Sekundäre Traumatisierung - Hans-Wendt
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Sekundäre Traumatisierung - Hans-Wendt
Sekundären Traumatisierung Vortrag von Simone Rießinger Fachtag der Hans-Wendt-Stiftung 19. Februar 2015 19.02.2015 Simone Rießinger 1 Die Sekundäre Traumatisierung und ihre Auswirkungen auf die Kinderund Jugendhilfe • Der Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen gelangt immer mehr ins Bewusstsein aller Fachkräfte • Durch die Fachdisziplin Traumapädagogik kommen nun auch die Fachkräfte selbst in den Fokus • Wir Fachkräfte benötigen Fachwissen über die „Ansteckungsgefahr“ innerhalb der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen • Fachwissen was eine Sekundäre Traumatisierung ist und wie sie sich auswirken kann • Wir benötigen Fachwissen wie wir uns schützen und abgrenzen können • und wir benötigen Fachwissen in Selbstfürsorge und Psychohygiene 19.02.2015 Simone Rießinger 2 Geschichte der Sekundären Traumatisierung (ST) Schlimmste Ereignisse u. Katastrophen • • • • Zugunglücke, Terroranschläge, Amokläufe bei denen die HelferInnen enormer psychischer Belastungen aufgrund des Ausmaß der Traumatisierung der Primärtraumatisierten ausgesetzt sind Berufsgruppen wie: Rettungshelfer, Ärzte, Polizisten, Feuerwehrleute, Seelsorger, Krankenschwestern und Krankenpfleger hier werden Fachwissen und Methoden im Umgang mit Überlastungsphänomenen, Selbstschutz und Selbstfürsorge seit langem bereit gestellt 19.02.2015 PsychologInnen und TherapeutInnen • haben in ihren Aus-und Fortbildungen vielfältige Methoden und Prophylaxe im Umgang mit Traumatisierten hinsichtlich des Risikos einer ST eingebunden und etabliert Simone Rießinger 3 Die Sekundäre Traumatisierung ist die „Erkrankung“ der Helfenden, d.h. es ist das Risiko und die Gefahr, die helfende Fachkräfte eingehen und ggf. erkranken können, wenn sie sich um primärtraumatisierte Menschen kümmern und sie versorgen, in Ausübung ihrer Tätigkeit. 19.02.2015 Simone Rießinger 4 Fachwissen zur Sekundären Traumatisierung und Umgang mit Überlastungsphänomenen fehlt bislang in allen Ausbildungen, in allen Berufsbereichen für Fachkräfte die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten: ErzieherInnen, HeilerziehrInnen, LehrerInnen, Sozial- und DipolmpädagogInen, Behinderten- und HeilpädagogInnen, Kranken- und KinderkrankenpflegerInnen, ErgotherapeutInnen, LogopädInnen 19.02.2015 Simone Rießinger 5 Begriffsklärung • Secondary victimazation, Compassion fatigue, Mitgefühlserschöpfung, Mitgefühlsstress, Sekundäre traumatische Belastung, Sekundärer traumatischer Stress (Figley,1983) • Stellvertretende Traumatisierung (Frey, 2001) • Indirekte Traumatisierung (McCann/Pearlann,1990) • Sekundärtraumatisierung (Daniels, 2008) 19.02.2015 Simone Rießinger 6 Wie erfolgt die Ansteckung, „Infizierung“? Als eine Art ansteckender Krankheit beschreibt Frey 2001 die ST in Analogie: 19.02.2015 Simone Rießinger 7 Verarbeitung traumatischer Erlebnisse im Gehirn „No Fight – No Flight Freeze + Fragment Dissoziation + Submission“ Großhirn Sprachzentrum Thalamus Hypocampus Amygdala 19.02.2015 Simone Rießinger 8 Was passiert im Gehirn bei der ST? • Daniels beschreibt drei neurobiologische Faktoren, die bei der ST eine entscheidende Rolle spielen: • Empathie: die Fähigkeit mitfühlen zu können, sich die mentalen Perspektiven eines Menschen zu erschließen sowie sich in seine emotionale Verfassung hineinzuversetzen. Dies geschieht mit Hilfe der Spiegelneuronen im Gehirn. • Kindling: ist eine zunehmende Sensibilisierung bestimmter Hirnareale (Amygdala) durch wiederholte, unterschwellige Aktivierung, d.h. durch die wiederholte Konfrontation mit traumatischen Material des primär Geschädigten, wird das Gehirn, die Amygdala der HelferInnen gereizt. • Dissozation: ist eine Notfallreaktion des Menschen, die ihm ermöglicht lebensbedrohliche Situationen zu überstehen, indem er das Geschehen abspaltet und z.B. wie im Film oder nicht real empfindet. Durch die wiederholte Amygdalareizung erfolgt ein erhöhtes Erregungsniveau, das wiederum die Dissoziation bedingt. 19.02.2015 Simone Rießinger 9 Definition der Sekundären Traumatisierung • „Sekundärer traumatischer Stress ist ein Risiko, das wir eingehen, wenn wir uns empathisch mit einem (…) Kind befassen“. B. Perry, 2005 • „Überall dort, wo professionelle HelferInnen es mit der Betreuung von traumatisierten Menschen zu tun haben, sind sie in der Gefahr, selber Schaden zu nehmen und die gleiche Symptomatik zu entwickeln wie bei einer posttraumatischen Belastungsreaktion (Übererregung/Angstzustände, Vermeidung/Entfremdung, Intrusion/Wiedererleben)“ . Scherwarth/Friedrichs, 2012 19.02.2015 Simone Rießinger 10 Definition der Sekundären Traumatisierung „Eine Sekundärtraumatisierung wird durch • die dissoziative Verarbeitung von Traumamaterial ausgelöst. • Dissoziative Verarbeitung zeigt sich z.B. in emotionaler Taubheit oder einer veränderten Zeitwahrnehmung während man mit traumatischem Material konfrontiert wird. • Das eigene Handeln wird als automatisiert, wie auf Autopilot erlebt, während die äußere Welt unreal und traumähnlich erscheint„. Daniels 2008 • laut Daniels kein Zeichen mangelnder Professionalität, sondern „… ein Resultat traumatogener Informationsverarbeitung auf der Basis ausgeprägter Informationsverarbeitung“ (2012). 19.02.2015 Simone Rießinger 11 Stressreiche, die Fachkräfte überflutende Situationen und Kontakte, die zu Überlastungsphänomenen führen können Welchen Gefühlen und Emotionen der Kinder/Jugendlicher begegnen wir in unserer (tägl.) Arbeit, sind wir ausgesetzt: • • • • • • • • • • • • Abgrundtiefe Traurigkeit und Trauer Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit Verzweiflung Wut und Aggression, Hass Keinen Sinn im Leben sehen Verlorener Glaube an „das Gute in der Welt“ Von Erwachsenen alleine gelassen sein Absoluter Vertrauensverlust in Erwachsene und Hilfesysteme Selbstverletzende Verhaltensweisen Suizidversuche Das Ausmaß an erlebtem Leid durch Gewalt und sexuellen Missbrauch Das Ausmaß an erlebten Grausamkeiten und Erniedrigungen Vernachlässigung 19.02.2015 Simone Rießinger 12 Die Sekundäre Traumatisierung ist: Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die ST • • • • eine Gefahr für uns Fachkräfte der unterschiedlichen Berufsgruppen ist die jederzeit eintreten kann sobald wir mit traumatisierten Menschen zusammen kommen und empathische unseren beruflichen Aufgaben nachgehen • Unsere persönliche Verletzlichkeit/Vulnerabilität und Vorgeschichte kann ein Risikofaktor sein • unsere Resilienz und Widerstandskraft ebenso ein Schutzfaktor. 19.02.2015 Simone Rießinger 13 Risikofaktoren einer Sekundären Traumatisierung sind: 19.02.2015 • Frühere eigene Traumatisierungen einschließlich vorangegangener ST • allgm. Lebensumstände: Stress, psychische Gesundheit • Merkmale des sozialen Umfeldes • Demografische Faktoren: Alter, Geschlecht, soziale Schicht • Ressourcen und Bewältigungsmechanismen Simone Rießinger 14 Symptome des sekundären traumatischen Stresses (STS): • Emotionale Reaktionen: Angst, Beklemmung, Anspannung, Niedergeschlagenheit, Zorn, Reizbarkeit, Depression • Kognitive Reaktionen: Konzentrationsstörungen, Vermeidungsverhalten, Veränderung innerer Werte und Einstellungen, Intrusionen, • Psychische und psychosomatische Reaktionen: Schlafstörungen, Apetitverlust, häufige Erkältungen, Kopf-, Bauch-, Nackenund Rückenbeschwerden, reduziertes Sexualleben, Erschöpfungszustände 19.02.2015 • Gesundheitsschädigende Copingstrategien: Überdecken von Müdigkeit durch Koffein und Nikotin, Gebrauch von Sucht- und Beruhigungsmittel: Alkohol, Zigaretten, Drogen • Soziale Auswirkungen: Distanzierung, sozialer Rückzug, Konflikte in der Partnerschaft, Leugnen der Symptome • Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit: Grundannahmen zum Ich und der Welt werden erschüttert, Verlust in eine positive sinnvolle geordnete Weltsicht Simone Rießinger 15 eine Gefahrenkette Eine Gefahrenkette, die eintreten könnte. Aus Überlastung entsteht nicht zwangsläufig ein Burnout (deshalb rot gestrichelt). Aus Überlastung und „Ansteckung“ mit Traumamaterial kann sekundärer traumatischer Stress entstehen. Jung 2012 Belastung 19.02.2015 Überlastung Burnout Simone Rießinger sekundärer traumatischer Stress 16 ST in Abgrenzung zu Burnout Sekundäre Traumatisierung Burnout-Syndrom • alle Berufsgruppen die mit traumatisierten Menschen zu tun haben • berufsbedingtes chronisches Belastungssyndrom • Miterleben/Beobachten/Erzählung eines einzelnen traumatischen Ereignisses kann zur ST führen • entwickelt sich allmählich und infolge emotionaler Erschöpfung • Reaktion der Betroffenen ist Angst, Hilflosigkeit, Schrecken • hohe Belastung auf mehreren Ebenen • Symptome der ST: Intrusion, Vermeidung, Übererregung PTBSSymptome • hohe Leistungsbereitschaft, hoher Idealismus, enge Verbindung von Leistung und Selbstwert, unerfüllte Bedürfnisse, Erwartungen, Desillusionierung, Gefühl der Unlösbarkeit 19.02.2015 Simone Rießinger 17 ST in Abgrenzung zu Burnout Sekundäre Traumatisierung Burnout-Syndrom • Langfristige Veränderung der kognitiven Schemata: Selbstbild, Weltbild, Menschenbild • Folgen: Funktionsstörungen, Fehlleistungen, Identitätsverlust • Leugnen von Überlastungsanzeichen • Stufenförmiger Verlauf 19.02.2015 Simone Rießinger 18 Vermeidung von Unterstützung Bislang vermeiden Fachkräfte sich Unterstützung von außen zu holen, wenn sie Überlastungsphänomene an sich feststellen. Wieso? Die Antwort basiert auf folgenden Thesen: • Fehlendes traumaspezifisches Fachwissen im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen • Fehlendes Fachwissen im Umgang mit sekundärem traumatischen Stress und Überlastungsphänomenen • Daraus lässt sich eine Nichtbeachtung der Selbstfürsorge der Fachkräfte aus Unwissenheit ableiten • Immer noch besteht ein althergebrachtes und allgegenwärtiges Idealbild der Fachkräfte, dass der alltägliche Umgang mit sich selbst verletzenden, suizidalen oder aggressiven Kindern und Jugendlichen eine normale pädagogische Herausforderung sei 19.02.2015 Simone Rießinger 19 Vermeidung von Unterstützung • und es fehlen sehr oft noch die institutionellen Rahmenbedingungen auf Leitungsebene vieler Einrichtungen: MitarbeiterInnenpflege und –Fürsorge innere und äußere Sicherheit für Fachkräfte Gewährleistung von Fortbildungen und Fachwissen Sicherstellung regelmäßiger Team-und Fallsupervision 19.02.2015 Simone Rießinger 20 Vorkommen von ST in der Kinder-und Jugendhilfe Pilotstudie der Hamburger Universität zur Krankheitshäufigkeit ST, Friedrich (2012) • 108 sozialpäd. Fachkräfte eines Hamburger Trägerverbundes Befragung mit dem Fragebogen zur ST (FST), von Daniels 2006 entwickelt • zurückliegende Erkrankungs- oder Belastungsphase über einen Zeitraum der letzten 2,7 Jahre erfasst, keine aktuelle Befindlichkeit • keine Unterschiedlichkeiten der Symptombelastung in Bezug auf männliche oder weibliche Fachkräfte, Altersgruppen, Berufsausbildungen oder Berufsfeldern (ambulant/stationär/beides) • Jedoch signifikante Unterschiede in den persönlichen Schutzfaktoren der Befragten: Personen mit ausreichend engen und stabilen Beziehungen wiesen einen geringeren Summenwert des FST auf 19.02.2015 Simone Rießinger 21 Vorkommen von ST in der Kinder-und Jugendhilfe • 108 Fachkräfte stuften 60% ihrer Betreuten als traumatisiert ein, von 44% ihrer Betreuten erfuhren sie Details zu deren Traumageschehen • FST bildet Summenwert: bis 64 keine ST, 65-82 moderate ST, über 82 schwere ST • Personen mit höherem Summenwert zeigen über einen längeren Zeitraum Belastungsreaktionen als Personen mit einem geringeren • 18 Personen (16%) moderate ST bis schwere ST • diese Pilotstudie gibt an, dass Fachwissen und Psychoedukation über die Ursachen, Symptome und Verlauf einer ST notwendig sind, über das traumasensible Fachwissen im Umgang mit traumatisierten Kinder und Jugendlichen hinaus 19.02.2015 Simone Rießinger 22 Prävention: ABC des Schutzes vor Sekundärer Traumatisierung Achtsamkeit • • • • auf sich selbst und seine Gefühle achten seine Grenzen und Ressourcen wahren in der Arbeit die Hälfte der Aufmerksamkeit auf sich selbst richten sich selbst gut kennen, um Übertragung und Gegenübertragung zu identifizieren Balance • • Ausgeglichenheit und Balance zwischen Arbeit und Freizeit und Ruhe Vielfältige private und persönliche Aktivitäten als eine Art Krafttankstelle Connection • Verbindung mit der Natur, mit anderen Menschen, sich selbst erfahren und entwickeln, persönliche Bedürfnisse verwirklichen, Spiritualität 19.02.2015 Simone Rießinger 23 Prävention, Selbstfürsorge, Psychohygiene Selbstfürsorge und persönliche Psychohygiene ist eine wichtige Prävention vor Überlastungsphänomen und ST • die Versorgung der eigenen Gefühle • das Herstellen des Gefühls der eigenen Sicherheit und • der Erhalt und die Wiedererlangung der eigenen Selbstwirksamkeit 19.02.2015 Simone Rießinger 24 Bewältigung von traumatischen Erlebnissen für Fachkräfte in der Praxis : • Kontrolle über das eigene Handeln zu haben/zu behalten • routinierte Handlungsabläufe • Checklisten • Strukturierte Vorgehensweisen, die Sicherheit geben • Notfallpläne für jedes einzelne Kind/Jugendlichen • Vertrauen in die Kompetenzen der KollegInnen, die sich gegenseitig unterstützen • Entlastungsgespräche ja/kein „Problem-Talk“ • kleinste Erfolge heraus arbeiten und wertschätzen 19.02.2015 Simone Rießinger 25 Schutz vor Konfrontationen mit unkontrollierten Traumaschilderungen sind: • Achtsamkeit für die Übertragungs – und Gegenübertragungsgefühle • Erkennen und Unterbrechen von traumabezogenen Re-inzenierungen als Eigenschutz (und Schutz der Betreuten) • Selbstfürsorge und Prävention • Angstfreier Austausch unter KollegInnen über Belastungen zu sprechen • Unterstützungskultur unter den KollegInnen • MitarbeiterInnen-Fürsorge und Prävention in Verantwortung der Einrichtungs- und Leitungsebene 19.02.2015 Simone Rießinger 26 Übungen Team: • • • • Notfallkoffer Team-Schatzkiste Befindlichkeitsrunde im Team Arbeiten mit Skalierungen in Bezug auf Kinder/Jugendliche (Bewusstmachung der eigenen Anspannung, z.B. das Anspannungsthermometer oder „Nähe – Distanz“-Übung • KollegInnen um Unterstützung bitten, kurze Entlastungsgespräche • Der/die „schwächste“ KollegIn „gibt den Ton an“ (dieses Teammitglied hat den sensibelsten Antennenempfang für „Hier stimmt was nicht! Achtung/Aufgepaßt“! Und hinter ihm/ihr reihen sich allen anderen auf • Und viele Methoden und Übungen mehr, die wir in der anschl. Börse vorstellen 19.02.2015 Simone Rießinger 27 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit „Wer mit traumatisierten Menschen arbeitet, muss drei Dinge beherzigen: Erstens: gut essen, Zweitens: Viel feiern, Drittens: wütend putzen“ Lang, 2009 19.02.2015 Simone Rießinger 28