Beispiel 1
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Beispiel 1
D Textgebundene Erörterung Beispiel 1 A Die Bezeichnungen für Dinge und die daraus resultierende Bedeutung der Sprache B Analyse und Erörterung des Textes „Was wird aus dem Wort?“ von Joachim Kaiser I. II. III. IV. C Zusammenfassung des Inhalts struktureller Aufbau Verwendung sprachlicher Mittel im Textzusammenhang Erörterung von Kaisers These zum Sprachverfall 1. zunehmender Verfall der Sprachkultur a) vornehmlicher Verkauf billiger Trivialliteratur b) größere Bedeutung der „Bildung“ in anderen Bereichen c) Leseunlust bei Kindern d) Schwierigkeiten von Schriftstellern e) Grenzen der Sprache 2. Aufrechterhaltung der Sprachkultur durch große Bedeutung der Sprache a) Kommunikationsmittel und Ausdrucksmedium b) Sprache als Heimat c) Wesensmerkmal des Menschen 3. Verlust der Menschlichkeit und Veränderung der Gesellschaft durch Verlust der Sprachkultur Natur und Metaphysik der Sprache In einem kurzen Aufsatz mit dem Titel „Der wahre Name“ setzt sich Michael Ende mit der großen Bedeutung des Wortes, der Literatur und damit der Aufgabe der Schriftsteller auseinander. Das Erste, was Adam im Paradies tut, nachdem er von Gott eine lebendige Seele erhalten hat – so erklärt Ende –, ist, den Dingen, die er um sich hat, einen Namen, den wahren Namen zu geben. Er setzt sich damit zu den Dingen in Bezug, verschafft sich ein Weltbild, eine Wirklichkeit, in der er als Person leben kann. Das Namengeben ist also eine urmenschliche Fähigkeit; die Aufgabe des Schriftstellers ist es, dem noch Namenlosen Namen zu geben, mit den Worten zu spielen und Wirklichkeit zu schaffen durch wahre Namen, denn falsche Namen sind Lügen und verfälschen die Welt. 60 1052_Buch.indb 60 27.04.2006 16:58:47 J. Kaiser: Was wird aus dem Wort? Der Literatur sollte demnach große Bedeutung beigemessen werden, doch wie Joachim Kaiser in seinem Text „Was wird aus dem Wort?“ darlegt, scheint die Sprache in unserer modernen Gesellschaft zusehends dem Verfall preisgegeben zu sein. Kaiser vergleicht zunächst die Frankfurter Buchmesse mit dem Bierkonsum auf dem Münchener Oktoberfest und stellt fest, dass das Interesse an beidem nachzulassen scheint. Obwohl sich in Frankfurt die Bücher stapelten und die Druckbranche eine Hochkonjunktur erführe, interessiere sich die Öffentlichkeit nur sehr befristet für Nobelpreisehrungen, die ohnehin nur politische Veranstaltungen seien. Dem Autor zufolge steckt die Sprache in einer Krise, sowohl was persönliche als auch literarisch gebundene Ausdrucksfähigkeit betrifft. Angesichts moderner Unterhaltungsmedien wirke die Sorge um guten Ausdruck und Lesekultur zunehmend abwegig. Joachim Kaiser leitet über zum Streit über die politische Gesinnung von ehemaligen DDR-Autoren, dem „Neudeutschen Literaturstreit“ (Z. 28). Er behauptet, die Schriftsteller aus der ehemaligen DDR hätten unsere Sprachkultur bereichert, würden sich aber auch nicht mehr lange dem typischen Wortgebrauch der Massenmedien entziehen können. Im letzten Abschnitt seines Artikels führt Kaiser ein weiteres Beispiel für den Verfall der Sprachkultur an. Selbst auf Schauspielbühnen gingen Schauspieler und Regisseure nicht mehr verantwortungsbewusst mit Sprache um, sondern legten vor allem Wert auf den Inhalt und die Umsetzbarkeit in unsere Zeit. Zuletzt folgert Kaiser aus seiner Analyse der gegenwärtigen Situation, dass die Gesellschaft im Begriff sei, vor der Verantwortung für die eigene Muttersprache zu fliehen. Im letzten Satz bekräftigt der Autor noch einmal seine Position, dass Sprache ein Vehikel des Geistes sei. Der Text ist logisch aufgebaut und in vier Abschnitte gegliedert. Zunächst wird das Problem der Leseunlust anhand der Situation auf dem Buchmarkt dargestellt und die These, wonach die Sprache in einem zunehmenden Verfall begriffen sei, formuliert. Im zweiten Absatz erläutert Kaiser die Auswirkungen moderner Medien auf Sprachgebrauch und Literatur. Er geht in diesem Zusammenhang im dritten Abschnitt auch auf die konkreten Probleme der Ex-DDRSchriftsteller ein. Der vierte Abschnitt beschäftigt sich mit dem Sprachverfall im modernen Theater. 61 1052_Buch.indb 61 27.04.2006 16:58:48 D Textgebundene Erörterung Kaisers Gedankengang führt demnach über zahlreiche Beobachtungen zur Bestätigung seiner zu Beginn angedeuteten Vermutung und später formulierten These vom eklatanten Sprachverfall. Es deute alles darauf, dass mit diesem Verfall auch Menschlichkeit und Geisteskultur ihren Niedergang fänden. Zur Illustration seiner Argumentation wählt Kaiser einen sehr niveauvollen, teils ironisch angehauchten und von Neologismen geprägten Sprachstil. So bezeichnet er die mangelhaften Sprachkünste der Politiker als „Verlautbarungskauderwelsch“ (Z. 23), die Sprachkultur der Gegenwart als „Massenmedien-Wortgebrauch“ (Z. 40) und die Versuche der Schauspieler, Verse neu zu interpretieren, als „neutrale Konversationsprosa“ (Z. 55). Ironisch erscheint auch die dem Gedankengang eines Regisseurs nachempfundene Überlegung: „Mal sehen, (…) wie er (= der Stoff) sich aufmöbeln lässt“ (Z. 63ff.). Ferner verwendet Kaiser Metaphern wie „Frankfurter Bücherberg“ (Z. 7f.) und „ein Anfall kulturpessimistischen Katzenjammers“ (Z. 43), um den Text lebendiger wirken zu lassen – und um seine eigenen Sprachkünste zu demonstrieren. Auch der letzte Satz, der die Sprache als Medium beschreibt, „in dem Geistiges seiner selbst innewird“ (Z. 68f.), klingt auffallend philosophisch, beinahe poetisch. Im Übrigen weist bereits der Titel des Artikels „Was wird aus dem Wort?“ durch die zufällig erscheinende Alliteration auf Wortspielerei, Eloquenz und leichte Ironie hin. Der gesamte Artikel erscheint zunächst seriös und logisch, gegen Ende hin jedoch zur Bestätigung auffordernd und appellativ. Es muss laut Kaiser etwas gegen den Sprachverfall getan werden. Die Hauptthese des Textes besagt, dass die elaborierte Sprache in unserer Kultur in Gefahr ist unterzugehen und dabei einer primitiveren Variante weichen muss. Für diese Beobachtung lassen sich einige Argumente finden. So werden heutzutage tatsächlich Unmengen billiger Boulevardzeitungen, Groschenromane und Comics verkauft, die keinen literarischen Wert haben. Zudem wird der Inhalt eines Buches, so trivial er auch sein mag, oft höher bewertet als sein Sprachstil. Dazu passt, dass heute größere Anstrengungen auf anderen Wissensgebieten unternommen werden. Als Beispiel seien nur Computertechnik und Naturwissenschaften genannt. Bildung wird also ganz anders definiert als noch vor wenigen Jahrzehnten. Auch bei Kindern 62 1052_Buch.indb 62 27.04.2006 16:58:48 J. Kaiser: Was wird aus dem Wort? ist eine zunehmende Leseunlust festzustellen. Computerspiele, Fernsehen und Comics haben das traditionelle Unterhaltungs- und Informationsmedium Buch längst abgelöst. Leseratten sind nur noch kleine bebrillte Außenseiter oder realitätsferne Intellektuelle. Schriftsteller haben heute kein einfaches, nur der Literatur gewidmetes Leben zu erwarten. Oft müssen sie produzieren, was dem Verlag gefällt, und der Nachfrage entsprechend Bestseller schreiben. Freie Schriftstellerei ist beinahe nicht mehr möglich. Viele Menschen neigen außerdem dazu, ernste und kritische Werke eher zu meiden und Unterhaltung vorzuziehen, um den tristen Alltag zu vergessen. Letztlich stößt die Sprache oft auch an Grenzen, die von anderen Medien leichter überwunden werden können, beispielsweise von Bild und Musik. Wo das Wort unfähig ist, Emotionen und geistig-seelische Dimensionen auszudrücken, kann die Musik noch in tiefere Schichten vordringen. Je nach Lebensalter und Interessenlage erreichen die Töne von Pop-Ikonen oder Vertretern der klassischen Musik wie Bach und Mozart den Menschen leichter als das gedruckte Wort. Die Sprache mag demnach vielfach gefährdet und bedroht sein, doch letztendlich ist sie ein so bedeutender Bestandteil des menschlichen Lebens, dass sie unmöglich verkümmern und sich zu einem Primitivverständigungsmittel zurückentwickeln wird. Allein zur täglichen Kommunikation ist die Sprache unerlässlich und gute Ausdrucksfähigkeit von Vorteil. Es gibt genügend niveauvolle Tageszeitungen, Essays und Belletristik, die nach wie vor sprachlich überzeugen. Am Beispiel von Elke Heidenreich sieht man, wie sich Unterhaltung und literarischer Anspruch in ihrer Sendung verbinden lassen. Wie die Exilliteratur zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gezeigt hat, ist die eigene Sprache für viele Menschen so viel wert wie das tägliche Brot – geistige Nahrung im wahrsten Sinn des Wortes. Zur Aufgabe der Muttersprache gezwungen begingen viele Schriftsteller sogar Selbstmord, wie Stephan Zweig. Für solche Menschen war Sprache lebenswichtig. Sprache ist ein Wesensmerkmal des Menschen und unterscheidet ihn vom Tier. Mit Worten jonglieren und spielen bedeutet Freiheit und Ausdrucksmöglichkeit für jeden Einzelnen, was durch nichts zu ersetzen ist. Die differenzierte, wortreiche Sprache ist es, die den Menschen dazu befähigt, zu denken und kreativ zu sein, sich 63 1052_Buch.indb 63 27.04.2006 16:58:48 D Textgebundene Erörterung auszudrücken und zu dem zu werden, was er wohl sein soll. Ein Verkümmern der Sprache würde ein Verkümmern der menschlichen Intelligenz bedeuten. Deshalb ist es sehr wichtig, schon bei Kleinkindern die Sprachentwicklung zu fördern, um einen KasparHauser-Effekt zu vermeiden. Die Frage nach der Zukunft der Sprache kann nicht ohne die Frage nach der Zukunft des Menschen gestellt werden. Die Gesellschaft würde sich mit dem Verlust der Ausdrucksfähigkeit stark verändern und wichtige Aspekte des Menschseins aufgeben. Da diese Veränderungen nicht unbedingt wünschenswert erscheinen, sollte alles getan werden, um dem bereits einsetzenden Sprachverfall entgegenzuwirken. Sprache ist ein vielschichtiges Thema: Sie trägt zur Identifikation bei und schließt gleichzeitig aus; sie definiert Gesellschaftsschichten und ermöglicht die Kommunikation zwischen allen Menschen. Es gehört zur menschlichen Kultur, dass die Sprache Entwicklungen unterworfen ist. Aber selbst wenn Politiker weiterhin schlechte Redner bleiben und Werbeslogans nicht von hohem Sprachniveau zeugen müssen, wird die Sprache in ihrer Bedeutung bestehen bleiben. X X X Die Arbeit erfüllt alle an eine textgebundene Erörterung zu stellenden Kriterien und ist klassisch aufgebaut. Sie beweist ein hohes gedankliches Niveau. Allgemeinwissen und Kenntnisse zu Literatur und Sprache werden geschickt eingebaut. Der Stil des Aufsatzes ist gut lesbar. Besonders hervorzuheben ist die Ausgewogenheit im Erörterungsteil; hier werden nicht nur einige lapidare Sätze an die Texterschließung angehängt. 64 1052_Buch.indb 64 27.04.2006 16:58:48