtung und der eindringlichen Geräuschkulissen aus bellenden Hunden und durcheinanderschreienden Männer wirkt die Szenerie unwirklich und unheimlich, ganz wie die Einstellungen zu Beginn des Films. Frankenstein trennt sich von seinen Gefolgsleuten und läuft seiner Kreatur in die Arme. Es kommt zu einer wilden Rauferei zwischen den beiden. Frankenstein geht zu Boden und das Geschöpf trägt seinen Erschaffer in eine nahegelegene Windmühle. Es trägt den Körper seines Erschaffers bis hinauf auf den Balkon oberhalb der Windmühlenflügel. Dort kommt es dann zur finalen Auseinandersetzung des Films zwischen Frankenstein und dem von ihm erschaffenen Wesen, während sich der Mob vor der Mühle versammelt und beginnt, den hölzernen Bau in Brand zu setzen. Im Finale gibt es auch einige interessante Details. Für Boris Karloff bedeutete es eine übermächtige Anstrengung, sich Colin Clive unter den rechten Arm zu klemmen und scheinbar mühelos die hölzernen Treppenstufen hinaufzutragen. In der Einstel380 11. Frankenstein (1931) lung, als er und Colin Clive im ersten Stockwerk der Mühle ankommen, kann man an Karloffs Körpersprache deutlich erkennen, dass er sich hierbei übernommen hat. Er verletzte sich in diesen Szenen schwer an drei Stellen des Rückens und wurde bis zu seinem Lebensende die durch diese Szene verursachten Rückenprobleme nicht mehr los. Abbildung 11.30: Frankenstein ringt mit seinem Geschöpf Einen interessanten Regiekniff zeigt jene Szene, in welcher Frankenstein und das Monster, sich gegenseitig im Auge behaltend, den Antrieb dies Mühlrades umkreisen. Die Kamera zeigt hier CloseUps, gefilmt durch das Gestänge des Antriebs, welches sich im Bildvordergrund vor den Gesichtern der beiden Darsteller horizontal bewegt. Es erscheint wie die Gitterstäbe vor dem Fenster einer Gefängniszelle und dieser Effekt war von Whale beabsichtigt. Die beiden sind GeAbbildung 11.31: Tod in den Flammen fangene ihrer Selbst und haben die Entwicklung der Geschehnisse nicht mehr unter Kontrolle. Es gibt keinen Ausweg mehr, ein Entkommen aus diesem Gefängnis des Schicksals ist beiden nicht mehr möglich. Eine Szene, von deren deftiger Wirkung man auch heute noch etwas spürt, ist jene, in welcher die Kreatur Frankenstein von der Balustrade auf dem Dach der Mühle in die Tiefe hinabwirft. Frankensteins Körper fällt nicht nur einfach in die Tiefe, sondern er schlägt auf einem der Windmühlenflügel auf und wird von diesem noch einen Moment mitgenommen, bevor er daran herabrutscht und endgültig zu Boden stürzt. Nachdem das Monster, welche sich nur vor Feuer fürchtet, unter den Resten der brennenden Mühle verschüttet wurde, war die ursprüngliche Absicht, auch Franken381 Das Dokument des Grauens stein in den Armen Elizabeths sterben zu lassen. Dies wurde jedoch in beinahe letzter Minute von James Whale verworfen und durch ein happy ending ersetzt, in welchem Elizabeth an Frankensteins Krankenbett sitzt. Whale wollte dem Publikum nicht auch noch ein deprimierendes Ende zumuten und außerdem blieb auch die stille Hoffnung, dass ein glücklicher Ausgang die Zensoren etwas beruhigen könnte. Dass das Überleben Frankensteins ihm die legendäre Fortsetzung Bride of Frankenstein (1935) ermöglichen würde, war zu diesem Zeitpunkt, an welchem Universal ums Überleben kämpfte, sicherlich noch nicht Teil seiner Überlegungen, zumal Sequels und Franchises damals noch unbekannt und keine etablierten Marketingstrategien waren. Mit der Zensur war es so eine Sache und der Film kam dort nicht sehr gut an. Genauer gesagt wurde Frankenstein (1931) zum bis dahin spektakulärsten Zensurfall Hollywoods. Die erste Hürde, welche es zu nehmen galt, war Carl Laemmle höchstpersönlich. Die Bombe platzte im November 1931, als Frankenstein (1931) erstmals vor Vertretern der Presse und auch Carl Laemmle vorgeführt wurde. Als der zwar durchaus mutige, aber den eigenen moralischen Maßstäben und Wertschätzungen zutiefst verpflichtete Carl Laemmle die Szene sah, in welcher Maria von dem Monster in den See geworfen wird, ließ er einen Tobsuchtsanfall vom Stapel. „In meinen Filmen ertrinken keine kleinen Kinder!“, soll er geschrien haben und war somit der erste, welcher nach Schnitten und korrigierenden Nachdrehs rief. Carl Laemmle setzte sich über die Argumentationen Whales und Karloffs hinweg und die Szene wurde stark gekürzt. Von nun an sollte sie nach der Einstellung enden, in welcher das Monster seine Hände nach Maria ausstreckt. Ironischerweise machte dieser Schnitt den Film für das Publikum noch extremer, denn hierdurch fiel nicht nur Maria nicht mehr ins Wasser, sondern man konnte auch nicht mehr die Verzweiflung des Monsters sehen, wenn es die Stätte des Vorfalls verlässt. Durch diesen Schnitt wurde Frankensteins Kreatur unverrückbar böse und, schlimmer noch, das Publikum war zutiefst schockiert. Wenn man dann sah, wie das Monster nach dem Mädchen greift und danach Ludwig die Leiche seiner Tochter durch die Straßen Goldstadts trägt, schlugen die Vorstellungen, welches schreckliche pädophile Verbrechen am See vorgefallen sein muss, hemmungslos Purzelbäume. Diese Szene wurde erst über 50 Jahre später wieder restauriert und in den Film integriert. Bei dieser Restauration aus dem Jahr 1986 fiel jedoch auch das Ende des Abspanns zum Opfer, in welchem die Musik nach den abschließenden Credits, in welchen dann übrigens auch Boris Karloff namentlich erwähnte wurde, noch einige Zeit zu einer schwarzen Leinwand weiterlief. Um die weitere Zensurgeschichte des Films ranken sich viele Legenden, welche zu Verwechslungen und Verzerrungen der Realität neigen. So heißt es, der Film sei nur schwer verstümmelt in die Kinos gekommen. Dies ist nur teilweise richtig, da die meisten Schnittauflagen erst bei der Wiedervorlage für die Neuaufführung im Jahr 1937 382 11. Frankenstein (1931) zum Tragen kamen. In der wirklichen Welt war das Zensurgeplänkel zwar noch immer teilweise recht heftig, aber zumindest im Jahr 1931 deutlich harmloser ausgefallen. Nach der Presseaufführung machte man sich Sorgen, wie die Zensurbehörden mit dem Film umgehen würden. Schließlich war der Film zu seiner Zeit das grausamste und blutdurchtränkteste Produkt, welches jemals auf der Leinwand gezeigt worden war. Vorsichtshalber wurde der Film vorab zwei katholischen Priestern aus Los Angeles vorgeführt, welche den Film hinsichtlich der Verwerflichkeit seiner Inhalte bewerten sollten. Der Hauptauslöser für diesen Schritt war die Zensurbehörde des kanadischen Staates Quebec, welche dem Film im Vorfeld bereits vorwarf, schon alleine durch sein zugrundeliegendes Thema einer gottgleichen Erschaffung von Menschen überaus blasphemisch zu sein. Die beiden Priester sollten dem Film die weltanschauliche Unbedenklichkeit attestieren. Aber es kam etwas anders, als es Universal erwartet hatte. Die beiden Geistlichen sagten zwar, der Film sei nicht so schlimm wie sein Ruf, aber sie verlangten dennoch nach einem Prolog. Idealerweise sollte darin Mary Shelley auftauchen und deutlich machen, dass die folgende Geschichte reine Fiktion und nicht für bare Münze zu nehmen sei, bevor sie ein Buch mit der ersten Textseite aufschlage und der eigentliche Film dann beginne. Mit anderen Worten: Universal sollte dem Film seine Glaubwürdigkeit nehmen und das Publikum andächtig im Schoße wiegen, anstelle für nacktes Entsetzen zu sorgen. Dieser Vorschlag stieß nicht auf viel Gegenliebe und daher schloss man einen Kompromiss. Dieser Kompromiss war die Ansprache Edward Van Sloans, mit welcher der Film noch heute beginnt. Mit Hilfe einer kräftigen Dosis Diplomatie und Lobbyarbeit schaffte der Film es dann auch, die Zensoren zu passieren und kam ungeschoren in die kanadischen Kinos. In den USA war die Lage ungleich komplizierter, da insgesamt sechs Staaten eigene Zensurbehörden hatten - und die waren in der Regel deutlich konservativer als die oberste Zensurbehörde der USA. Hierdurch entstanden mehrere sich massiv voneinander unterscheidende Fassungen. In Kalifornien lief der Film völlig ungeschnitten in den Kinos, sogar der Tod Marias war darin noch zu sehen. Kansas verlangte das Entfernen von insgesamt 32 Szenen. Hierdurch wurde der Film auf eine Laufzeit von knapp unter 40 Minuten reduziert. Den Vogel schoss jedoch der Staat Massachusetts ab. Dort sollte nahezu alles entfernt werden, was den Film halbwegs interessant machte, bis hin zu jener Szene, in welcher die Kreatur auf dem Labortisch erstmals ihre Hand hebt. In der Tschechoslowakei, in Schweden, Nordirland und dem Süden Australiens wurde der Film umgehend verboten. Die Zensurmaßnahmen riefen natürlich auch Proteste auf den Plan. Das prominenteste Beispiel war hier ein Kinobesitzer in Texas, welcher öffentlich drohte, bei Erhalt einer zensierten Kopie seinen Vertrag mit Universal umgehend zu kündigen und laut zum Boykott für den Fall eintretender Zensurmaßnahmen aufrief. Andere wiederum taten genau das Gegenteil und riefen nach einem prinzipiellen Boykott dieses ver383 Das Dokument des Grauens werflichen Streifens - aber sie überlegten es sich schnell anders, als sie gegen Ende des Jahres die Menschenschlangen vor den Kassen der Kinos sahen, welche den Film zeigten. Die nachhaltigsten Kommentare gaben jedoch Redakteure in Magazinen und Zeitungen ab. Die Beschwerden der Presse über das Verstümmeln des Filmes waren lautstark genug, dass der Gouverneur von Kansas es nach einigen Tagen nicht mehr wagte, den Film in der zensierten Fassung zu zeigen und ihn wieder restaurieren ließ. Für Carl Laemmle jr. war dieser Vorfall ein gefundenes Fressen, denn dies war das Beste, was Universal passieren konnte. In mehreren Interviews lobte er aus voller Brust das Recht auf die freie Rede und nutzte den ganzen Aufruhr um Abbildung 11.32: Manchmal, wie hier in den Film konsequent zu dessen kostenMichigan, sahen sich Kinobetreiber veran- günstiger Vermarktung aus. lasst, sich für die Aufführung von FrankenAls der Film kurz vor Jahresende in stein (1931) in Form von Zeitungsanzeigen die Kinos kam, lief die Vermarktungsmazu rechtfertigen schinerie auf Hochtouren und man konzentrierte sich voll und ganz auf den Ruf, welcher dem Film anhaftete. Die Zuschauer standen Schlange und mit jedem Tag wuchs die Anzahl von Kolumnen und Meinungsäußerungen über den Film. Die Mehrzahl der Artikel betonte die schockierenden Momente des Films. Die Kinobesitzer mischten hierbei munter mit. Einige engagierten Krankenschwestern, welche vor den Kinosälen Stellung bezogen. Andere verkauften nerve tonic, ein Sprudelwasser, welches die Nerven zu stählen versprach. Das Arcadia Theatre in Temple, Texas, schrieb ein Preisgeld aus, welches jene Frau gewinnen sollte, die es wagte, sich den Film alleine anzusehen. In einem Fall wurde von einem Kinobesitzer berichtet, welcher im Moment des Filmbeginns hinter dem Rücken des Publikums mit einer Pistole in die Luft feuerte, damit es die Zuschauer vor Schreck erstmal kräftig aus ihren Sesseln hob. Der Effekt solcher Aktionen ließ nicht lange auf sich warten und der Andrang der Massen war kaum zu bewältigen; in Omaha ging sogar die Frontscheibe eines Kinos zu Bruch, als die Massen in das Kino drängten. Die Laemmles konnten zufrieden sein, denn schon zu Beginn des Jahres 1932 hatte Frankenstein (1931) die in ihn gesetzten finanziellen Hoffnungen erfüllt. Der große Verlierer jener Wochen war die MPTOA, eine mächtige Lobby konservativer Kinobesitzer. Dort hatte man schon voller Inbrunst gegen Dracula (1930) gewettert und Frankenstein (1931) wirkte auf sie wie ein rotes Tuch. Briefe wurden 384 11. Frankenstein (1931) an Kinobesitzer verschickt und diese aufgefordert, Frankenstein (1931) ebenso wie andere sogenannte „Horrorfilme“ zu boykottieren und nicht ihrem Publikum zuzuführen. Die meisten dieser Rufe verhallten ungehört und im Februar 1932 schwenkte die MPTOA letztlich nur noch die weiße Fahne. Dem kommerziellem Druck, welchen die hohen Zuschauerzahlen mit sich brachten, konnte die Lobby nicht mehr widerstehen, denn selbst ihre treuesten Mitglieder begannen zunehmend, ihre ursprüngliche Haltung zu überdenken, weil auch sie einen Teil des Kuchens für sich abschneiden wollten, solange dies noch möglich war. Zum Schluss vertrat die MPTOA nur noch eine Empfehlung, an welche sich die Mitglieder dann auch weitgehend hielten: Frankenstein (1931) sollte nur noch in abendlichen Doppelvorstellungen zusammen mit Paramounts Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1931) gezeigt werden. Aber auch dies war kein wirklicher Sieg, denn mittlerweile hatten die Besucherzahlen ihren Höhepunkt schon hinter sich gelassen. Die berüchtigten flächendeckenden Zensurmaßnahmen blieben 1931 noch aus. Als der Film 1937 erneut in den Kinos gezeigt werden sollte, hatte sich die amerikanische Filmwelt jedoch grundliegend verändert. Der 1931 noch gültige Production Code von Jason Joy hatte den Status eines Appells und keine verpflichtende Bindung, doch 1934 änderte sich dies endgültig, indem kein Film mehr aufgeführt werden durfte, auch keine Wiederveröffentlichungen, welcher nicht den harten Auflagen der staatlichen Zensurstelle MPPDA entsprach. Frankenstein (1931) war hiervon betroffen, als er 1937 erneut in den Kinos anlief und von damals stammen jene vielzitierten Schnitte, welche oft fälschlicherweise schon der Erstaufführung angedichtet werden. Aus dem Film musste die Szene mit dem Tod Marias entfernt werden. Das Ergebnis war hier baugleich mit jener Fassung dieser Szene, welche Carl Laemmle einst verlangt hatte. Ebenso war jene Stelle betroffen, in welcher sich Frankenstein nach dem Erwecken seiner Kreatur mit Gott vergleicht, was einen sehr hässlichen jump cut innerhalb einer Kameraeinstellung nach sich zog, der noch immer in den Re-Release-Kinotrailern begutachtet werden kann. Bei einigen sich selbst als restaurierte Fassungen bezeichnenden Filmversionen, welche vor 1986 entstanden, muss man jedoch aufpassen; bei diesen sind Frankensteins Worte durch ein lautes Donnergrollen unverständlich gemacht worden. Ebenfalls musste die Szene entfernt werden, in welcher Fritz die Kreatur mit einer Fackel bedroht, kurz bevor sein Todesschrei durch Frankensteins Turm gellt. Frankenstein (1931) ist ein Film, bei welchem das Wirrwarr verschiedener Fassungen für Laien nur schwer zu durchschauen war, bis Universal den Film wie bereits erwähnt im Jahr 1986 restaurieren ließ und ihn in dieser Form auf Laserdisc veröffentlichte. Seitdem kann der Film wieder in seinem originalen Zustand gesehen werden, so wie er 1931 in Kalifornien in den Kinos lief. Zumindest in den meisten. Eine relativ selten gezeigte Variante steht noch immer auf der Suchliste der Filmhistoriker, denn in einigen Kinos wurde der Film in Manier von Stummfilmen in teilweise viragierter Fassung gezeigt. Hier wurden Szenen, welche gruselig sein sollten und in denen Boris 385 Das Dokument des Grauens Karloff zu sehen war, grün eingefärbt - mit der „Farbe der Furcht“, wie Universal es damals bezeichnete. Frankenstein (1931) schaffte es übrigens, Universal vor der Pleite zu retten. Dies liegt nicht nur in seiner genialen und kontroversen Vermarktung begründet, sondern auch in der hohen Qualität, welche der Film trotz seiner zum Teil sträflichen Mängel vorweisen kann. Boris Karloff wurde durch den Film zu einem Star und auch James Whale standen von nun an alle Karrieremöglichkeiten offen. Aber der Film ist noch mehr als ein unterhaltsamer, gelungener Klassiker. Von nun wusste praktisch jeder Kinogänger, was damit gemeint war, wenn man sagte, man besuche einen „Horrorfilm“. Das Genre war bereits 35 Jahre alt und seit Nosferatu: Eine Symphonie des Grauens (1922) auch so weit definiert, dass damals wie heute jeder Laie sofort erkennt, mit welcher Sorte Film er es hier zu tun hat. Aber von nun hatte das Grauen im Film auch endlich einen eigenen Namen. 386 11. Frankenstein (1931) 387 Literaturverzeichnis [1] John T. 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Mother’s Day (2010), 149 Mummy’s Curse, The (1944), 407 Mummy’s Ghost, The (1944), 92 Mummy’s Hand, The (1940), 471 Mummy’s Tomb, The (1942), 471 Mummy, The (1932), 4, 463, 511, 524 Murder by the Clock (1931), 396, 446 Murders in the Rue Morgie (1932), 512 Filmindex Picture of Dorian Gray, The (1945), 405 Piel que habito, La (2011), 223 Plague of the Zombies, The (1966), 603, 604 Plan 9 from Outer Space (1959), 602 Polish Jew, The, siehe Juif polonais, Le (1931) Poltergeist (1982), 50 Nachts, wenn Dracula erwacht (1969), Princess and the Frog, The (2009), 610 Procureur Hallers, Le (1930), 32 270 Psycho (1960), 173, 310 Narcotic (1932), 501 Nature’s Mistakes, siehe Freaks (1932) New Adventures of Dr. Fu Manchu, siehe Rasputin, Demon with Wives, siehe Rasputin: Dämon der Frauen (1930) Return of Dr. Fu Manchu, The (1930) Night of the Living Dead (1968), 149, Rasputin: Dämon der Frauen (1930), 34 Rasuto Furankenshutain (1991), 286, 287 506, 580, 602, 604 Nosferatu: Eine Symphonie des Grauens Raven, The (1963), 181 (1922), 3, 44, 83, 95, 102, 103, 106, Re-Animator (1986), 345, 346 Reazione a catena (1971), 173 133, 390, 530 Not Against the Flesh, siehe Vampyr: Der Reefer Madness (1936), 503, 506 Return of Chandu, The (1934), 22 Traum des Allan Grey (1932) Return of Dr. Fu Manchu, The (1930), 31, Nutty Professor, The (1963), 300, 301 31, 439 Return of the Fly (1959), 326–329 Offspring, The (1987), 479 Revenge of Frankenstein, The (1958), Old Dark House, The (1932), 366 245, 247 Omega Man, The (1971), 228 Revenge of the Zombies (1943), 92, 597, Orgía del los muertos, La (1973), 303 598 Orlacs Hände (1924), 467 Revolt of the Zombies (1936), 594 Orlaks Hände (1924), 536 Rocky Horror Picture Show, The (1975), Orphée (1950), 54 148, 277–279 Other One, The, siehe Andere, Der (1930) Rojo Sangre (2004), 303 Outward Bound (1930), 30 Roma contro Roma (1964), 603 Peeping Tom (1959), 171, 173 Sang d’un poète, Le (1930), 45, 45, 46, Penalty, The (1920), 4 51, 52, 54, 55 Perfect Alibi, The, siehe Birds of Prey Santo contra la hija de Frankestein (1971), (1930) 268 Pet Sematary (1989), 149, 486 Phantom of Paris, The (1931), 10, 448, Santo contra los zombies (1962), 603 Satan’s Sadists (1969), 266 467, 479 Phantom of the Opera, The (1925), 4, 9, Savage Intruder (1969), 413 Saw (2004), 18 16, 44, 89, 95, 136 Scared Stiff (1953), 595 Phantom, The (1931), 447 Murders in the Rue Morgue (1932), 11, 359, 424, 500, 511–517, 521, 524, 527, 529, 532, 534–537 Mysterious Dr. Fu Manchu, The (1929), 31, 439 Mystery of the Wax Museum (1933), 366, 406, 512 611 Das Dokument des Grauens Scared the Death (1947), 479 Scotland Yard (1930), 37, 37 Sea Bat, The (1930), 29, 29, 30 Secret Witness, The (1931), 448 Sei donne per l’assassino (1964), 173 Seltsame Geschichte des David Gray, Die, siehe Vampyr: Der Traum des Allan Grey (1932) Serpent and the Rainbow, The (1988), 593 Seven (1995), 18 Seven Footprints to Satan (1929), 479 She Freak (1967), 506 Sherlock Holmes Faces Death (1943), 409 Shining, The (1980), 73, 149 Show, The (1927), 455 Silence of the Lambs, The (1991), 173 Skæbnesvangre opfindelse, Den (1909), 290 Something Wicked this Way Comes (1983), 479 Son of Dr. Jekyll, The (1951), 294, 296, 298 Son of Frankenstein (1939), 234, 236, 248, 277, 359, 401 Son of Ingagi (1940), 28 Soul of a Monster (1944), 409 Spanish Dracula, siehe Drácula (1931) Spectre Vert, Le (1930), 38 Spider, The (1931), 449, 449 Spiral Staircase, The (1946), 72 Spooks (1930), 44 Spooks Run Wild (1940), 479 Staatsanwalt Hallers, siehe Andere, Der (1930) Strange Adventure of David Gray, The, siehe Vampyr: Der Traum des Allan Grey (1932) Such Men Are Dangerous (1930), 36, 37 Sugar Hill (1974), 604 Svengali (1931), 125, 205, 206, 210–213, 217, 437, 445, 446, 453 Tarantula (1955), 334 612 Teenage Zombies (1959), 602 Temple Tower (1930), 38, 38 Terror Il castello delle donne maledette (1974), 275 Terror by Night, siehe Secret Witness, The (1931) Terrors (1930), 28, 28, 29 Testament des Dr. Mabuse, Das (1932), 174, 201 Testament du Docteur Cordelier, Le (1959), 298, 299, 311 Texas Chain Saw Massacre, The (1973), 149 Texas Chain Saw Massacre, The (1974), 173 The Bells (1931), 438 The Bride(1985), 283 The Two Faces of Dr. Jekyll (1960), 299, 300 Them (1954), 599 Thirteenth Chair, The (1929), 406, 467 Thirteenth Chair, The (1937), 406 Tirlby (1923), 206 Tomei kaijin (1958), 318 Tomei ningen (1954), 318 Tower of London (1939), 406, 409 Trilby (1915), 206 Twelfth Hour, The, siehe Zwölfte Stunde: Eine Nacht des Grauens, Die (1930) Twilight People, The (1973), 260 Two Faces of Dr. Jekyll, The (1960), 299, 300, 307 Ultimo uomo della Terra (1964), 602 Undying Monster, The (1942), 407, 409 Unholy Night, The (1929), 38 Unholy Three, The (1925), 9, 454, 455 Unholy Three, The (1930), 9, 10–12, 24, 454 Unknown Purple, The (1923), 60, 62 Filmindex Unknown, The (1927), 4, 455, 470, 480, Voodoo Island (1957), 606 Voodoo Man (1944), 92, 606 486, 507 Vredens dag (1943), 576 Vudú sangriento (1974), 607 Valley of the Zombies (1946), 91 Vampire, The, siehe Vampyr: Der Traum Werewolf of London (1935), 424 des Allan Grey (1932) West of Zanzibar (1928), 455, 465, 470, Vampires, Les (1915–16), 62 498 Vampyr, siehe Vampyr: Der Traum des White Zombie (1932), 534, 585, 594, 595, Allan Grey (1932) 605 Vampyr (1932), 54 Vampyr: Der Traum des Allan Grey Wizard of Oz, The (1939), 12 (1932), 541, 542, 546–550, 555, 558, Wolf Man, the (1941), 4 Woman Eater, The (1958), 601 568, 574–576 Vampyr: L’Étrange aventure de David World War Z (2013), 579 Gray, siehe Vampyr: Der Traum des Young Frankenstein (1974), 276, 277, 371 Allan Grey (1932) Young Frankenstein (1975), 277 Vampyros Lesbos (1971), 270 Vertigo (1958), 191 Victor Frankenstein (1976), 279 Zombi Holocaust (1980), 341, 605 Vie amoureuse de l’homme invisible, La Zombies of Mora Tau (1957), 599, 600 Zombies of the Stratosphere (1952), 599 (1970), 319, 320 Zombies on Broadway (1945), 598, 600 Voice from the Sky, The (1930), 43, 43 Voluntad del muerto, La (1930), 16, 16, Zwölfte Stunde: Eine Nacht des Grauens, Die (1930), 44 22, 124 613