Günter Grass – Im Krebsgang Wie wird der Untergang der „Wilhelm
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Günter Grass – Im Krebsgang Wie wird der Untergang der „Wilhelm
Immanuel-Kant Gymnasium Münster Hiltrup Schuljahr 2009/10 GK Deutsch (Frau Dissen) Günter Grass – Im Krebsgang Wie wird der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ in dieser Novelle literarisch verarbeitet? Facharbeit von Lisa Kirsch Münster März 2010 1 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung…………………………………………………………………..2 2. Die literarische Verarbeitung des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ in Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“……….3 2. 1. Der Inhalt der Novelle………………………………………………………3 2. 2. Die historischen Hintergründe der Novelle…………………………………4 2. 2. 1. Flucht und Vertreibung………………………………………………...……4 2. 2. 2. Wilhelm Gustloff……………………………………………………………5 2. 2. 3. „Kraft durch Freude“………………………………………………………..5 2. 2. 4. Das Schiff „Wilhelm Gustloff“……………………………………………..5 2. 3. Aspekte der literarischen Verarbeitung……………………………………..6 2. 3. 1. Die Fabel der Novelle und ihre Struktur……………………………………6 2. 3. 2. Die Hauptfiguren der Novelle………………………………………………7 2. 3. 3. Die Figur Paul Pokriefke…………………………………………………...8 2. 3. 4. Die Gestaltung des Textes als Novelle……………………………………..9 3. Schluss……………………………………………………………………..11 4. Literaturverzeichnis……………………………………………………....12 5. Anhang 2 1. Einleitung „Warum erst jetzt?“ - so beginnt die Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass. Und auch die abgebrochenen zunächst unverständlichen Antworten des Erzählers werfen unverzüglich etliche Fragen auf: Welcher „jemand“, der nicht der Ich-Erzähler ist, stellt diese Frage? Wer wird überhaupt angesprochen? Warum fallen die Antworten so schwer? Vor allem aber: Was ist in der Vergangenheit geschehen, dem „erst jetzt“ Aufmerksamkeit geschenkt wird? Erst nach etlichen Seiten lüftet der Erzähler das „Geheimnis“: Es geht dem Erzähler um den Untergang des Schiffes „Wilhelm Gustloff“, das im Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten nach Deutschland bringen soll und am 30. Januar 1945 versenkt wird. Der Erzähler selbst ist einer der wenigen Überlebenden der Katastrophe von damals, mehr noch er wurde am Tag des Untergangs geboren. Sein Schicksal und das seiner Familie, das durch die Themen Flucht, Vertreibung und Kriegsereignisse geprägt ist, möchte ich in dieser Facharbeit untersuchen. Hinzu kommt die Berücksichtigung der Eingangsfrage der Novelle: „Warum erst jetzt?“ Ich wollte also der Frage auf den Grund gehen, warum das Thema der Vertreibung „erst jetzt“, ein halbes Jahrhundert nach dem Geschehen, vom Erzähler aufgegriffen wird. Auch stellte ich mir die Frage, ob sich diese Verdrängung nur auf ihn bezieht oder ob sich dieses Verhalten im gemeinsamen Gedächtnis der Deutschen widerspiegelt. Schließlich interessierte mich, wie Günter Grass diese Themen literarisch verarbeitete. Günter Grass‘ Novelle steht also im Zentrum meiner Arbeit. Ich habe deshalb zunächst eine Inhaltsangabe des Textes erstellt. Zum besseren Verständnis der in der Novelle vorkommenden historischen Umstände habe ich im Anschluss in einem Kapitel die geschichtlichen Ereignisse, die für die Erzählung essentiell wichtig sind, erläutert. Im Hauptteil meiner Facharbeit habe ich mich damit auseinandergesetzt, auf welche Weise Günter Grass das heikle Thema der Vertreibung literarisch umsetzt. Also bin ich auf die Hauptfiguren und ihre Beziehung zueinander eingegangen. Spezialisieren musste ich mich dabei auf die Figur des Ich-Erzählers Paul Pokriefke, da gerade seine Generation einen erheblichen Anteil daran hatte, dass die Vertreibung zu einem „Tabuthema“ geworden ist. Die besondere Bedeutung der Novelle zu diesem Thema ist mir bei der Materialbeschaffung bezüglich der geschichtlichen Begebenheiten noch einmal besonders deutlich geworden. Zur Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten findet Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“ nahezu immer Erwähnung. Somit kann man zu dem Schluss kommen, dass die Novelle des Literaturnobelpreisträgers eine wichtige Rolle bei der Aufarbeitung der Vertreibung und der Anerkennung der Vertriebenen in dieser Hinsicht auch als Opfer einnimmt. 3 2. Die literarische Verarbeitung des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ in Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“ 2. 1. Der Inhalt der Novelle Im Zentrum der Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass aus dem Jahr 2002 steht der Untergang des Schiffes „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945. Am Ende des II. Weltkrieges zu Beginn des Jahres 1945 waren bekanntlich viele Menschen, so auch die Romanfigur Ursula Pokriefke, in Ostpreußen durch den Frontverlauf vom Landweg in das rettende Reich abgeschnitten. Viele Menschen saßen also auf ihrer Flucht vor der heranrückenden Roten Armee fest. Die „Wilhelm Gustloff“ wurde nun genutzt dort befindliche verwundete Soldaten und Zivilisten ins noch nicht besetzte Deutsche Reich zu transportieren. Auch die hochschwangere Ursula, genannt Tulla, befindet sich auf dem Schiff in Richtung Westen, als dieses von einem russischen Unterwasserseeboot abgeschossen wird. Sie ist eine der Wenigen, die tatsächlich gerettet werden können, und bringt noch auf dem Rettungsboot ihren Sohn Paul zur Welt. Jahrelang drängt sie Paul, der den Beruf des Journalisten ergriffen hat, seine Geschichte aufzuschreiben. Doch es gelingt erst einem anonymen Auftraggeber ihn zur Verschriftlichung der Ereignisse zu animieren. Vorab informiert Paul den Leser über Ereignisse und Personen, die mit der Geschichte des Schiffes in Verbindung stehen. Er beginnt mit dem Namensgeber des Schiffes Wilhelm Gustloff, der Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz war und im Jahre 1936 von dem Juden David Frankfurter mit vier Schüssen getötet worden war. Frankfurter zeigt sich selbst an und äußert die Worte: „Ich habe geschossen, weil ich Jude bin.“ Im Zuge seiner Recherchen gelangt Paul auf eine Internetseite der „Kameradschaft Schwerin“, die den Nationalsozialisten Wilhelm Gustloff, als „Blutzeugen“ ehrt und dort ihre rechtsextremen Ansichten publiziert. Im Chatforum der Seite verfolgt Paul die Unterhaltung zweier Nutzer, die sich „Wilhelm“ und „David“ nennen und den Prozess gegen den Mörder Gustloffs nachspielen. Wie auch schon an den jeweiligen „Spitznamen“ erkennbar wird, nimmt „Wilhelm“ hierbei die Position der faschistischen Kläger ein und „David“ vertritt die Ansichten des jüdischen Angeklagten. Mit tiefer Bestürzung wird Paul schon bald gewahr, dass hinter dem Initiator der Internetseite und dem Chatter „Wilhelm“ sein Sohn Konrad steckt. Im weiteren Verlauf des Gesprächs im Internet planen die beiden Kontrahenten „David“ und „Wilhelm“ nun auch ein persönliches Aufeinandertreffen in Schwerin, der Geburtsstadt Gustloffs. Als „David“ genau die Stelle, an der ehemals das Denkmal Wilhelm Gustloffs gestanden hatte, mit voller Absicht bespuckt, zückt „Wilhelm“ alias Konrad eine Waffe und feuert vier Schüsse auf „David“ ab. Daraufhin zeigt er sich bei der Polizei an und erklärt: „Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin.“ Konrad wird zu sieben Jahren Jugendhaft verurteilt und scheint im Laufe seines Gefängnisaufenthalts Reue zu zeigen. Auf der Suche nach einem passenden Schlusswort für seine Geschichte, entdeckt sein Vater Paul im Internet 4 jedoch die Adresse www.kameradschaft-konrad-prokriefke.de. Er schließt sein Werk deshalb mit den Worten: „Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“1 (S. 216) 2. 2. Die historischen Hintergründe der Novelle 2. 2. 1. Flucht und Vertreibung Den zentralen historischen Hintergrund der Novelle bildet Flucht der Deutschen aus Ostpreußen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Oktober des Jahren 1944 hatten es die ersten sowjetischen Truppen geschafft nach Ostpreußen vorzudringen. 2 Trotz des ausdrücklichen Verbots Ostpreußen zu verlassen, ließen sich zahlreiche Menschen nicht von einer Flucht abhalten. Zu groß war die Angst vor den Racheakten der Roten Armee, welche auch vor Vergewaltigung zahlreicher Frauen und Ermordung der deutschen Bevölkerung nicht zurückschreckte. Nach Kriegsende kam es außerdem zur Vertreibung der meisten zurückgebliebenen Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten3. Zunächst glaubten nur wenige, der geschätzten 12 bis 14 Millionen Flüchtlinge an den tatsächlichen Verlust ihrer Heimat 4, mussten schließlich aber akzeptieren, von den Alliierten in eine der Zonen, in die Deutschland nach dem Krieg aufgeteilt wurde, umgesiedelt zu werden. Die Flucht der Deutschen galt lange Zeit als Tabuthema in der Öffentlichkeit. In Anbetracht der Schreckenstaten des Naziregimes war es „verpönt 5“ Deutsche auch als Opfer von NS-Herrschaft und Krieg zu betrachten. Anfangs waren es nur die „Vertriebenenverbände“, die einen Ansprechpartner für die Betroffenen darstellten, von der Politik jedoch keinerlei Beachtung erfuhren. Seit Anfang der neunziger Jahre, nach dem Untergang der DDR, rückt das Thema allerdings wieder in das Bewusstsein der Bevölkerung 6. Nicht zuletzt Günter Grass Novelle „Im Krebsgang“ hatte daran ihren Anteil. 1 Grass, Günter: Im Krebsgang. 7.Aufl. Göttingen: Steidl, 2002 Benz, Wolfgang: Flucht und Vertreibung. In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte. 1. Aufl. München: Verlag Moos und Partner, 1990 3 Hirsch, Helga: Flucht und Vertreibung. Kollektive Erinnerung im Wandel. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. 40 - 41 / 2003. S. 14. 4 Ebd. S. 17 5 Ebd. S. 14 6 Ebd. S. 14 2 5 2. 2. 2. Wilhelm Gustloff Wilhelm Gustloff wird am 30. Januar 1895 in Schwerin, Mecklenburg-Vorpommern, geboren und wandert im Jahre 1917 wegen einer Lungenerkrankung nach Davos in die Schweiz aus. Im Jahre 1929 tritt er der National-sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei und gründet in Davos einen Ableger dieser Partei. Im Jahre 1930 wird er von Hitler zum dortigen Landesgruppenleiter ernannt. Am 4. Februar 1936 wird Wilhelm Gustloff von dem jüdischen Studenten David Frankfurter erschossen. Zu Propagandazwecken wird er zum „Blutzeugen der Bewegung“ erhoben und wird unter anderem Namensgeber für ein von der nationalsozialistischen Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) in Auftrag gegebenes Kreuzfahrtschiff 7. 2. 2. 3. „Kraft durch Freude“ „Kraft durch Freude“ war ein NS - Unternehmen, dessen Aufgabe darin bestand, der deutschen Bevölkerung erschwingliche Freizeitunternehmungen zu ermöglichen, um der „einfachen“ Bevölkerung das Gefühl zu geben ein wertgeschätztes Mitglied der Gesellschaft zu sein und so die Bindung an das NS -Regime zu fördern. Die Angebote gingen über Theater- und Filmvorführungen bis hin zu Weiterbildungsveranstaltungen und gipfelten in den sehr beliebten Fernreisemöglichkeiten mit einem Schiff der eigenen Flotte, der auch die „Wilhelm Gustloff“ angehörte8. 2. 2. 4. Das Schiff „Wilhelm Gustloff“ Das Schiff „Wilhelm Gustloff“ war das Flaggschiff der KdF - Flotte. Die Inbetriebnahme des Kreuzfahrtschiffes erfolgte im Jahre 1938. Zu Beginn des zweiten Weltkriegs wurde es dann zunächst als Lazarettschiff der deutschen Kriegsmarine genutzt, ab 1940 diente es als Wohnschiff für Militärs. Ende Januar 1945 bekam die „Wilhelm Gustloff“ den Auftrag, ostpreußische Flüchtlinge in den Westen Deutschlands zu befördern, wurde jedoch am 30. Januar 1945 auf Befehl des sowjetischen U-Boot Kapitäns Alexander Marinesko torpediert und daraufhin versenkt. Eine genaue Angabe der Opferzahlen gibt es nicht, sie wird aber auf 7000 - 9000 Tote geschätzt. Wie es der Zufall will, wäre eben dieser 30. Januar 1945 zum einen der fünfzigste Geburtstag des Namensgebers Wilhelm Gustloff gewesen und zum anderen war er der zwölfte Jahrestag von Hitlers „Machtergreifung“. 9 7 Pelster, Theodor: Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Günter Grass – Im Krebsgang. Ditzingen: Reclam, 2004 8 Thamer, Hans-Ulrich: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945. 2. Aufl. Berlin: Siedler-Verlag, 1986 9 www.focus.de (01.02.2010). Riedel, Katja:“Wilhelm Gustloff“ In: Focus Online Wissen vom 01.02.2010 http://www.focus.de/wissen/bildung/Geschichte/tid-9050/wilhelm-gustloff_aid_262894.html 6 2. 3. Aspekte der literarischen Verarbeitung Beim Vergleich der eben geschilderten historischen Hintergründe mit der Haupthandlung des Textes und der Anlage der Hauptfiguren in Günter Grass‘ Novelle werden viele Parallelen deutlich. Auch wird an den Figuren erkennbar, dass jeder Charakter für verschiedene Facetten deutscher Kriegs- bzw. Nachkriegsgeschichte und den Umgang damit steht. So gibt Günter Grass in seiner Novelle zum Beispiel mit Ursula Pokriefke einem der zahlreichen namenlosen Opfer der Katastrophe ein Gesicht und verwebt damit Erdachtes und Wirklichkeit. Schließlich bezeichnet der Autor seinen Text als Novelle, behauptet also mit seinem Text eine „kleine Neuigkeit“10 zu verbreiten, was unmittelbar die Frage aufwirft, was an einer annähernd sechzig Jahre alten Geschichte „neu“ sein soll. 2. 3. 1. Die Fabel der Novelle und ihre Struktur Die Haupthandlung der Novelle basiert auf realen geschichtlichen Ereignissen und den daran beteiligten Personen. Dies beginnt mit den tatsächlichen Geschehnissen um den Untergang der „Wilhelm Gustloff“, welche – wie oben bereits erläutert - auf den gleichnamigen Nationalsozialisten getauft wurde. Auch entspricht es der historischen Wahrheit, dass dieser von dem jüdischen Studenten David Frankfurter ermordet wurde. Beide historischen Personen werden im Verlauf der Novelle ausführlich vorgestellt, und zahlreiche andere nationalsozialistische Amtsträger, die im weitesten Sinne etwas mit dem Schiff zu tun haben, finden Erwähnung. Ein weiterer für die Geschichte wichtiger Politiker wird beschrieben: Es ist Robert Ley, der Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF), der Dachorganisation der KdF. Dazu kommen die großen Themen Flucht und Vertreibung, heutiger Rechtsradikalismus und der Umgang der „68er“ mit der NS-Vergangenheit ihrer Vätergeneration. Diese Themen werde ich weiter vertiefen, wenn ich auf die Hauptfiguren zu sprechen komme, an denen diese unterschiedlichen Aspekte verdeutlicht werden. Die Struktur der Handlung zeichnet sich durch zahlreiche Zeitsprünge aus, denen jeweils kleine Absätze der Novelle gelten. Schon der Titel der Novelle „Im Krebsgang“ gibt Aufschluss über das Vorgehen des Autors hinsichtlich dieses Aufbaus seines Textes. Der Erzähler der Geschichte beschreibt seine Herangehensweise folgendermaßen: „[Ich werde] der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen […], etwa nach der Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (S. 8f) Der Blick in die Vergangenheit, hier „Rückwärtsgang“ genannt, ist also nur vorgetäuscht, denn es ist ein Voranschreiten, es bezieht sich auf die Gegenwart und auch die Zukunft. Die verschachtelte Struktur der Handlung, die ständigen Rückblicke und Zeitsprünge, sind also Grass‘ erzählerische Mittel, um hervorzuheben, wie sehr die Gegenwart immer noch von den damaligen Ereignissen geprägt ist und fortwährend 10 Schülerduden Die Literatur/ hrsg. v. Meyers Lexikonredaktion u. Leitung v. Kwiatkowski, Gerhard. 2. Aufl. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverl., 1989 7 beeinflusst wird. „Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“ So lauten deshalb auch die letzten beiden Sätze der Novelle. 2. 3. 2. Die Hauptfiguren der Novelle Ursula Pokriefke, die Mutter des Erzählers Paul, wächst in einem Vorort der Stadt Danzig11 auf und muss Anfang des Jahres 1945 auf der „Wilhelm Gustloff“ vor der russischen Armee fliehen. Sie gehört somit zur Flüchtlingsgeneration, ihren heimischen Wurzeln entrissen. Sie kann die damaligen Ereignisse der Flucht nicht vergessen und wünscht sich sehnlichst, dass ihr Sohn ihre Geschichte, mit besonderem Schwerpunkt auf dem Untergang der „Wilhelm Gustloff“, niederschreibt 1213. Sie hält Paul für den Richtigen für diese Aufgabe, da er genau am 30. Januar 1945, in der Nacht des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“, auf dem Rettungsschiff „Löwe“ geboren wurde. Auch diese fiktive Begebenheit hat einen wahren Kern: So war es tatsächlich geschehen, dass eine Überlebende auf dem Rettungsschiff, das auch in der Realität den Namen „Löwe“ trug, ein Kind zur Welt brachte14. Paul Pokriefke wurde wie bereits erwähnt in der Nacht des Untergangs geboren und zählt somit zu den wenigen Überlebenden. Für seine Mutter steht deshalb fest, dass ihr „Paulchen […] was janz Besondres“15 ist. Paul hingegen kann dieser Aussage nicht zustimmen, er bezeichnet sich selbst als Versager und als noch miserableren Vater. So konnte er als Zeichen seines besonderen Versagens seinen Sohn nicht davor schützen in die Neonaziszene abzurutschen. Verantwortlich dafür zu machen ist sein eigener Unwille das Thema der Flucht und des Untergangs aufzuarbeiten; so verdrängt er einen wichtigen Teil seiner Vergangenheit. Aber davon später mehr. Konrad Pokriefke ist der Sohn von Paul und dessen Ex-Frau Gabrielle, genannt Gabi. Er lebt von seinem Vater getrennt mit seiner Mutter in der kleinen Stadt Mölln16. Vater und Sohn haben kein besonders enges Verhältnis, denn sie sehen sich kaum. Ganz im Gegensatz zu Pauls Mutter Ursula, die ihren Enkel nach der Wiedervereinigung Deutschlands sogar bei sich in Schwerin aufnimmt. Konrad zeigt endlich das von ihr ersehnte Interesse an der Vergangenheit und ist ein aufmerksamer Zuhörer ihrer Erzählungen. Es ist zu vermuten, dass ihr Einfluss eine entscheidende Mitschuld an Konrads Sympathien für die rechtsextreme Szene trägt. 11 Grass, Im Krebsgang, S. 12. Ebd. S. 31 13 Ebd. S. 32 14 www.focus.de (01.02.2010). Riedel, Katja:“Wilhelm Gustloff“ In: Focus Online Wissen vom 01.02.2010 http://www.focus.de/wissen/bildung/Geschichte/tid-9050/wilhelm-gustloff_aid_262894.html 15 Ebd. S. 42 16 Ebd. S. 42f 12 8 Um meine Leitfrage, wie der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ und die damit einhergehende Flucht aus Ostpreußen in Grass‘ Novelle verarbeitet wird, noch intensiver bearbeiten zu können, bietet sich eine genauere Untersuchung der Figur Paul Pokriefke an. 2. 3. 3. Die Figur Paul Pokriefke Paul Pokriefke wächst in Schwerin 17 bei seiner Mutter Ursula auf. Er lernt seinen Vater nie kennen und selbst seine Mutter kann nicht mit Sicherheit sagen, wer Pauls Vater eigentlich ist18. Im Alter von sechzehn zieht er nach Westberlin, um dort sein Abitur zu absolvieren, und er lebt in dieser Zeit bei einer Freundin seiner Mutter19. Durch Ursulas Aussage „Ech leb nur noch dafier, daß main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen“ 20 werden ihre Erwartungen an Paul sehr deutlich. Die Aussage ist gleichzeitig ein Beleg für das nicht allzu herzliche Verhältnis der beiden, denn sie zwingt ihn zu einer Aufgabe, die er nicht übernehmen möchte. Nach der Schule beginnt Paul zunächst ein Studium, bricht dieses jedoch ab und volontiert danach bei einer Zeitung des Springerverlags21, welcher bekanntlich eher rechtskonservativ- national eingestellt ist. Da Paul die damit verbundenen Ansichten auf Grund seiner Vergangenheit nicht mehr teilen will, beginnt er für „einen Haufen halbwegs progressiver Blätter“22 zu schreiben und ist seitdem „ziemlich links eingestellt“.23 Ausschlaggebend für Pauls Kündigung beim Springerverlag war der Anschlag auf Rudi Dutschke, einem bedeutenden Wortführer der sogenannten 68er - Bewegung. Dies war eine linke, studentische Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, die unter anderem Kampagnen gegen das „Meinungsmonopol“ des Axel-Springer-Verlags initiierte und außerdem mit der Generation ihrer Väter, welche sie der Mithilfe im NS-Regime bezichtigten, abrechnen wollte. Es ist gut vorstellbar, dass Paul sich dieser Bewegung zugehörig fühlte. Paul heiratet die angehende Gymnasiallehrerin Gabi und hat mit ihr einen Sohn namens Konrad. Nach ihrer Scheidung entfernt sich Paul zunehmend von beiden. In dem Maße, wie Paul sich sträubt sich mit seiner Geschichte auseinander zu setzen, zeigt sein Sohn Konrad durch seine Großmutter motiviert uneingeschränktes Interesse an dieser24. Exemplarisch hierfür ist Konrads freudige Teilnahme an einem Treffen der Überlebenden der Schiffskatastrophe und sein aufgeschlossenes Verhalten gegenüber anderen Überlebenden. Es „fiel auf, das sich Konny, den ich als eher schüchternen Jungen kannte, überaus selbstbewusst in der ihm von Mutter zugedachten Rolle bewegte, knapp, aber 17 Ebd. S. 12 Ebd. S. 22. 19 Ebd. S. 18. 20 Ebd. S. 19 21 Ebd. S. 7 22 Ebd. S. 21 23 Ebd. S. 21 24 Ebd. S. 94 18 9 deutlich Antwort gab, Fragen stellte, konzentriert zuhörte […] und sogar für einige Fotos stillhielt.“25 Des Weiteren hält Konrad im Gerichtssaal eine Rede, in der er seine Tat erläutert und das Schiff und den Untergang nochmal detailliert Beschreibt. Im Zuge dessen erwähnt er freudig auf ein paar der Überlebenden, wie auch seine Anwesende Großmutter und verschweigt mit Absicht, wie es scheint, seinen Vater. „Im Saal befindet sich die siebzigjährige Frau Ursula Pokriefke, in deren Namen ich hier und heute Zeugnis ablege.“26 Paul dagegen hatte sich über das Thema der Flucht und sein damit verbundenes Schicksal ausgeschwiegen. Er schürt somit Konrads Empfinden, dass seiner Großmutter zusätzlich zur Flucht selber durch das Verschweigen ihres Schicksals ein weiteres Mal Leid zugefügt wird und ihr erneut ein großes Unrecht widerfahren ist. Dies wird im Prozess gegen Konrad deutlich. Der Prozess war die Folge auf den von Konrad verübten Mord an David, der in Wirklichkeit Wolfgang Stremplin hieß und vorgab jüdischen Glaubens zu sein. Ein Gutachter liefert während des Prozesses folgenden Bericht: „Die an sich wohlwollende großmütterliche Fürsorge hat dem gefährdeten Jugendlichen nicht Vater und Mutter ersetzen können. Allenfalls kann vermutet werden, daß das schwere Schicksal der Großmutter, ihr Überleben als Schwangere sowie die Niederkunft angesichts des sinkenden Schiffes, auf das Enkelkind Konrad Pokriefke einerseits prägend, andererseits durch heftig eingebildetes Miterleben verstörend gewirkt hat …“27 Ein Grund für Konrads Abdriften in die Neonaziszene und die Tötung Davids ist also nach Ansicht des Gutachters, dass Konrad sich tief im Inneren mit seiner Großmutter identifizierte und sich ähnlich wie sie missverstanden und ungerecht behandelt fühlte. Die Tat wäre somit auch ein Ergebnis des Versäumnisses des Vaters, der sich nicht ausreichend um ihn gekümmert hat. Paul hingegen zeigt eine abwertende Haltung gegenüber dem „wissenschaftlichen Geschreibsel“28 des Psychologen, der auch zu dem Schluss kam, dass Konrads Tat mit der verzweifelten Handlung eines Jugendlichen, der ohne Vater aufwachsen musste, begründet werden könne. Paul zeigt sich verletzt und versucht die Schuld auf seine Ex-Frau Gabi zu schieben, „Sie, sie allein ist schuldig.“29 2. 3. 4. Die Gestaltung des Textes als Novelle Günter Grass selber bezeichnet sein Werk als eine Novelle, wie es im Untertitel heißt. Die Zuordnung scheint zunächst erstaunlich – denn was soll schon „neu“ sein an einem Ereignis aus dem Jahre 1945. Bei genauerer Betrachtung jedoch lassen sich zwar novellentypische Elemente „Im Krebsgang“ finden, aber Grass‘ Absicht ist es offensichtlich auch, Zweifel daran zu säen. 25 Ebd. S. 95 Ebd. S. 191 27 Ebd. S. 194 28 Ebd. S. 193 29 Ebd. S. 193 26 10 Der Ausdruck „Novelle“ stammt von dem italienischen Wort „novella“ ab, was auf die Novelle übertragen bedeutet, dass sie „eine kleine Neuigkeit, eine gedrängte Erzählung einer Begebenheit“30 zu schildern vorgibt. Charakteristisch sind darüber hinaus die straffe, meist einsträngige Handlungsführung, das Auftreten eines Höhe- und Wendepunkts und die Neigung zur geschlossenen Form. Der wesentliche Unterschied zu einem Roman besteht in der Konzentration auf ein bestimmtes Ereignis und einen Einzelkonflikt31. Auf den ersten Blick liefert das Ereignis des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“ natürlich keine „Neuigkeit“ im herkömmlichen Sinne, diese besteht jedoch in der völlig neuen Herangehensweise zur Bewertung der damaligen Ereignisse: Zum ersten Mal wird den deutschen Vertreibungsopfern der Jahre 1944/1945 von einem bedeutenden, bekanntlich eher links orientierten Autor, dem Nobelpreisträger Günter Grass, eine gewisse Opferrolle zugestanden, was bis in die neunziger Jahre ein wirkliches „Tabuthema“ darstellte. Des Weiteren bildet Grass‘ Text vordergründig eine geschlossene Handlung ab, die in neun Kapitel unterteilt ist. Sie ist insofern abgeschlossen, als Konrad schließlich auf Grund seiner Taten in eine Jugendhaftanstalt eingewiesen wird und Paul es endlich vollbracht hat, seinen Auftrag, die Verschriftlichung seiner Geschichte, zu vollenden. Sobald der Leser allerdings auf der letzen Seite der Novelle, auf der Paul im Internet von der Gründung einer „Kameradschaft Konrad Pokriefke“ erfährt, angelangt ist, wird deutlich, welch ein Trugschluss es wäre, nur weil das Buch nun ausgelesen ist, das Thema selber als abgeschlossen zu betrachten. So lautet der letzte Satz der Novelle: „Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“32 Die klassische Novelle sieht, wie bereits erwähnt, eine einsträngige Handlung mit einem Höhepunkt und einem Wendepunkt zum Unerwarteten vor.33 Grass Text hingegen weist allein zwei Haupthandlungsstränge und mehrere Höhepunkte/ Wendepunkte auf. In den ersten vier Kapiteln liefert der Erzähler mit detaillierten Beschreibungen wichtiger Personen, wie dem Nationalsozialisten Wilhelm Gustloff, seinem Mörder David Frankfurter und Alexander Marinesko, den einen Haupthandlungsstrang, der sich mit den Ereignissen um die „Wilhelm Gustloff“ befasst. Der zweite Handlungsstrang spielt in der Gegenwart. Er zeichnet sich durch die Bekanntschaft von Pauls Sohn Konrad und seinem Chattpartner „David“, das Verhältnis von Paul zu seinem Sohn und Pauls Beziehung zu seiner Mutter aus. (zum komplexen Inhalt s.o. S. ). Im fünften Kapitel führt er die verschiedenen, bereits angeschnittenen Handlungsstränge zu einem ersten Höhepunkt der Handlung, dem Untergang des Schiffes, zusammen. Als Wendepunkte in der Novelle können signifikante Ereignisse wie beispielsweise Kapitel 3, in dem sich Pauls Vorahnung, dass sein eigener Sohn der Drahtzieher der rechtsradikalen Internetseite ist, bestätigt, oder 30 Schülerduden Die Literatur/ hrsg. v. Meyers Lexikonredaktion u. Leitung v. Kwiatkowski, Gerhard. 2. Aufl. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverl., 1989 31 Ebd. S. 302f 32 Grass, Im Krebsgang, S. 216 33 Schülerduden Die Literatur/ hrsg. v. Meyers Lexikonredaktion u. Leitung v. Kwiatkowski, Gerhard. 2. Aufl. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverl., 1989, S.302 11 Kapitel 8, worin Konrad seinen Chattpartner „David“ ermordet, angesehen werden. Auch mit dieser Gestaltung werden Zweifel am Novellencharakter des Textes geschürt. Abschließend bleibt von den Novellenmerkmalen lediglich das von mir erstgenannte Charakteristikum, so dass die Behauptung, der Text sei eine Novelle, ein Stilmittel ist, um die Aktualität des Themas zu unterstreichen. 3. Schluss Günter Grass verarbeitet den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ und den Umgang damit, indem er an drei fiktiven Figuren einer Familie, die drei Generationen angehören, aufzeigt, wie diese die Vergangenheit in höchst unterschiedlicher Weise betrachten und warum sie sich so verhalten. Es wurde dabei deutlich, dass letztendlich die nicht aufgearbeitete Vergangenheit der Grund für die zweifelhaften Ansichten Konrads und seine Schreckenstat war. Denn hätte Konrad in seinem Vater einen Ansprechpartner für den Untergang gefunden, der ihm die Gründe der Flucht seiner Großmutter Ursula aus ihrer Heimat erklärt hätte, wäre er möglicherweise gar nicht mit den rechtsradikalen Kreisen, der „Kameradschaft Schwerin“, in Berührung gekommen. In seiner Novelle zeigt Günter Grass mittels seiner Figuren, was passieren kann, wenn einschneidende Ereignisse der Vergangenheit tabuisiert werden: Die Folgen sind völlig verzerrte Interpretationen der Ereignisse. 12 Literaturverzeichnis Grass, Günter: Im Krebsgang. Steidl-Verlag, Göttingen, 7. Auflage März 2002 Hirsch, Helga: Flucht und Vertreibung. Kollektive Erinnerung im Wandel. In: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament vom 29. September 2003 Legenden, Lügen, Vorurteile. Ein Wörterbuch zur Zeitgeschichte. Hg. V. Wolfgang Benz. Verlag Moos & Partner, München, 1. Auflage 1990 Pelster, Theodor: Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Günter Grass – Im Krebsgang. Ditzingen: Reclam, 2004 Schlögel, Karl: Die Düsternis – in neuem Licht. Die Geschichte der Vertreibung passt nicht ins Zentrum. Die Erinnerung muss gelebt werden. In: Die Zeit vom 24. Juli 2003, Seite 9 Schülerduden Die Literatur/ hrsg. v. Meyers Lexikonredaktion u. Leitung v. Kwiatkowski, Gerhard. 2. Aufl. Mannheim; Wien; Zürich: Dudenverl., 1989 Thamer, Hans-Ulrich: Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 – 1945. Siedler-Verlag, Berlin, 2. Auflage 1986 www.focus.de (01.02.2010). Riedel, Katja:“Wilhelm Gustloff“ In: Focus Online Wissen vom 01.02.2010 http://www.focus.de/wissen/bildung/Geschichte/tid-9050/wilhelmgustloff_aid_262894.html 13 5. Anhang „Wilhelm Gustloff“ Eisiges Grab für über 9000 Menschen Ihr Untergang ist die größte Schiffskatastrophe der Geschichte. Bevor die Katastrophe für das Fernsehen verfilmt wurde, war sie ein Tabu. Von FOCUS-Online-Autorin Katja Riedel Texte der Infografik von Tim Pröse, FOCUS Ermattet kauern sie in den Gängen des Schiffes, auf Matratzen. Die Luft ist stickig, es riecht nach Kot, nach Urin. Sie sitzen und dösen und warten. Nach wochenlanger Flucht durch knietiefen Schnee bei Temperaturen um Minus 20 Grad, bei Hunger und unter körperlichen Strapazen, glauben sie sich gerettet. Nur noch über die See, von Gotenhafen (Gdingen) nach Swinemünde, dann werden sie der Roten Armee entkommen sein. Es ist der 30. Januar 1945. Der Abend, an dem der sowjetische U-Boot-Kapitän Alexander Marinesko zum Volkshelden wird. Zugleich ist es der Abend, an dem über 9000 Menschen im eisigen, nur zwei Grad kalten Wasser der Ostsee sterben werden. Erst einmal ist es aber der 12. Jahrestag der sogenannten „Machtergreifung“, zu deren Andenken die Stimme des Führers aus den Volksempfängern schallt. Auch an Bord der Gustloff ertönen die Durchhalteparolen aus den Bordlautsprechern. Zum Schluss erklingt die Nationalhymne, dann ist es still. Für einen allerletzten Moment. Das Traumschiff der Nazis Um 12.30 Uhr hat die „Wilhelm Gustloff“ den Hafen verlassen. Es ist jenes Schiff, das „Kraft durch Freude“ unter die Volksgemeinschaft bringen sollte und jetzt, zusammen mit insgesamt über 700 zivilen und militärischen Schiffen, zur Rettungsinsel in einem längst verlorenen Krieg wird. Die Gustloff ist Teil einer Evakuierungsaktion, die an ihrem Ende 2,4 Millionen Flüchtlingen das Leben gerettet haben wird. Und bei der sich die Retter unter Deckung des Marinechefs, Großadmirals Karl Dönitz, in permanente Lebensgefahr begeben, in einem verminten, unter Beschuss aus der Luft und vom Wasser aus stehenden Gewässer. An Bord der Gustloff sind an jenem Tag wohl über 10 000 Menschen: 918 Soldaten der zweiten U-Boot-Lehrdivision, 373 Marinehelferinnen und rund 9000 Zivilisten, in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Es sind noch neun Stunden, bevor der Untergang beginnt. Mit strahlend weißem Bug ist die „Wilhelm Gustloff“ 1937 vom Stapel gelaufen, benannt nach dem zum Märtyrer stilisierten Schweizer NSDAP-Pionier: Die Gustloff ist das Traumschiff der Nazis, 208,5 Meter lang, 23,5 Meter breit, 25 484 Bruttoregistertonnen groß – zum Zeitpunkt seiner Erbauung das größte Schiff der Welt. Der Bug ist längst nicht mehr weiß, sondern mit Tarnfarbe übertüncht. Auf den Planken, auf denen flaniert und getanzt und gesonnt werden sollte, stehen keine Liegestühle mehr. Dort sind Flakgeschütze montiert. Die Gustloff ist kein Urlaubsdampfer mehr, mit dem Erholungsbedürftige nach Schweden und Norwegen auf 14 Kreuzfahrt gehen. Zuletzt ist sie ein Lazarett und ein Transporter für die Verwundeten der Front gewesen. 61 Minuten bis zum Untergang Brian Sipple Letzter Ausweg über die Ostsee: Die Route der Gustloff Für rund 2000 Passagiere ist die Gustloff ausgelegt. Der stählerne Koloss macht sich also hoffnungslos überladen auf seine gefährliche Reise – und kann dabei nicht schneller als 12 Knoten fahren, zu langsam, um feindlichen Kriegsschiffen zu entkommen. Das Meer ist rau an diesem Tag – und kalt. Die Luft ist eisig, 18 Grad unter null. Als die Gustloff aus Gotenhafen ausläuft, nimmt sie Kurs gen Westen. Die militärischen und zivilen Kapitäne auf der Kommandobrücke haben sich für den Kurs über den sogenannten „Zwangsweg 58“ entschieden – obgleich sie kaum eine Wahl hatten. In Küstennähe kann ein Riese wie die Gustloff im seichten Wasser leicht auf eine Mine laufen. Hier, in der tieferen Fahrrinne, können sie hingegen von beiden Seiten von feindlichen UBooten beschossen werden. Die Gustloff fährt deshalb nicht allein: Mit ihr starten mehrere Begleitschiffe. Nur die „Löwe“ bleibt letztendlich an der Seite der Gustloff. Die Positionslichter sind ausgeschaltet. Durch einen verwirrenden Funkspruch ist die Besatzung gezwungen, die Lichter für etwas über eine Stunde lang anzuschalten. Zeit genug für Alexander Marinesko. Zeit genug, um das U-Boot S 16 der Sowjets in Position zu bringen. Durch die höhere Geschwindigkeit gelingt es Marinesko und seiner Crew, sich dem feindlichen Boot zu nähern, bis auf 700 Meter. Um welches Schiff es sich handelt, wer an Bord ist, wen er mit seinen Torpedos vernichten wird – Marinesko weiß es nicht. Es ist Krieg, vor ihm liegt ein feindliches Schiff, ein riesiges feindliches Schiff, und es ist seine Pflicht und kann ihm zu Ruhm und Ehre verhelfen, wenn es ihm gelingt, diesen Feind untergehen zu lassen. Die Tragödie, die sich anbahnt, ist, so befinden später Historiker wie Juristen und gar mancher Überlebender, kein Kriegsverbrechen, die Gustloff kein Flüchtlingsschiff. Sie ist ein Kriegsziel. Und trotzdem ist das, was in den folgenden Stunden passiert, eine humanitäre Katastrophe: In der Nacht werden die Retter gerade einmal 1074 Überlebende aus dem Wasser und aus den Rettungsbooten holen können. Tausende werden tot an der Wasseroberfläche treiben: ertrunken, erfroren, in Panik zerquetscht. Manche, so sagt man, aus Gnade erschossen. 15 Stalin bleibt stecken Es sind drei Torpedos, die die für unsinkbar gehaltene „Wilhelm Gustloff“ zum Sinken bringen. Drei Torpedos, jeder beschriftet: „Für das Mutterland“, „Für das sowjetische Volk“, „Für Leningrad“. „Für Stalin“ bleibt im Geschoss stecken. Aber drei Schläge genügen, um das Schiff zu erschüttern, dann kippen zu lassen. Um 21.08 Uhr, kurz nachdem über den Lautsprecher die letzten Töne der Nationalhymne verhallt sind, schlägt der erste Torpedo im Bug ein. Sofort werden die Schotten dicht gemacht und die ersten Menschen eingeschlossen. Panik bricht aus. Dann trifft der zweite Torpedo das abgelassene Schwimmbad, in dem die Marinehelferinnen untergebracht sind. Nur zwei von ihnen schaffen es, an Deck zu kommen und einen Platz in einem der Rettungsboote zu erkämpfen. Eine von ihnen, die damals 19-jährige Ilse Hansen, wird FOCUS über 60 Jahre später von den Szenen berichten, die sie niemals wird vergessen können, von den Schreien, von den gewaltsamen Kämpfen um die wenigen Plätze in den wenigen Booten. Und von den Schlägen auf Hände, die sich später aus dem Eiswasser in die Boote reckten, die die Boote zum Kentern zu bringen drohen, bis sich nichts mehr regte. Bis es still ist. 61 Minuten nach dem Einschlag geht die „Wilhelm Gustloff“ unter. Es ist 22.15 Uhr. Momente bevor die Ostsee den Stahlriesen verschluckt, springt das Notstromaggregat an, heulen die Sirenen, leuchten die Lichter hell. „Das war ein erschütternd schöner Anblick“, erinnert sich Hansen. Nachkriegs-Tabu Inmitten des Todes geschehen Wunder. Die Überlebende Ingeborg Piepmeyer, die am Tag zuvor ein Kind geboren hatte, findet den Kleinen auf der „Löwe“ wieder. Auf demselben Schiff, deren Besatzung 472 Menschen rettet, bringt eine andere Überlebende ein Kind zur Welt. Und am frühen Morgen, nachdem die Suche um 5.15 Uhr eingestellt worden ist, wird der anderthalbjährige Frank-Michael Freymüller gefunden, auf einem Floß, zwischen Toten in Decken gehüllt. Er und die anderen Überlebenden der Katastrophe werden nach Kolberg, nach Sassnitz (Rügen) und nach Swinemünde gebracht. Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ wird zum Symbol für den Untergang der Deutschen und des Hitlerregimes – und zum Tabu während vieler Jahrzehnte. Hinter den erdrückenden Verbrechen der Deutschen gerät das Drama um die Toten der Gustloff und weiterer Schiffe, auf denen insgesamt etwa 40 000 Menschen den Tod fanden, in Vergessenheit. Erst langsam und sehr vorsichtig wagt sich die Öffentlichkeit an das Thema heran. Zuerst der gebürtige Danziger Günther Grass mit seiner Novelle „Im Krebsgang“. Und jetzt, am Sonntag und Montag, Regisseur Joseph Vilsmaier. Die 10 Millionen Euro teure Produktion läuft am 2. und 3. März um 20.15 Uhr im ZDF. Begleitet wird sie an beiden Abenden von Dokumentationen von Guido Knopp. Foto: Brian Sipple Copyright © FOCUS Online 1996-2010 http://www.focus.de/wissen/bildung/Geschichte/tid-9050/wilhelm-gustloff_aid_262894.html 16 17