Buch Finster - textdichter

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Buch Finster - textdichter
SV
Herzlichen Dank für die Unterstützung bei der
Realisierung des Projekts an die
Sparkasse Elbe-Saale, den Landkreis Bernburg
sowie die Stadt Bernburg!
Michael Schuster
Ein Leben zwischen Nacht und
Morgengrauen
Der Schriftsteller Ernst Finster
Michael Schuster Verlag
Baalberge
SV
Das vorliegende Buch basiert auf den Lebenserinnerungen
des Schriftstellers Ernst Finster,
Gesprächen mit seiner Frau Emma Finster und umfangreichen Recherchen.
Alle Fotos stammen aus dem Privatarchiv von Frau Emma Finster
sowie aus dem Verlagsarchiv.
Reprotechnische Vervielfältigung und Nachdruck sind, auch auszugsweise, verboten.
ISBN 3-9810141-0-3
© 2005 Michael Schuster Verlag Baalberge
Gestaltung/Satz/Layout: Michael Schuster
Redaktionelle Mitarbeit: Heike Schuster
Druck:
Sächsisches Digitaldruck Zentrum GmbH
Inhalt
Der Beginn einer Reise
..................6
Dem Schrecken entronnen
..................8
Am Anfang eines neuen Weges
................18
Zeit der Veränderungen
................28
Kreissekretär und Journalist
................39
Zwischen Schreibtisch und Beerenobst
................59
Erfolge eines Autors
................59
Höhen und Tiefen
................71
Fackeln am Fluss
................83
Wolf unter Schakalen
................94
Schlussakkord
..............103
Nachwort
..............111
Anhang
..............113
Der Beginn einer Reise
Schon auf der Saalefähre bei Groß Rosenburg fängt mich die
sattgrüne Landschaft mit ihrem eigenartigen Licht ein. Es riecht
nach Flußwasser und fetter, saftiger Erde. Denkt man sich die
PKW’s am jenseitigen Ufer fort und sieht dann nur auf die
katzköpfige Pflasterstraße, erscheint das Werkleitzer Ufer wie vor
über hundert Jahren, eigentlich gänzlich unberührt. Von hier in
den Ort sind es noch ein oder zwei Kilometer, nicht der Rede wert
für den, der ein Auto sein eigen nennt, aber auch mit dem Fahrrad
bequem zu bewältigen.
In Werkleitz, direkt gegenüber der kleinen Kirche, als ehemaliges
Bauerngehöft noch deutlich auszumachen, befindet sich das
Haus, in dem Ernst Finster, einer der bedeutendsten Schriftsteller
dieser Region, viele Jahre seines Lebens verbrachte. Hier, hinter
den zum Arbeitszimmer und zur Bibliothek gehörenden Fenstern,
hat er sich einige Stunden des Tages in seine Arbeit vertieft, die ihn
bis in’s hohe Alter nicht losgelassen hat. Seine Arbeit? Eher schon
eine Leidenschaft, die Beschäftigung mit der deutschen und
insbesondere der regionalen Geschichte, aus der eine Reihe
großartiger Bücher erwuchsen. Nur drei seiner Romane wurden
veröffentlicht, zwei vor und einer nach seinem Ausschluss aus
dem Schriftstellerverband der damaligen DDR.
Doch damit wären wir schon bei seiner Lebensgeschichte, die
Ernst Finster, als er sich noch mit achtzig Jahren einen Computer
anschaffte, eigenhändig aufgeschrieben hat und auf deren
Grundlage dieses Buch unter anderem entstand. Betritt man sein
Arbeitszimmer kann man sich des Gefühls nicht erwehren, er sei
eben erst vom Schreibtisch aufgestanden und eigentlich möchte
man nach ihm suchen. Finden kann man ihn nur noch in seinen
Büchern, in unzähligen Texten zur Regionalgeschichte, in Erzählungen und in den warmherzigen Erinnerungen seiner Frau, ohne
deren Hilfe und Unterstützung dieses Buch nie entstanden wäre.
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Eines der Gedichte von Ernst Finster für seine Frau, geschrieben
Weihnachten 1948, soll deshalb die Erinnerungen an den Schriftsteller eröffnen.
Dein Herz
und mein Herz,
ein einziger Schlag.
Dein Glück
und mein Glück
nichts zu trüben vermag.
Frei von der Sorge
und der Hast nach dem Geld,
voll Sonne
und Wonne
lacht uns die Welt!
Ernst Finster
(1948)
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I. Dem Schrecken entronnen
Über einen schmalen Weg am Frischen Haff in Ostpreußen
versuchten sich im März 1945 die Reste der 552. Volksgrenadierdivision in das Fischerdorf Rosenberg zu retten. Unter
denen, die das Inferno dieser Tage ein Leben lang nicht mehr
loslassen sollte, war der dreißigjährige Oberfunkmeister Ernst
Finster aus Plötzkau an der Saale.
Die Stunden der heillosen und unorganisierten Flucht liefen bis in
das hohe Alter wie Filmfetzen immer wieder vor ihm ab. Da war
der sterbende Oberfeldwebel dem niemand mehr helfen konnte
und helfen wollte, im Wege liegend und nur noch ein Hindernis
für die Flüchtenden.
Da war das Krepieren der Granaten, begleitet vom hässlichen
Zirpen der Infanteriegeschosse und da war Rosenberg mit der
Hoffnung auf einen rettenden Marinefährprahm. Im Feuerschein
der brennenden Häuser, pausenlos untermalt vom Hämmern
sowjetischer Geschütze, drängten sich alte Männer, Frauen und
Kinder über Sterbende und Tote. „Eine von Menschen geschaffene Hölle!“, wie Ernst Finster die Situation rückblickend
bezeichnete.
Aufgewachsen im idyllischen Plötzkau, verbrachte der naturliebende Junge den Hauptteil seiner Freizeit in der weitläufigen
Landschaft der Saaleauen. Hier fand er eine reichhaltige Tierwelt,
die es wert war, ausgiebig beobachtet zu werden. Immer mehr
verstärkte sich dadurch auch der Wunsch, diese Naturverbundenheit mit Gleichgesinnten zu teilen.
Pfadfinder hießen die Organisationen damals und nur eine,
nämlich die in Nienburg, gab es für Ernst Finster in erreichbarer
Nähe.
Da er stolzer Besitzer eines Fahrrades war, machte er sich Mitte
der zwanziger Jahre am Wochenende auf den Weg in die Stadt,
wo Saale und Bode sich begegnen.
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x
Mit den Pfadfindern von Nienburg im Gelände
x
Lehrzeit als Dekorationsmaler in Bernburg
Dort lernte er den Aufbau von Zelten aus mehreren Zeltbahnen,
das Einrichten einer Feuerstelle und das Orientieren an
Merkmalen der Natur. Besondere Freude hatte Ernst Finster auch
am Erkennen der verschiedenen Fährten und Trittsiegel des
Wildes. Das Leben in und mit der Natur war ihm inzwischen zum
tiefen inneren Bedürfnis geworden.
Durch seine scheinbar angeborene Fähigkeit, sehr gut zu organisieren schaffte es der Sechzehnjährige 1931 sogar, deutschlandweit die erste dörfliche „Siedlung“ des Deutschen Pfadfinderbundes zu gründen. Allerdings war es nach dem Machtantritt der Nazis mit dem romantischen Pfadfinderleben bald vorbei. An die Stelle der unpolitischen Jugendorganisationen rückten nun das Jungvolk und die Hitlerjugend.
Doch auch hier fand der begeisterungsfähige Ernst Finster schnell
eine neue Heimat.
Da gab es die aufregenden Geländespiele mit anschließender
Erbsensuppe und gemeinsamen Liedern am Lagerfeuer.
Die Nachtigall sang den in Decken gewickelten Jungs das
Schlaflied und der Waldkauz wünschte mit seinem dumpfen Ruf
eine gute Nacht.
Konnte es für Heranwachsende der damaligen Zeit, einer Generation, die Geschichten von Karl May beim Licht der Taschenlampe unter der Bettdecke regelrecht verschlangen, jemals etwas
Schöneres geben?
Für Ernst Finster war es eine herrliche Zeit. 1934 gelang es ihm,
als erster im sogenannten Gebiet „Mittelelbe“, alle Plötzkauer
Schüler der Altersgruppe von zehn bis vierzehn Jahren im Deutschen Jungvolk zu organisieren.
Und natürlich war er auch dabei, als es im Sommer des gleichen
Jahres ein Feldlager an der Saale mit Jungen aus Osmarsleben,
Ilberstedt, Gröna und Aderstedt gab.
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Doch nicht nur in der Freizeit zeigte er sich von einer guten Seite,
auch seine schulischen Leistungen gehörten zu den besten.
Der damals sehr bekannte Heimatforscher Franz Stieler, einer
seiner Lehrer in Plötzkau, anvancierte dabei unbewusst zu seinem
Vorbild, obwohl ihr Verhältnis dann doch von einer gegenseitigen
Antipathie geprägt wurde. Stieler, während des Krieges von
Plötzkau nach Jeßnitz versetzt, kehrte später nach Bernburg
zurück und eröffnete 1956, nach dem Erscheinen von Finsters
Roman „Die Wälder leben“ eine wütende Hetzkampagne.
Vor dem Schaufenster der Bernburger Volksbuchhandlung
erklärte er allen, die es hören wollten, mehrere Tage hintereinander, das sein einstiger Schüler ein grober Geschichtskitter sei,
der von Heimatgeschichte keinen blassen Schimmer hätte und
nur er, Franz Stieler, wäre in der Lage, diese Geschichte richtig zu
deuten.
Vorerst aber drückte der „Geschichtskitter“ noch die Schulbank
bei Franz Stieler und anderen Lehrern der Plötzkauer Schule. Mit
vierzehn Jahren nun sollte sich Ernst Finster für einen Beruf entscheiden. Sicherlich vom Vater geprägt, aber auch durch viel
eigenes Talent, das ihn immer wieder zum Malen anregte,
begann er eine Lehre als Dekorationsmaler bei der Firma Kunze
in Bernburg. Nicht weit davon, in der Gewerbeschule, erhielt er
seinen Unterricht, dem er mit Fleiß und interessiert folgte.
Allerdings hatte Ernst Finster auch schon immer ein Faible für
Technik. Natürlich konnte er durch Jungvolk und Hitlerjugend mit
Militärtechnik Bekanntschaft schließen, Zeitungsartikel und
Bücher mit entsprechenden Beschreibungen taten ein Übriges.
1936 meldete sich Ernst Finster freiwillig für 12 Jahre zum Dienst
bei der Deutschen Luftwaffe. Er hatte sich dabei für eine
Ausbildung zum Funker entschieden, die er bei der LuftgauNachrichten-Abteilung 3 in Berlin-Kladow begann und die ihn
über Landau und eine kurze Station bei der Luftnachrichtenschule
Halle, weiter nach Straßburg und später bis nach Russland und
vor die Tore Petersburgs führen sollte.
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Beim
Reichsarbeitsdienst
Oberfunkmeister
Ernst Finster
So oder so ähnlich erlebte Ernst Finster die Flucht aus
Ostpreußen
Dabei ereignete sich während seiner Zeit in Halle an der Saale
ein besonderer Vorfall, den sich Ernst Finster, wie noch oft in
seinem Leben, selbst organisiert hatte.
Im Dezember 1940 wurden der Unteroffizier Finster und einer
seiner Kameraden aus dem Unterricht weg verhaftet. Der Grund
war eine nicht so ganz ernstzunehmende Eulenspiegelei, die sich
der Plötzkauer und ein paar seiner Kameraden schon Monate
vorher ausgedacht hatten. „Bund der Obdachlosen (BdO)“
nannten sie ihre Organisation, die neben vielen Mitgliedern auch
über eine eigene, im Abzugsverfahren hergestellte Zeitschrift
vefügte. Titel: “Der Obdachlose“.
Das roch den Offizieren der Luftnachrichtenkompanie in
Straßburg dann doch sehr nach Wehrkraftzersetzung und deshalb
sollte in Ludwigsburg das Kriegsgericht über die Sache beraten.
Finster hatte Glück. Der mit dem Fall beauftragte Richter erkannte
in dem „Bund der Obdachlosen“ eine harmlose Spinnerei und
stellte das Verfahren ein.
In dieser Episode zeigen sich schon sehr deutlich die Talente Ernst
Finsters, die in seinem späteren Leben immer wieder ausschlaggebend für positive oder auch negative Entwicklungen wurden.
Das beinahe geniale Talent, Menschen zu organisieren und zu
überzeugen, aber auch die Lust am schriftstellerischen Arbeiten,
gepaart mit einem augenzwinkernden Humor und reger Phantasie.
Bei Rosenberg, am 24. März 1945, war es nicht der rechte
Augenblick für positive menschliche Charakterzüge wie Humor
und Phantasie. Im Trommelfeuer sowjetischer Geschütze ging es
letztlich nur um das nackte Überleben. Auch als Ernst Finster die
ostpreußische Stadt Pillau erreicht hatte, gab es noch keinen
Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Rings um den
Oberfunkmeister senkte sich eine einstmals blühende Landschaft
in Schutt und Asche.
Tausende, aus allen Teilen Ostpreußens stammende Menschen
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suchten händeringend nach einer Gelegenheit zum Weitertransport in Richtung Westen. Sassnitz oder Stettin waren Städtenamen, die in diesen Tagen nach Freiheit und Überleben klangen. Doch die wenigen der deutschen Marine noch verbliebenen
Schiffe, umfunktionierte Handelsdampfer, Fischereikutter und
größere Ausflugsboote reichten lange nicht aus, um allen die
Sehnsucht nach Rettung erfüllen zu können. Immerhin aber rund
450.000 Menschen schafften es während des Krieges, über den
Pillauer Hafen vorerst dem Krieg zu entkommen. Auch Ernst
Finster hatte Glück. Am 29. März erhielt er einen Marschbefehl
für die Fahrt 602 mit dem Dampfer „Anna Gertraude“ nach
Swinemünde und verließ als einer der Letzten den Hafen an der
Frischen Nehrung.
Sein Wunsch, von dort zum Fliegerhorst nach Bernburg in Marsch
gesetzt zu werden, erfüllte sich nicht. Stattdessen ging es per Bahn
nach Potsdam, wo der Angehörige der Luftwaffe per Befehl zum
Unteroffizier einer Artillerie-Ersatzabteilung wurde.
Erschöpft traf Ernst Finster Tage später in Roßlau ein. Man schrieb
den 8. April 1945. Bis zum Inkrafttreten der vollständigen Kapitulation sollte nur noch ein Monat vergehen. Ein Monat voller
sinnloser Opfer, militärischer und noch mehr ziviler. 30 Tage, an
denen Menschen für einen längst untergegangenen Wahn vom
tausendjährigen Reich geopfert wurden.
Noch am 26. April 1945, Bernburg war da schon acht Tage von
den Amerikanern besetzt, begann die aus Resten der einstigen
deutschen Wehrmacht zusammengewürfelte „Armee Wenck“ im
Raum Beelitz-Treuenbritzen mit einem Großangriff gegen die aus
Osten vorstoßende Rote Armee. Vier Tage später stahl sich der
„Führer“ Adolf Hitler aus dem Leben und die Russen hielten Berlin
bis zum Stadtzentrum hin besetzt. Längst bestand schon keine
Aussicht mehr auf den immer wieder versprochenen „Endsieg“
und trotzdem, noch sollten tausende junge Menschen am Beginn
ihres Lebens geopfert werden. Ernst Finster erinnerte sich später:
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„Wir marschierten, weil wir noch immer an den Führer und an den
Sieg glaubten. Wir alle? Ich weiß es nicht. Die siebzehn- und
achtzehnjährigen Fähnriche und Fahnenjunker-Unteroffiziere
ganz bestimmt.“
Am 8. Mai 1945 fand sich Ernst Finster mit den Resten seiner
Einheit und in Begleitung eines vierzehnjährigen Jungen in dem
Dorf Fischbeck an der Elbe.
Den Jungen hatte der Unteroffizier tags zuvor in einem
verlassenen Bauerngehöft aufgelesen. „Hör zu,“ hatte er dem aus
Pommern stammenden Vollwaisen gesagt, „morgen geht der
Krieg zu Ende, ganz gewiß. Für mich und für dich, für alle. Wenn
wir heil aus dem Schlamassel herauskommen, dann wollen wir
und dann müssen wir ein neues Leben beginnen. Wir alle.
Verstehst du das?“.
Der Junge, von einem betrunkenen Oberzahlmeister zum
Gefreiten befördert und mit einem Eisernen Kreuz II. Klasse
ausgerüstet, das er einem toten Unteroffizier abgenommen hatte,
verstand es nicht. Doch er schloss sich nur zu gern dem Dreißigjährigen an, der für die nächsten Wochen zu einer Art Ersatzvater
für ihn werden sollte.
Gegenüber dem Dorf Fischbeck lag die Stadt Tangermünde.
Dort, westlich der Elbe glaubten sich die kriegsmüden Soldaten
auf der sicheren Seite, näherten sich von dort doch die
Amerikaner. Das viele der feldgrauen Landser noch Monate nach
dem Ende des Krieges in den Lagern der Amerikaner, unter
anderem auf den Rheinwiesen und bei Bad Kreuznach regelrecht
verfaulen würden, ahnte damals wohl noch keiner.
Hier, auf den feuchten Niederungen am Fluß, endete nun der
militärische Weg des Oberfunkmeisters Ernst Finster.
Mit dem Blick auf die Türme der altehrwürdigen Elbestadt meinte
er zu seinem Schützling, als der ihn nach seinen Erinnerungen an
Russland befragte: „Es wäre besser, wir hätten dieses Land nie
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betreten. Es ist ein weites Land ohne Horizont. Ein trostloses Land
ohne Hoffnung. Ein wildes Land ohne Erbarmen. Wir haben da
eine Lawine losgetreten, die uns nun überrollen wird.“.
Wie zur Bestätigung seiner Worte begann damit der Angriff der
Roten Armee auf die Reste der „Armee Wenck“, die sich trotz der
allgemeinen Kapitulation gegen eine Gefangennahme durch die
Sowjets mit Geschützfeuer zu wehren versuchte.
Und als deren Geschütze schwiegen, schossen die Amerikaner
von Tangermünde her auf ihre eigenen Verbündeten. Dazwischen
schob sich ein schier endloses Menschenknäul über die Brücke
Richtung Westen. Jeder wollte es schaffen, es war doch schon
Frieden verkündet worden. Es war doch schon Frühling.
Und doch starben um den ebenfalls fliehenden Ernst Finster und
seinen vierzehnjährigen Schützling herum an diesem ersten
Friedenstag, an diesem 8. Mai 1945, noch unzählige deutsche
Soldaten.
Manche Hoffnung von einer Rückkehr in die Heimat versank
unter dem MG-Feuer der herannahenden Russen in den Wassern der Elbe.
Mit drei Tafeln Schoka-Cola aus ehemaligen deutschen Wehrmachtsbeständen, einer Dose gesalzener Erdnüsse aus amerikanischen Beständen und einem viertel Liter Wasser pro Tag begann
für Ernst Finster und die Reste der ehemaligen „Armee Wenck“
der Frieden auf dem Rollfeld des Feldflugplatzes Stendal.
Merkwürdig erschien ihm nur, das er und die dreißigtausend
internierten Deutschen Tage später in der Hindenburg-Kaserne
wieder in militärische Hundertschaften eingeteilt wurden. Selbst
als die Amerikaner die Aufsicht über die Deutschen in Stendal an
die Engländer abgaben, blieb es noch eine Weile dabei.
Erst als der Sommer sich kräftiger in das Land drängte, gaben die
drei Westalliierten den ursprünglich gefassten Plan vom sofortigen „Roll Back“ gegen die Sowjetunion auf und die als
Kanonenfutter vorgesehenen Deutschen wurden zum Ernteein- 16 -
satz kommandiert. In Wernitz, einem Dorf zwischen Gardelegen
und Oebisfelde hatte Ernst Finster eine wesentliche und für seine
schriftstellerische Entwicklung wichtige Begegnung.
Zunächst war nämlich nicht viel vom angekündigten Ernteeinsatz
zu spüren, eher etwas von Langeweile und ziellosem Einerlei
leerer Tage. Einer der nach Wernitz kommandierten Unteroffiziere, der spätere Schriftsteller Wolf D. Brennecke, gründete
einen Theaterzirkel und beim abendlichen Gespräch beschlossen
er und Ernst Finster, gemeinsam mit zwei weiteren Kriegsgefangenen, die Herstellung einer eigenen Zeitschrift unter dem
Titel „Die Stunde für Dich“.
Ein Fortsetzungsroman sollte darin enthalten sein, eine
Kurzgeschichte, Rätsel und Illustrationen. Der Fortsetzungsroman, für den Ernst Finster verantwortlich gemacht wurde, hatte
den Arbeitstitel „Der Sergeant von Kiviisbuurk“ und sollte in
Estland, das Finster aus dem Krieg kannte, spielen. Brennecke,
als „Hauptschriftleiter“ gewählt, übernahm die Entwicklung der
Kurzgeschichte, die anderen beiden jeweils für Rätsel und Illustrationen. Doch der Traum und Brenneckes aus getrockneten
Rosenblütenblättern stammender Tabakspfeifendunst lösten sich
noch am selben Tag in Nichts auf.
Die Gefangenen wurden in kleinere Einheiten geteilt und nun
tatsächlich zum allgemeinen Ernteeinsatz auf die gesamte britisch
besetzte Altmark verteilt. So endete die kurze, allerdings sehr prägende erste Begegnung zwischen Ernst Finster und Wolf D.
Brennecke. Jahre später sollten sie sich in Halle an der Saale
wiedertreffen und von da an als Freunde eng verbunden bleiben.
Schriftsteller, die sie in Wernitz beide schon sein wollten, sind sie
später tatsächlich auch geworden.
Brennecke schrieb fünfzig Jahre später in seinem letzten Brief an
Ernst Finster: „Am deutlichsten sehe ich noch die „Rosenlaube“
vor mir, wo wir vier hockten und die Zeitschrift „Für Dich“ (bei
Finster „Die Stunde für Dich“ d.Verf.) entwarfen. Böttcher (Der
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Verantwortliche für die Kreuzworträtsel/d. Verf.) habe ich später in
Genthin, noch später in Wernigerode getroffen, wo er eine Krambude hatte. An den Namen des Vierten, der so gut zeichnete,
kann ich mich nicht mehr erinnern.
Aber noch an Nettgau, wo in jener Nacht alle über die neue
Demarkationslinie gingen ...“.
In Nettgau an der Ohre, auf dem Hof des Bauern Heinrich
Böckel, wurde der Ernteeinsatz nun tatsächlich zur Realität.
Der vierzehnjährigen Gefreite, den Ernst Finster auf den Elbwiesen bei Tangermünde aufgelesen hatte, befand sich da immer
noch in seinem Schlepptau. Als Ziehsohn sozusagen.
Doch hier endete dann auch diese sonderbare, aber für die
Nachkriegszeit nicht ungewöhnliche Patenschaft.
Im Juni 1945 vermehrten sich die Gerüchte, das die Besatzungszonen verschoben werden sollten. Bis weit hinter die Elbe sollte
das Einflussgebiet der Russen fortan reichen und Ernst Finster
machte sich, wie viele seiner Mitgefangenen, ernsthafte Sorgen
um seine Eltern.
So zog er, bei Nacht und Nebel, unerlaubt mit dem „Die Stunde
für Dich“ - Zeichner Böttcher aus Halle an der Saale, los in
Richtung Bernburg. Sein Schützling blieb an Stelle des gefallenen
Sohnes des Bauern auf dem Gehöft der Böckels.
II. Am Anfang eines neuen Weges
Der Marsch in die Heimat begann bis nach Bismark auf immer
schwerer werdenden Füßen und ab da auf verschiedenen
Fahrgelegenheiten Richtung Aschersleben, und mit einem
zweiten LKW von dort erst einmal bis Hoym.
Ein amerikanischer Jeep sorgte dann für den Weitertransport der
abgängigen Kriegsgefangenen bis in den Keller des Bernburger
Rathauses.
Schon glaubte Ernst Finster, so nah an der Heimat, die
Saaleregion wieder verlassen zu müssen, da rettete ihn die Situ- 18 -
ation, derentwegen er von Nettgau überhaupt aufgebrochen war,
der bevorstehende Einmarsch der Russen in Bernburg.
Den Amerikanern erschien es viel zu umständlich, sich mit dem
Transport, der Unterbringung und der Verpflegung der
„Germans“ zu befassen. Sollten doch die Verbündeten dieses
Problem lösen. Und wenn nicht, dann eben nicht. So also wurden
Ernst Finster, der Hallenser Böttcher und einige weitere
„Kriegsgefangene“ aus dem Keller der Rathauses in Bernburg am
Morgen des 30. Juni mit freundlichen Worten nach Hause
entlassen.
Das heißt, Ernst Finster erhielt vorher noch das Angebot, in die
US-Army einzutreten, bei vollen Bezügen und im Dienstrang eines
Leutnants. Natürlich erschien dem damals gerade Dreißigjährigen dieses Angebot wie eine unverhoffte Rettung aus allen
bevorstehenden Existenzproblemen und der damit verbundenen
Angst und Skepsis vor der herannahenden Roten Armee Stalins.
Vater Finster ist es zu danken, dass sein Sohn Ernst von dem
Vorhaben, am 1. Juli mit den Amerikanern fortzugehen, abgelassen hat.
So erwarteten sie also gemeinsam den Einmarsch der Russen, die
am Nachmittag dieses ersten Julitages mit Panjewagen und
einigen Jeeps und Fahrrädern aus Richtung Bernburg in Plötzkau
einmarschierten. Doch nur ein kleiner Trupp, von einem Unterleutnant befehligt, blieb im Dorf zurück.
Jeder arbeitsfähige Einwohner, auch Ernst Finster, hatte sich kurz
darauf zur Arbeit auf dem zu der ehemaligen landwirtschaftlichen
Domäne Plötzkau gehörigen Vorwerk Bründel zu melden. Für den
gelernten Dekorationsmaler und ausgedienten Oberfunkmeister
hieß das Schuften in der sogenannten Mistkolonne. Auf dem
Kuhring, einer großen „duftenden“ Fläche mitten auf dem
Gutshof, mussten er und die anderen Arbeiter den von den
Jungrindern festgetretenen Mist auf die von schweren Kaltblütern
gezogenen Wagen verladen. Auch auf den Feldern rings um
Bründel und Plötzkau wurde gearbeitet.
Dann wurde aus dem Landarbeiter Finster eher widerwillig ein
Neubauer, der im Rahmen der durch die in der sowjetischen
Besatzungszone vollzogenen Bodenreform 1945 plötzlich
Eigentümer über zwanzig Morgen Land war. Für ein paar Tage
nur, denn die Ortsbodenkommission stellte fest, das Ernst Finster
als ehemaliger Berufssoldat und Oberfunkmeister wie ein
„Kriegsverbrecher“ einzustufen war und damit kein Anrecht auf
eine Neubauernstelle gehabt hatte.
Wie gewonnen, so zerronnen, dachte sich, eigentlich erleichtert,
der inzwischen wieder landlose ehemalige Dekorationsmaler, der
sich mit den Vorgängen um die von den Kommunisten als
„demokratisch“ bezeichneten Bodenreform nicht im Geringsten
identifizieren konnte, obwohl er doch aus einer der früher wenig
begünstigten Arbeiterfamilien stammte.
Nein, der schon damals an der Geschichte seiner Heimat stark
interessierte Ernst Finster konnte es nicht verstehen, dass bei der
Plünderung des Schlosses in Poplitz alle noch vorhandenen Archivmaterialien, wertvolles Schriftgut und die gesamte Bibliothek
als „Heizmaterial“ verbrannten.
Damit gingen Aufzeichnungen einer sehr wichtigen geschichtlichen Epoche dieses Landstriches unwiderbringlich in Rauch und
Flammen auf. Der ehemalige Besitzer des Schlosses, der Freiherr
Heinrich von Krosigk war nämlich nicht nur ein enger Freund von
historischen Persönlichkeiten wie Johann Christian Reil, Heinrich
Steffens und Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, er selbst war
es auch, der am Vorabend der Völkerschlacht bei Leipzig das
erste entscheidende Gefecht bei Möckern wesentlich beeinflusste
und dabei den Tod fand.
Als bekannter Reformer hatte er als erster Gutsbesitzer dafür
gesorgt, das alle bei ihm beschäftigten Landarbeiter nach ihrer
Dienstzeit in den Besitz der von ihm finanzierten und gebauten
Wohnhäuser gelangten.
Er sorgte für Schulbildung und eine grundlegende medizinische
Betreuung. Nun, kurz nach dem Ende des so schrecklichen