Uiuiui! 40 Jahree Sesamsttraßee

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Uiuiui! 40 Jahree Sesamsttraßee
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Uiuiui!
Editorial
Liebe Leserinnen
und Leser,
schreckliche Meldungen von zig Tausenden Toten, Millionen
von Verletzten und Obdachlosen haben in den letzten Wochen
wieder mal die Nachrichten beherrscht. Der mittelamerikanische Staat Haiti wurde von einem schweren Erbeben heimgesucht. Unweigerlich wird man an die schlimmen Bilder erinnert, als vor gut fünf Jahren im indischen Ozean Hunderttausende Menschen einem Seebeben zum Opfer fielen.
_Damals wie auch heute zeigten alle Medien weltweit die Bilder
von Leichen, von verletzten und hungernden Menschen. Und
dann diese vielen armen Kinder mit erschreckten, angstvollen,
hungrigen und bittenden Blicken. Ein Aufschrei ging durch alle
Bevölkerungsschichten. Spontan wurden überall auf der Welt
Hilfsaktionen gestartet und millionenschwere Geldbeträge gesammelt. Riesige Mengen an medizinischen und technischen
Hilfsgütern und Nahrungsmitteln wurden zusammengetragen
und in die Krisenregion gesendet. Man organisierte Konzerte
und alle möglichen anderen Solidaritätsveranstaltungen zu
Gunsten der armen Erdbebenopfer von Haiti.
_Das ist die eine Seite der Medaille. Aber da gibt es noch eine
weitere, nämlich jene, die gerade heutzutage immer öfter allzu
gerne vergessen wird. Denn schon seit vielen Jahren ist Haiti
ein Land, das längst die Hilfe von außen nötig hat. Haiti gilt
als ärmstes Land der westlichen Hemisphäre mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen von ganz Lateinamerika. Rund 65%
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der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, 50% sind arbeitslos und fast ein Viertel der Bevölkerung ist chronisch unterernährt. Die Baby- und Kindersterblichkeit ist erschreckend
hoch. Die politische Lage Haitis ist seit vielen Jahren katastrophal: Korrupte Machthaber haben Land und Menschen bis aufs
Blut ausgesaugt und unterdrückt. Der Regenwald war bereits
vor 20 Jahren fast völlig abgeholzt. Überwirtschaftung und
Starkregen taten ihr Übriges. Haiti wird immer wieder von katastrophalen Wirbelstürmen heimgesucht.
_Und so hätten es die Menschen von Haiti im Grunde schon lange verdient gehabt, dass man ihnen ernsthaft Hilfe entgegenbringt. Aber wie heißt es doch so schön: Das Kind muss erst in
den Brunnen fallen! In diesem Fall müssen über 110.000 Menschen von Trümmern erschlagen werden und Millionen anderer halb verhungert vor dem Nichts stehen, bevor die Weltöffentlichkeit endlich reagiert.
Sigi Nasner
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Impressum
Herausgeber
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Berliner Platz 8
48143 Münster
Redaktion
Heinz Dalmühle
Jörg Hüls
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Sigi Nasner
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Administrator: Cyrus Tahbasian
An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet
Adik Alexanian, Destiny Ani, Heinz Dalmühle,
Thorsten Enning, Jannine Forsthove, Nora
Gantenbrink, Horst Gärtner, Michael Heß,
Jörg Hüls, Sabrina Kipp, Jan Magunski, Sigi
Nasner, Annette Poethke, Carsten Scheiper,
Kathrin Staufenbiel
Fotos
Adik Alexanian, Buio Omega Filmclub, Michael
Heß, Jörg Hüls, Sabrina Kipp, Sigi Nasner,
NDR/Sesameworkshop, Nico Obenhaupt, Mike
Schermann, Kathrin Staufenbiel
Titelfoto
NDR/Sesameworkshop
Layout, Titelgestaltung
Adik Alexanian
Heinz Dalmühle
Gestaltungskonzept
Lisa Schwarz/Christian Büning
Auflage 8000
Inhalt
6 40 Jahre Sesamstraße
Motzende, krümelnde Monster
7 Ernie und Bert im Interview
Weltbekannte Puppenspieler
9 Mann mit der Matte
Günther, der personifizierte Schalk
10 Big Issue
Die Straßenzeitung im Bankgebäude
12 Eine Stimme für die Wohnungslosen
Die Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe stellt sich vor
13 Alex kommt
Zwänge finde ich zum Kotzen
14 Erfolgsmodell Chance e.V.
Hilfe für Knackis und Langzeitarbeitslose
16 Wenn nichts mehr geht
Schluss mit Flatratesaufen
18 Eine Praktikantin für alle Fälle
Hübsch und unverzichtbar
19 Jeder besitzt einen Stern
Geheimnisvoller Gast
20 Du bist der verkleidete Gott
Dilettantischer Pfaffe
22 Cinema Bizarr
Schräges auf Zelluloid
26 Preußen Report
Münster lechtzt nach Aufstieg
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Interview | Text: Nora Gantenbrink | Fotos: NDR/Sesame Workshop
40 Jahre Sesamstraße
Gefährliches Ghetto
Wenn man das Wort „Ghetto“ hört, dann
denken heutzutage viele Menschen vermutlich an New Yorker Stadtteile wie
„Bronx“ oder „Harlem“. Vielleicht denken manche an Eminem, an Hip Hop, an
Trailerparks, an Armut und Hoffnungslosigkeit oder an deutsche, so genannte Brennpunkte wie Berlin Neukölln. Es
könnten einem auch der Rapper Bushido
einfallen oder Sido und sein Song „Mein
Block“. Was sicherlich niemandem in
Verbindung mit dem Wort „Ghetto“ einfallen würde, ist die Sesamstraße. Könnte es aber. Wieso, weshalb, warum?
Darüber berichtet Nora Gantenbrink.
_Am 8. Januar 1973 startete die deutsche
Sesamstraße mit dem Ohrwurm-Titellied
„Wieso, weshalb, warum“ und sorgte für
reichlich Gesprächsstoff. Die Kindersendung spielte in der gleichnamigen Straße
und orientierte sich an einem amerikanischen Format namens „Sesame Street“.
Die Hauptfiguren waren motzende, krümelnde und kreischende Monster sowie
zwei witzig dreinschauende Puppen namens Ernie und Bert, ein travestitisch anmutender gelber Vogel und wahlweise ein
paar Erwachsene. Insgesamt präsentierte sich die Sendung als wilder Mix aus MitSing-Liedern, kurzen Szenen und wirrwitzigen Kuschelmonstern mit GriesgramAnarcho-Allüren. Und während die Kleinsten vergnügt kreischend das irrsinnige
Spektakel vor der Flimmerkiste verfolgten, waren Pädagogen, Journalisten und
Eltern verunsichert. Frei nach dem Motto
„Was Spaß macht, wird verboten“ passierte genau das: Die Sendung wurde für
gefährlich erklärt. Harald Hohenacker,
damals Leiter der Projektgruppe Erziehungswissenschaft beim Bayerischen Rundfunk, erkannte in der Sendung „unerträgliche Inhalte“ sowie einen „Missbrauch
der pädagogischen Mittel in infamster Art
und Weise“. Der Bayerische Rundfunk, der
Süddeutsche Rundfunk, der Südwestfunk
und der Saarländische Rundfunk boykot6
tierten zum Starttermin die Kindersendung mit der Begründung, diese „amerikanische Ghettosendung hätte nichts
mit der Lebenswirklichkeit deutscher
Kinder gemein“. Die Szenen erinnerten
die Intendanten an ein Ghetto-Milieu.
Das Urteil: Viel zu amerikanisch. Deutschland ward in Süd und Nord gespalten.
Auch der Direktor des Österreichischen
Fernsehens lehnte 1973 das bunte KinderTV-Konzept harsch ab. Wenn jemand ihm
mit dem Erfolg der Sendung zu überzeugen versuchte, antwortete er: „Auch
Haschisch ist bei vielen beliebt, der Bekanntheitsgrad ist kein Beweis für Bekömmlichkeit.“ Ende der Diskussion?
irgendwann auch die Schnecke Finchen
sowie das undefinierbare Etwas namens
Herr Bödefeld. Auch Feli Filu, Pferd und
Wolle sind neu in der deutschen Sesamstraße. Mittlerweile wird die Sendung
mit stets kulturell angepasstem Konzept
bereits in über 140 Ländern welteit ausgestrahlt. In der Türkei heißen Ernie und
Bert zum Beispiel „Edi“ und „Budu“. In
Amerika wurde 2007 eine Sonder-DVD
produziert. In der Spezial-Folge klären
Figuren wie Ernie und Bert über den IrakKrieg und die daraus entstandenen Behinderungen vieler Soldaten auf. Die Sendung wurde an Familien von im Irak verwundeten Amerikanern verteilt .
_Nein. Ein halbes Jahr nach dem Start
der Sesamstraße willigten auch die Bayern und das Saarland bei der Ausstrahlung der Sendung ein. Zu groß war der
Erfolg der Sendung, zu gut das Konzept.
Denn gerade der Bildungshintergrund
war den Machern der Kindersendung
von großer Bedeutung. Ur-Intention war
es, amerikanischen, unterprivilegierten
Kindern ein Unterhaltungsprogramm auf
hohem Niveau zu gewähren. Die freche
Puppenschar sollte Fragen beantworten,
aufklären, spielerisch Buchstaben beibringen oder das Zählen. Bildung mischte sich mit Blödsinn, die Puppen wurden
Kinderhelden, Kinder steppten mit Elmo
oder brüllten mit Oskar: „Ich mag Müll!“
Infantile Evergreens, die einen bis heute
begleiten, sind Ernies „Hätt ich dich heut
erwartet, hätt ich Kuchen da!“ oder „MaNa-Ma-Na“. Mittlerweile sind die Kinder
aus den 70ern zumeist selbst schon Eltern.
Die Widerstände gegen die deutsche „Sesamstraße“ sind geschwunden, die Freude an der Sendung blieb ungebrochen.
Die Helden sind Helden geblieben. Aber
auch die Ansprüche sind gestiegen, das
Kinder-Fernsehen hat sich ausdifferenziert. Neue Figuren bevölkerten die farbenfrohe Straße: 1977 kam die pinke Puppe Tiffy hinzu, ein Jahr später Samson,
_Letztes Jahr feierte die amerikanische
Sesamstraße ihren 40. Geburtstag, 2013
ist es auch in Deutschland so weit. Dr.
Jan-Uwe Rogge hat 2002 eine Studie namens „Fantasie, Emotion und Kognition
in der Sesamstraße“ veröffentlicht. Er
kommt zu dem Ergebnis: „Die Sesamstraße ist ein Ort, an dem sich Kinder
wiedererkennen und deshalb aufgehoben
fühlen.“ Das genialste Kinder-Ghetto der
Fernsehgeschichte darf allein aus diesem Grund schon nicht zerstört werden.
Es wäre viel zu gefährlich. #
Interview | Text: Nora Gantenbrink | Fotos: NDR/Sesame Workshop
Ernie und Bert im Interview
Wer nicht fragt, bleibt dumm!
Wer was wissen will, muss fragen. Das
hat keine Fernsehsendung so eindeutig
kommuniziert wie die Sesamstraße.
~-Mitarbeiterin Nora Gantenbrink bekam die Chance zum „Wer-WieWas-Wieso-Weshalb-Warum“-Interview mit den Ernie-und-Bert-Sprechern
Martin Paas (42) und Carsten Haffke (42).
Ein Gespräch mit zwei Menschen, die
zum Puppentanzenlassen nie zu alt geworden sind.
~: Herr Paas, Sie spielen den Sesamstraßen-Ernie, Herr Haffke den Bert.
Im Tagesspiegel habe ich gelesen, dass
Sie schon zusammen mit Herrn Haffke
als „Pille“, dem sprechende Ball, Goleo,
das WM-Fußballmaskottchen, dargestellt
haben. Sind Sie ein eingefleischtes Puppenspieler-Team?
Paas: Wir kennen uns seit 1992 durch die
„Hurra Deutschland“-Produktion. Da waren wir beide schon als Puppenspieler
aktiv.
Haffke: Die Szene ist ja sehr überschaubar, damals suchten wir noch gute Spieler
und fanden so den Martin! Wir haben
dann ziemlich schnell ein Team gebildet
und für diverse Produktionen zusammen gearbeitet.
~: Seit wann sind Sie denn
Puppenspieler?
Haffke: Seit 1989. Oh Gott, ich hatte
20-jähriges Jubiläum und hab es nicht
gewusst! Aber vielleicht ist das auch besser so, sonst gehört man irgendwann zu
den Menschen, die sagen: Ich mach das
schon seit 20 Jahre und sowas ist mir
noch nie untergekommen.
Paas: Bei mir gibt es da gar keinen Anfang. Zunächst habe ich das neben meinem Studium gemacht. Dann wurde mir
der Job immer wichtiger, die Freude am
Puppen spielen immer größer - das war
ein fließender Übergang. Letztendlich
habe ich unglaublich lange studiert und
dann, als ich alle Scheine zusammen
hatte, sehr erfolgreich abgebrochen.
~: Und wie wird man Puppenspieler?
Haffke: Das ist kein typischer Ausbildungsberuf. Es gibt da zwei, drei Ausbildungswege in Deutschland, soweit ich
weiß, die an Theaterschulen angeschlossen sind. Aber eigentlich ist das ‘learning
by doing’, natürlich benötigt man schon
ein bestimmtes Talent für Koordination.
Wir hatten für die Sesamstraßen-Produktionen das Glück, immer wieder an
tollen Workshops teilnehmen zu dürfen.
Unter anderem sind wir unterrichtet worden von Kevin Clash (Elmo) und noch so
ein paar Größen, die bei der Sesamstraße
in New York arbeiten.
~: Haben Sie es je bereut, Puppenspieler zu werden?
Haffke: Nein, nie. Ich glaub, ich kann
da für uns beide sprechen. Ich habe schon
die erste Sendung der Sesamstraße auf
Englisch gesehen und nix verstanden.
Trotzdem haben mich die Figuren so be-
geistert und zwar bis heute noch. Das ist
ein Kindheitstraum, der nun Beruf geworden ist. Manchmal, da sehe ich mich
um am Set, sehe den Kollegen zu und
denke, dass kann doch gar nicht echt
sein. Teilweise bin ich so vertieft im Zuschauen, dass ich meinen Einsatz verpasse. Dann fühl ich mich wieder wie vor
dem Fernseher vor 37 Jahren.
Paas: Ich kann mich da nur anschließen. Ich muss zugeben, ich habe recht
lange sogar geglaubt, dass das gar keine
Puppen sind. Für mich waren das Helden.
Wenn wir mit den Sesamstraßen-Puppen
mal auf einem Außendreh sind, dann
merkt man, welche unglaubliche Anziehungskraft die Figuren besitzen. Dann lugen Kinder aus den Buggys und Mütter
bleiben ganz selbstverständlich staunend
stehen.
~: Ich habe im Internet gelesen,
dass Sie beide auch bei Käpt´n Blaubär
mitspielen?
Paas: Das stimmt. Ich aber weitaus weniger als Carsten. Ein Wikipedia-Eintrag
ist übrigens sehr praktisch, wenn man zu
faul ist, sich selbst eine Homepage zuzulegen. (lacht)
7
~: Nun aber mal was zu Ernie und
Bert: Was ist dran an dem Gerücht, dass
die beiden schwul sind?
Paas: Zu den homosexuellen Neigungen
habe ich Ernie unlängst persönlich befragt. Er hat mir glaubhaft versichert,
dass er keine Ahnung habe, wovon ich
spreche, und mir stattdessen QuietscheEntchens Fortschritte am Schlagzeug vorgeführt.
~: Hmmh, das klingt natürlich
glaubwürdig. Machen Sie eigentlich
manchmal auch Telefonscherze?
Haffke: Jaaa, aber nicht mit der Stimme
von Bert (lacht).
Paas: Nein, eher nicht. Aber Carsten hat
ja zwei sehr süße Kinder und die wollen
schon regelmäßig mal mit den Bewohnern der Sesamstraße kommunizieren.
Irgendwann stößt man da aber an seine
Grenzen, wenn man zum zehnten Mal
gefragt wird: Kann ich jetzt noch mal den
Samson? Und jetzt nochmal Tiffi? (lacht)
~: Ernie hat ja eine sehr spezielle
Stimme und Lache, Herr Paas, sind Sie
manchmal heiser?
Paas: Nein, ehrlich gesagt nicht. Neulich sind wir allerdings beide Mal angeschlagen auf einen Dreh gefahren und
meine Stimme klang dann nachher katastrophal, dass ich neulich zehn Folgen
mich selbst nachsynchronisieren musste, was natürlich sehr ärgerlich war.
Haffke: Noch schlimmer als das Nachsynchronisieren ist übrigens der Spott
der Kollegen! (lacht)
~: Ich habe gelesen, dass man in
Amerika versucht, die Figuren etwas moderner zu machen. Zum Beispiel denkt
man darüber nach Ernie und Bert ande8
re Pullover anzuziehen. Wie finden Sie
das überhaupt?
Paas: Frau Gantenbrink, Sie müssen jetzt
ganz stark sein: Die Pullover sind festgenäht! (lacht)
Haffke: Nein, im Ernst: Ich finde, dass
das so ein tolles Kostüm ist, das sollte
man nicht verändern. Das ist so, als wenn
man Charly Chaplin plötzlich ein T-Shirt
anzieht.
Paas: Außerdem haben Ernie und Bert
doch manchmal andere Sachen an:
Schlafanzug, Smoking, Regenmäntel…
~: Okay, ich sag besser nichts mehr
gegen Ernie und Berts Garderobe.
Haffke: Was natürlich schon stimmt, ist,
dass die deutsche Sesamstraße versucht,
auch nach 37 Jahren modern und aktuell
zu bleiben. Und Sie haben insofern Recht,
als dass man in Amerika im Moment wirklich versucht -soweit ich weiss- über Verbesserungen nachzudenken, was natürlich sehr schwierig ist. Denn auf der einen Seite sollte man Bewährtes bewahren, auf der anderen Seite ist die heutige
Wirklichkeit der Vorschulkinder natürlich
eine andere als die in den 70ern.
~: Apropos 70er: Als die Sesamstraße 1973 in Deutschland an den Start
ging, waren sich Pädagogen über das
Konzept uneinig. Der Bayrische Rundfunk, der Bayerische Rundfunk und der
Süddeutsche Rundfunk sowie der Südwestfunk boykottierten die Kindersendung. Helmut Oeller, der Fernsehdirektor
des Bayrischen Rundfunks, begründete
seine Ablehnung mit den Worten, die
Szenen aus dem Slum-Milieu kämen
ihm „zu amerikanisch“ vor, weil es „in
Deutschland keine unterprivilegierten
Kinder gebe.
Paas: Ja, ich habe mir gerade auf Ebay
den Spiegel aus der Zeit bestellt, da hatten Ernie und Bert übrigens eine Titelseite, das ist ganz süß. Was damals passierte, ist wirklich sehr interessant gewesen, denn natürlich war das Konzept
der Sesamstraße zunächst für unterprivilegierte Kinder gedacht, auch die Sesamstraße ist ja nicht das feinste Viertel.
Damit hatten manche Sender offensichtlich ein Problem. Das hat sich zum Glück
mittlerweile gewandelt.
~: Ja, ein halbes Jahr nach dem
Start der Sesamstraße in der Bundesrepublik lenkte auch der Bayerische Rundfunk und das Saarland ein. Die Sesamstraße wurde vom umstrittenen Phänomen zum weltweiten Erfolg.
Haffke: Mittlerweile sind es 140 Länder,
in denen die Sesamstraße ausgestrahlt
wird.
Paas: Und es gibt wirklich tolle Anpassungen. Es gibt Puppen mit Kopftüchern
und in Afrika klärt seit 2002 eine HIVpositive Puppe namens Kami die Kinder
über die Gefahren von Aids auf. Auch
daran wird deutlich, dass die Sesamstraße keineswegs veraltet ist.
~: Vielen Dank für das Gespräch! #
Verkäuferportrait | Text: Michael Heß | Foto: Sigi Nasner
Der Mann mit der Matte
Verkäufer Günter vorgestellt
Der Mann mit der Matte - heißt es oft
über Verkäufer Günter. Oder: der Verkäufer mit dem Schalk im Nacken. Unbestritten gehört Günter Reintke zu den
profiliertesten Verkäufern mit echtem
Alleinstellungsmerkmal. Ein Portrait des
Mannes mit der Matte von ~-Autor Michael Heß.
_Ab wann ist man Münsteraner? An Günter dürften sich die Geister scheiden,
denn seit über 50 Jahren wohnt der fast
60-jährige nun an der Aa. Geboren im
niederbayerischen Straubing, zog er mit
sechs Jahren samt Eltern hierher. Gut,
zum Paohlbürger reicht das lange nicht,
aber die Masse der Zugewanderten, die
schlägt er längst aus dem Feld.
_Günters Markenzeichen sind seine langen Haare. Günter ist hier Überzeugungstäter. „Zu meiner Matte stehe ich, die
habe ich seit meinem 18. Lebensjahr“,
zeigt er Lebensart und, wer sich die Matte
näher betrachtet, sieht, hier pflegt einer
seine Haarpracht mit Inbrunst. Vom Umstand abgesehen, dass die meisten Männer in Günters Alter bestenfalls noch lückenhaften Bewuchs vorzeigen können.
_Aber wie wird man ~-Verkäufer?
Indem das Leben folgende Geschichte
schreibt: Nach einer Lehre als Einzelhandelskaufmann schließen sich Jahren
als Gehilfe eines Vermessers sowie als
Auslieferungsfahrer für diverse Firmen
an. Zumindest Münsters Gummibärchenliebhaber der 70er Jahre stehen in Günters Schuld, sorgte er damals doch für
die rasche Verteilung des zeitlos beliebten
Naschwerks in die hiesigen Geschäfte.
Auf Gummibärchen steht Günter deshalb aber noch lange nicht. So geht das
etliche Jahre, bis er 1981 arbeitslos wird
und das auch bleibt. Wir überspringen
die folgenden Jahre und finden Günter
wieder als Gast des Obdachlosentreffs
an der Clemenskirche. Nicht, dass er
ohne Dach überm Kopf gewesen wäre.
„Obdachlos war ich nie“, stellt Günter
klar. Das leckere Essen zieht ihn an und
vielleicht die Kontakte zu anderen. Er
beschließt, seine viele Zeit sinnvoller zu
nutzen und hilft vier Jahre im Treff mit.
Auf ehrenamtlicher Basis für Gotteslohn
sorgt Günter dafür, dass die Dinge zwischen 7 Uhr morgens und 14 Uhr ihren
geregelten Gang gehen. Bis ihn dann
2005 ~-Mutti Sabrina anspricht
und er beginnt, als Zuverdienst Hefte zu
verkaufen. Seitdem betreibt Günter zumeist vor Karstadt, manchmal auch in
der Salzstraße seine dritte Karriere im
Dienst der ~.
Freundschaften findet man auch.“ In
der warmen Jahreszeit ist er gerne mit
seinem Fahrrad unterwegs, auch auf
längeren Touren durch die Baumberge.
Er hat sich eingerichtet im Leben, sein
Credo: „Ich brauche keinen Mercedes!“
klingt glaubhaft. Zwar stammt Günter
aus Bayern, aber mit Brez'n und Hax'n
braucht man ihm nicht zu kommen.
„Roullade, das ist es!“, benennt er seine
Lieblingsspeise. Dazu ein gepflegtes Bier wieviel braucht es denn zum Glücklichsein? Der Schalk in Günters Wesen macht
ihm manches leichter.
_Nur eines bereitet ihm wirklich Kummer.
Seit 29 Jahren wohnt Günter in einer
kleinen Wohnung in der Dorotheenstraße.
„Ohne richtiges Fenster, nur mit Glasbausteinen“ umreißt er seinen Kummer.
Gerne würde er in der Innenstadt „etwas
Vergleichbares aber mit richtigem Fenster“ beziehen. An pünktlichen Mietzahlungen soll es nicht scheitern, denn die
leistet er seit 29 Jahren.
_Als wäre das nicht genug, zeigte die
jüngste Skulpturenschau 2007, wie vielseitig Günter ist. Im Rahmen der Ausstellung lief im damaligen Metropolis
ein Endlosfilm mit Szenen rund um und
im Bahnhof. Das typische Flair solcher
Orte eben. Mitten im Film ein Blick auf
einen der Bahnsteige, zwei Polizisten
wachen über die Einhaltung der Gesetze.
Ein näherer Blick zeigt: In den Uniformen stecken Detlev und Günter von
~. Sie machen ihre Sache gut mit
strengem Blick und souveräner Geste und
wäre es ein Prüfungsgang gewesen,
Günter wäre heute wohl Polizist und die
~-Vermittlungs-Erfolgsstory um
eine Geschichte länger. Es sollte nicht
sein und so bleibt Günter uns erhalten.
_Ein hartnäckiges Gerücht ist jedoch noch
zu korrigieren, dass Günter nämlich Millionär sei und nur in die Rolle schlüpfe, um seinen Spaß zu haben. Zuzutrauen wäre diesem Schalk selbst das, denn
schmunzelnd gesteht freimütig: „So einen 500-Euro-Schein bügele ich doch
immer wieder gerne.“ #
_“Ich habe hier eine sinnvolle Beschäftigung gefunden“, sagt er über seine
heutige Tätigkeit und fügt hinzu: „Es
sind gute Leute bei ~ und
9
Bericht | Text: Kathrin Staufenbiel | Foto: Jörg Hüls und Kathrin Stauffenbiel
Big Issue
Ein Einblick in Londons Straßenzeitung
Die Idee, eine Straßenzeitung zu Gunsten von Obdachlosen ins Leben zu rufen, stammt nicht aus England, sondern
aus New York. Doch bereits 1991 wurde
diese Idee vom Unternehmer Gordon
Roddick - Mitbegründer der Firma Body
Shop - nach England importiert: Der
Startschuss für die Erfolgsgeschichte der
Londoner Zeitung 'Big Issue'. Heute wird
die Straßenzeitung in ganz England verkauft und unterstützt derzeit etwa 3.000
Obdachlose. 'Big Issue' wurde zum Vorbild für viele Obdachlosenzeitungen in
Europa. Für uns Grund genug einmal
nachzuforschen, was genau hinter dem
Phänomen 'Big Issue' steckt. Unsere Autorin Kathrin Staufenbiel hat sich in Englands Hauptstadt auf die Suche nach
Antworten gemacht.
_Ihre Blicke hasten durch den Raum.
Schließlich wird Lara McCullagh fündig
und sie bietet mir einen Stuhl an. Die
Britin entschuldigt sich mehrfach dafür,
dass ich so lange auf einen Interviewtermin warten musste. In letzter Zeit
wäre immer so viel los, erklärt sie und
schaut mich erwartungsvoll und gleichzeitig etwas unnahbar an. Lara McCullagh
arbeitet nun seit acht Jahren für die Londoner Straßenzeitung 'Big Issue'. Anfangs
war sie für die Werbung zuständig, jetzt
leitet sie die komplette Öffentlichkeitsarbeit. McCullagh erscheint noch sehr
jung, fast jugendlich, doch ihr selbstsicheres Auftreten lässt auf viel Erfahrung
schließen. Die Ungeduld in ihrer Stimme
verfliegt erst bei meiner ersten Frage.
Ausführlich erklärt sie mir, aus welchen
Gründen sie für 'Big Issue' arbeitet: „Es
ist die Arbeit mit so vielen unterschiedlichen Menschen, die mich wirklich fasziniert“, meint sie nachdenklich. „Ich
spreche mit Journalisten, mit Firmen und
Organisationen, die in unserer Zeitung
für ihre Zwecke werben wollen und ich
bin im ständigen Austausch mit einigen
Obdachlosen.“
_In London wird 'Big Issue' derzeit von
etwa 500 Obdachlosen verkauft. Die
wöchentlich erscheinende Zeitung bietet Unterhaltung und sozialkritische
Themen an und erreicht in ganz England
10
etwa 700.000 Leser und Leserinnen. Die
Obdachlosen kaufen die Zeitung für 75p
pro Exemplar ein und verkaufen diese
für 1,50£. Somit verdienen sie 75p pro
Exemplar. Die Verkäufer können Zeitungen
jedoch nicht mehr zurückgeben. Daher
muss sowohl der Einkauf der Zeitungen
genau geplant als auch der Verkauf so
gestaltet werden, dass am Ende der Woche
kein Exemplar übrig bleibt. Jedem Verkäufer wird eine festgelegte Verkaufsstelle, ein so genannter „Pitch“, zugewiesen. Aus Gründen der Fairness rotiert
diese Zuordnung für die meisten Verkaufsstellen jedoch wöchentlich.
_Wenn man die 'Big Issue' verkaufen
möchte, muss man erst nachweisen, dass
man in sehr schlechten Wohnverhältnissen lebt. Daraufhin durchlaufen die zukünftigen Verkäufer ein kurzes Training
und unterzeichnen schließlich einen Vertrag, einen 'Code of Conduct'. Dieser Vertrag bezieht sich auf das Verhalten beim
Verkaufen der Zeitungen. „Es geht ja
schließlich auch um unseren Namen“, erklärt McCullagh. „Unsere Verkäufer sind
das Herz von 'Big Issue', sie repräsentieren uns täglich auf den Straßen. Das
muss jedem Verkäufer ganz klar bewusst
gemacht werden.“ Als Willkommensgeschenk erhält jeder Verkäufer 10 Exemplare der Zeitung kostenlos.
_Seit 1995 gehört auch eine Wohlfahrtsorganisation zu 'Big Issue', die den Obdachlosen zusätzlich zum Verkauf der
Zeitung Hilfe zur Selbsthilfe anbietet. Der
Gewinn, der durch den Verkauf oder
durch die Werbung in der Zeitung entsteht, wird an diese angegliederte Organisation weiter geleitet. „Dabei duplizieren wir jedoch keine bereits bestehende soziale Einrichtung. Vielmehr geht es
darum, Kontakte zwischen diesen Einrichtungen und unseren Verkäufern herzustellen“, so McCullagh. Bei diesen
Hilfsangeboten werden Fragen rund um
Wohnraum, Finanzen oder Gesundheit
besprochen. Den Obdachlosen soll somit
Schritt für Schritt der Weg von der Straße
gelingen. Wie viele Obdachlose dies durch
'Big Issue' tatsächlich erreicht haben,
kann McCullagh nur schwer quantifizie-
ren: „Da wir nicht nach Gründen fragen,
wenn ein Verkäufer nicht mehr für uns
arbeitet, erfahren wir oft gar nicht, wie
es ihnen weiterhin ergangen ist. Doch
natürlich sind es die positiven Geschichten vieler Menschen, die zusammen genommen die Erfolgsgeschichte von 'Big Issue' ausmachen. Das treibt mich jeden
Tag an!“ McCullagh strahlt und vergisst
vielleicht für einen Moment, dass sie für
mein Interview nur eine halbe Stunde
eingeplant hat.
_Die Geschichte von Billie wird beispielsweise in der neusten Ausgabe der Zeitung
beschrieben. Billie wurde mit 14 Jahren
von seiner Mutter vor die Tür gesetzt und
lebte seitdem auf der Straße, wo er auch
in Kontakt mit Drogen kam. In seinen
Jahren auf der Straße war Billie in insgesamt 96 Strafanzeigen verwickelt. Als
er anfing, die 'Big Issue' zu verkaufen,
war dies für ihn eine Art und Weise, ein
wenig Geld zu verdienen, ohne gleich
wieder der Polizei negativ aufzufallen.
Doch 'Big Issue' konnte ihn schließlich
davon überzeugen, in eine Herberge zu
ziehen, und auch dabei unterstützen,
clean zu werden. Heute verkauft Billie
mit großer Freude die 'Big Issue' und ist
dabei besonders stolz auf seine große
Zahl an Stammkunden.
_'Big Issue' ist auf diese Kundschaft, auf
die Hilfe von kirchlichen Organisationen
und auf Spenden von Einzelpersonen angewiesen. Von lokalpolitischer Seite erhält die Zeitung nämlich nur wenig Unterstützung. „Natürlich ist es für eine
Zeitung nie gut von politischer Seite finanziell abhängig zu sein, doch etwas
mehr Unterstützung würde ich mir schon
wünschen“, meint McCullagh. „Um möglichst viel Geld an unsere Wohlfahrtsorganisation überführen zu können, überlegen wir uns jedoch ständig neue Spendenaktionen.“ Eine etwas ausgefallenere Spendenaktion findet nächstes Jahr
statt: 'Big Issue' organisiert eine Fahrradtour von London nach Berlin. Die Ankunft
dieser Fahrradtour soll übrigens im Olympiastadion gebührend gefeiert werden.
Die Uhr tickt. Vielleicht auch besonders,
wenn es um einen guten Zweck geht. Ab-
schließend möchte ich von Lara McCullagh
noch wissen, was sie sich für die Zukunft
von 'Big Issue' erhofft. „Ich wünsche mir
noch ein wenig mehr tatkräftige Unterstützung aus der Bevölkerung. Bei 'Big
Issue' arbeiten in ganz England etwa 120
festangestellte Mitarbeiter. Es wäre schön,
wenn wir noch einige ehrenamtliche Mitarbeiter für ein paar Stunden pro Woche
hätten. Doch das ist wohl in erster Linie
eine Frage der effektiven Öffentlichkeitsarbeit“, meint Misses McCullagh schmunzelnd.
_Nach einer guten halben Stunde verlasse ich das Gebäude, an dessen Hauswand in großen Lettern 'Big Issue' geschrieben steht. Nachdenklich steige ich
in einen roten Doppeldeckerbus und lasse
das Gespräch mit Lara McCullagh Revue
passieren. Beim Piccadilly Circus überzeugt mich das Großstadtflair doch noch
dazu auszusteigen. Ich lasse mich von
der internationalen Menschenmasse treiben. In der Nähe des St. James Parks treffe
ich völlig unerwartet auf einen Verkäufer
von 'Big Issue'. Ich erwerbe bei ihm eine
Ausgabe und setzte mich dann eine Weile
zu ihm. Rod, 32, arbeitet seit März dieses
Jahres für 'Big Issue'. Seine Hundedame
Minie unterstützt ihn dabei. „'Big Issue'
ist schon eine super Sache. Vielen Menschen hat es wirklich geholfen“, sagt Rod.
„Allerdings dauert es auch sehr lange, bis
man wirklich Fortschritte macht und man
ein bisschen mehr Geld in der Tasche
hat.“ Das Hauptproblem sieht Rod im
Preis der Zeitung, der zu hoch sei und
seiner Meinung nach viele potentielle
Käufer abschreckt. Schließlich frage ich
auch ihn danach, was er sich für 'Big Issue' wünscht. Für einen Moment ist Stille. Rod schaut gedankenverloren den
Schuhpaaren zu, die vor uns durch den
Abend laufen. Dann erleuchtet sich sein
Gesicht zusehends und er entgegnet leise, aber bestimmt: „Ich würde mir wünschen, dass Obdachlose auch an mehreren Stellen bei der Herstellung der Zeitung tätig sein können und nicht nur
beim Verkauf. In jeder Zeitung ist zwar
eine Seite von einem Obdachlosen geschrieben. Das ist gut, könnte aber viel
mehr sein.“ #
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Bericht | Text: Horst Gärtner
Eine Stimme für die Wohnungslosen
Die Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe Münster
Wohnungslosigkeit kennt viele Gesichter, komplex sind meist die individuellen Problemlagen der Betroffenen, besonders für alleinstehende Wohnungslose ist oft das harte Ende eines langen
Elendskreislaufes erreicht. Deshalb äußert sich auch die Betreuung und Hilfe
für Wohnungslose mannigfaltig, eine
stattliche Anzahl von Institutionen und
Trägern bietet Beratung und Beistand
an. Damit sich diese Angebote zu einem
ineinander greifenden sozialen Netzwerk verknüpfen, bedarf es einer guten
Koordination der Bemühungen. Die
Grundlage für eine fruchtbare Zusammenarbeit im Bereich der Wohnungslosenhilfe wird in Münster durch die
Arbeit der Arbeitsgemeinschaft gelegt.
~ sprach mit Bernd Mühlbrecht,
seit über 15 Jahren Sprecher dieser Arbeitsgemeinschaft und Leiter des Hauses der Wohnungslosenhilfe (HdW).
_Die Initiative zur Gründung dieser Arbeitsgemeinschaft ging aus der Sozialgesetzgebung hervor. Dort schreibt der
Gesetzgeber fest, dass die staatlichen
Träger der Sozialhilfe mit Vereinigungen
und Stellen, die sich die gleichen Aufgaben zum Ziel gesetzt haben, wirksam zusammenarbeiten sollen. Um diesen nackten Buchstaben des Gesetzes hierzulande Atem einzuhauchen, wurde die
Arbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen,
um das Gespräch der verschiedenen Akteure untereinander zu fördern, die Hilfen abzustimmen, Bedarfslücken zu erkennen und gegebenfalls soziale und
gesundheitliche Hilfen bei den zuständigen Stellen anzuregen. Doch die Arbeitsgemeinschaft in Münster ist heute
mehr als die bloße Umsetzung dieses gesetzlichen Auftrages, denn eine ganze
Reihe von Menschen ohne Obdach bezieht gar keine Sozialhilfe, muss aber in
die Planungen und die Überlegungen
zur Verbesserung der Situation einbezogen werden.
_Die Arbeitsgemeinschaft bietet eine
Plattform für Gespräche und Gedankenaustausch zur Entwicklung von Initiativen und neuen Ideen. „In den letzten
Jahren hat es eine ganze Reihe von Re12
formen gegeben, die diesen Sozialbereich unmittelbar betreffen oder ihn auf
jeden Fall berühren. Insofern erfüllt das
monatliche Treffen der Arbeitsgemeinschaft eine ganz wichtige Informationsund Abstimmungsaufgabe. Wir haben
deshalb auch immer wieder Gäste der
jeweiligen Fachdisziplinen bei uns: Vertreter der Krankenkassen, des Arbeitsamtes, der ARGE, des Sozialamtes und
vieler anderer Stellen. Hier ist es Aufgabe der Arbeitsgemeinschaft, das Anliegen Wohnungsloser rechtzeitig zur Geltung zu bringen, immer dann, wenn es
Entwicklungen und Planungen gibt, bei
denen die Interessen und Belange wohnungsloser Menschen berührt werden“,
erklärt Bernd Mühlbrecht. So wirkt die
Arbeitsgemeinschaft 'Wohnungslosenhilfe Münster' im Beirat von ARGE und Sozialamt, im Arbeitskreis „Ordnungspartnerschaft“ (Hauptbahnhof/Drogen) und
im Arbeitskreis „Psychiatrie“ mit. „Auf
diese Weise können wir auf Entwicklungen, die die Situation wohnungsloser Menschen betreffen, möglichst präventiv und gestalterisch einwirken“, ergänzt der Sprecher des Gremiums.
_Auch die Öffentlichkeit- und Lobbyarbeit nimmt einen großen Raum im Aufgabenspektrum des Arbeitskreises ein.
Bernd Mühlbrecht erläutert dazu: „Hier
nehmen wir auch Möglichkeiten wahr,
uns an überregionalen Aktivitäten wie
der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zu beteiligen. Hand in
Hand mit anderen nehmen wir so Einfluss auf aktuelle Schwerpunktthemen,
die für die Gestaltung des Zusammenlebens im öffentlichen Raum von Bedeutung sind. Wir waren zusammen mit anderen auch beteiligt, als die Landesregierung das Programm 'Wohnungslosigkeit vermeiden - Wohnraum sichern'
abschaffen wollte und dieser Plan durch
die gebündelten Aktivitäten vieler Kräfte zu Fall gebracht werden konnte.“ Gerade in diesen Wochen mit den für Wohnungslose bedrohlichen Minustemperaturen wird deutlich, wie wichtig es ist,
die Öffentlichkeit auf besonders problematische Situationen immer wieder aufmerksam zu machen, Gespräche mit der
Politik und mit anderen Verantwortlichen anzuregen, um die brennende Aktualität des Themas „parzielle Wohnungsnot und Wohnungsversorgung“
nachhaltig ins öffentliche Bewusstsein
zu rufen.
_Auf die Frage, welche Gruppen, Institutionen und Träger im Arbeitskreis zusammenarbeiten, entgegnet B. Mühlbrecht: „Eine Vielzahl von Institutionen
unterschiedlichster Provenienz beteiligt
sich an den Aktivitäten unseres Gremiums. Die Arbeitsgemeinschaft bietet ein
willkommenes Forum, um die Profile
der verschiedenen Hilfsangebote einander vorzustellen, so dass in der praktischen Zusammenarbeit alle davon profitieren können. Es engagieren sich bei
uns Einrichtungen wie die Bischof-Hermann-Stiftung mit dem Kettler- und
dem Christopherushaus, der Sozialdienst
katholischer Frauen, die Diakonie, die
'Pension Plus' gGmbH, der 'Chance' e.V.,
der 'Verein integrativer Projekte' (VIP),
dessen Augenmerk der Straffälligenhilfe
gilt, der Verband sozialtherapeutischer
Einrichtungen (VSE), der Treffpunkt Loerstraße/Misericordia, die Bahnhofsmission, das Selbsthilfeprojekt Reinhold
Hach/SKM, der Ordensarbeitskreis, die
Bewährungshilfe Münster und nicht zuletzt die Stadt Münster mit der Fachstelle
für Wohnungslosenhilfe, die den wichtigen Brückenschlag zum 'Amt' und zu
diversen Fachämtern der Stadtverwaltung sicher stellt.“
_Die Erfolge dieser Arbeitsgemeinschaft
können sich wirklich sehen lassen, meint
~. Weiter so! #
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Bericht | Text und Foto: Sabrina Kipp
Alex kommt
Nicht normkonform!
Eigentlich ist die Wende Schuld am Lebensweg von ~-Verkäufer Alex.
Geboren 1980 in Gera, aufgewachsen in
Dessau, ist seine kleine Welt in Ordnung.
Zwar hat sich der Vater aus dem Staub
gemacht, als Alex gerade vier Jahre alt
war, aber das Leben mit Mutter und
Schwester lässt nichts zu wünschen übrig. Die Mutter, eine gelernte Krankenschwester, hat Arbeit in einer Magnetbandfabrik. Das Auskommen ist gesichert. Dann kommt die Wende. Ein einschneidendes Erlebnis im Leben des damals Neunjährigen. Sabrina Kipp hat er
erzählt, wie die Wiedervereinigung sein
Leben verändert hat.
_“Nachdem die Mauer gefallen war, wurde meine Mutter wie fast alle anderen in
unserer Gegend arbeitslos“, erinnert sich
Alex, der mit vollem Namen Alexander
heißt. Nach langer Suche ergibt sich ein
Arbeitsangebot, allerdings weit weg von
der lieb gewonnenen Heimatstadt. Die
Mutter zieht nach Celle, um ein Jobangebot als Krankenschwester anzunehmen. Da Alex mit inzwischen 12 Jahren
noch schulpflichtig ist, lässt sie ihn allein
in der Wohnung zurück. „Natürlich ging
das nicht gut. Ich habe die Situation natürlich gnadenlos ausgenutzt und wir haben nur Blödsinn gemacht. Welcher 12Jährige hat schon 'dauersturmfrei'?“,
erzählt der junge Mann mit dem bunten
Haarschopf. Nach vier Monaten war dann
Schluss. Die Mutter holt den Jungen zu
sich in die fremde Stadt. Hier fühlt Alex
sich fremd, hat keine Freunde, findet nur
schwer Anschluss. „Ich wollte da nicht
bleiben. Immer wieder bin ich abgehauen, zurück nach Dessau“, sagt Alex. Zuweilen war er drei Monate lang unterwegs. Auf der Straße, bei Freunden, irgendwie schlägt er sich durch. Weil er die
Schule nicht besucht, schaltet sich das
Jugendamt ein. Es folgt ein Hilfeplangespräch und er wird vor die Wahl gestellt: Entweder bleibt er in Celle bei der
Mutter oder in Dessau im Kinderheim. Da
die Mutter inzwischen ein Alkoholproblem hat, zieht Alex das Heim vor. Doch
auch hier gibt es Probleme. Alex ist nicht
„normkonform“, schwimmt immer gegen
den Strom. Schwänzt die Schule, färbt
sich die Haare bunt. Mit 14 wird er in ein
Heim nach Kropstett verlegt. „Das war
am Arsch der Welt. Ein ganz kleines Kaff,
jenseits von Gut und Böse. Da konnteste
gar keine Scheiße bauen“, grinst er.
Tatsächlich schafft er es in der Einöde
seinen Realschulabschluss erfolgreich
zu bestehen. Inzwischen wohnt er in
einer eigenen kleinen Wohnung, wird
vom Heim aber weiterhin betreut. Seine
Mutter ist zwischenzeitlich nach München umgezogen. Alex verbringt regelmäßig seine Ferien bei ihr und nach der
Schule zieht er ebenfalls in den Bayrischen Freistaat. „Gemacht hab ich da
eigentlich nix, nur rumgegammelt“, gesteht er.
_Dann wird seine Mutter schwer krank.
Krebs heißt die niederschmetternde Diagnose. Im Frühling 2000 stirbt sie mit nur
45 Jahren. Für Alex bricht eine Welt zusammen. Jeder Halt scheint verloren. Er
beginnt zu trinken, probiert sich in Drogen aus, macht Schulden. „Irgendwann
saß ich so tief in der Scheiße, dass ich
mich nirgendwo mehr sehen lassen konnte“, erinnert er sich. Auch die Wohnung wird ihm gekündigt. Als er in Kontakt mit einer Drückerkolonne kommt,
schließt er sich dort an und landet in Haltern. Doch das Leben hat er sich dort
auch anders vorgestellt. Es gibt keine
Freizeit, keine Privatsphäre. Kurzerhand
packt Alex seine sieben Sachen und verschwindet. Jetzt ist er das erste Mal richtig auf der Straße, pennt mal hier mal
da, macht Platte. Kreuz und quer durch
das Ruhrgebiet führt sein Weg, bis nach
Hamm. Hier findet er über einen alten
Freund endlich wieder eine eigene Wohnung in der Beukenbergstraße. Hier wohnen viele gleichgesinnte Punks, Alex findet Anschluss. Irgendwann ist er in Münster und lernt ein Mädchen kennen. Weil
diese wohnungslos ist und nicht aus
Münster weg will, geht Alex aus Liebe
und Beschützerinstinkt zurück auf die
Straße. Die Beziehung hält 18Monate,
danach steht er wieder allein vor dem
nichts. Vor einiger Zeit kam Alex dann
zur ~. Durch den Verkauf der Zeitung und den Kontakten, die dadurch
zustande kommen, findet der heute 29Jährige wieder ein wenig Halt und Struktur in seinem Leben. „~-Verkaufen macht mir Spaß. Vor allem, weil ich
verkaufen kann, wann ich will. Zwänge
finde ich zum Kotzen!“, sagt der Punk
und fügt hinzu: „Jetzt fehlt mir nur noch
ein eigenes Zimmer!“ #
Wer Alex bei der Zimmersuche helfen
kann, meldet sich unter 0251/4909118
Diese Seite wurde gesponsert vom Zoodirektor Jörg Adler
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Bericht | Text und Fotos: Sigi Nasner
Erfolgsmodell Chance e.V.
Neuer Standort: Friedrich-Ebert-Straße
Viele Menschen werden den Chance e.V.
bereits kennen, der sich unter anderem um aus der Haft entlassene Menschen und deren Angehörige kümmert
und zu diesem Zweck eine Entrümpelungsfirma mit angeschlossenem Möbel-Trödel-Projekt betreibt. Weil das
Mietverhältnis des Vereins am Bohlweg
beendet wurde, fand er ein neues, zentral liegendes Domizil in der FriedrichEbert-Straße 15. Sigi Nasner sprach am
neuen Standort mit Rainer Wick, dem
hauptamtlichen Geschäftsführer des
Vereins.
_Für Menschen, die aus der Haft entlassen werden, ist es oft sehr problematisch, wenn sie mit dem, was auf sie zukommt - den ganzen Amtsgängen und
der Job- und Arbeitssuche -, allein gelassen werden. Nicht nur, dass sie schnell
mit der Situation überfordert sein können, sondern sie sind auch oft willkürlichen Angriffen durch Menschen ausgesetzt, die kein Verständnis für sie aufbringen können oder wollen. Durch die
dadurch ausgelöste Frustration ist bei
den Betroffenen die Gefahr eines Rückfalls in alte Verhaltensmuster sehr groß
und damit eine erneute Inhaftierung fast
vorprogrammiert. Um einer solch ungünstigen Entwicklung entgegenzuwirken,
wurde 1987 der Verein Chance e. V. gegründet. „Egal, ob es sich dabei nun um
Haftentlassene, Nochhäftlinge, Leute, die
von Haft bedroht sind oder auch die Angehörigen solcher Menschen handelt, der
Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht,
all diesen Menschen zu helfen“, erklärt
Rainer Wick, der Geschäftsführer des Vereins.
_Ein erheblicher Teil der beratenden Tätigkeiten besteht in einer Art Übergangsmanagement für die Häftlinge beim Gang
vom Knast in die Freiheit. Das bedeutet,
dass die Gefangenen im Knast von Mitabeitern des Vereins besucht und durch
Gespräche auf die Entlassung vorbereitet werden. In diesen Gesprächen wird
überlegt, was die Entlassenen nach ihrer
Entlassung als erstes benötigen, was für
Probleme auf sie zukommen könnten
und wo der Verein die Betroffenen bei
14
der Bewältigung dieser Problematik unterstützen kann. „Wenn die Leute rauskommen, haben sie keine Wohnung.
Außerdem haben sie kein Geld“, meint
Rainer Wick. „Wir helfen dann bei den
Fragen: Wo kriegst du dein Geld her und
wo könntest du wohnen? Als wir im Jahr
2007 unser 20-jähriges Bestehen feierten, trat die Leiterin der JVA Münster als
Festrednerin auf und äußerte sich sehr
positiv über die Zusammenarbeit mit
Chance e.V. Schließlich kann nur ein derart gutes Verhältnis dafür sorgen, dass
man den Leuten, um es die letztendlich
geht, auch wirklich entsprechend helfen
kann.“
_Nachdem die Beratungsstellen eingerichtet waren, wurden zusätzlich die Entrümplungs- und Verkaufsfirmen Möbelrampe und Möbeltrödel gegründet. Dort
hatten die betroffenen Ex-Häftlinge
auch eine reelle Chance, sich in so genannten Arbeitsgelegenheiten (früher
ABM) wieder an das Berufsleben außerhalb der Gefängnismauern zu gewöhnen. „Grundsätzlich muss man sagen,
dass diese Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarkts den Menschen sehr helfen,
wieder Fuß zu fassen, und sie vorbereiten für den ersten Arbeitsmarkt. Wir haben heute eine Vermittlungsquote, die
bei ungefähr 30 bis 40% liegt. Ich bin
von solchen Maßnahmen überzeugt“,
sagt Rainer Wick.
_Die negative Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt brachte es mit sich,
dass auch verstärkt Nichthäftlinge in die
Beschäftigungsprojekte des Vereins integriert wurden. „Wir halten es für sehr
wichtig, uns auch um die Langzeitarbeitslosen zu kümmern“, so Wick. „Bei
uns werden diese in guter Zusammenarbeit mit der ARGE mit den Exhäftlingen
gemeinsam ebenso arbeitstechnisch vorbereitet, sozial betreut und unterstützt.
Und so haben auch sie wieder gute Aussichten, einen festen Job auf dem ersten
Arbeitsmarkt zu finden.“ Sind die ersten
Hürden genommen, ist vielleicht schon
eine Arbeit gefunden und ein wenig Normalität eingekehrt, kann ein Schritt weitergegangen werden. Die Betroffenen
können bei Bedarf durch die vereinseigene Schuldnerberatung bei der Bewältigung eventueller Schulden, die sich
oft über Jahre angehäuft haben und im
Gefängnis nur „auf Eis gelegt“ waren,
unterstützt werden.
_Neben der genannten Sozial- und der
Schuldnerberatung hat der Verein auch
noch eine spezielle berufliche Beratung,
die so genannte MABiS.NeT (Marktorientierte Ausbildungs-und Beschäftigungsintegration für Strafentlassene) im Angebot. Dort wird versucht, ehemalige
Häftlinge innerhalb eines halben Jahres
auf dem ersten Arbeitsmarkt, aber zumindest erst einmal überhaupt in Arbeit
zu vermitteln. „Entweder bekommen
wir aus dem Gefängnis die Information,
dass jemand entlassen wird oder entlassen worden ist, oder wir gehen in
die Gefängnisse“, meint Wick. „Hier in
der JVA Münster machen wir auch Gruppenveranstaltungen. Wir gehen in die
Knäste, befragen die Insassen. Und jene,
die Interesse bekunden, vermerken wir
und beginnen dann mit unseren Vermittlungsbemühungen.“ Für diese Vermittlungstätigkeiten arbeitet Chance e.V. mit
etlichen Zeitarbeitsunternehmen Hand
in Hand, durch die die Betroffenen auf
dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Es gibt aber auch etliche
Kontakte zum zweiten Arbeitsmarkt. Da
wird geschaut, ob das, was die Unternehmen suchen, zu dem passt, was ver-
mittelt werden kann. „Wenn die Arbeitssuchenden es wollen, begleiten unsere
Berater sie natürlich auch bei den Bewerbungsgesprächen“, berichtet Wick,
„die telefonische Absprache mit den
möglichen Firmen und Betrieben findet
aber auf jeden Fall statt. Allein schon um
eine eventuelle Stigmatisierung der arbeitssuchenden ehemaligen Häftlingen
zu vermeiden.“ Außerdem gibt es bei
Chance e.V. noch den „Jobcoach“: Das
sind Sozialarbeiter, die die durch Chance
e.V. auf dem zweiten Arbeitsmarkt vermittelten Beschäftigen sozialpädagogisch
betreuen. Sie versuchen bestehende Vermittlungshemmnisse bei den Beschäftigten abzubauen und sorgen dafür, dass,
wer will, sich zusätzlich qualifizieren
kann. Damit steigen natürlich die Chancen auf Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt erheblich.
_Zusätzlich besitzt der Verein in Sprakel
ein Haus, in dem Haftentlassene für eine
Übergangszeit von etwa drei bis maximal
sechs Monate wohnen können, bis sie
eine eigene Wohnung gefunden haben.
Dort stehen den Betroffenen vier voll
möblierte Zimmer sowie Gemeinschaftsräume und Küche zur Verfügung. Als
jüngstes Projekt betreibt der Verein seit
Mitte 2009 das so genannte ‘teilstationäre Wohnen’. „In dieser Einrichtung leben bis zu zwölf Personen, die für einen
Großteil, aber nicht während des ganzen
Tages vor Ort betreut werden“, so der Geschäftsführer. Die Leute wohnen in zwei
Wohngemeinschaften mit je sechs Plätzen. Diese Wohnungen haben die Leute
selbst angemietet. Die Betreuer haben
im Haus ein Büro, in dem sie den Bewohnern bei der Beantwortung von Fragen und Bewältigung von Problemen zu
festgelegten Zeiten zur Verfügung stehen.
Dieses neue betreute Wohnen wurde aufgebaut, weil sich herausgestellt hat, dass
die Haftentlassenen immer mehr Probleme haben „draußen“ wieder Fuß zu
fassen. Besonders nach einer mehrjährigen Haftstrafe tauchen oft sehr große
Schwierigkeiten im Bereich der Selbstständigkeit auf. Die meisten sind nicht
mehr in der Lage, sich eine Arbeit zu suchen und für die wesentlichen Leben-
grundlagen zu sorgen. Schon für den
Durchschnittsbürger, der nicht im Knast
gesessen hat, ist das Leben heutzutage
in seiner immer mehr zunehmenden
Komplexität sehr schwer zu bewältigen.
Da hat es jemand, der über lange Jahre
hinweg vor der Welt abgeschottet war,
noch weitaus schwerer. „Der Tagesablauf eines Häftlings war 100% klar durchstrukturiert. Er hatte im Knast das zu tun,
was man ihm sagt, und nun ist er plötzlich wieder draußen“, meint Wick. „Der
weiß doch oft gar nicht, wie er seine
wiedererlangte Selbstständigkeit alleine
bewerkstelligen soll.“ Im neuen Wohnprojekt können die Betroffenen bis zu
16 Monaten wohnen. Nach dieser Zeit
sollten sie wieder fit genug sein, um ohne Hilfe klar zu kommen, mindestens
aber soweit, dass sie dann in weniger
intensiv betreute Wohneinrichtungen
weitervermittelt werden können.
_Die Beschäftigungsbereiche im eigenen
Haus, sprich Möbeltrödel und Möbelrampe, die nun nach dem Umzug in die Friedrich-Ebert-Straße 15 zusammengelegt
wurden, ist ein wichtiges Standbein des
Vereins. Der organisatorische Aufwand
für die beiden ehemaligen Läden an den
verschieden Standorten war sehr umfangreich. Zudem wurde die Möbelrampe an der Dieckstraße - sie war in einem
Kellerlager im Hinterhof untergebracht nicht optimal wahrgenommen. „Wir sitzen nun an der Straße und nicht mehr
im Hinterhof“, so Geschäftsführer Rainer
Wick. „Man wird uns zukünftig besser
wahrnehmen und mehr beachten. Hier
im neuen Laden ist etwas Tolles geschaffen worden. Zwar herrscht immer noch
dieses Trödel-Ambiente wie früher vor,
schließlich kommen die Leute her, weil
sie auch gerne trödeln und Schnäppchen
suchen, es hat aber nicht mehr diesen
etwas unangenehmen Kramladen-Touch,
diese dunkle Keller-Atmosphäre wie in
der Dieckstraße. Hier ist es hell und sehr
freundlich, die Leute fühlen sich gleich
viel wohler.“ Die zukünftigen Büros des
Vereins werden übrigens gleich nebenan in der Friedrich-Ebert-Straße 7 eingerichtet.
_Erwähnenswert wäre noch, dass der
Verein auch einen eigenen Verlag besitzt. In ihm werden Bücher zum Thema
Haft und Haftentlassung mit vielen Tipps
und Informationen für Betroffene angeboten. Vor allem aber hat der Verlag den
bundesweit ersten Ratgeber für Angehörige von Inhaftierten herausgegeben.
_Dass der Verein Chance e.V. wahrhaft
ein Erfolgsmodell ist, dafür sprechen folgende Zahlen: Im Laufe seines über 20jährigen Bestehens haben über 7.000
Häftlinge oder deren Angehörige die
Hilfe des Vereins in Anspruch genommen, weit über 1.000 Personen waren
in den hauseigenen Arbeitsprojekten
beschäftigt. #
Am 19. Februar findet an der
Friedrich-EEbert-SStraße 15 die große
Eröffnungsfeier am neuen Standort des
Chance e.V. statt. Alle interessierten
Menschen sind herzlich eingeladen.
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Bericht | Text und Foto: Michael Heß
Wenn nichts mehr geht
Alkoholverbotszonen in Münster?
Lange Zeit zogen auf Münsters städtischen Partymeilen Anwohner und Gastwirte an einem Strang. Die problematische Paarung erforderte von allen Beteiligten ein hohes Maß an Einsichten.
Damit scheint es nun vorbei zu sein. In
jüngster Zeit eskaliert der Streit Anwohner gegen Gastwirte nämlich gleich an
mehreren Stellen der Innenstadt. Das
Problem erörtert ~-Autor Michael
Heß.
_Die Innenstadt wandelt sich zur Erlebniszone. Nach dem Shopping winkt das
Vergnügen in Gestalt vielfältiger Gastronomie mit Erlebnischarakter bis in die
Puppen. Entsprechend hat sich die Außengastronomie ausgeweitet. Noch vor
zehn Jahren war Außenbestuhlung wie
vor Stuhlmacher am Prinzipalmarkt die
Ausnahme. Das ist längst vorbei. In der
gesamten Innenstadt rücken die Stuhlreihen von Jahr zu Jahr vor. Oftmals bleibt
zu Mauern oder Bordsteinkanten kaum
Platz für Passanten. Das Geschäft boomt,
die Geräuschkulisse steigt und auch andere Belästigungen nehmen zu. Alle
Nachtschwärmer gehen irgendwann, die
Gastronomen machen Kasse und fahren
ins ruhige Heim, die ruhebedürftigen Anwohner müssen bleiben. Und die nächste laute Nacht kommt so sicher wie das
Amen in der Kirche. So geht es am Alten
Fischmarkt, im Kuhviertel, im Umfeld der
Partymeile am Hafen (zugegeben, dort
hat sich die Situation etwas entspannt).
_Grundsätzlich geht es um die Frage, wie
viel Lärm und Unrat ein Wohngebiet speziell in den Ruhezeiten erträgt. Es ist nicht
nur ein lokales Problem und auch nicht
neu. Schon 1999 stellte das Berliner Straßengesetz den öffentlichen Konsum von
Alkohol unter Androhung eines Ordnungsgeldes sowie Platzverweises. Diese Bestimmung wurde zwar 2006 wieder aufgehoben, aber dafür erwärmten sich andere deutsche Städte wie Bamberg, Erfurt, Magdeburg und Marburg für derartige Regelungen. Besonderes Aufsehen
erregte im vorigen Jahr das südbadische
Freiburg, das schon seit Januar 2009
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öffentlichen Alkoholkonsum in der Innenstadt verbot. Auf die Klage eines Jurastudenten kassierte das zuständige Verwaltungsgericht im Juli die städtische
Verfügung. Dies geschah aber nur wegen
der zu pauschalen Formulierung des Freiburger Verbots, konkrete Maßnahmen
gegen konkrete Auswüchse wären nach
Ansicht des Gerichtes nämlich statthaft.
Kein Wunder also, wenn selbst der Deutsche Städtetag als Dachverband der bundesdeutschen Kommunen die verstärkte Nutzung von Alkoholverbotszonen
empfiehlt. Denkbar sind auch das Verbot von Flatrate-Partys und vorgezogene Sperrstunden - das alles wird noch in
Münster seinen Auftritt bekommen.
_Zurück also in die westfälische Metropole. Im Hansaviertel eskalierte der Konflikt schon vor Jahren zeitgleich mit der
Etablierung des nahe liegenden KreativKais. Neuerdings sind das Kuhviertel sowie die Bereiche um die Hörster Straße
und um den Alten Fischmarkt betroffen.
Mit dem wachsenden Zuspruch durch die
Nachtschwärmer erhöhten sich auch die
Belastungen durch Alkoholmissbrauch
und Gewalt. Wechselseitig erfolgen heute
die Schuldzuweisungen zwischen Anwohnern und Wirten. Die einen wollen mehr
Ruhe, die anderen mehr Geschäft. Die
einen wollen die Wirte in der Pflicht sehen, die anderen wehren sich gegen Pauschalierungen und machen immerhin
eigene Vorschläge zur Verbesserung der
Situation. So sollen Ordnungsdienste für
gesittete Zustände im Kiez sorgen oder
mehr Mitarbeiter des Ordnungsamtes
und Polizisten. Doch Stadt und Polizei
winken ab. Die dünne Personaldecke
lässt weitere Abstellungen gar nicht zu
und von den Wirten organisierte, private
Ordnungsdienste dürfen im Grunde gar
nichts machen. Lachende Dritte sind einmal mehr die Feierlustigen. Sie sehen sie
sich in keiner Pflicht, denn sie verlassen
den Ort des Unfriedens ohne Unrechtsbewusstsein. Woher sollten sie das auch haben, wenn keiner die nötige Sensibilität
erzeugt?
_Politische Unterstützung für die geplagten Anwohner ist rar. Noch vor der Kommunalwahl bezog vor allem die UWG Position pro Anwohner. Nutzen tat es nichts,
die Unabhängigen wurden dennoch abgewählt. Wenigstens fiel das Thema nach
der Wahl nicht komplett durch den Rost.
Mit Dr. Dietmar Erber machte sich im Oktober 2009 ein einsamer CDU-Ratsherr ein
Bild vom letzten Verständigungsversuch
zwischen Anwohnern und Gastwirten im
Kuhviertel. Immerhin organisierte dann
die örtliche CDU unter dem Titel „Krach
in der Altstadt?!“ eine öffentliche Veranstaltung zur Diskussion des Problems.
Auf dem Podium sitzen Anwohner, Wirte,
Mitarbeiter des Ordnungsamtes und Politiker, nur die Polizei fehlt. Durch den
Blätterwald geht in den folgenden Tagen
ein neues Rauschen. Der grüne Polizeipräsident Hubert Wimber mochte auf
der schwarzen Veranstaltung wohl nicht
den Prügelknaben geben, rechtfertigt
sich öffentlich mit einem „Wir ducken
uns nicht weg“ und verweist auf zehn
Polizeibeamte, die seit Anfang 2009 zusätzlich in den Problemarealen unterwegs seien. Munter rollt der Ball über
die verbalen Bande, derweil wird der
Lärm nicht weniger.
_Dabei sendet die Polizei immerhin die
Signale, die das Ordnungsamt notgedrungen vermissen lassen muss. Mehrfach
verweist Manfred Geers vom Ordnungsamt in der Debatte auf die leeren Kassen
der Stadt und die daraus resultierenden
Einschränkungen der Präsenz des Ordnungsamtes vor Ort. Doch so richtig der
geäußerte Gedanke „Dann müssten eben
die Anwohner mehr Druck machen“ auch
sein mag, so verständlich ist deren entsetzte Reaktion. Helft euch selbst - im
Wilden Westen mochte das eine akzeptable Parole sein. Nicht zu vergessen das
Faustrecht als zwangsläufige Folge. Noch
ist es im Kuhviertel und anderswo nicht
so weit, aber das kann ja noch kommen.
Zieht man die Polizeistatistik zur Entwicklung der Gewalttaten im vergangenen
Jahr zu Rate, ist es vielleicht schon so
weit. Allerdings kann bürgerliche Selbst-
hilfe auch anders ausgehen, wie die Bewohner des Hauses Hörster Straße 51 vor
zwei Jahren zeigten. Mittels eines privat
finanzierten Lärmgutachtens und einer
engagierten Kanzlei sorgten sie letztendlich für die Schließung der im Haus befindlichen Gastronomie, die mit Fug und
Recht unter „Druckbetankung“ oder neudeutsch Flatrate firmierte. Nun haben die
Anwohner ihre Ruhe und die Welt dreht
sich weiter. Der Wirt hat den Verlust übrigens auch überlebt.
_Jenseits solcher Bürgerwehr muss der
Befund also bestehen bleiben: Auch die
Ratsparteien halten sich bei diesem Thema vornehm zurück, bei dem man sich
zu schnell die Finger verbrennen kann.
Denn ganz gleich, auf wessen Seite man
sich schlägt, tönen aus der anderen Ecke
Totschlagargumente: „Ruhebedürfnis“,
„Lebensumfeld“ oder aber „Arbeitsplätze“
oder „Steueraufkommen“. Ein Kompromiss ist schwer vorstellbar und keine Partei möchte es sich mit einer der beiden
Seiten verscherzen. Die UWG tauchte nach
der Kommunalwahl ab, aber wenigstens
fordert nun die CDU „deutlich wahrnehmbare Konsequenzen“ und kündigt in der
Folge einen Ratsantrag an. Im Grundsatz
soll es einmal mehr um verstärkte Präsenzen in den Problembereichen gehen,
Alkoholverbotszonen seien dagegen keine
Lösung. Im Grunde ist man damit auf der
politischen Ebenen nur so weit gekommen wie Anwohner und Wirte im außerparlamentarischen Bereich.
auch vorgezogene Sperrstunden ablehnt.
Stattdessen soll die Stadt (also die Allgemeinheit) in die Bütt springen. O-Ton des
Jungliberalen: „Auf Partymeilen wie der
Jüdefelder Straße oder dem Alten Fischmarkt erwarten wir erhöhte Präsenz und
rigoroses Durchgreifen.“ Das Problem zu
begreifen, scheint eher eine Frage der Lebenerfahrung zu sein denn der Farbe des
Parteibuches. Alkoholgenuss verbindet
eben doch und das sogar über die sonst
so sorgsam gehegten Politbarrikaden hinweg.
_Hafen und Kuhviertel stehen im Kleinen
für gesellschaftliche Trends im Großen. Es
geht ums Geldverdienen und das notfalls
auch auf Kosten der Allgemeinheit. Es
geht um den eigenen Genuss, selbst auf
Kosten anderer. Feiern ohne Rücksichtnahme wird zum „Bürgerrecht“ erhoben,
das keinerlei Hinterfragung bedarf. Wessen Interessen aber sind am Ende höher
zu bewerten, sofern es keinen Kompromiss geben wird? Und darauf deutet im
Moment vieles hin, den die Interessenlagen sind zu verschieden. Und was passiert, wenn gar nichts mehr geht? Der
nächste Sommer kommt bestimmt und
davor winkt schon der Lenz mit lauen
Abenden. Der Knoten schürzt sich weiter
und die bisherigen Lösungsvorschläge
wirken hilflos. #
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_Da ist es viel besser, Stellvertreter-Testballons aufsteigen zu lassen. Unisono kritisieren Vertreter der Jugendverbände
von Grün bis Schwarz massiv die bisher
vorgeschlagenen ordnungsrechtlichen
Restriktionen, ein theoretisch mögliches
Alkoholverbot vorweg. So äußert noch im
Spätherbst 2009 Daniel Sandhaus, einer
der beiden Sprecher des grünen Kreisverbandes, mit Alkoholverbotszonen würden
„Bürgerrechte“ beschnitten. Noch jung
an Jahren meint er vielleicht die „Rechte“,
fremdes Eigentum mit Exkrementen zu
überziehen oder zu zerstören. Anfang November assistiert vom ebenso jungen Vorsitzenden der Münsteraner Jungliberalen
Jens Lenski (zugleich frisch gekürter FDPRatsherr), der sich gegen eine nicht näher
beschriebene „Verbotskultur“ wendet und
17
Bericht | Text: Adik Alexanian | Foto: Privat
Eine Praktikantin für alle Fälle
Adik und ihre Arbeit bei der ~
Wie wird es sein, wenn ich mein einjähriges Praktikum bei der „~“
anfange, fragte ich mich oft, bevor ich
die Stelle als Praktikantin für Mediengestaltung antrat. Etwa langweilig?
Nein! Niemals! So kann ich heute sagen.
Ich freue mich über jeden einzelnen Tag
und kann mich wirklich glücklich schätzen, dort angefangen zu haben! Adik
Alexanian berichtet über ihr Leben bei
~.
_Ich erinnere mich genau an den Tag, als
ich die Stellenanzeige in der „~“
las. Durch einen Praktikumsbericht meiner Vorgängerin, die ebenso wie ich 12
Monate lang ein Praktikum als Mediengestalterin absolviert hatte, wurde mein
Interesse geweckt, mich auch einmal vorzustellen und zu schauen, ob ich vielleicht ab August 2009 nach meinem kleinen Fachabitur dort anfangen könnte.
Und in der Tat, es hat geklappt. Natürlich
fragte ich mich wochenlang, wie es für
mich sein würde, irgendwo zu arbeiten,
wo man den sozialen Kontakt zu Menschen intensiv pflegt und gleichzeitig
noch die Monatsausgaben fertigstellen
muss.
_Ich hatte keinerlei Erfahrungen im Bereich Layout, wollte aber unbedingt in
diese Arbeit reinschnuppern, um zu
schauen, ob Mediengestaltung wirklich
das ist, was ich mein Leben lang machen möchte. Ich lernte zunächst Heinz
kennen, der für das Layout der Zeitung
zuständig ist. Er gab mir eine kurze Einführung in den Umgang mit den LayoutProgrammen und schon kamen auch die
ersten Berichte an, die für die neue Ausgabe gesetzt werden mussten. Zuerst arbeiteten wir zusammen und es war für
mich einen Monat lang eine bereichernde Erfahrung, zuzuschauen, wie Heinz als
Profi arbeitet.
_Leider wurde er schon bald darauf eine
lange Zeit krank. Als die Oktober-Aus18
gabe vor der Tür stand, war nicht klar,
wie es nun ohne Heinz weiter gehen
sollte. In dieser schwierigen Situation
fragte mich die Redaktion, ob ich bereit
wäre, die Zeitung mit ein bisschen Hilfe
des Teams eigenverantwortlich zu gestalten. Ich nahm das Angebot gerne an
und war stolz darauf, der „~“ aus
der Klemme zu helfen und dem Redaktionsteam beizustehen, die OktoberAusgabe druckfertig zu bekommen. Diese
freiwillig übernommene Verantwortung
machte mich noch stärker und selbstsicherer bei der Arbeit und eine Menge
Spass hatte ich auch dabei. Meine Fachkenntnisse konnte dadurch so sehr festigen, dass ich bei den folgenden Ausgaben kaum noch Probleme beim eigenverantwortlichen Gestalten hatte.
Oftmals hat man nicht die Chance als
Praktikantin soviel Verantwortung zu
übernehmen und die Dinge selber in
die Hand nehmen zu dürfen.
_Neben der zentralen Arbeit am Layout
der Zeitung lernte ich viele nette Menschen kennen. Alle sind ein Team hier
und sie sind mir in nur paar Monaten
sehr ans Herz gewachsen. Wir lernen uns
von Tag zu Tag besser kennen und es
verbindet mich mit allen, die hier tätig
sind, so etwas wie eine Freundschaft.
Deshalb kann ich meine Arbeit mit viel
Motivation durchführen.
_Redaktionsschluss ist meistens mitten
im Monat, bis dahin bleibt viel Zeit. Inzwischen versuche ich auch Kontakt zu
den Verkäufern zu knüpfen und etwas
darüber zu erfahren, wie das Leben auf
der Straße ist, wieso sie Verkäufer sind
und was für ein Leben sie vor der Obdachlosigkeit hatten. Wir unterhalten
uns über Gott und die Welt, lachen zusammen, aber auch gibt es traurige Momente. Das schönste Erlebnis war es,
dass einmal ein Verkäufer zu mir meinte, das er mich zu schätzen weiß, weil
ich ihm zuhöre und ihm Ratschläge geben kann. Diese kleinen „Dinge“ haben
mich stärker im Leben gemacht, auch zu
sehen, was in der Realität geschieht,
denn davor als Schülerin, bin ich mit
solchen Sachen kaum in Berührung gekommen. Ich bin mir jetzt sicher, dass
ich diesen beruflichen Weg einschlagen
will in meiner Zukunft und eine Ausbildung im Bereich Mediengestaltung
machen möchte. #
Bericht | Text: Destiny Any | Foto: Adik Alexanian
Jeder besitzt einen Stern!
Destiny im Austauschprogramm
Von Geburt an geheimnisvoll und talentiert. Das ist Destiny Ani aus Nigeria. Mit
Hilfe einer Organisation namens ICJA im
Rahmen eines einjährigen Austauschprogramms für Jugend & Kultur kam er
vor 3 Monaten nach Deutschland. Der
leidenschaftliche Fußballer bezeichnet
sich selbst als ein Entdecker von verborgenen Talenten, auf die er bauen kann.
Er sieht Möglichkeiten im Unmöglichen.
Er will Hoffnungslosen Hoffnung geben.
Destiny liebt es, sich in den Dienst der
Menschheit zu stellen, er mag Menschen
von unterschiedlichster Herkunft. Hautfarbe und Religion spielen keine Rolle,
denn man kann so viel voneinander
lernen, so lautet seine Lebensmaxime.
In den kommenden Monaten wird der
junge Mann uns in der Redaktion unterstützen.
_Warum bin ich nach Deutschland gekommen? Ganz einfach! Großartige Landschaften und Städte von und für großartige Menschen. Und so bin auch ich in
gewisser Weise großartig, z.B. im Streben
nach den kleinen Dingen des Lebens.
Klein? Mag sein, aber sie machen mich
glücklich. Deutschland ist ein beeindruckendes Land. Alles, was ich über das
Land der Deutschen weiß, bekam ich
durch Menschen in meinem Umfeld oder
mit Hilfe von Nachrichten und Büchern
heraus. Es ist, wie schon bereits erwähnt,
eine Herausforderung, aber auch gleichzeitig eine große Chance etwas Großes
oder Gutes zu tun. In Nigeria habe ich
einige Programme und Projekte ins Leben
gerufen, von denen ich hier in Deutschland profitieren möchte. Aus diesem
Grund will ich gerade hier durch mein
Engagement Vieles zurückgeben und
gute Dienste an der Gesellschaft leisten.
In meiner Heimat Afrika habe ich die
„Allstars Academy“ gegründet. Das ist
ein Projekt für Menschen in Nöten, die
sehr schlecht versorgt sind: Kinder und
Jugendliche, Erwachsene und ältere Personen sowie ehemalige Strafgefangene.
Mit einem Satz: Es gibt keine Ausnahme,
alle sind gleich und niemand wird benachteiligt. Von Prominenten hört man
immer wieder, dass jeder Mensch als Star
geboren wird. Aber das stimmt nicht.
Einige haben ihren Stern niemals aufgehen oder strahlen sehen. Es bleibt bei
unerfüllten Träumen. „Academy“ versucht den Armen eine Struktur zu geben
und auch bei der Realisierung oder Erfüllung vieler Wünsche helfend zur Seite
zu stehen. Wir versuchen ihnen ein bisschen Hoffnung für eine bessere Zukunft
zu geben.
_Mein erstes Projekt hier auf deutschem
Boden war in Baden-Würtemberg beim
Zirkus 'Pimparello' in der Nähe von Rappenhof/ Geschwend. Ich war dort für ca.
3 Monate und konnte die Zeit nutzen, um
in den Zirkusalltag rein zu schnuppern.
Natur, Klettern, Tanz und Theater, zudem
noch Akrobatik; alles Dinge, die das klassisch geprägte Bild eines Wanderzirkuses
vervollständigen. Jede Woche begrüßten
und betreuten wir Klassen von verschiedenen Schulen aus dem Umland, die uns
besuchten, um uns über die Schulter zu
schauen. Ich gab mein Bestes, um später Glück und Zufriedenheit zurückzubekommen. Ich lebte dort, weil der Zirkus normalerweise seinen Reisebetrieb
im Winter einstellt und deshalb auch
Gäste dort Quartier beziehen können.
Und durch dieses Engagement kam es
auch, dass ich nach Münster reiste und
im Weihnachtszirkus 'Alfredo' in Hiltrup
assistierte. Kaum war ich dort hatte ich
doppeltes Glück: Eine Artistin aus Spanien namens Maritha bot mir völlig überraschend eine kleine Rolle in ihrer Darbietung an: Es war eine afrikanische
Show. Nach einem 4-Tage-Programm
im Zelt hatte ich manchmal das Gefühl
nicht immer mein Bestes gegeben zu
haben, aber ab und zu war ich auch zu
sehr damit beschäftigt Briefe und Geschenke von meiner Familie zu öffnen,
die mich regelmäßig erreichten.
_Nun hat sich eine neue Möglichkeit am
Himmel abgezeichnet. Ich habe mit Hilfe
des Strassenmagazins „~“ein Projekt für meinen Aufenthalt in Deutschland ins Leben gerufen. Zuallererst bin
ich überwältigt von dem ungebrochenen
Tatendrang der Menschen bei dieser Zeitung und so will ich mich mit einer Tasche voller Ideen in das Team einbringen.
Bis jetzt hat mir der enge Kontakt zum
„~“-Team viel ermöglicht und auch
die eine oder andere Frage konnte ich
beantworten. Denn schließlich habe ich
einiges anzubieten, dass ich gerne mit
anderen teilen will. Ich möchte die Möglichkeit nutzen, an dieser Stelle zu erwähnen, dass ich im Rahmen meines
Austauschprogramms noch bis August
dieses Jahres in Deutschland bleibe und
für diese Zeit noch eine nette Gastfamilie
suche, bei der ich wohnen und im Haushalt tatkräftig mitanpacken kann.
_Von Herzen wünsche ich allen Menschen in Deutschland ein gesundes und
glückliches Jahr und vergesst nicht: Jeder Mensch besitzt einen Stern. Es liegt
nun an jedem selbst, ob man ihn zum
Strahlen bringt. #
Über Adressen, Tipps oder Hilfestellung
zum Thema Gastfamilie würde ich mich
sehr freuen. Ich bin erreichbar über:
Tel.: 0251/4909118 (~)
mobil: 0157/81891075
E-M
Mail: [email protected]
19
Bericht | Text: Jan Magunski, Kirche und Welt | Foto: Sigi Nasner
„Du bist der verkleidete Gott“
Willi Schultes ist Seelsorger der Wohnungslosen
Nein, einen offiziellen Auftrag hat Willi
Schultes nicht. Einzig von Gott fühlt er
sich gesandt: Seit seiner Emeritierung
vor neun Jahren ist der Pfarrer auf den
Straßen Münsters unterwegs, um Ausgegrenzten und Wohnungslosen zu begegnen. Er weiß: „Was ich wahrnehmbar tue, ist in den Augen eines Therapeuten oder Sozialarbeiters eher dilettantisch.“ Aber er spürt auch: Es ist eine
Form von Seelsorge.
_Vor 17 Jahren hat Willi Schultes, damals
noch Pfarrer in Wulfen-Barkenberg, sein
Pfarrhaus verlassen, um seine Gemeinde
neu kennen zu lernen: unverzweckt und
unvoreingenommen. 40 Tage lang ist er
von einem einfachen Kellerzimmer aus
jeden Morgen aufgebrochen, um - ähnlich wie der kleine Bär und der kleine
Tiger in Janoschs berühmter Geschichte
- sein „Panama“ zu finden, den Ort, wo
der Himmel die Erde berührt.
_“Steh auf und geh in die Stadt, dort wird
dir alles gesagt werden, was du tun sollst“
- die Aufforderung, einst an den heiligen Paulus gerichtet, ist ihm zu einem
Leitsatz jener Tage geworden; das „Sakrament der Begegnung“ hat sie erfüllt:
„Jeder, der mir begegnet, wird mir geschickt; an wen ich denke, an den soll ich
denken“, war Schultes überzeugt. Damals
hat er gelernt, dass die Menschen immer
früher und immer öfter heimatlos werden, dass man in vielfacher Weise Geborgenheit und sein Zuhause verlieren
kann. Als er vor neun Jahren emeritiert
wurde und in seinen Geburtsort - nach
Münster - zurückgezogen ist, versprach
man in der Personalabteilung des Bistums: „Wir werden uns Gedanken machen, was du in Zukunft tun kannst.“
Schultes lehnte dankend ab: „Ich kann
auch selbst denken!“ Damals, so erzählt
er rückblickend, war die Möglichkeit gekommen, einen Traum wahr werden zu
lassen und das „Sakrament der Begegnung“ in einer neuen Dimension zu leben.
_Seitdem schnürt er immer wieder seinen Rucksack, seitdem geht er regelmäßig durch die Straßen der Domstadt, um
die „Freunde der Straße“ zu treffen und
ihnen ein Kumpel und Ansprechpartner
zu sein. „Niemand hat mich darum gebeten, niemand hat mich beauftragt“,
20
sagt er - aber mit den Jahren ist er so
zum Seelsorger von Münsters Wohnungslosen geworden. Er geht mit ihnen - oft
auch auf dem letzten Weg, wenn die Bestatter ihn über den Tod eines Obdachlosen informieren. Wenn niemand „beisetzungspflichtig“ ist, wie es offiziell
heißt, steht eigentlich eine anonyme
Urnenbestattung an. Um die zu verhindern, versammelt Schultes andere
„Freunde der Straße“ und feiert mit
ihnen im Haus der Wohnungslosen ein
würdiges Requiem für den Verstorbenen.
_Viele, die der Alkohol auf die Straße getrieben hat, sterben schon mit 50, 60
Jahren; Drogenabhängige erleben oft
nicht einmal ihren 35. Geburtstag. „Ich
bin traurig“, sagt Schultes, als er sich an
diesem Morgen auf seinen Weg durch die
Stadt macht: „Viele meiner Freunde sind
in den letzten Jahren gestorben.“ Auf
seiner Runde durch Münster wird er immer wieder an sie erinnert, bestimmte
Orte sind untrennbar mit ihren Namen
und Gesichtern verbunden. Willi Schultes
denkt an Bombenernie und Boxerdieter,
an Bayernmax, Münzentheo oder Kalle
mit der Kelle. Er weiß genau, wo sie
„Platte gemacht“, wo sie nachts geschlafen haben: ein Fahrradunterstand, ein
Treppenaufgang oder eine Nische mit
Lüftungsschacht.
_In die Lage dieser Verstecke eingeweiht
zu werden, ist für einen Außenstehenden
ein großer Vertrauensbeweis - schließlich stellen sie das Intimste dar, was ein
Wohnungsloser vorweisen kann. „Wer
von uns würde einem Fremden schon
sein Schlafzimmer präsentieren?“, gibt
Schultes zu bedenken. Der 73-Jährige ist
in Münsters Obdachlosenszene längst kein
Fremder mehr. „Da kommt der abgehalfterte Pfaffe“, wird er schon von weitem
begrüßt - und ist über diese schnoddrige Anrede alles andere als verärgert: „Da
hat sich doch jemand Gedanken über
mich und meine Situation gemacht.“ Natürlich - er ist in den vergangenen Jahren
auch „verarscht und reingelegt“ worden,
es hat auch Männer gegeben, die seine
Gutmütigkeit und Menschenliebe ausgenutzt haben. „Ich bin ja nicht blauäugig“, will er nichts beschönigen, sagt
aber auch: „Das nehme ich in Kauf.“ Gerade gegenüber Menschen, die vielleicht
schon in Kinder- und Jugendjahren und
dann immer wieder enttäuscht worden
sind, sei es wichtig, Geduld zu zeigen,
ihnen die Treue zu halten. Treue - vielleicht das wichtigste, vielleicht das entscheidende Argument, um das Vertrauen
der Wohnungslosen zu gewinnen.
_Inzwischen argwöhnt keiner mehr “warum macht dieser alte Mann sich an
uns heran?“ - inzwischen freuen sich die
„Freunde der Straße“, wenn sie Schultes
begegnen oder er sie an den einschlägigen Treffs besucht. Mancher ist glücklich,
wenn der emeritierte Pfarrer ihm ein
Päckchen Tabak oder ein paar Cent
schenkt - aber diese materielle Unterstützung ist nicht das Entscheidende ihrer
Beziehung. Viele sind vor allem froh, in
Willi Schultes ein Gegenüber gefunden zu
haben, das zuhören kann, das sie ernst
nimmt und nicht vorschnell abstempelt.
Anzeigen
_Seine einfache, intelligente Art kommt
an, er begleitet die Männer auch bei Behördengängen oder besucht sie, wenn
es mal für eine Zeit „in den Bau“ geht.
Und ist selbst immer wieder erstaunt, wie
tiefe Gedanken sich viele von seinen Gesprächspartnern machen: „Auch wenn sie
das nie so sagen würden: Sie sind religiös.“ Günter etwa, der gern in einen
Orden eingetreten wäre, aber nirgendwo Aufnahme gefunden hat, geht jeden
Abend zum Gottesdienst in die Lambertikirche. Manchmal sitzt er direkt neben
Willi Schultes. Eines Tages hat er die Geschichte vom reichen Jüngling gehört:
„Verkaufe alles, was du hast und gib es
den Armen.“ Ein Auftrag, der ihm sehr
nahe gegangen ist. Ein paar Tage später
spricht er den Seelsorger auf seiner Runde
an: „Ich hab das versucht - aber keiner
will meine Plastiktüten!“
dem Taufbrunnen. Als Schultes die tiefere Symbolik der Kerze und ihrer fünf
Wundmale erklärte, fand sich Ronald in
diesen Zeichen wieder und bat darum,
die Wundnägel noch einmal in die Kerze
stecken zu dürfen: Wie viele Wunden und
Verletzungen waren ihm zeit seines Lebens zugefügt worden? Und wie viele
Wunden hatte er bei anderen aufgerissen? Auf einmal wusste er ganz sicher:
Dieser Jesus, der würde ihn verstehen ...
Alle paar Wochen fährt Willi Schultes in
die Baumberge: zum Wandern und Reflektieren. Dann betet er sein „Namenund-Gesichter-Gebet“, dann stellt er sich
vor, alle, die er auf seinen Wegen durch
die Domstadt getroffen hat, würden in
einer langen Karawane hinter ihm hergehen, Lebende und Verstorbene. „Inzwischen sind es fast 300, die mich so in
meinen Gedanken begleiten“, sagt er. #
_Meinulf, ein schizophrener Verkäufer der
Obdachlosen-Zeitung, fühlt sich in Kirche
und Gesellschaft wenig angenommen
und aufgehoben. Er hat das Gefühl, immer nur auf Forderungen zu treffen, denen er von vornherein nicht genügen
kann. Und auf die meisten seiner Glaubens- und Lebensfragen kann ihm niemand konkrete Antworten geben. „Die
Fragen, die du stellst, hat Gott auch“,
erklärt Schultes und diskutiert mit seinem Gesprächspartner über das Gottesbild unserer Tage: „Was für einen allmächtigen Muskelprotz haben wir nur
aus Gott gemacht?“, klagt der Theologe,
um sich dann wieder seinem Gegenüber zuzuwenden: „Meinulf, du bist der
verkleidete Gott!“ Wenn Schultes seine
Runde durch die Domstadt macht, dann
lässt er sich oft nur treiben - „ich bemühe mich, keine Absichten zu haben.“
Trotzdem freut er sich natürlich, wenn
aus den zwanglosen Begegnungen tiefere Erfahrungen wachsen - so ist er von
zwei „Freunden der Straße“ gebeten worden, sie zu taufen und unter den besonderen Schutz Gottes zu stellen. Ronald,
einer der beiden, war vor dem angesetzten Tauftermin allerdings so aufgeregt,
dass er sich erst einmal Mut antrinken
musste - und anschließend nicht mehr
zu „gebrauchen“ war. Also ein zweiter
Versuch.
_Erneut war alles für die Taufe vorbereitet; die brennende Osterkerze stand neben
21
Bericht | Text: Thorsten Enning | Foto: Buio Omega Filmclub
Cinema Bizarr
Eine cineastische Zeitreise in die 60er und 70er
Wir schreiben das 21. Jahrundert. Ganz
Europa ist von austauschbarer Massenfilmware verseucht - Ganz Europa?
Nein! Ein von unbeugsamen Cineasten
gegründeter Filmclub hat es sich zur
Aufgabe gemacht, dieser heimtückischen Plage Einhalt zu gebieten. Jeden
dritten Samstag im Monat vormittags
um 11 Uhr finden sich Dutzende von
Freaks und Nerds im Schauburg Kino
zu Gelsenkirchen ein, um einer einzigartigen Leidenschaft zu frönen: dem Exploitationfilm der 60er und 70er Jahre.
Dieser geheimnisvolle Club namens Buio
Omega ist ein Refugium für alle, die sich
gern an diese kraftvolle und radikale
Epoche des Kinos zurückerinnern, in der
Hinterwäldler, geschändete Frauen und
lebende Tote die Leinwand unsicher
machten. ~-Zeichner und Buio
Omega-Mitglied Thorsten Enning über
Grenzgänge des Kinos und Menschen,
die genau dies lieben.
_Veranstaltungsort der monatlichen Clubtreffen ist das Schauburg Kino in Gelsenkirchen, das bereits 1929 seine Pforten
öffnete und heute eines der letzten großen privat betriebenen Lichtspielhäuser
Deutschlands ist. Hier traf sich gegen Ende der 1990er Jahre eine vier Mann starke Gruppe um regelmäßig ins Kino zu
gehen. In der Nacht vom 30.10. auf den
31.10.1998, also exakt an Halloween, war
die Idee geboren, hier in diesem Kino
aus den Privatarchiven der vier „Gründerväter“ deren Lieblingsfilme zu bestimmten Zeiten vor ausgesuchten Publikum vorzuführen, um ihre Leidenschaft
und Hingabe mitb anderen zu teilen und
im Anschluss über das Gesehene zu resümieren. Jetzt fehlte neben dem grünen Licht des Betreibers und den obligatorischen Vereinsstatuten nur noch ein
Name der seinesgleichen suchen sollte.
Schnell war sich die Truppe einig: BUIO
OMEGA. Benannt nach dem gleichnamigen Kultstreifen von Joe D`Amato aus
dem Jahre 1979. Amato, selbst Italiener,
war wie viele seiner internationalen Kollegen ein Meister des Trashkinos.
22
_Ein kompromissloser Ableger dieses
Genres war oder ist der Exploitationfilm, dessen direkte Machart schlichtweg existenzielle Thematiken der
menschlichen Gesellschaft wie etwa
Sex, Gewalt, Leidenschaft, Angst und
Verbrechen radikalisiert und/oder amoralisch demaskiert. Zahlreiche
Werke waren dem damaligen Zeitgeist unterworfen, als Hippies für
freie Liebe kämpften, man sich weltweit gegen den Vietnamkrieg solidarisierte und mutige Frauen langsam
aber nachhaltig dem Patriarchat die
Stirn boten. Diese Zerrbilder wurden
schließlich ins Kino übertragen und
führten zu einem regelrechten FilmBoom, den es seit der Stummfilm-Ära
vor rund 100 Jahren so kein zweites
Mal mehr gegeben hat. Das hatte zur
Folge, dass die Angebotspalette der
Filmstudios immens war und Soziologen das Kino als ein Ventil verstanden, mit dessen Hilfe sich der gewal-
tige Druck unter der Oberfläche der
Gesellschaft ableiten ließ. Selbstverständlich lief die spießige Front der
Sittenwächter Sturm und blies zum
konsequenten Angriff auf dieses
„Freidenker-Pack“, dass sich in die
hintersten Ecken von Amerika und
Europa zurückzog, um in Ruhe harte
und anstößige Filmchen zu drehen.
Und genau diese „moralisch verwerfliche“ Form der Unterhaltung zeichnet
dafür verantwortlich, warum sich Fans
und Liebhaber des Trashkinos weltweit
versammeln, um in elitären Kreisen Wissenswertes rund um die dunkle Seite
des Zelluloids auszutauschen.
_Und nun war es wieder mal so soweit,
mit einer Kiste Gerstensaft und einer
Hand voller guter Freunde per Zug von
Münster in Richtung Gelsenkirchen aufzubrechen. Die Reisezeit verkürzt sich
der durchgeknallte Haufen mit der Zelebrierung gesammelter und unvergesslicher Momente aus zig Lieblingsstreifen, die dann lauthals, aber fehlerfrei
zum Besten gegeben werden. Plötzlich
meldet sich ein Fahrgast aus dem hinteren Teil des Abteils. Aber nicht um sich
über die Lautstärke zu beschweren, sondern um ganz nebenbei zu erwähnen,
dass er doch die Uraufführung des Zombieklassikers „Dawn of the Dead“ von
George A. Romero miterlebt hat. Schluck!
Damit hat niemand innerhalb der Gruppe gerechnet. Ein Zeitzeuge! Voller Ehrfurcht lauschen wir seiner Geschichte,
als er von zartbesaiteten Zuschauern berichtet, die entweder schreiend und voller Panik den Saal verließen oder sich in
ihrer Sitzreihe erbrachen. Das wird uns
bestimmt nicht passieren, denn wir alle
besitzen einen gestählten Supermagen,
dem so schnell kein Hardcorestreifen etwas anhaben kann. Endlich erreichen
wir den Hauptbahnhof von Gelsenkirchen und nur drei Minuten danach fährt
auch schon eine Trambahn in Richtung
Kino.
_Etwa 20 Minuten später stehen wir vor
den Pforten unseres Heiligtums. Schnell
noch eine neue Buddel Bölkstoff geöffnet und nichts wie hinein. Der Weg zur
Kasse ist auf beiden Seiten gesäumt mit
Filmplakaten der Superlative: die Original Poster der Kracher „Ekstase im Folterkeller“ und „Ich spuck`auf dein Grab“
oder Poster diverser Produktionen der
britischen Hammer-Studios, mit denen
Christopher Lee als Dracula Filmgeschich-
te schrieb. Aber das definitive Nonplusultra des gesamten Interieurs ist ein
Pappaufsteller in Originalgröße von Herbert Fux aus dem Film „Mark of the Devil“. Herbert Fux wird sicherlich noch so
manchem Fernsehzuschauer ein Begriff
sein, denn zusammen mit Ilja Richter,
Rudi Carrell und Gunther Phillip war er
ein Star schräger Klamotten und Lustspiele in den 70er Jahren. Und er war
ein großartiger Mime seiner Zeit. Jetzt
noch schnell bezahlen und ab dafür!
Der Eintrittspreis für zwei Filme inklusive Vorprogramm und Moderation durch
den populären Filmgelehrten Christian
Kessler ist mit fünf Euro absolut fair und
dient ausschließlich zur Pflege und Erhalt
des Clubs, so dass ein profitorientiertes
Denken von vorne herein ausgeschlossen werden kann.
„Wenn du krepierst, lebe ich“! Die deutschen Titel sind einfach der Hammer!
Zwischen den Filmen wird diskutiert,
werden Kontakte geknüpft und Nummern ausgetauscht oder gleich die nächste private Filmsession ausgerufen. Die
Leute sind supernett, in keinster Weise
abgehoben oder arrogant im Gehabe.
Dort kommen alle gesellschaftlichen und
sozialen Schichten sowie alle Altersgruppen zusammen, um geschlossen für etwa
vier Stunden der Realität zu entfliehen.
_Ich habe jedes Mal einen Heidenspaß
und kann Noch-Skeptikern und Spontan-Interessenten nur wärmsten emp-
fehlen, auf der Homepage des geheimnisvollen Filmclubs BUIO OMEGA mal reinzuschauen, um letzte persönliche Zweifel aus dem Weg zu räumen. Oder um es
mit dem Club-Slogan deutlicher werden
zu lassen: „Was Sie bei uns verpassen,
ist für Sie unwiederbringlich verloren“! #
Die Homepage von Buio Omega ist
unter der Adresse
www.buioomega.de zu erreichen.
Anzeige
_Wer dennoch zum ersten Mal erscheint,
um Buio Omega selbst zu erfahren, muss
sich einem ausgeklügeltem Anmeldeformular stellen, dass auf den Geschmack
und die Kenntnis des Bewerbers abzielt,
um so die Spreu vom Weizen zu trennen.
Natürlich sind diese strengen Aufnahmekriterien mit einem Augenzwinkern zu
sehen und sollten unter gar keinen Umständen bierernst genommen werden.
Aber genau darin liegt sicherlich die
Kernaussage des Clubs: Man ist hier unter Gleichgesinnten, um sich zu amüsieren. Übrigens hat es bis jetzt noch kein
einziger Novize geschafft, alle Fragen
korrekt zu beantworten. Ich denke, damit wollen die Verantwortlichen der
Clubsatzung nur ihre These untermauern, dass auch bei den Clubgründern
einige Schrauben locker sitzen.
_Dann ist es endlich soweit. Jetzt noch
schnell ein paar gute Sitzplätze ausgemacht - den üblichen SitznummernQuatsch wie in herkömmlichen Kinosälen sucht man hier vergebens. Früher
war eben doch so manches besser. Das
Bier fließt in Strömen und gut 200 Fans
grölen und jubeln zu dem heutigen Double-Feature mit den Spaghetti-Western
„Noch Warm und schon Sand drauf“! und
23
Buchtipps | Texte: Heinz Dalmühle | Sigi Nasner
Lesen!
Rainer Schepper,
„Ich war Deserteur“
Agenda-Verlag, Münster,
58 Seiten, 14,80 Euro (D)
ISBN 978-3-89688-386-5
Kirsten Boie, Jutta Bauer
„Ein mittelschönes Leben“
Verlag Hinz&Kunzt, Hamburg
27 Seiten, 4,80 Euro
ISBN: 978-3000261466
24
Rainer Schepper ist ein Freund und Sympathisant der „~“ seit ihren ersten
Tagen als Sprachrohr der Berbergilde. Er
arbeitet als Rezitator, Publizist und Buchautor in Münster und hat gerade seine
Erinnerungen an die letzten Kriegsjahre,
vor allem an 1945, im Buch „Ich war Deserteur“ veröffentlicht. Er berichtet sehr
persönlich und spannend, wie er als 17Jähriger von den Nationalsozialisten noch
in den längst verlorenen Krieg gegen den
Ansturm der Roten Armee geschickt wurde. Schepper, der völlig klare Vorstellungen von dem Unsinn des Heldentums, für
Führer und Vaterland zu sterben, hatte,
entwickelte unglaubliche Raffinesse darin, sich immer wieder jeder noch so bedrohlichen Situation zu entziehen. Von
der SS verhaftet gelang ihm erneut die
Flucht und er schlug sich von Frankfurt
aus am Rhein entlang durch Westerwald
und Sauerland bis nach Warendorf durch,
wo sein Elternhaus inzwischen in Schutt
und Trümmern lag. Unterwegs hatte er
eine Menge lebensgefährlicher Situationen zu meistern. Bemerkenswert ist die
große Unterstützung und Hilfsbereitschaft
der Bevölkerung. Ausdrücklich erwähnt
Schepper, dass ihm Adenauer ein Nachtlager verweigerte. Spannend und lehrreich, ist „Ich war Deserteur“ ein gutes
Beispiel, wie man auch als Einzelner seinen Idealen und seinem Herzen treu bleiben kann, auch wenn man sich gegen Obrigkeit und Mainstream auflehnen muss.
Ein spannendes Buch, das sich auch gut
als Lektüre für Schulen eignen würde. #
Wenn es um das Thema Obdachlosigkeit
und die Beurteilung von Menschen, die
auf der Straße leben, geht, dann scheinen immer noch sehr viele Menschen ein
„Brett vor dem Kopf“ zu haben. Unterstützt von etlichen Massenmedien, diversen Stammtischrunden und allem
möglichen halsbrecherischen Meinungsmachern wird ihnen teilweise ein Bild
suggeriert, das völlig wirklichkeitsfremd
ist. Aber viele, vielleicht sogar die meisten Vorurteile gegenüber Obdachlosen
resultieren aus frühkindlicher Erziehung:
„Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans
nimmermehr“, sagt ein altes Sprichwort.
Aus diesem Grund hat das Obdachlosenmagazin Hinz&Kunzt aus Hamburg im Eigenverlag dieses Buch herausgebracht,
das von der Landeszentrale für politische
Bildung finanziert wurde. Beschrieben
wird der Alltag eines obdachlosen Mannes, der eine ganz „normale“ Kindheit
und Jugend durchlebt und später auch
ein durchschnittliches Familien- und Berufsleben führt. Mit Frau und zwei Kindern und allem, was zu einem glücklichen
Familienleben eben dazu gehört. Irgend-
wann gab es jedoch Probleme in der Beziehung zu seiner Frau und die anschließende Trennung. Danach folgte für den
Mann, nicht von heute auf morgen, aber
nichts desto trotz kontinuierlich der Absturz: Jobverlust, Kontaktschwierigkeiten,
Vereinsamung, erste Alkoholprobleme,
keine Miete mehr gezahlt, Wohnungsverlust, Obdachlosigkeit. Das Buch zeigt
beispielhaft anhand eines ganz normalen Lebens, dass Obdachlosigkeit im
Grunde jeden treffen kann und nicht,
wie manche Leute meinen, wie eine
schlimme Krankheit behandelt werden
sollte, die nur bestimmte schlimme Leute
bekommen können. Erzählt wird das alles
in einer sehr kindgerechten Sprache und
einer schönen Bebilderung. Am Schluss
des Buchs gibt es noch eine Auswahl von
Fragen und Antworten zum selben Thema.
Die Fragen wurden dabei von Hamburger
Grundschülern formuliert, die Antworten
gaben Verkäufer des Straßenmagazins
Hinz&Kunzt. #
Rainer Schepper liest:
Ich war Deserteur
Dienstag, 9. Februar 2010 um 20 Uhr
in der Rüstkammer des Rathauses
zu Münster am Prinzipalmarkt
Persische Rezepte | Text und Foto: Adik Alexanian
Persische Küche
Die persische Küche vereint orientalische und asiatische Elemente, eine Vielzahl an
Gewürzen sorgt für einen charakteristischen Geschmack. Koriander, Bockshornklee
oder auch andere Kräuter finden reichlich Verwendung, die Palette der Geschmacksrichtungen reicht von sehr süß bis zu leicht sauer. Die aufwändige Zubereitung
erfordert etwas Geduld, aber entlohnt wird man für seine Mühen mit Gerichten,
die durch ihre ausgeprägte Aromenharmonie zu gefallen wissen. Vielleicht kommen Sie ja auf den Geschmack!
Ququ (Vorspeise)
Choreschte Mosamo
Salat Olive
Zutaten:
Zutaten:
Zutaten:
Schnittlauch
1 Bund Basilikum
1 Stange Poreé
5 Eier
1 EL Backpulver
3 EL Mehl
Salz
Pfeffer
3 Auberginen
5 Tomaten
4 Grüne Paprika
500g Rinderbraten
2 EL Tomatenmark
1 Zwiebel
Salz
Pfeffer
10 große Kartoffeln
1 kleine Hühnerbrust
5 Eier
1 kl. Dose Erbsen
Mayonnaise
einige Oliven
2 Tomaten
Zitronensaft
1 Glas Salzgurken, mittelgroßes Glas
1 kleine Zwiebel
Wasser
Salz und Pfeffer
Zubereitung:
Zubereitung:
Zubereitung:
_ Zuerst werden die Kräuter klein geschnitten und in einer Schüssel mit den
Eiern verquirlt. Ähnlich wie bei einem
Omelett wird dann das Backpulver eingerührt und mit Salz und Pfeffer gewürzt.
Die Mischung in eine Pfanne mit vorgeheiztem Öl geben. Mit aufgesetztem Deckel bei niedriger Hitze ziehen lassen.
Nach 15 min. wenden und die andere Seite garen lassen. Fertig ist das „Ququ“. #
_Zunächst die Haut der Auberginen abschälen und das Gemüse in fingerdicke
Scheiben schneiden. Dann in einer Pfanne Öl erhitzen und die Auberginen andünsten lassen. Ebenso werden nacheinander die Tomaten und der Paprika
in Scheiben geschnitten und angedünstet. Danach die Zwiebel klein schneiden und anbraten, dazu das in kleine
Stücke zerteilte Rinderfleisch geben und
ebenfalls anbraten. Das Tomatenmark
mit Wasser aufrühren und das Fleisch
damit ablöschen. Das Ganze etwas ziehen lassen. Anschließend den Pfanneninhalt in eine Auflaufform füllen und das
vorbereitete Gemüse darübergeben. Zugedeckt ungefähr 30 min bei 170 Grad im
Ofen köcheln lassen, zum Schluss mit Salz
und Pfeffer abschmecken. #
_Kartoffeln waschen, Eier kurz in warmes
Wasser legen, wenn sie aus dem Kühlschrank kommen. Die Kartoffeln als Pellkartoffeln kochen und ca. 10 min. vor
Schluss die Eier dazu in den Topf geben
und mitkochen. Die Hühnerbrust mit der
geschnittenen Zwiebel kochen, bis sie
weich ist. In der Zwischenzeit die Gurken
in kleine Würfel schneiden und in eine
Schüssel geben. Wenn die Kartoffeln und
Eier gar sind, schälen, danach alles klein
schneiden. Die Kartoffeln entweder leicht
stampfen oder in Scheiben schneiden.
Danach alles in die Schüssel geben und
mit etwas Mayonnaise vermengen. Zum
Schluss mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft
würzen und noch einmal vermengen. Mit
Tomaten und Oliven dekorieren. #
25
Bericht | Text: Jörg Hüls | Foto: Mike Schermann
Preußen Report
Interview mit Sercan Güvenisik
Zum Anfang der Hinrunde stotterte der
Preußen Motor noch gewaltig, das selbst
auferlegte Ziel „Aufstieg“ hielt dem
Druck nicht stand und so spielten die
Adlerträger in den ersten Spiele zu defensiv und ängstlich. Die Quittung gab
es postwendend und hieß nach dem
fünften Spieltag Platz 17 und somit Abstiegsplatz. Schuldige wurden gesucht
und schnell gefunden, 'Schmidt und
Gockel raus!'- Rufe waren im Preußenrund nicht mehr zu überhören.Doch
diesmal anders als im Fußballgeschäft
üblich hielt die Vereinsführung zu Spielern, Manager und Trainern, in einer
flammenden Rede erklärte Präsident
Dr. Marco de Angelis seine Gründe: „Seit
1993 haben wir 17 Trainer gehabt. Wie
viele Titel haben die geholt? - Null!“ Dr.
de Angelis entschied sich gegen eine
Entlassung des Trainers und somit dieses Mal gegen das übliche Prozedere.
_Die Entscheidung von Dr. Marco de Angelis sich hinter die Mannschaft und den
Trainer zu stellen, erwies sich letztlich als
die richtige. Mit einer gehörigen Portion
Wut und einer spürbar besseren Einstellung kämpften sich die Adlerträger zurück
und holten aus den nächsten sieben
Partien beeindruckende 17 Punkte. Bis
auf drei Punkte konnte sich der SCP der
Spitze nähern. Jedoch verzerrten die wetterbedingt abgesagten Partien zum
Schluss der Hinrunde die Tabellenkonstellation. Mit zwei Nachholspielen und
12 Punkten Rückstand zur Tabellenspitze
beginnt am 30. Januar in Bochum der
lange Endspurt im Titelrennen der Fußball-Regionalliga. Zum Tüpfelchen auf
dem I könnte dabei Sercan Güvenisik
avancieren. Der zur Winterpause überraschend eingekaufte Spieler, der sich
trotz Anfragen aus der zweiten Liga für
den SCP entschied, ist sicherlich mehr als
eine Bereicherung für Preußen Münster.
Grund genug für uns, Sercan Güvenisik
um ein kurzes Interview zu bitten.
~: Warum hast du dich für Preußen
Münster entschieden, obwohl es Angebote
aus der zweiten Liga gab?
26
Sercan Güvenisik: Ich hatte schon einmal eine sehr schöne Zeit hier und ich
hab immer gewusst, dass die Menschen
hier zu mir stehen. Und das war für mich
ausschlaggebend, mich für Preußen Münster zu entschieden und natürlich auch
das Verhältnis, das ich weiterhin zum
Präsidium hatte, im Besonderen zu Marco
de Angelis.
~: Siehst du dich als Führungsspieler bei Preußen Münster?
Sercan Güvenisik: Ja, mit Sicherheit, also
ich bin 30 Jahre alt, ich bin schon seit 12
Jahren Profi und ich habe sehr viele Stationen hinter mir. Wenn man aus der 2.
Liga kommt und in meinen Alter ist, dann
sollte man schon eine Führungsrolle einnehmen.
~: Wo siehst du die Gründe für den
Fehlstart der Preußen zur Hinrunde?
Sercan Güvenisik: Das kann ich jetzt natürlich schwer beurteilen, da ich das ja
nicht komplett verfolgt habe. Ich kenne
nur die Ergebnisse, jedoch denke ich,
dass der Rückstand noch nicht das Ausmaß umfasst, dass wir die Punkte in der
Rückrunde nicht einholen könnten. Deshalb müssen wir einfach schauen, dass
wir das, was am Anfang nicht so gut lief,
jetzt im nachhinein wieder gut machen
können.
~: Für wie realistisch hältst du den
Aufstieg noch in dieser Season?
Sercan Güvenisik: Für wie real? (lacht)
Möglich ist alles, besonders im Fußball,
aber natürlich sind die Chancen nicht sehr
groß. Aber ich bin auch als Typ bekannt,
der erst etwas aufgibt, wenn es gar nicht
mehr möglich ist. Von daher gesehen
hoffe ich, dass wir das noch schaffen
können.
~: Welche Sturmformation würdest
du auflaufen lassen, wenn du Trainer
wärst?
Sercan Güvenisik: Ich bin kein Trainer!
(lacht)
~: Muss die jetzige Mannschaft
noch verstärkt werden und wenn ja, auf
welchen Positionen, um für den Fall des
Aufstiegs die Klasse halten zu können?
Sercan Güvenisik: Ich glaube nicht, dass
die Mannschaft noch unbedingt verstärkt
werden muss, weil wir wirklich Jungs hier
haben, die was drauf haben. Wichtig ist
nur, dass wir einfach alles zu 100% umsetzen können, was wir können, und
dann denke ich auch, dass wir oben mitspielen und angreifen werden.
~: Danke für das kurze Gespräch.
Nun gilt es also die Kräfte zu bündeln.
Gleich die ersten Gegner, VfL Bochum II,
1. FC Kaiserslautern II, FC Schalke 04 II
sowie der 1. FC Saarbrücken werden den
Preußen alles abverlangen. Der Druck auf
Preußen Münster ist zwar der gleiche wie
am Anfang der Saison, jedoch scheint sich
die Mannschaft jetzt gefunden zu haben.
Die Chance zum Aufstieg ist nach wie vor
gegeben, wobei die Entscheidung Sercan
Güvenisiks, beim SCP zu spielen, das
ganze Team noch weiter puscht. Bei einem gelungenen Rückrundenstart ständen sicherlich auch die Fans als 13ter
Mann hinter den Adlerträgern. Denn eines
ist sicher, Münster lechzt nach dem Aufstieg. #
Kurz und Knapp
Essen im Enchilada
Am 10.01.2010 wurden insgesamt 80 Wohnungslose und Sozialbenachteilige aus den Reihen der ~, des Treffpunktes
an der Clemenskirche und dem Haus der Wohnungslosen Hilfe
ins Enchilada zum Drei-Königs-Essen eingeladen! Wir wollen
hiermit dem Enchilada-Team danken für das wunderbar leckere Essen und für die offene Freundlichkeit, mit der uns das
Team entgegengekommen ist. #
Die neue ~
erscheint am 01. 03. 2010
Redaktionsschluss
ist der 12. 02. 2010
Tauschrausch:
~-Tauschaktion immer noch aktuell:
www.muenster.org/draussen/tauschrausch.html
Redaktionssitzung:
Jeden Dienstag um 14:00 Uhr findet die Redaktionssitzung
statt. Freie Mitarbeiter sind immer willkommen!
§ Neues aus dem Familienrecht
Unterhalt von Mutter und Vater aus Anlass der Geburt
Es erstaunt immer wieder, dass junge Leute, die es doch gerade angeht, nicht darüber informiert sind, dass der betreuende
Elternteil einen eigenen Unterhaltsanspruch gegen den nicht
betreuenden Elternteil hat (§1615 l BGB), ohne dass die Kindeseltern verheiratet sind und unabhängig vom Unterhaltsanspruch
des Kindes.
_Morton und Frauke kennen sich schon aus der Realschule haben sich nach einigen Jahren wieder getroffen und bezogen
eine gemeinsame Wohnung. Sie hatte ihre Ausbildung zur Zahnarzthelferin bereits abgeschlossen und drei Jahre in diesem Beruf gearbeitet mit einem Nettoeinkommen von 1.200,00 Euro.
Der Zahnarzt hatte seine Praxis allerdings aus Altersgründen
aufgegeben, so dass Frauke gerade arbeitslos war. Morton hatte
sein Ingenieurstudium erfolgreich abgeschlossen und verdiente monatlich netto etwa 4.000,00 Euro.
_Als Frauke nach zwei Jahren des Zusammenlebens mit Morton
im 7. Monat schwanger war, wurde die Beziehung zwischen
beiden immer stressiger und beide trennten sich einvernehmlich. Morton ist bereit, später - nach der Geburt des erwarteten Kindes - Kindesunterhalt nach der Düsseldorfer Tabelle zu
bezahlen. Ansonsten ist er der Auffassung, Frauke könne sich
einen Job suchen und das Kind von ihren Eltern betreuen lassen.
_Er muss sich allerdings eines Besseren belehren lassen. Er hat
der Kindesmutter Frauke zunächst sechs Wochen vor und acht
Wochen nach der Geburt des Kindes Unterhalt zu gewähren und
im Normalfall, wenn von Frauke wegen der Erziehung und
Pflege des Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden
kann, bis mindestens drei Jahre nach der Geburt des Kindes
weiterhin Betreuungsunterhalt für Frauke zu zahlen. Frauke
hat auch das Recht, in den ersten drei Jahren des Kindes dieses selbst zu betreuen und zu erziehen und nicht durch Dritte
betreuen zu lassen, wie etwa den Großeltern. Bei der Höhe des
Unterhalts der Kindesmutter kommt es auf ihre Lebensstellung
zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes an. Da Frauke arbeitslos
war, wird nicht ihr letztes Gehalt als Zahnarzthelferin berücksichtigt, sondern steht ihr nach der Rechtsprechung als Bedarf
der notwendige Selbstbehalt einer nicht Erwerbstätigen zu, der
sich zur Zeit auf 770,00 Euro beläuft.(vgl. BGH NJW 2008, 3125)
_Sollte Frauke trotz ihres Unterhaltsanspruchs wegen der Kindesbetreuung noch in den ersten drei Lebensjahren des Kindes berufstätig sein, ist dieses Gehalt nur teilweise - je nach
den Umständen des Falles - bei der Berechnung des Unterhaltsanspruch zu berücksichtigen, da es aus überobligatorischer
Tätigkeit stammt. Frauke würde also unterhaltsrechtlich mehr
leisten, als von ihr erwartet wird. #
27
Bericht | Text: Horst Gärtner
Schlussakkord
Der Name „Daisy“ weckt kuschelweiche Erinnerungen an die
Verlobte von Donald Duck; sie ist schön, lebhaft und hat einen
schmachtenden Blick.
_So präsentierte sich das mit Katastrophenvoranmeldungen
angekündigte Tief „Daisy“, das wochenlang ganz Europa in
seiner Umklammerung hatte, beileibe nicht, sondern ruppig,
frostig, mit Schnee, Eis und Sturm, wie wir Münsterlander
Flachlandtiroler das seit Jahren nicht mehr erlebt haben.
Wetterverhältnisse, die für uns alle unangenehm, lästig und
beschwerlich waren, für die Menschen auf der Straße und
auch für unsere Straßenverkäuferinnen und Straßenverkäufer
ausgesprochen bedrohlich, eine Wetterlage zum „Zähne zusammenbeißen“.
_Wer bei Schnee, Eis, Sturm und Temperaturen zwischen 10
und 20 Grad minus im Pelzmantel, einer Lammfell- oder
Daunenjacke eine zeitlang „draußen“ sein musste, der kroch
schnell wieder ins Warme - in seine Wohnung, ins Büro, ins
Geschäft oder in den Betrieb.
_Unsere Straßenverkäuferinnen und Straßenverkäufer haben
keinen Pelz, kein Lammfell und keine Daunenmäntel. Sie
stehen stundenlang auf der Straße und frieren. Da hilft es nur
wenig, dass das Christkind Pullis gebracht hatte, dass wir Jacken und Handschuhe verteilten, so gut wir konnten. Wir sind
froh, dass in dieser Zeit niemand ernstlich krank geworden ist.
Dank an unsere Verkäufer, dass sie durchgehalten haben.
_Wenn man in dieser Zeit - und auch jetzt noch - einen Blick nach
Berlin wirft, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren,
dass mit „Daisy“ dort auch alles eingefroren ist; außer dem Mundwerk, mit dem sich der eine noch besser profilieren will als der
andere! Was diese Wunschkoalition den Wählerinnen und Wählern
(und Steuerzahlern!) seit Monaten präsentiert, geht nicht auf die
berühmte Kuhhaut! Es melden sich Politiker aus der 2. und 3. Reihe
zu Wort und alle wollen sie nur eins: Das parteipolitische Profil
schärfen - dafür sind sie aber nicht in den Bundestag gewählt
worden!
_Wenn man Ausschau hält nach Regierungsmitgliedern, die sich
die Ärmel hochkrempeln, dann hat man es mit der Standortbestimmung schwer. Man hat eher den Eindruck, es geht nach dem
berühmten bayrischen Kabarettisten Karl Valentin in seinem Lied:
„Jetzt fang´n wir gleich an“ - das singen in dem Lied die Maurer
so lange, bis „Feierabend“ geläutet wird! #
Cleopatra
wuchs an einer stark befahrenen Kreuzung bei einem sehr katzenfreundlichen Obdachlosen auf und verbrachte dort mit mehreren anderen Katzen
ihre ersten beiden Lebensjahre. Leider wurde sie von den dortigen Katzen
oft verscheucht und zeigt sich auf der Pflegestelle verängstigt und unterwürfig den vorhandenen Katzen gegenüber. Aus diesem Grund sollte sie
entweder als Einzelkatze oder zu einem freundlichen, nicht dominanten
Kater vermittelt werden. Wegen ihrer anfänglichen Zurückhaltung gegenüber fremden Menschen sollten die neuen Besitzer mit einer etwas längeren
Eingewöhnungsphase rechnen und ihr genügend Zeit geben, um Vertrauen
aufzubauen. Danach möchte sie gerne wieder Auslauf bekommen. Sobald
sie sich eingewöhnt hat, wird sie sich als verspielte und lebhafte Katze
entpuppen, die sich gerne in der Nähe ihrer vertrauten Dosenöffner aufhält und mit Begeisterung schmusen kann. Cleopatra ist 2 Jahre alt und
sucht ein ruhiges Zuhause - gerne mit größeren Kindern.
Kontakt:
Tel. 0251/8469757 oder
www.katzenhilfe-muenster.de
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Der diesjährige Kinderprinz heißt Christian Limberg-Sulzer, Enkel des Karnevalsprinzen Hermann II. von 1998. Hermann Limberg
war in der Session 1997/1998 Stadtprinz von Münster, aber auch schon vorher ist er Karnevalist mit Leib und Seele, davon zeugen die rund 4.000 Orden, die er von den Münsteraner Karnevalsvereinen in den Jahren erhalten hat, auch das „Tanzende
Schloss“ der KG Schloßgeister, die höchste Auszeichnung für einen Karnevalisten, der „Knabbelorden“ der Narrenzunft vom
Zwinger. Hermann Limberg, seit vielen Jahren erfolgreicher Unternehmer im Bettengeschäft, wird von Freunden gelegentlich
„Papst der Betten“ genannt, weil er die Betten für den Papst bei seinem Münster-Besuch geliefert hatte. Er unterstützt die
„~“ mit seinem sozialen Engagement seit Jahren.
Terminankündigung
Dienstag, 9. Februar 2010 20 Uhr
in der Rüstkammer des Rathauses zu Münster am Prinzipalmarkt
Ich war Deserteur
Rainer Schepper berichtet
Diese Lesung wird veranstaltet von Rainer Schepper mit freundlicher Unterstützung
durch das Kulturamt der Stadt Münster Tel. 0251/2302194 (Platzreservierungen)
Eintritt: 10 Euro, Studenten und Schüler 5 Euro
Rainer Scheppers Autorenlesung wird akustisch eingefasst von vier Schlagzeugimprovisationen seines mit dem
damaligen Deserteur heute etwa gleichaltrigen Enkelsohns Sebastian Lambers, zugehörig der Sendener Jugendband
„Without Skills“, einer Gruppe, die sich gegen Kindermissbrauch einsetzt und noch jüngst in Berlin auf einer Veranstaltung
der World Childhood Foundation vor der schwedischen Königin Silvia, der Schirmherrin der Organisation, auftrat.
In der Rüstkammer des Rathauses zu Münster treten Rainer Schepper und Sebastian Lambers auf gegen jede Art von
Menschenmissbrauch, sei es im Krieg oder im Frieden.
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Letze Meldung:
„Die Westfälischen Nachrichten“ brachten auf der Westfalenseite am 20. Januar 2010 einen Artikel mit dieser Überschrift.
Die augenzwinkernde Klarstellung von „~“ lautet: Wir waren es nicht!
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