Citation style copyright Ströhle, Isabel: Rezension

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Ströhle, Isabel: Rezension über: Timon Perabo / Jeton Neziraj,
Sehnsucht im Koffer. Geschichten der Migration zwischen Kosovo
und Deutschland, Berlin: be.bra wissenschaft, 2013, in:
Südosteuropa, 62 (2014), 2, S. 271-274,
http://recensio.net/r/511b7526dee940ddb515ebd8c5e0c71b
First published: Südosteuropa, 62 (2014), 2
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Buchbesprechungen
a condition for membership, yet she fails
to mention the basic condition of meeting
the Copenhagen criteria (49). Other unsubstantiated and overgeneralized assertions in this chapter raise further doubts
about its value. The chapter on Orthodox
Christianity by Violeta Duklevska Schubert
tends to be on the obscure side, without
a genuine research question. Particularly
weak are the two contributions by one of
the editors, Victor C. De Munck. In one,
coauthored with Davorin Trpeski, on
“Conceptualizing Gender in Macedonia”
(109–138), Munck draws on a questionnaire with rather simple questions that
was distributed to 22 male and 22 female
respondents in Skopje. On the basis of this
small and unrepresentative sample, the authors make sweeping generalizations about
“the Macedonians”, providing funny tables
with calculations. They discovered, inter
alia, that men are more reluctant “to let go
of the real and perceived entitlements associated with a more patriarchal construction
of gender” – a revelation! The whole analysis consists of describing the responses they
obtained, and they end up by stating the
obvious. It is fascinating to observe their
stubborn reluctance to use any other, easily
available indicator of gender relations, such
as data on employment, education, domestic violence, etc. The possibility that the socialist legacy might be an important factor
to explain why males and females perceive
gender roles differently is not discussed.
In his second contribution (coauthored
with Joseph Moldow), De Munck, who
does not seem very knowledgeable about
Macedonia, introduces the “ecological fallacy theory” to explain interethnic relations
in Macedonia. In this chapter, the reader
learns about “Shiptarite Albanians” and
about the bewilderment of Macedonians who feel as if they have entered Africa when they cross the Vardar bridge in
271
Skopje to the old town (234). Again, there
is no substantial fieldwork or participant
observation. The authors asked Macedonians and Albanians in Skopje to fill in the
blank and complete the statement “Albanians/Macedonians are…” (239). The sample
was, again, very small. This sort of methodological simplicity leads to the expected
results: Albanians have a positive image of
themselves, while Macedonians perceive
them as a threat. “There is no overlap between how Albanians characterize themselves and how Macedonians characterize
themselves” (246). The authors could have
arrived at the same conclusions if they had
talked with the occasional taxi driver. In
their conclusion, the authors recommend
measures for the improvement of interethnic relations. Some of the recommendations
are quite ludicrous; they stress, for example, that a growing economy in which all
groups have a stake is the best way out of
zero-sum-game perceptions. Yet, the Macedonian economy has expanded in most
years since 2001, but interethnic relations
have not improved (the authors are, by the
way, completely silent about ethnic politics
in Macedonia).
If the editor contributes chapters like
these to a collection, a bad tone is set for
the whole volume. The authors who contributed sound and well-written chapters
deserved better. This book cannot be recommended.
Ulf Brunnbauer (Regensburg)
Timon Perabo / Jeton Neziraj, Sehnsucht
im Koffer: Geschichten der Migration
zwischen Kosovo und Deutschland.
Berlin: be.bra wissenschaft Verlag 2013.
203 pp., ISBN 978-3-95410-011-8, € 19,95
Id., Atdheu në valixhe. Rrëfime të emigrantëve kosovarë në Gjermani [Heimat
272
Buchbesprechungen
im Koffer. Erzählungen kosovarischer
Emigranten in Deutschland]. Pristina:
Qendra MULTIMEDIA 2009. 209 pp.,
ISBN 978-9951-8571-7-8
Seit Ende des Krieges im Juni 1999 und
dem Wegfall einer offiziellen Grundlage,
politisches Asyl zu beantragen, sind die
Bürger der 2008 unilateral als unabhängig
erklärten (und von 109 Staaten völkerrechtlich anerkannten) Republik Kosovo
mit den strengen Visa-Restriktionen des
„Schengen-Raumes“ konfrontiert. Diese
Mobilitätsbarriere ist umso problematischer für die Betroffenen, als transnationale
Netzwerke sowie translokale Beziehungen
und Lebensformen die kosovarische Gesellschaft in einem außerordentlich hohen
Maße prägen. Sozioökonomische Unterentwicklung, chronische Arbeitslosigkeit und
schließlich staatliche Gewalt, Krieg und
Vertreibung bedingten seit mehr als einem
halben Jahrhundert intensive Migrationsbewegungen aus der vormals serbischen
bzw. jugoslawischen Provinz Kosovo nach
Westeuropa (nicht berücksichtigt wird hier
die transatlantische Migration). Migration
ist eine zentrale Lebenserfahrung für alle
lebenden Generationen und Angehörige
aller Nationalitäten in Kosovo, wobei sich
dieser Band auf die albanische Volksgruppe beschränkt. Auch jene, die nicht selbst
im Laufe ihres Lebens (vorübergehend
oder dauerhaft) migrierten, haben über
verwandtschaftliche und freundschaftliche
Beziehungen zu Migranten an deutschen,
schweizerischen, österreichischen oder
schwedischen Lebenswelten teil.
Der vorliegende Band mit dem Titel
„Sehnsucht im Koffer“ erzählt „Geschichten der Migration zwischen Kosovo und
Deutschland“ anhand von neun ausführlich dargestellten Biographien. Der
Band erhebt nicht den Anspruch, eine
wissenschaftliche Abhandlung oder „re-
präsentative Untersuchung“ des Themas
zu bieten, sondern will „vielfältige Migrationserlebnisse der Kosovoalbaner“ abbilden (Vorwort, 7). Die Darstellung der
Lebensgeschichten soll Antworten liefern
auf die Fragen, „was es für diese Menschen
bedeutet zu migrieren? Mit welchen Erwartungen sind sie im Kosovo aufgebrochen, wie hat sich ihr Leben in Deutschland
verändert? Wo haben sie teil am Leben in
Deutschland und wo können sie ihre eigenen Ansprüche an Selbstverwirklichung
nicht umsetzen?“ (8).
Da sich die albanisch- und deutschsprachigen Ausgaben an das jeweilige
Publikum in der Herkunfts- bzw. Aufnahmegesellschaft richten, die jeweils einen
spezifischen Blickwinkel und Vorkenntnisse der Situation erwarten lassen, unterscheiden sich die beiden Vorworte leicht
voneinander. Der überarbeiteten deutschen Fassung ist ferner ein Briefwechsel
der Autoren nachgestellt (203–221), in dem
diese über ihre Herangehensweise an das
Thema und die Auswahl von Gesprächspartnern reflektieren. Perabo ließ sich vom
Interesse an der identitären Verortung seiner Gesprächspartner leiten, suchte anders
als Neziraj jedoch bewusst nach Lebensgeschichten, die nicht „den gängigen Stereotypen über Kosovaren“ entsprechen.
Dem knappen einleitenden Vorwort (7–
9) folgen neun, zum Teil sehr unterschiedliche Biographien von albanischen Kosovaren, die so gewählt wurden, dass sie „eine
möglichst große Zeitspanne umfassen und
unterschiedliche Gründe und Bedingungen
der Migration nach Deutschland widerspiegeln“ (7). Den aus der Ich-Perspektive
dargestellten Lebensgeschichten liegen
jeweils mehrstündige, von beiden Autoren geführte Interviews zu Grunde. Ihnen
wurden jeweils eine kontextualisierende
Einleitung mit den Eckdaten zur interviewten Person, einer Zusammenfassung der
Buchbesprechungen
dargestellten Migrationsgeschichte sowie
Angaben zur Interviewsituation vorangestellt. Fotografien von Driton Paçerada,
Helena Schätzle und Mimoza Veliu unterstreichen die Stimmungsbilder der jeweiligen Erzählungen.
So unterschiedlich wie der soziale
Hintergrund der befragten Frauen und
Männer (Gymnasiums-/Hochschulabsolventen, Schulabbrecher, Arbeiter u.v.m.)
waren auch deren Migrationsmotive und
-wege. Ali Neziri erreichte 1972 im Rahmen
des deutsch-jugoslawischen Gastarbeiterabkommens mit dem Zug München und
kam dort in einem ausgedienten Bunker
am Hauptbahnhof unter, der der Registrierung und ersten Unterbringung von Gastarbeitern diente, bevor er in den kommenden Dekaden in Ravensburg Straßenkanäle
grub („Deutschland, ein offenes Gefängnis“, 67–83). Während Rexhep Bajrami
auf Drängen der in Deutschland lebenden
Eltern vom Großvater 1987 kurzerhand in
den Zug nach Deutschland gesetzt wurde, um dort sein Studium aufzunehmen
(„Krieg auf dem Papier“, 45–66), beschloss
Agim B. 1990 als Sechzehnjähriger „abzuhauen“, um sich der Sozialkontrolle des
Umfeldes zu entziehen und „ein anderes
Leben“ anzufangen – weit weg von zu Hause, außerhalb gesellschaftlicher, aber auch
gesetzlicher Regeln („Die Vergangenheit:
ein abgeschlossenes Kapitel“, 101–119).
Andere, die wie Teuta Berisha als internally displaced persons zwischen den Frontlinien den Krieg 1998–1999 körperlich und
seelisch schwer verletzt überlebten, flohen
Anfang 1999 vor schrecklichen Gewalterfahrungen in ein Deutschland, das vor allem sichere Distanz zum Geschehenen bot
(„Der Krieg war ein böses Märchen“, 121–
140). Auch diejenigen, die Kosovo in den
1990er Jahren verlassen wollten, vertrauten
ihr Leben in der Regel Schlepperbanden
an, die sie beispielsweise über Bulgarien,
273
Rumänien, Ungarn, Slowakei und Polen
nach Deutschland brachten („Lieber im
Gefängnis als im Kosovo“, 27–44). Wie aussichtslos die politische und/oder persönliche Lage und wie groß die Verzweiflung
derer, die sich auf den ungewissen und
gefährlichen Weg begaben, wird auch bei
Zana Zeqiri deutlich, die in einer Flüchtlingsgruppe mit ihrem Kind im Arm die
tschechisch-deutsche Grenze bei Schnee zu
Fuß überquerte („In der deutschen Sprache
ein Zuhause finden“, 161–190). Aus der Geschichte von Ramadan Krasniqi, der sich
mit einem Suizid-Versuch der drohenden
Abschiebung zu widersetzen suchte, erahnt
der Leser, dass die Rückkehr für viele ebenso traumatisch war wie die Auswanderung
selbst („Das Meer sehen“, 85–100).
Auch die Art und Weise, wie die Protagonisten der Biographien ihren Platz in
der deutschen bzw. kosovarischen Gesellschaft definieren, unterscheidet sich stark
von Fall zu Fall: Während Ali Neziri nie
Gelegenheit hatte, mit einem Deutschen
einen Kaffee zu trinken (76), obgleich er
sich „nie ungerecht behandelt fühlte“ (74),
steht Mehreme Bajrami, die mit ihrer Familie nach Widerruf der Duldung aus Karlsruhe nach Nord-Mitrovica zurückkehrte,
für eine Flüchtlingsgeneration, die sich
über Schulfreundschaften stärker integriert
fühlte („Haus ohne Land“, 11–25). Auch in
Friedenszeiten sparten viele der kosovarischen Migranten in Deutschland eisern, um
den Lebensunterhalt für ihre Familien in
Kosovo zu erwirtschaften. Als sich die politische Lage in den 1990er Jahren zuspitzte,
gründeten sie Organisationen zur politischen Selbstverwaltung, um die deutsche
Öffentlichkeit zu mobilisieren und spendeten Zehntausende Mark, zunächst um die
Schattenregierung unter Ibrahim Rugova
zu unterstützen, später um die Kosovarische Befreiungsarmee zu finanzieren („Ich
habe halb Deutschland gebaut“, 141–159;
274
Buchbesprechungen
45–65). Dass die BRD das Bildungspotential der Flüchtlinge, anders als im Fall der
Gastarbeiter(generation), nicht zu nutzen
bereit war, geht aus der Lebensgeschichte
von Zana Zeqiri hervor, die als DiplomIngenieurin um die Anerkennung ihrer
Qualifikationen kämpfen musste. Sie bildete sich auf eigene Initiative weiter und
gründete schließlich einen eigenen kleinen Verlag. Während sie in der deutschen
Sprache durchaus eine Heimat fand, fühlte sie sich durch die Flüchtlingsgesetzgebung doch stets zurückgewiesen (187f.).
Das vorletzte Kapitel, „Rückblick: Ein
halbes Jahrhundert Migrationserfahrung
zwischen Kosovo und Deutschland“
(191–201), von der Historikerin und Mitbegründerin der European Stability Initiative Verena Knaus, bettet die Biographien
in den historischen, sozialpolitischen und
sozioökonomischen Kontext ein. Dies ist
konzise und gut lesbar geschrieben, jedoch
wünscht sich der Leser an manchen Stellen
eine etwas stärkere Einbindung in die gesamtjugoslawische Geschichte. Als kleines
Manko des Bandes ist zu kritisieren, dass
einige faktische Ungenauigkeiten in den
Interviews, wie falsch erinnerte Daten, von
den Herausgebern unkommentiert übernommen werden.
Bereits 2009 erschien die albanischsprachige Originalausgabe Atdheu në valixhe.
Rrëfime të emigrantëve kosovarë në Gjermani
[Heimat im Koffer. Erzählungen kosovarischer Migranten in Deutschland] im Anschluss an die produktive Zusammenarbeit beider Autoren bei Qendra Multimedia,
Prishtina. Diese 2002 von Jeton Neziraj als
Theater- und Kulturprojekt gegründete
Künstlercompagnie bringt, oft in Kooperation mit europäischen Künstlern und
Institutionen auch aus dem ehemaligen
Jugoslawien, gesellschaftskritische und
erinnerungspolitische Kunst und Populärwissenschaft hervor, die in staatlichen Kul-
tureinrichtungen aufgrund des geforderten
Beitrags zur Festigung der ethnonationalen
Meistererzählung von jahrhundertelanger
Viktimisierung und anschließender heroischer Befreiung von fremden Unterdrückern durch die kosovarische Befreiungsarmee keinen Platz findet. Den Band auf
Deutsch und auf Albanisch zu veröffentlichen ist angesichts des impliziten Auftrags, den Stereotypen über die Migranten
sowohl in der Herkunfts- als auch in der
Aufnahmegesellschaft ein differenziertes
Bild entgegenzusetzen, konsequent.
Interessant machen den Band einerseits
die einfühlsam dargestellten, subjektiven
Perspektiven der Migranten, andererseits
der reflektierte Umgang der Autoren mit
dem durch ihre Herkunftsgesellschaft
geprägten Blick auf das Thema; erhöht
wurde dieses Reflektionsvermögen wohl
auch durch die Migrationserfahrungen der
beiden Autoren in das Land des jeweils Anderen. Migranten aus dem Kosovo – häufig
„passiver“ Gegenstand von Experten- und
Mediendiskursen – wird selten Raum bzw.
eine Stimme gegeben, ihre Erfahrungen
und Empfindungen zu berichten. Durch
die vorgenommene Perspektivenumkehrung leistet der Band einen gesellschaftlich
relevanten Beitrag zu den Migrationsdebatten in Kosovo sowie in Deutschland. Die
sensibel dargestellten Lebensgeschichten
brechen das Bild einer vermeintlich homogenen Gruppe der Migranten auf und
porträtieren die komplexen Identitäten
und multiplen Loyalitäten der Betroffenen zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft. Es bleibt zu wünschen, dass
der Band, wie von Verena Knaus angeregt
(201), dazu beitragen kann, dass betroffene Individuen und Familien stärker in der
Diskussion um Migrationspolitik berücksichtigt werden.
Isabel Ströhle (München)