Belastungen und Selbstfürsorge der Helfenden Gliederung
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Belastungen und Selbstfürsorge der Helfenden Gliederung
26.08.2016 Belastungen und Selbstfürsorge der Helfenden Dr. med. Conrad Frey Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Gliederung • Integration von traumatisierten Flüchtlingen – eine Herausforderung • Erfahrungen aus dem Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK • Konzeptionelle Landkarte • Sekundäre Traumatisierung in multiprofessionellen Teams • Prävention der sekundären Traumatisierung – Selbstfürsorge – institutionelle Gesundheitsförderung Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 1 1 26.08.2016 Das Therapiezentrum für Folteropfer wurde 1995 in Bern gegründet. Die Basis für die Eröffnung des Zentrums bildete die Studie «Die Sprache der extremen Gewalt» von Prof. H.R. Wicker (1991) Das Therapiezentrum - heute Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK - hat sich in den vergangenen 20 Jahren regional vergrössert und ist nun Teil eines schweizerischen Fachverbundes. Vom Therapiezentrum zum Verbund Kontakt Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK Freiburgstrasse 257 3018 Bern-Bümpliz [email protected] Telefon: +41 31 960 77 77 Fax: +41 31 960 77 88 http://www.torturevictims.ch/de/support-for-torture-victims 2 26.08.2016 Falldarstellung (Bosnienkonflikt) 7 jähriger bosnischer Knabe unsichere Bindung durch traumatische Lebensumstände elektiver Mutismus Trennungsängste Schulverweigerung Psychische Beeinträchtigungen der Eltern Parentifizierung der älteren Schwester Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 4 Individuelle Gefühle und Reaktionen der Helfenden • • • • • • Trauer, Bedrücktheit, Sorge Schuld- und Unrechtsgefühle Wut, Ärger, Erregung Ausgeprägte Verantwortungsgefühle Gefühle der Entfremdung Schamgefühle und andere verwirrende Emotionen bzw. Reaktionen • Ohnmacht und Hilflosigkeit • Verminderung der (therapeutischen Selbstsicherheit) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden • Starke Identifikation mit den Opfern – Wunsch nach Wiedergutmachung, Rettungsphantasien • Überbehütung (Selbstwirksamkeit ) • Entwertungen der betroffenen Gruppen • Verletzende Intoleranz und Gleichgültigkeit – gegenüber den Sorgen und Bedürfnissen anderer Menschen (Frey, 2016; Kinzie 1994) 5 3 26.08.2016 Konzeptionelle Landkarte Helfende Störungen Stressoren Ressource Existentielle Verankerungen Traumatische Stressoren Trauma Typ 1 oder 2 Sequentielle Traumatisierung Persönliche Stressoren Posttraumatische Belastungsstörungen Berufliche Stressoren Anpassungsstörungen, Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen etc. Komplexe PTBS Sekundärer Traumatischer Stress Mitgefühlserschöpfung «Compassion Fatigue» Burnout-Syndrom Indirekte oder induzierte Traumatisierung Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 6 Wichtige existentielle Verankerungen • Sicherheitsgefühl – die Gewissheit, in einer rechtlichen Ordnung zu leben, in der die eigene physische und psychischen Integrität geschützt wird. • Gerechtigkeitssinn – ein ideelles Gefühl für Gerechtigkeit und die unantastbare Würde des Menschen. • Zugehörigkeitsgefühl – die soziale Integration in ein Netzwerk, das Zugehörigkeiten schafft und durch soziale Beziehungen gefestigt ist • Selbstwertgefühl – die persönliche Verankerung durch soziale Rollen, die ein kohärentes Selbstbild und eine stabile Identität ermöglichen • Lebenssinn – ein Norm- und Wertesystem im Zusammenhang mit existentiellen Fragen, das dem Leben Bedeutung und Sinnhaftigkeit verleiht. Psychiatrie Obwalden/Nidwalden (Moser & Frey, 2007; Silove et al. 2001) 7 4 26.08.2016 Traumatische Erfahrungen, insbesondere solche welche durch Menschen mit Absicht verursacht wurden, lockern diese wichtigen existentiellen Verankerungen auf und beeinträchtigen die positiven Grundannahmen über sich selbst und die Mitwelt. Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 8 © OPSI, Büro für psychosoziale Prozesse 9 5 26.08.2016 Komplexe Posttraumatische Störung • PTSD - Kernsymptom (F43.1 nach ICD 10) – Wiedererleben, Vermeidung und Erregung – – – – Substanzabhängigkeit Depressionen Störung der Impulskontrolle ( erhöhte Gewaltbereitschaft) Interpersonelle Probleme (inkl. Sexualität) • Chronische Stress- und Schmerzsyndrome • Sekundäre Veränderungen (Co-Morbidität) • Veränderte Selbst- und Weltsicht Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 10 Burnout - Syndrom Affektive Reaktion auf kontinuierliche Stressbelastung im Beruf • Gefühl einer körperlichen, emotionalen und geistigen Erschöpfung • Depersonalisierung, d.h. einer distanzierten, gleichgültigen oder gar zynischen Einstellung gegenüber der Arbeit (inkl. Kunden, Kollegen) • Gefühl einer reduzierten beruflichen Leistungsfähigkeit – Ineffektivität – Verlust des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten • Job-Strain Theorie Hohe Anforderungen und geringe Einflussmöglichkeit (Karasek & Theorell, 1990) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden (Maslach et. al, 2001; Schulze, 2009) 11 6 26.08.2016 Sekundäre Traumatisierung (STS) • Uneinheitliche Nutzung des Begriffes viele unterschiedliche Bezeichnungen • berufsbedingte Traumatisierung (z.B. Rettungskräfte) – Berufliche Risikogruppen (z.B. Feuerwehr, Polizei, Rettungskräfte) – Störungsbilder werden nach den Kriterien von ICD-10 erfasst, z.B. als akute Belastungsreaktion oder Posttraumatische Belastungsstörung • übertragene (induzierte) Traumatisierung – Bei Personengruppen mit emotionaler Nähe zu den Primärtraumatisierten (z.B. Therapeuten, Sozialpädagogen, Angehörige) – ohne direkte sensorische Eindrücke des Ausgangstraumas – mit (zumeist grösserer) zeitlicher Distanz zu den Ausgangstraumata (Daniels, 2003) – Ähnliche Symptome wie bei Primärtrauma (keine Erfassung in ICD-10) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 12 Indirekte Traumatisierung («vicarious traumatization») • Wer traumatisierten Menschen hilft, lässt sich selber auf eine Transformation seiner Persönlichkeit ein. • Es treten Veränderungen der eigenen kognitiven Schemata ein • Diese Veränderungen sind kumulativ, graduelle und langfristig. • Auslöser sind nicht einzelne belastende Therapiestunden sondern die angehäuften Erfahrungen mit traumatischem «Material» (v.a. rund um das Wissen von menschlichen Grausamkeiten). • Die kognitiven Veränderungen betreffen persönliche Bereichen wie Identität, Glaube und Weltsicht, Grundüberzeugungen, psychische Bedürfnisse, Gedächtnis • Eine empathische zwischenmenschliche Verbindung ist Voraussetzung Psychiatrie Obwalden/Nidwalden McCann und Pearlman (1990); Pearlman und Saakvitne (1995); Judith Daniels (2006) 13 7 26.08.2016 Compassion Fatigue « There is a cost to caring » (Figley, 1995) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Mitgefühlserschöpfung 14 («Compassion Fatigue» nach Figley, 1995) • Thematisch zwischen sekundärer Traumatisierung und Burnout einzuordnen – «Beschönigung» der leidvollen Aspekte einer sekundären Traumatisierung (Lemke, 2006) • Empathische Reaktionen der Helfenden als Grundvoraussetzung für STS – Aufopfernde, emotional stark mit den Opfern identifizierte Personen – Pflegepersonal, Psychotherapeuten, Rettungskräfte, Flüchtlingsbetreuende etc. • Bei anhaltender Exposition mit “traumatischem Material” und / oder bei chronischen Leidenszuständen • Führt zu einer Erschöpfung des Einfühlungsvermögens (Empathie) • Volatiler Verlauf der Symptomatik mit rascher Entwicklung bzw. Rückbildung – Ohne eindeutige Verbindung zu aktuellen Vorfällen oder Konflikten – Neben posttraumatischen Symptomen auch Gefühle von Hilflosigkeit, Konfusion und innerer „Fremdheit” Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 15 8 26.08.2016 Fazit sekundäre Traumatisierung bzw. Burnout • Überschneidungen der verschiedenen Konzepte mit teils widersprüchlicher und nicht immer konsistenter empirischer Datenlage • Integriertes Modell der Sekundären Traumatisierung als «traumatoid states» (Thomas & Wilson, 2004) • Zentrale Elemente: Empathische Identifizierung sowie Unfähigkeit die durch die Trauma-Exposition ausgelösten Gefühle zu kommunizieren • Belastung führen zu Symptomen aus Traumafolgestörungen / Depression / Psychosomatik • Vortraumatisierung und mangelnde Berufserfahrung der Helfenden sind Prädiktoren für STS, aber…. • Vortraumatisierung auch als Ressource möglich («Posttraumatische Reifung») Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 16 «Posttraumatic Growth» (Tedeschi & Calhoun, 2004) Posttraumatische Reifung positiver innerer Entwicklungsprozess • Änderung des Selbstgefühls – «Verletzlicher ... aber stärker» • Änderung der Beziehungsfähigkeit – Intimität und Mitgefühl verstärkt – Trauma als Thema oder Mission (Schrift, Wort, Bild) • Änderung der Lebensphilosophie – Wahrnehmen neuer Möglichkeiten und Prioritäten – Vertiefen von Lebensfragen Psychiatrie Obwalden/Nidwalden «Baum der Hoffnung bleibe stark» (Frida Kahlo, 1946) 17 9 26.08.2016 Teamprozesse in der Pionierphase • Ausgeprägte Aufbruchsstimmung und Hilfsbereitschaft • Persönliche Überforderungen, mangelnde spezifische Kompetenzen • Knappe personelle Ressourcen • Hohe Erwartungen – wenig sichtbare Erfolge • • • Multiprofessionalität wird zu einer grossen Herausforderung bzw. Überforderung Mangelnde Klarheit und Transparenz im Therapieprozess als defensive Strategie Gestörter Übergang in die Phase der fachlichen und strukturellen Differenzierung Krise Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 18 Destruktive Teamdynamik in Traumazentren • Übertriebene Ängste, Befürchtungen und Sorgen - Tendenz zur Ansteckung und Eskalation („permanenter Notfall“) - Innerhalb Team, gegenüber Leitung oder nach Aussen Faszinosum der Gewalt - Ideologie der kollektiven Entscheidung chaotische, endlose Diskussionen Konfuse Kommunikationsmuster, eingeengte bis irrationale Wahrnehmungen und Interpretationen • Re-Inszenierung der Traumata Misstrauen, Verdächtigungen und Projektionen • Wenig differenzierte und konflikthafte Team- und Leitungsstruktur • Grenzverletzungen, Spaltungen und Bildung von Fraktionen - Anschuldigungen, Mobbing, informelle Führung, Ausschluss von Mitarbeitenden - Verlust an Selbstvertrauen, Selbstwirksamkeit und Effizienz • Erschöpfung und Machtlosigkeit Psychiatrie Obwalden/Nidwalden (Pross, 1999; Frey 2007) 19 10 26.08.2016 Prävention der sekundären Traumatisierung Verantwortung Individuum Verantwortung Institution Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 20 Gesundheitsförderung bei Stress (7 x E + B = G) • Erkennen und Anerkennen der Stressbelastung • Entlastung und Entschleunigung – Kurzfristige Reduktion von Stressoren Atmung, Wahrnehmungslenkung, physische Abreaktion u.a. • Erholung und Entspannung – Langfristige Strategien zur Emotionsregulierung Bewegung, Entspannungstechniken, Meditation, Achtsamkeit, soziale Unterstützung holen u.a. • Ernährung (inkl. alkoholische Getränke!) – massvoll und ausgewogen • Ernüchterung und Besonnenheit – Perfektion und Leistungsanspruch hinterfragen – Abgrenzung und sinnvolles Zeitmanagement beachten und üben Psychiatrie Obwalden/Nidwalden (Frey, 2016; Jaggi, 2009) 21 11 26.08.2016 Zähmung der persönlichen Antreiber • Sei perfekt (“so gut wie möglich”) • Streng dich an („immer 100%”) • Beeil dich (“so schnell wie möglich”) • Sei stark (“keine Gefühle zeigen“) • Mach‘s den Anderen recht (“sei nicht wichtig) Fehler sind erlaubt Ich darf es mir leicht machen (Intelligent, nicht hart arbeiten) Ich darf mir Zeit lassen Gefühle sind erlaubt Eigene Bedürfnisse beachten Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 22 Institutionelle Gesundheitsförderung • Management / Leitung - Kennt und akzeptiert die beruflichen Risiken in der Arbeit mit Traumatisierten - Hat eine offene, direkte, wertschätzende und unterstützende Kommunikation - Löst Probleme und Konflikte rasch, konstruktiv und nicht abwertend • Arbeitsorganisation - Verantwortung, Kompetenzen und Abläufe sind geklärt - Arbeitszeit, Arbeitsbelastung sind begrenzt - Effiziente, effektive Verwendung der Mittel - Vielseitige Aufgaben (Therapie, Lehre, Projektarbeit) Chance und Risiko Psychiatrie Obwalden/Nidwalden • Professionelle und förderliche Arbeitsbeziehungen - Vertrauen und Verpflichtung (Team und Leitung) • Emotionale Entlastung durch Peers • Ungünstiges Coping ansprechen - Sucht, destruktives Verhalten bei MA • Personal- und Teamentwicklung – Periodische Überprüfung / Evaluation – Teamsupervision bei Bedarf • Supervision und Coaching (Aussensicht) 23 12 26.08.2016 Projekt in Palästina «Kicking the Ball and Taking Care» Psychosoziale Unterstützung für Kinder durch Fußballaktivitäten Phase 1: 2010-2012 - Modellentwicklung - 200 ♀ / 200 ♂ (7-13 j.) pro Region - 7 UNRWA Schulen Phase 2: 2013-2015 - Ausweitung / Autonomie - 1’500 ♀ / 1’650 ♂ (11-14 j. / total) - 50 UNRWA Schulen Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Entwicklung von Supervisions- / Coaching-Strukturen für Fachkräfte im psychosozialen Bereich Phase 1: 2010-2012 - 33 Fachkräfte in beiden Regionen werden ausgebildet - Rund 300 Personen erhalten regelmässig Supervision (2 J.) - 31 Institutionen sind involviert Phase 2: 2013-2015 - 17 von 33 erhalten Schulung zu Supervisions-Ausbildner - Lokales Ausbildungscurriculum - Ausbildung von 94 neuen Supervisoren - Rund 600 Personen erhalten regelmässig Supervision (2 J.) 24 25 13 26.08.2016 Kontakt: Dr.med. Conrad Frey Psychiatrie OW/NW Kantonsspital 6060 Sarnen 041 666 43 11 [email protected] Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 26 14