Exzerpte - Empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung

Transcription

Exzerpte - Empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung
Protokoll und Kurzzusammenfassungen (kursiv: klausurrelevante Texte)
1. 12.10.04 Vorbesprechung und Referatsvergabe
Einführung und historischer Überblick
2. 19.10.04 Die Globalisierungsdebatte: Ein einführender Überblick über Ansätze und
Daten (Andre߸ Hans-Jürgen)
Goldthorpe, J.H. (2003): Globalisierung und soziale Klasse. S.31-62 in: Müller, W. / Scherer, S. (Hg.):
Mehr Risiken – mehr Ungleichheit? Abbau von Wohlfahrtsstaat, Flexibilisierung von Arbeit und die Folgen.
Frankfurt / Main: Campus (englisch: Globalisation and Social Class. West European Politics, Vol.25, No.3
(July 2002), pp.1–28)
Begriffsdefinition
• enge ökonomische Definition
– Prozess, in dem wirtschaftliche Aktivitäten zunehmend politisch definierte nationale
und regionale Grenzen überschreiten
• Ergänzung (Politologie)
– ... in dem neue Regierungsorgane internationaler oder transnationaler Natur
entstehen
• Ergänzung (Soziologie)
– ... mit soziostrukturellen und kulturellen Veränderungen, welche zu vermehrter
gegenseitiger Abhängigkeit und häufigerer Interaktion von Individuen und
Organisationen über Raum und Zeit führen
Globalisierungstheorien
•
•
Kontinuität des sozialen Wandels
– Ökonomie, Wirtschaftsgeschichte
Diskontinuität des sozialen Wandels
– Soziologie
– Theorien einer „zweiten“, „reflexiven“ oder „Post-Moderne“
– Giddens, Albrow, Beck und andere
Zunehmende soziale Ungleichheit
•
•
•
•
Hauptverlierer ungelernte Lohnarbeiter in manuellen Berufen oder nichtmanuellen
Routineberufen
Konkurrenz der Niedriglohnländer
sinkendes Lohnniveau (USA) oder steigende Arbeitslosigkeit (Europa)
zunehmende Ungleichheit
Abbau des Wohlfahrtsstaates
•
•
•
•
•
•
internationale Standortkonkurrenz
Deregulierung des Arbeitsmarktes
Absenkung der Unternehmenssteuern
Konzentration auf Infrastruktur
Harmonisierung nach unten
Möglichkeiten der Umverteilung werden geringer
1
Neue soziale Ungleichheiten
• Traditionelle Theorien von Klasse und Schicht beschreiben Sozialstruktur nationaler
Einheiten
– „Weltkapitalismus ist ein Kapitalismus ohne Klassen“ (Beck)
• Arbeitsmarktrisiken breit gestreut, dauerhafte Absicherung gering
• Diskontinuitäten im Lebenslauf und in der Generationenfolge verhindern die
Ausbildung entsprechender sozialer Identität
Ende der Klassenpolitik
•
•
•
•
•
Auflösung der Klassenstrukturen verringert traditionelle Muster der Parteiidentifikation
Links-Rechts-Gegensätze verlieren an politischer Bedeutung
umgekehrt gewinnen askriptive Merkmale (Ethnizität, Geschlecht) an Bedeutung
Postmaterialismus
„Lebenspolitik“ (Giddens)
3. 26.10.04
Globalisierung – ein historisch neues Phänomen? (Berres, David)
Tilly, Richard (1999): Globalisierung aus historischer Sicht und das Lernen aus der Geschichte. Köln:
Kölner Vorträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Nr. 41 (erhältlich über das Seminar für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität zu Köln)
Chase-Dunn, C. / Kawano, Y. / Brewer, B.D. (2000): Trade globalization since 1795: waves of integration
in the world-system. American Sociological Review 65: 77-95
The authors study one type of economic globalization over the past two centuries: the
trajectory of international trade as a proportion of global production. Is trade globalization
a recent phenomenon, a long-term upward trend, or a cyclical process? Using an improved
measure of trade globalization, we find that there have been three waves since 1795. They
discuss the possible causes of these pulsations of global integration in light of the
following model (cf. Figure 1).
Die empirischen Analysen ergeben einen zunehmenden globalen Welthandel (einen
signifikant steigenden Trend), der nach Ansicht der Autoren jedoch keinen Anlass gibt,
von einem fundamental neuen Zustand globaler Integration zu sprechen. Innerhalb dieses
2
Trends unterscheiden sie drei Zyklen: 1815-1902, 1903-1945, 1945-1995, wobei Dauer
und Verlauf des mittleren Zyklus sehr stark davon abhängen, welche Länder man
betrachtet. Nach Ansicht der Autoren kommt es immer dann zu einem starken Anstieg des
globalen Welthandels, wenn sich nicht nur die Transport- und Kommunikationskosten
verringern, sondern wenn auch ein starker Hegemon den Welthandel „befriedet.“ Das war
im 19. Jahrhundert Großbritannien und nach dem 2. Weltkrieg die USA.
Globalisierung und Staat
4. 02.11.04 Globalisierung kontra Sozialstaat? (Buchholz, Thomas Daniel)
Schulze, G.G. / Ursprung, H.W. (1999): Globalisierung kontra Sozialstaat? Ein Überblick über die
empirische Evidenz. S. 41-92 in: Busch, A. / Plümper, T (Hg.): Nationaler Staat und internationale
Wirtschaft. Baden-Baden: Nomos
Referat wg. Krankheit ausgefallen.
Die Autoren referieren zunächst (ausführlich) die Effizienz- und (kurz) die
Kompensationshypothese, wobei sie sich fast ausschließlich auf die Steuer- und
Fiskalpolitik beschränken und Regulierungspolitik nur kurz streifen. Das Referat schließt
mit der Feststellung, dass beide Hypothesen sich nicht notwendigerweise widersprechen,
denn die Effizienzhypothese formuliert Vermutungen über die Einnahmenseite des
Staatshaushaltes (Steuern), während sich die Kompensationshypothese auf die
Ausgabenseite bezieht. Was der Nettoeffekt dieser beiden Hypothesen ist, lässt sich nach
Ansicht der Autoren nur empirisch bestimmen. Anders ausgedrückt: Sind die Anreize zu
erhöhter Kompensation stärker gestiegen als die Kosten ihrer Finanzierung?
Zu diesem Zweck diskutiert der Aufsatz im zweiten Teil empirische Studien, deren
zentrale Ergebnisse in zwei Tabellen zusammengefasst werden. Auf aggregierter Ebene
finden die meisten Studien keinen negativen Zusammenhang zwischen den verschiedenen
Globalisierungsmaßen und der Fähigkeit der Nationalstaaten, eine eigenständige
Fiskalpolitik zu treiben. Einen alarmierenden Rückgang der Staatsausgaben im
Allgemeinen und des Sozialbudgets im Besonderen lassen sich in den Daten bisher nicht
finden. Die empirischen Befunde widerlegen weiterhin die Vermutung, dass
Globalisierung den Spielraum für ideologisch motivierte Politik einengt. Es zeigt sich
vielmehr, dass parteipolitische Faktoren die Struktur und Höhe der Staatsausgaben
weiterhin beeinflussen. Außerdem ist die relative Stärke der beiden Effekte (Effizienz,
Kompensation) abhängig von den politischen Institutionen, die den Interessenausgleich
zwischen den Verlierern und Gewinnern der Globalisierung steuern. In Institutionen, die
kollektive Interessenvertretung erleichtern (Konsensdemokratie, Korporatismus,
Zentralstaat) ist der Kompensationseffekt generell stärker. Analysiert man Einnahmenund Ausgabenseite getrennt, so fällt auf, dass sich die Finanzierungsstruktur des Budgets
geändert hat, obwohl im Aggregat von einer dramatischen Rücknahme des Sozialstaates
keineswegs gesprochen werden kann. Während die durchschnittlichen effektiven Steuern
auf Arbeit in der Nachkriegszeit kontinuierlich gestiegen sind, ist die effektive
Steuerbelastung von Kapital- und Vermögenseinkommen zumindest ab Beginn der 80er
Jahre leicht rückläufig. Allerdings lässt sich ein Wettlauf der Körperschaftssteuern nach
unten nicht feststellen. Obwohl das Körperschaftseinkommen vergleichsweise gering ist
und deshalb die Kosten einer Steuersenkung im Vergleich zu Gewinnen aus
steuerinduzierten Kapitalimporten niedrig sein dürften, ist es zu keinem verstärkten
Wettbewerb in den Steuersätzen gekommen. Auf der Ausgabenseite hat die
Globalisierung nicht zu einem nennenswerten Struktureffekt geführt. Dies könnte
natürlich auch daran liegen, dass Analysen mit sehr disaggregierten Daten bislang fehlen.
5. 09.11.04 Wie reagiert der Wohlfahrtsstaat auf steigende Arbeitslosigkeit in Zeiten der
Globalisierung? (Gospodarek, Roland; Scharenberg, Katja)
3
Armingeon, K. (1999): Politische Reaktionen auf steigende Arbeitslosigkeit. S. 169-196 in: Busch, A. /
Plümper, T (Hg.): Nationaler Staat und internationale Wirtschaft. Baden-Baden: Nomos
Im Gegensatz zu den üblichen modelltheoretischen und ökonometrischen Analysen wird
in diesem sozialwissenschaftlichen Beitrag der institutionelle Kontext der Politik
thematisiert und dabei die implizite Annahme vieler Autoren nicht geteilt, in allen
Demokratien hätten alle politischen Akteure prinzipiell die gleichen
Handlungsmöglichkeiten. Vielmehr zeigt sich, dass für den Erfolg einer Wirtschaftspolitik
nicht nur deren jeweilige Art und Ausprägung, sondern auch deren politisch-institutionelle
Rahmenbedingungen von hervorragender Bedeutung sind. Diese sind jedoch nur höchst
vermittelt von der tatsächlichen oder wachsenden Verflechtung der nationalen
Volkswirtschaften geprägt.
Empirisch wurde untersucht, wie gut und mit welchen arbeitsmarktpolitischen
Instrumenten 18 OECD-Nationen durch zwei – zeitlich synchronisierte –
Beschäftigungskrisen kamen. Eine dieser Krisen, jene von 1974-78, fand vor dem
Aufschwung der gegenwärtigen Globalisierungswelle statt; die zweite (1990-94) vollzog
sich unter den Bedingungen eines international liberalisierten Kapitalmarktes. Es konnte
keineswegs durchgängig festgestellt werden, dass es eine Wende zu einer neo-liberalen
Politik gegeben hat. Und noch weniger Belege fanden sich für die Annahme, die
Nationalstaaten verlören die Unterschiedlichkeiten ihrer Politiken durch die vermeintlich
gleichmachenden Zwänge der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Von besonderer
Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass in den beiden
Untersuchungsperioden Arbeitsmarktprobleme vor allem durch ein steigendes
Arbeitsangebot und weniger durch eine fallende Nachfrage des privaten Sektors nach
Arbeitskräften entstanden sind. Die Art und Weise, wie das Arbeitsangebot an die
Nachfrage angepasst wurde, unterschied sich zwischen den Ländern. Wenig erfolgreich
war auch der Versuch, einen Satz von Politiken zu identifizieren, der systematisch mit
niedrigen Zuwachsraten der Arbeitslosenquote verbunden ist. Nationale
Arbeitsmarktpolitiken sind Kombinationen unterschiedlicher Elemente in jeweils
unterschiedlichem Ausmaß, die zu unterschiedlichen Resultaten führen. Zentral sind die
Rahmenbedingungen, innerhalb derer wirtschaftliches Handeln stattfindet. Eine rigide
Liberalisierung des Arbeitsmarktes ist zwar mit niedriger Arbeitslosigkeit verbunden, aber
diese wirtschaftspolitische Option steht nur Regierungen unter den spezifischen
institutionellen Bedingungen einer Wettbewerbsdemokratie mit politisch
durchsetzungsschwachen Verteidigern der Ziele des westlichen Wohlfahrtsstaates offen.
Ein zweiter Weg zur Vermeidung hoher Arbeitslosigkeit besteht in der Konzertierung der
wichtigsten arbeitsmarktpolitischen Akteure. Damit geht die Chance verloren, eine
konsistente Politik mit markanten Umverteilungserfolgen durchzuführen. Vielmehr
entsteht ein Zwang zur pragmatischen Kombination unterschiedlicher
arbeitsmarktpolitischer Instrumente.
6. 16.11.04
Rückzug des Sozialstaates in Zeiten der Globalisierung? (Freier, Alexander)
Manow, P. (1999): Sozialstaatliche Kompensation außenwirtschaftlicher Öffnung? S. 197-222 in: Busch, A.
/ Plümper, T (Hg.): Nationaler Staat und internationale Wirtschaft. Baden-Baden: Nomos
Korpi, W. / Palme, J. (2003): Klassenpolitik und Wohlfahrtsstaatsabbau: Kürzungen von Rechten der
sozialen Sicherung in 18 Ländern 1975 bis 1995. S.221-257 in: Müller, W. / Scherer, S. (Hg.): Mehr Risiken
– mehr Ungleichheit? Abbau von Wohlfahrtsstaat, Flexibilisierung von Arbeit und die Folgen. Frankfurt /
Main: Campus
Manow (1999) fragt, ob die Annahme der Kompensationsthese, internationaler Handel
führe zu zunehmender Volatilität und benötige daher den kompensatorischen Eingriff des
Wohlfahrtsstaates, zutrifft. Sowohl theoretisch als auch empirisch zeigt sich, dass
Globalisierung als Ausweitung des internationalen Handels deutlich risikomindernde
4
Nettoeffekte hat. Dies führt zu einer in der Globalisierungsdebatte regelmäßig
vernachlässigten Einsicht, dass nämlich gegen Marktvolatilitäten nicht nur Kompensation
oder Protektionismus schützen können, sondern auch größere, umfassendere Märkte.
Gegenüber dem Kompensationsargument lassen sich somit zwei fundamentale Einwände
formulieren. Der erste Einwand hebt alternative Erklärungen für den positiven
Zusammenhang zwischen Außenhandelsöffnung und Sozialabgabenhöhe hervor. Zu
nennen ist bspw. Cameron (1978), der auf den Faktor Ländergröße verweist (kleine
Länder treiben eher Außenhandel, haben hohen Spezialisierungsgrad und daher auch eine
organisierte Arbeitnehmerschaft, die hohe Sozialausgaben erkämpft). Der zweite Einwand
stellt die vielen Zweifel an der Richtigkeit des Kompensationsarguments zurück und fragt
nach der relativen Bedeutung des Faktors Handelsöffnung im Vergleich zu anderen,
konventionelleren Erklärungsfaktoren für Wohlfahrtsstaatenwachstum. Dieser ist eher
gering.
Während Manow (1999) wenig Aussagen über die tatsächliche Entwicklung der
Staatsausgaben macht, untersuchen Korpi / Palme (2003) die Frage, ob es Kürzungen von
Rechten der sozialen Sicherung in 18 OECD-Ländern zwischen 1975 und 1995 gegeben
hat. Bei beträchtlicher Varianz zwischen den einzelnen Ländern zeigt sich in den 90er
Jahren eine Zunahme der Kürzungen. Sind allerdings Sozialdemokraten an der Regierung
beteiligt, treten Kürzungen signifikant weniger auf. Der Aufsatz stellt allerdings nur
peripher einen Zusammenhang mit der Globalisierungsfrage her und diskutiert stattdessen
ausführlich den von Korpi propagierten Machtressourcen-Ansatz.
7. 23.11.04
Optionen des Wohlfahrtsstaates in Zeiten der Globalisierung (Pahl, Johanna)
Scharpf, F.W. (2000): The viability of advanced welfare states in the international economy. Vulnerabilities
and options. Journal of European Public Policy 7: 190-228
Beschreibung des historischen Wandels der Wohlfahrtsstaaten seit dem II. Weltkrieg,
insbesondere Herausarbeitung der Unmöglichkeit keynesianischer Wirtschaftspolitik unter
den Bedingungen eines internationalisierten Kapitalismus.
Deskriptive Ergebnisse zu Beschäftigung und Staatsausgaben:
o employment in the exposed sectors is generally stagnant or shrinking and can be
maintained only under conditions of high and rising productivity;
o employment losses in the exposed sectors can be compensated by employment
gains in the sheltered service sectors („wholesale and retail trade, restaurants and
hotels“, „community, social and personal services“);
o the level of public-sector service employment is only weakly determined by the
level of public sector revenue;
o opportunities for increasing public sector revenue have become severely
constrained;
o employment in the sheltered private sector services is particularly vulnerable to the
negative impact of social security contributions and consumption taxes;
o opportunities for egalitarian cross-subsidization in private sector employment
relationships through solidaristic wage policy and social policies raising
reservation wages are generally being reduced.
In our project, the Scandinavian or ‘social democratic’ regime is represented by Sweden
and Denmark. Both these countries are characterized by:
o very high levels of total employment,
o very high levels of female participation in the labour market,
o very high levels of taxation,
5
o a very generous social policy, providing high levels of income replacement in
cases of involuntary inactivity and old age as well as comprehensive social
services for the young, the sick and the handicapped, and the aged, and by
o very low levels of wage differentiation and income inequality.
In our project, the Anglo-Saxon or ‘liberal’ welfare states are represented by Australia,
New Zealand and the United Kingdom. In some respects, Switzerland is also sufficiently
similar to these to be discussed in the same context. All four countries are characterized
by:
high (in the case of Switzerland, very high) levels of total employment,
relatively high levels of female participation in the labour force,
low to moderately low levels of taxation,
low to moderate levels of social expenditure, providing low to moderate (except in
Switzerland) levels of income replacement in cases of involuntary inactivity and
old age, and low (except in the United Kingdom) levels of social services for the
young, the sick and the handicapped, and the aged, and by
o moderate to high levels of wage differentiation and income inequality.
o
o
o
o
The last group of countries is more heterogeneous than the others. Nevertheless, it is
possible to say that, in general, Continental or ‘Christian Democratic’ welfare states are
characterized by:
o low or very low rates of total employment,
o low or very low rates of female participation in the labour market,
o moderate levels of total taxation, but a high reliance on social security
contributions,
o moderate to high levels of social expenditure, providing relatively high levels of
income replacement in cases of involuntary inactivity (except for Italy) and in old
age, but only limited social services for the young, the sick and the handicapped,
and the old, and by
o low or moderate levels of wage differentiation and income inequality.
Globalisierung und Wirtschaft
8. 30.11.04 Deregulierung des Arbeitsmarktes als ultima ratio? (Kühn, Katrin)
Kittel, B. / Traxler, F. (1999): Desorganisierung als ultima ratio? Wettbewerbseffekte der
Arbeitsbeziehungen im internationalen Vergleich. S. 93-122 in: Busch, A. / Plümper, T (Hg.): Nationaler
Staat und internationale Wirtschaft. Baden-Baden: Nomos
Die Lohnkosten sind tatsächlich ein relevanter Faktor der Wettbewerbsfähigkeit. Aber die
Empfehlung, ein dereguliertes System der Arbeitsbeziehungen als Motor einer maximalen
Wettbewerbsfähigkeit einzusetzen, geht nicht nur von einem auf relative Kostenvorteile
verkürzten Wettbewerbsbegriff aus, sondern huldigt darüber hinaus einem Modell, das im
internationalen Vergleich nicht einmal im Hinblick auf die in diesem Konzept zentralen
Lohnkosten die besten Ergebnisse hervorbringt. In der Untersuchungsperiode war die
mindestens ebenso erfolgreiche oder noch erfolgreichere Alternative ein koordiniertes
System, in dem die Tarifparteien ohne unmittelbare Einbeziehung des Staates, aber
ausgestattet mit gesetzlichen Rahmenbedingungen, die die Durchsetzung von zentral oder
im Rahmen eines Lohnführersystems ausgehandelten Tarifverträgen begünstigen, eine an
der Produktivitätsentwicklung orientierte Lohnpolitik betreiben können. Worauf es
ankommt, ist, die Lohnpolitik auf die Produktivitätsentwicklung abzustimmen. Diese
Bedingung erfüllen nur koordinierte Lohnverhandlungssysteme, deren Bedarf an
vertikaler Koordinierung gering ist oder die eine hohe vertikale Koordinationsfähigkeit
aufweisen.
6
9. 07.12.04
Steigende Arbeitslosigkeit? (Flach, Tamara)
Plümper, T. (1999): Der Einfluss der Schwellenländerexporte auf die Arbeitsmärkte der Industriestaaten. S.
123-142 in: Busch, A. / Plümper, T (Hg.): Nationaler Staat und internationale Wirtschaft. Baden-Baden:
Nomos
Zeitgleich mit der Industrialisierung einiger Entwicklungsländer in Südostasien und
Lateinamerika nahmen Arbeitslosigkeit und Einkommensungleichheit in den
Industriestaaten zu. Viele Beobachter (prominent: Wood 1994) interpretierten diesen
temporären Zusammenhang kausal und folgerten, dass die Arbeitsmarktprobleme in den
Industriestaaten durch die Konkurrenz der so genannten Niedriglohnländer zu einem
großen Teil (mit-)verursacht wurden. Wood spezifiziert diese Vermutung aber genauer: Er
nimmt an, dass die Arbeitslosigkeit lediglich in Ländern mit unflexiblen Arbeitsmärkten
steigt, während in Ländern mit flexiblen Arbeitsmärkten nicht die Arbeitslosigkeit,
sondern die Einkommensungleichheit zunimmt. Das setzt voraus, dass in entsprechenden
empirischen Untersuchungen auch immer die Flexibilität der Arbeitsmärkte kontrolliert
werden muss.
Die Hypothese lässt sich in dem quantitativen internationalen Vergleich von Plümper
nicht bestätigen. Die Kalkulationen zeigen wechselnde Vorzeichen des geschätzten
Koeffizienten ∆NICMBIP (Veränderung der Importquote aus Schwellenländern), was auf
mangelnde Robustheit schließen lässt. Alternativ zu diesen Erklärungen kann die
Veränderung der Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten auf das konjunkturbereinigte
Wirtschaftswachstum und einige politische Faktoren zurückgeführt werden.
Der Autor erklärt sein Ergebnis, das die Ergebnisse von Wood nicht repliziert, dadurch,
dass Wood einen anderen Zeitraum zur Berechnung der Veränderungsraten der
Arbeitslosigkeit zugrundelegt und dass er die internationale Verflechtung der Märkte und
Substitutionseffekte falsch einschätzt.
Der Aufsatz ist zu voraussetzungsreich, um klausurrelevant zu sein. Die Referentin wird
aufgefordert, in ihrer Hausarbeit die Arbeit von Wood zu rekonstruieren.
10. 14.12.04
Zunahme prekärer Beschäftigung? (Staubermann, Verena)
Kevin Doogan (2001): Insecurity and Long-term Employment. Work, Employment & Society 15: 419–441.
Marcel Erlinghagen and Matthias Knuth (2004): In search of turbulence: labour market mobility and job
stability in Germany. European Societies 6: 49-70
Erlinghausen / Knuth (2004) beschreiben anhand einer Auswertung der IABBeschäftigtenstichprobe Arbeitsmarktmobilität und Beschäftigungsstabilität in
Westdeutschland für einen relativen langen Zeitraum (1976-95). Sie zeigen, dass entgegen
den Erwartungen (i) die Arbeitsmarktmobilität – zwar zyklischen Schwankungen
unterliegt – aber keinen Aufwärtstrend zeigt, (ii) die Abgangsquote in neue Tätigkeiten im
Zeitablauf abnimmt und (iii) die Betroffenheit der Erwerbstätigen durch Arbeitslosigkeit
innerhalb eines Jahres im Zeitablauf eher abnimmt. Was allerdings zunimmt, ist der Anteil
der Personen, die dauerhaft über das gesamte Jahr arbeitslos sind. Die Autoren
kommentieren diesen Sachverhalt nicht explizit, man könnte ihn aber als eine
Polarisierung von Arbeitsmarktrisiken interpretieren. In der anschließenden Analyse des
Dienstleistungssektors, von dem üblicherweise angenommen wird, dass er im besonderen
Maße von Flexibilisierungsstrategien betroffen ist, zeigt sich ebenfalls in den meisten
Untergruppen eine Zunahme der Beschäftigungsstabilität. Die Autoren erklären die
entgegen allen Erwartungen festgestellten Stabilisierungstendenzen in Westdeutschland
mit einer Zunahme innerbetrieblicher Flexibilisierung. Investitionen der Unternehmer in
entsprechende Flexibilisierungsmaßnahmen lohnen sich nur bei langfristiger Bindung der
Arbeitnehmer.
7
In ähnlicher Weise kann Doogan (2001) für Großbritannien zeigen, dass der Anteil
langfristig beschäftigter Arbeitnehmer (entgegen den Erwartungen) im langfristigen
Zeitverlauf zugenommen hat. Der Versuch, den Widerspruch zunehmend
wahrgenommener Unsicherheit trotz zunehmender Beschäftigungsdauer durch subjektive
Indikatoren und Medieneinflüsse zu erklären, ist jedoch nicht sehr überzeugend.
11. 21.12.04
Einfluss der Globalisierung auf Löhne und Lohnstruktur (Weklak, Richard)
Slaughter, M.J. / Swagel, P. (1997): The effect of globalization on wages in the advanced economies.
Washington: IMF Staff Studies for the World Economic Outlook
Globalisierung und Sozialstruktur
12. 11.01.05 Abnehmende Bedeutung traditioneller Kriterien sozialer Schichtung? Mit einer
Zusammenfassung des bisherigen Seminarverlaufs (Andreß, Hans-Jürgen)
Breen, R. (1997): Risk, recommodification and stratification. Sociology 31: 473-489
Zunächst ein Zitat aus Goldthorpe (2002: 11-13) zu den Wirkungen angeblich zunehmend
instabiler Beschäftigungsverhältnisse auf die Klassenstruktur der Gesellschaft:
Thus, as regards economic insecurity, it is true that after the ending of the long boom of
the post-war years rates of unemployment in general increased in advanced societies,
though with much temporal and crossnational variation; and, further, that falls in the
average length of job tenure have been recorded across most kinds of occupation, though
usually quite modest ones. However, this does not in itself constitute evidence that the
link between class position and insecurity of employment has been broken. And indeed
the findings of the more systematic research that has actually focused on this link would
suggest that, while it has possibly weakened somewhat in the US, elsewhere its strength
has been little affected. For example, Gallie and his associates have analysed complete
8
employment histories of a representative sample of the British workforce over a series of
birth cohorts and show that for men, though not for women, some increase in work-life
instability has occurred. But they also show, in the case of men, that structural factors are
far more closely associated with the risks of instability than are individual attributes and,
further, that it is class position that remains ‘critical’ so far as vulnerability to
unemployment is concerned. In the 1990s, just as in the 1970s, men in skilled workingclass jobs were two-and-half times more likely to become unemployed than were those in
professional, administrative and managerial positions, and men in unskilled working-class
jobs were three times more likely.1 In the light of such research, then, the idea that
employment insecurity is now losing its class structural basis or that what were formerly
‘class biographies’ become ‘reflexive biographies’ expressing individual choice appear
merely fanciful.
Again, there is evidence from many advanced societies, though most notably from the US,
that a growth in ‘non-standard’ forms of work has extended to some degree into the higher
levels of white-collar employment – as, say, in the form of short-term contracts for
professional staff. And there are also indications that firms are less ready than previously
to offer assurances of lifetime continuity of employment even to their managerial
personnel, who are now more exposed to losing their jobs as a result of ‘downsizing’,
‘delayering’ and other organisational changes that may occur in economic good times as
well as bad. But none of this can be thought sufficient to give serious backing to claims
that the ‘bourgeois institution of the career’ is now at an end or that a universal
commodification of labour is in train.
One important point that such claims leave out of account is that nonstandard forms of
work carry very different implications at different levels of employment. Thus,
professionals on short-term contracts are in a far less disadvantageous situation than are
routine wage-workers employed on a temporary basis in, say, retail or hotels and catering.
While, for the latter, temporary work may well become a ‘trap’, for the former it more
often serves as a ‘bridge’ into better, more permanent positions.2 More generally, though,
very little evidence has been mustered, even for the US, specifically to show that
professional, administrative and managerial careers are in decline – provided only that
careers are seen as being made between as well as within organisations, which is, after all,
scarcely a novel idea. Indeed, Sanford Jacoby, starting from a rejection of Richard
Sennett’s claim that there is now ‘no long term’ in American life, reviews a large body of
research that indicates that the stock of ‘career-type’ positions in the American economy
is little diminished. The extent to which understandings on continuity of employment have
been dropped from the ‘implicit contracts’ between firms and their higher level employees
is easily exaggerated but, even where this is the case, understandings on continuity of
employability – as furthered via appropriate training, ‘planned experience’ and so on – are
typically substituted. Generalisations from Silicon Valley à la Castells are invalid.3
1
See Duncan Gallie et al., Restructuring the Employment Relationship (Oxford: Oxford University Press 1998).
There would seem no reason for supposing that the British case is wildly exceptional – broadly similar results
are emerging from current Irish research (personal communication from Chris Whelan) – but some degree of
cross-national variation is of course to be expected, related to differences in both class structures and forms of
social protection. For somewhat differing views on the US, see Henry S. Farber, The Changing Face of Job Loss
in the United States, 1981–1993 (Washington: NBER Working Paper, 55, 1996), and F.X. Diebold, D. Neumark
and D. Polsky, ‘Job Stability in the United States, Journal of Labor Economics 15 (1997), pp.206–33.
2
See again Gallie et al., Restructuring the Employment Relationship, ch. 6 esp.
3
See Sanford Jacoby, ‘Melting into Air? Downsizing, Job Stability and the Future of Work’, Chicago-Kent Law
Review 76 (2000), pp.1195–234, and Richard Sennett, The Corrosion of Character (New York: Norton 1998).
An instructive debate on these issues is that between Jacoby and Peter Cappelli in the California Management
9
In short, while individuals in unskilled, routine types of work may increasingly be
employed on the basis of various approximations to ‘spot’ contracts, this is not the case
with the vast majority of those in professional, administrative and managerial positions.
Rather than ‘the transformation of work’ in the global economy removing the class
character of inequality, the differentiation of employment contracts persists – and, it could
be said, for good organisational and thus economic reasons – and can itself be regarded as
the abiding foundation of the class structures and associated inequalities that are generic
to modern ‘employee’ societies.4
Für die “good organisational and thus economic reasons” liefert der Aufsatz von Breen
(1997) ein Argument.
Breen unterstellt durch die Globalisierung eine Abnahme räumlicher und eine Zunahme
zeitlicher Risiken. Mit der Zunahme zeitlicher Risiken meint er, dass der zukünftige
Zustand der Arbeits-, Produkt-, Kapital- und Finanzmärkte mit zunehmend geringerer
Sicherheit vorhergesagt werden kann und dass die Entwicklung dieser Märkte
zunehmenden Schwankungen unterliegt (Volatilität). Zeitliche Unsicherheit verringert die
Chancen langfristiger symmetrischer Bindungen, die die Voraussetzung von Institutionen
generalisierter Reziprozität sind (Familie, Wohlfahrtsstaat). Umgekehrt erhöht sie die
Chance kontingenter asymmetrischer Bindungen. Breen vergleicht die beiden
Bindungstypen mit Strategien des Risikomanagements auf Finanzmärkten durch Hedging
und Optionen. Letztere bieten dem Käufer der Option die Möglichkeit, im positiven Fall
die Erträge des finanziellen Risikos zu kassieren und im negativen Fall die Verluste an
den Verkäufer der Option weiter zu geben. Nach Ansicht Breens ist der Arbeitsmarkt
zunehmend durch diese Strategie gekennzeichnet: Arbeitsgeber versuchen durch
verschiedene Flexibilisierungsstrategien Marktrisiken an Arbeitnehmer weiter zu geben.
Er stellt sich dann die Frage, welche Arbeitnehmergruppen besonders von diesen
Rekommodifizierungstendenzen betroffen sich und welche Auswirkungen dies auf die
Schichtstruktur einer Gesellschaft hat.
Die zweite These von Breen ist, dass Arbeitnehmer, die der Dienstklasse zugerechnet
werden müssen, am wenigsten durch Flexibilisierung betroffen sind. Immer dann, wenn
die Art der Tätigkeit es schwierig macht, genauer zu spezifizieren (und dementsprechend
zu überwachen), was der Arbeitnehmer tatsächlich tut, desto eher hat der Arbeitgeber ein
Interesse an einer langfristigen Bindung. „A service relationship can thus be understood as
the means through which an employing organization seeks to create and sustain …
commitment” (Erikson / Goldthorpe 1992: 42). Das Beschäftigungsverhältnis eines
Mitgliedes der Dienstklasse ist charakterisiert durch eine langfristige Bindung
Review 42 (1999). It should, however, be noted that Cappelli does not dissent from Jacoby’s main argument
concerning the persistence of ‘good jobs’ in the US economy. The main point of difference arises over whether
jobs offering career prospects within one firm are in decline.
4
Jacoby underlines the force of a theoretical argument that I and others have also emphasised from the side of
class analysis but which is largely ignored by exponents of the ‘transformation of work’ thesis. With increasing
competitiveness and economic turbulence, employers may well wish to reduce the burden of risk that they
assume on behalf of their employees. But how far they can go in this direction is constrained by limits to the
range of work that can in fact be commodified without loss of organisational effectiveness. In particular, where
employees are required to deploy expertise or exercise delegated authority on behalf of their employing
organisation, employment contracts approximating a ‘spot’ form are unlikely to be efficient contracts. See
Richard Breen, ‘Risk, Recommodification and Stratification’, Sociology 31 (1997), pp.473–89, and John H.
Goldthorpe, On Sociology: Numbers, Narratives and the Integration of Research and Theory (Oxford: Oxford
University Press 2000), ch. 10; and, for further relevant debate, A.B. Sørensen, ‘Toward a Sounder Basis for
Class Analysis’, American Journal of Sociology 105 (2000), pp.1523–58, and John H. Goldthorpe, ‘Rent, Class
Conflict and Class Structure: A Commentary on Sørensen’, American Journal of Sociology 105 (2000),
pp.1572–82.
10
generalisierter Reziprozität, von der beide Vertragspartner glauben langfristig zu
profitieren. Es kommt zur Auszahlung von Effizienzlöhnen. Obwohl diese
Arbeitnehmergruppen auch durch Flexibilisierungsstrategien betroffen sind (z.B. durch
Auslagerung, Bildung kleiner eigenverantwortlicher Subeinheiten, Abschluss von
Zielvereinbarungen etc.), glaubt Breen dennoch, dass diese Arbeitnehmer ihre vorteilhafte
Position erhalten können; u.a. wegen der zunehmenden Ansprüche an
Eigenverantwortung und -initiative, Teamfähigkeit sowie Weiterbildungsbereitschaft
(interne Flexibilisierung). Investitionen des Arbeitgebers in diese Fähigkeiten lohnen sich
nur dann, wenn es ihm gelingt, die entsprechenden Arbeitnehmergruppen langfristig an
sich zu binden. Er geht daher davon aus, dass es vor allen Dingen die intermediären
„Klassen“ sind (routine non-manual employees, lower grade technicians, supervisors of
manual workers), auf die die Arbeitgeber die zunehmend weniger kalkulierbaren
Marktrisiken abwälzen.
13. 18.01.05
Abnahme gewerkschaftlicher Organisation? (Struwe, Céline)
Western, B. (1995): A comparative study of working-class disorganization: union decline in eighteen
advanced capitalist countries. American Sociological Review 60: 179-201
$
14. 25.01.05
Auflösung traditioneller Parteibindungen? (Molitor, Barbara)
Müller, W. (1999): Class cleavages in party preferences in Germany – old and new. in: Evans, G. (ed.): The
end of class politics? Oxford: Oxford University Press
$
15. 01.02.05
Zunahme der Einkommensungleichheit? (Eibisch, Martin)
Alderson, A.S. / Nielsen, F. (2003): Globalisierung und die große Kehrtwende: Entwicklung der
Einkommensungleichheit in 16 OECD Staaten. S. 323-362 in: Müller, W. / Scherer, S. (Hg.): Mehr Risiken –
mehr Ungleichheit? Abbau von Wohlfahrtsstaat, Flexibilisierung von Arbeit und die Folgen. Frankfurt /
Main: Campus (Original erschienen in American Sociological Review 2002, Vol. 107: 1244-99)
$
11