Zweitsommer - Leseprobe
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Zweitsommer - Leseprobe
ISKA Zweitsommer Roman LESEPROBE 2 © 2013 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2013 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: ISKA Printed in Germany Taschenbuch: Großdruck: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck: ISBN 978-3-8459-0930-1 ISBN 978-3-8459-0931-8 ISBN 978-3-8459-0932-5 ISBN 978-3-8459-0933-2 Mini-Buch ohne ISBN AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. 3 Voller Trauer Berit atmete tief durch, ehe sie aus dem Auto stieg und auf die Fernbedienung drückte. Das Geräusch der Verriegelung erschien ihr heute unnatürlich laut zu sein. Oder war sie momentan nur überempfindlich? Sie lief den Gartenweg entlang zur Eingangstür und ärgerte sich zum wiederholten Mal, dass die Bodenplatten locker waren. Irgendwann würde jemand stolpern und sich verletzten. Aber wie so vieles, was eigentlich am Haus hätte repariert werden müssen, blieb es liegen. Daniel investierte alle seine Kraft in sein Geschäft und das seit Jahren. Es musste zwangsläufig einiges andere auf der Strecke bleiben. Noch einmal ging ein Seufzer durch ihre Brust, dann steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. 4 »Guten Abend Schatz, da bist du ja! Habt ihr alles erledigen können? Ich habe schon mal was zum Abendessen vorbereitet. Bestimmt hast du Hunger.« Daniel steckte seinen Kopf aus der Küche und hauchte seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Berit hängte ihre Jacke an die Garderobe und ließ sich auf einen Stuhl in der Diele fallen. Eben noch hatte sie im Auto gesessen, doch sie fühlte sich so schlapp, als wäre sie kilometerweit gelaufen. »Eigentlich habe ich gar keinen Appetit«, erwiderte sie ihrem Mann, »doch wahrscheinlich hast du recht, ein wenig muss ich wohl essen.« Daniel gesellte sich zu ihr. »Ich weiß, das ist jetzt alles andere als leicht für dich, schließlich ist dein Vater gerade einen Tag tot. Das ist ein schwerer Einschnitt in dein Leben; es wird dauern, bis du es begriffen und verarbeitet hast. Ich hätte dich und Jana doch auch gerne zum Bestatter begleitet, aber ich kann nicht einfach das Geschäft allein lassen.« Er sah sei- 5 ne Frau mit einem um Verständnis bittenden Blick an. Daniel hatte sich vor mehr als 15 Jahren mit einem Ersatzteilhandel selbständig gemacht und es nie bereut, auch wenn die Geschäfte gerade nicht mehr so gut liefen wie ganz am Anfang. Eine Zeit lang hatte er sogar drei Mitarbeiter gehabt und Arbeitsplätze in dieser strukturschwachen Region geschaffen, doch nun war es seine Schwester, die ihm als einzige Angestellte im Büro und im Laden unter die Arme griff. Aber gerade jetzt war Marion mit ihrem Mann im Urlaub. Es tat ihm wirklich leid, dass er seine Frau nicht unterstützen konnte und sie mit ihrer Schwester Jana allein alle Wege erledigen musste. Berits Mutter hatte einen Schwächeanfall erlitten, als sie ihren Mann tot im Bett fand. Auch um sie musste sich gekümmert werden. Aber den Laden einfach schließen? Nein, das hatte er nicht gewollt. Wer einmal vor verschlossener Tür stand, der kam nicht wieder, war seine Erfahrung. 6 Berit legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. Sie verstand ihn ja. Aber verstand er sie auch? Ihre Ehe war in die Jahre gekommen. Vor drei Jahren hatte Berit ihren 50. Geburtstag gefeiert. Die Silberhochzeit hatten sie längst hinter sich. Ihr Sohn Markus war seit ein paar Jahren verheiratet und hatte seine Eltern schon zu Großeltern gemacht. Nur ihr Nesthäkchen Julia wohnte noch zu Hause und kämpfte sich gerade erfolgreich durch die 11. Klasse des Gymnasiums. Stumm saßen Berit und Daniel sich gegenüber, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Was war das doch einmal für eine himmelstürmende Liebe gewesen! Sie hatten ihre Beziehung schon als Jugendliche vor der Welt verteidigt und gewusst, dass sie füreinander geschaffen waren und eine Familie gründen wollten. So lange war das her. Da war Berits Vater noch Abteilungsleiter in der Kreisverwaltung gewesen, dem Rat des Kreises, wie es damals genannt wurde. Mit der Umstrukturierung nach der Wende hieß es für 7 ihn, in den Ruhestand zu gehen. Die Mutter hatte noch ein paar Jahre eine Bürotätigkeit bei einer der diversen neuen Krankenkassen ausgeübt, bis auch sie in Rente ging. Berits Eltern waren alt geworden. Das eine oder andere Zipperlein hatte sich eingestellt. Und doch kam der Tod des Vaters vollkommen überraschend und sie konnte sich auch noch gar nicht richtig vorstellen, dass er nicht mehr da war. Daniel durchbrach die Stille. »Du, ich müsste noch mal kurz rüber in den Laden. Ich möchte wenigstens das Nötigste an Papieren ordnen, damit Marion nicht das blanke Chaos vorfindet, wenn sie wieder da ist. Oder soll ich besser bei dir bleiben?« Jetzt huschte doch ein leichtes Schmunzeln über Berits Gesicht. Sie kannte ihren Mann einfach zu gut. »Nein, lass nur, du kannst noch mal rüber gehen. Ich bin doch nicht krank und Julia wird bestimmt auch bald kommen.« 8 Daniel strich seiner Frau sanft übers Haar. »Bis gleich, Schatz, ich beeile mich.« Berit räumte das Geschirr in die Küche und ging dann ins Wohnzimmer. Es war geräumig und hatte Fenster in zwei Richtungen, außerdem eine Tür zur Terrasse. Im Halbdunkel stand sie da und sah hinaus. Damals, als sie anfingen hier zu bauen, war der Blick noch frei gewesen. Man konnte bis zur Kirche sehen. Jetzt waren im Laufe der Zeit die Bäume, die während der intensiv betriebenen Aufforstungen Mitte der 80er Jahre angepflanzt worden waren, so groß und dicht, dass sie einer undurchschaubaren Hecke glichen. Wie hatten sie sich gefreut, diesen Bauplatz am Stadtrand gefunden zu haben! Das Gebiet war nach dem 2. Weltkrieg erschlossen worden, um dort Neubauern anzusiedeln. Doch nicht jede Parzelle war belegt worden. Als junge Familie hatten sie damals die Chance erhalten, ihr eigenes Häuschen zu errichten. 9 Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, von hier weg zu gehen, viel zu sehr liebte sie ihre Heimatstadt, die sich in das enge Flusstal der Wipper zwängte. Die kleinen Häuser, in denen früher die Bergarbeiter gewohnt hatten, drängten sich rechts und links des Flusses an den Hängen dicht an dicht. Doch hier oben, wo die Stadt an die weitläufigen Felder grenzte, da war genug Platz gewesen. Der Bergbau war zu der Zeit schon als Geschichte in der näheren Umgebung abgehakt, lediglich die großen und weithin sichtbaren Abraumhalden kündeten von der jahrhundertealten Tradition. Doch das große Walzwerk und die Kupferhütten hatten den Einwohnern Arbeit und ein gutes Auskommen gesichert. Freilich, die jungen Leute hatten oft kämpfen müssen um das knappe Baumaterial, jeder Sack Zement, den man ergatterte, war ein Erfolg. Und nun rostete das Gartentor vor sich hin und die schwer errungenen Natursteinbodenplatten lagen lose auf dem Weg und zerbröselten wie ihre Beziehung. 10 Berit drehte sich um. Der Bewegungsmelder hatte die Hausbeleuchtung aufflammen lassen, jedenfalls einen Teil davon. Im Schein der einzigen, funktionierenden Glühbirne sah sie zwei eng umschlungene Gestalten. Obwohl sie den Abnabelungsprozess eines Kindes bereits bei ihrem Sohn erlebt hatte, konnte sie sich doch jetzt bei Julia noch nicht damit abfinden, dass ihr kleines Mädchen eigene Wege ging. Und wenn sie ehrlich war, ihren zukünftigen Schwiegersohn hatte sie sich auch etwas anders vorgestellt. Sie war durch ihre Arbeit bei einer Jugendeinrichtung des Landkreises durchaus offen gegenüber den Erscheinungen der Jugendkultur, doch musste ausgerechnet ihre Julia einen Jungen anschleppen, der so düster wirkte, der gepierct und tätowiert war? Sie war froh, als die Tür klappte und ihre Tochter wohlbehalten in die Diele trat. Julia schaltete das Licht an. »Mama, du stehst ja hier im Dunkeln.« Das Mädchen drückte die Mutter an sich. »Wie geht es dir? Ich war auch den ganzen Tag heute so traurig, dass 11 Opa nicht mehr lebt. Aber Basti hat mich ganz lieb getröstet. Wir haben Musik gehört und er hat mir Gedichte vorgelesen, das war voll schön! Ich bin so froh, dass ich ihn gefunden habe.« Berit unterdrückte eine erstaunte Bemerkung und versuchte ein Lächeln. »Ach, es geht soweit. Wollen wir noch etwas fernsehen und uns ablenken?« Julia nickte zustimmend und so kuschelten sich Mutter und Tochter gemeinsam in die Sofaecke und folgten einem Liebesfilm. Als Daniel vom Geschäft zurückkam, waren beide eingeschlafen. Während Julia sich später in ihr Zimmer zurückzog, blieb Berit auf dem Sofa liegen. Ihr unruhiger Schlaf war von Träumen durchzogen, in denen sie selbst ein Mädchen war, kaum älter als ihre Julia heute. Auch sie hatte an der Haustür gestanden und sich mit ihrem Freund geküsst. Doch ihr Empfang durch die Mutter war so ganz anders gewesen. 12 »Was soll das?«, hörte sie die aufgebrachte Stimme ihrer Mutter wieder fragen. »Willst du wirklich mit einem dreckigen Schlosser zusammen leben?« Berits Tränen hatten die Mutter nicht erreicht. Erst als sich der Vater einmischte, hatte die Mutter eingelenkt, wohl in der Hoffnung, dass sich das Problem noch von selbst lösen würde. Als Berit aufwachte, schien ihr die Morgensonne ins Gesicht. Im Haus war es ruhig und kündete davon, dass Daniel im Geschäft und Julia in der Schule war. Bruchstückhaft kam ihr der Traum wieder in Erinnerung. Sie lächelte einen Moment in sich hinein. Heute war ihre Mutter überzeugt, dass es keinen besseren Schwiegersohn geben könnte als Daniel. Na ja, Kunststück, dachte Berit bei sich, schließlich hat sie ja nur einen! Jana war glücklicher Single aus Überzeugung und würde wohl auch nicht mehr heiraten. Dabei war sie eine sehr aparte Frau mit ihren nun auch bald 50 Jahren. Aber es war wirklich 13 dem Vater zu verdanken gewesen, dass die Mutter bereit war, Daniel näher kennen zu lernen und ihre Vorurteile schmolzen wie Schnee in der Sonne. Durch seine strebsame, fleißige Art hinterließ er nur den besten Eindruck und war bald Schwiegermutters Liebling. Als Berit die Oberschule abschloss, konnte man schon sagen, dass die beiden ein festes Paar waren. Und daran sollte sich auch nichts mehr ändern. Berit stieg die Treppe hinauf und ließ sich erst einmal ein Bad einlaufen. Dann stand sie suchend vor dem Kleiderschrank, schließlich hatte sie die Nacht in ihren Sachen verbracht. Sie musste sich so oder so von Kopf bis Fuß umziehen. Gestern hatte sie eine graue Jacke und einen grauen Pulli angezogen, das erschien ihr durchaus angemessen. Doch heute musste sie direkt zu ihrer Mutter gehen, die erwartete mit Sicherheit schwarze Trauerkleidung. Berit mochte schwarz nicht. Gerade jetzt, im Frühling, hätte sie lieber luftige, bunte Kleidung getragen, doch bis zur Beerdi14 gung kam sie wohl nicht um eine gewisse Kleiderordnung herum. Ganz hinten im Schrank entdeckte sie eine schwarze Bluse, die hatte sie einmal zur Beerdigung einer Tante angehabt. Ein Glück, sie passte noch! Dazu das schwarze Kostüm, welches für gelegentliche offizielle Anlässe parat hing, so konnte sie der Mutter entgegen treten. Jana hatte die Nacht bei der Mutter verbracht und Berit war ihrer Schwester dankbar gewesen. Nun machte sie sich auf den Weg in die Altstadt zur Wohnung ihrer Eltern. »Da bist du ja endlich«, empfing Jana ihre Schwester. »Mama hat schon nach dir gefragt.« Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer, wo die Mutter auf dem Sofa saß und blicklos ins Leere zu starren schien. Der Tod ihres Mannes hatte sie schwer getroffen. Berit setzte sich zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern. Sie hätte sie trösten wollen, doch eigentlich brauchte sie selber Trost. Stumm sahen sich Mutter und Tochter an. 15 Jana durchbrach die Stille: »Ich mache uns jetzt mal einen Kaffee. Vielleicht kannst du die Mama überreden, dass sie auch etwas isst. Sie hat wahrscheinlich seit vorgestern nicht viel zu sich genommen.« »Das ist eine gute Idee«, stimmte Berit ihrer Schwester zu. »Ich habe ja heute auch noch nichts gegessen. Vielleicht kommt gemeinsam der Appetit.« Wenig später stand der Kaffe auf dem Tisch und duftete mit dem frischen Toast um die Wette. Die Schwestern sahen sich aufatmend an, als die Mutter wirklich begann eine Scheibe Toast mit Käse zu essen. Später legte Jana den Katalog des Bestattungshauses auf den Tisch. Mit Klebezetteln hatte sie markiert, was sie gemeinsam mit Berit am Tag zuvor bestellt hatte. Sie hatten den Wunsch des Vaters respektiert und sich für eine Urnenbestattung entschieden, auch wenn die Meinung der Mutter eine andere gewesen war. Doch nun nickte sie zustimmend zu der ausgewählten Urne und dem Blumen16 schmuck. »Ihr beide habt das genau richtig gemacht, Heinrich hätte es wohl so gewollt.« Die Schwestern waren innerlich erleichtert. Nun mussten sie noch eine Grabstelle aussuchen. »Glaubst du, dass du mitkommen kannst zum Friedhof?«, fragte Jana ihre Mutter. »Ich sollte mich wohl dazu aufraffen«, antwortete die Mutter. So langsam schienen ihre Lebensgeister zurückgekehrt zu sein. Die drei Frauen zogen sich die Schuhe an und traten vor die Haustür. »Wo hast du denn das Auto geparkt?« Jana sah Berit fragend an. »Ich bin den kurzen Weg gelaufen«, entgegnete Berit ihrer Schwester. »So konnte ich nämlich ein wenig den Kopf wieder frei bekommen. Ich hatte so einen blöden Traum von früher, das war richtig wie echt. So was kommt einem wohl wieder hoch, wenn ein vertrauter Mensch plötzlich nicht mehr lebt.« »Dann musst du dich aber auf die Rückbank zwängen«, grinste Jana ihre Schwester an. Ihr 17 schmuckes Cabrio hatte den Komfort auf die Vordersitze begrenzt. Aber Berit lachte nur und war schon nach hinten durchgerutscht. So ungelenkig war sie nun doch noch nicht. Die Fahrt führte aus der Innenstadt stetig bergauf. Oben auf der Anhöhe lag der Friedhof inmitten einer parkähnlichen Anlage. Hohe, alte Bäume säumten die Hauptwege und spendeten im Sommer erholsamen Schatten. In der Friedhofsverwaltung war wenig Publikumsverkehr und die Frauen wurden von der netten Mitarbeiterin sofort hereingebeten. »Ja, was soll es denn sein, ein Reihengrab oder ein Einzelgrab? Dort könnten dann später noch mehrere Urnen beigesetzt werden.« Es war wohl genau die letzte Bemerkung, die den Ausschlag gab. »Wir nehmen ein Einzelgrab. Dann könnte ihr mich mal direkt neben meinem Heinrich begraben.« Die Mutter hatte die Worte sehr energisch gesprochen und auch wenn ihre Töchter jetzt noch nicht an ih- 18 ren Tod denken mochte, so stimmten sie doch der Entscheidung zu. »Wollen wir dann eine schöne Stelle aussuchen? Es sind mehrere Grabstellen frei geworden, die im alten Teil des Friedhofs liegen, das wäre doch bestimmt etwas für Sie. Dann ist auch der Fußweg nicht so weit bis zum Grab.« Die Mitarbeiterin schloss die Bürotür ab und trat mit den Frauen nach draußen. Sie hatte während ihrer Lehre den nun Verstorbenen noch kennengelernt und war wirklich daran interessiert, seiner Witwe und den Kindern unter den gegeben Umständen etwas Gutes tun zu können. Schon bald war der passende Platz gefunden und die restlichen Formalitäten erledigt. Alles Übrige würde das Bestattungshaus übernehmen. Als die Frauen wieder im Auto saßen, war es Nachmittag geworden. Irgendwie knurrte Jana und Berit nun doch der Magen und so beschlossen sie, in einem Restaurant einzukehren und eine Kleinigkeit zu essen. Die 19 Schwestern ließen auch das Argument der Mutter, dass sie ja gar kein Appetit habe, nicht gelten; und zum Schluss schmeckte es allen gut. So gestärkt trafen sie bei der Wohnung der Mutter wieder ein. »Soll ich noch eine Nacht bei dir bleiben?«, wollte Jana wissen. Doch die Mutter verneinte. »Ihr habt doch beide euer eigenes Leben. Heute geht es ja auch schon wieder. Die Frau Doktor will am Abend noch mal nach dem Kreislauf sehen. Und ich kann euch ja anrufen, wenn was ist.« Es war für Berit wie ein Gedankenblitz, den das Wort anrufen ausgelöst hatte. Sie hatte seit gestern ihr Handy auf Stummschaltung und nicht einmal darauf gesehen. Oh Gott, das war ihr ja noch nie passiert! Sie kramte das Gerät aus der Tasche und sah ein halbes Dutzend unbeantwortete Anrufe. Die von den Kollegen ignorierte sie weiter, schließlich hatte sie Urlaub genommen. Doch Daniel musste sie unbedingt schnellstens zurückrufen. Sie verabschiedete sich von Mutter und Schwes20 ter und lief in Richtung Stadtpark. Hier war sie ungestört und setzte sich auf eine Bank, um Daniel anzurufen. Er nahm das Gespräch an, kaum dass sie auf die Verbindungstaste gedrückt hatte. »Da bist du ja! Ich habe schon ein paar mal versucht, dich zu erreichen.« Leicht vorwurfsvoll klang Daniels Stimme. »Bitte entschuldige, ich hatte die Stummschaltung an und deine Anrufe nicht bemerkt. Auf dem Friedhof war das auch besser, das Kinderhaus hat auch schon versucht, mich zu erreichen. Aber diesmal muss Urlaub auch Urlaub sein! Ich kann nicht noch nebenbei für die anderen die Arbeit mit machen, ich habe den Kopf so schon voll.« Berit machte aus ihrer momentanen Stimmung keinen Hehl. »Oh, dann sollte ich wohl besser absagen. Markus und Familie wollten eigentlich nachher mal rum kommen.« »Nein, nein!«, beeilte sich Berit zu versichern. »Die Kinder können ruhig kommen, das ist doch ganz anderer Stress, der lenkt höchstens 21 ab. Und den Kleinen habe ich auch schon wieder viel zu lange nicht gesehen.« Obwohl Markus mit seiner Frau Tanja und dem kleinen Paul kaum eine Fahrstunde entfernt wohnte, sahen sie sich nicht all zu oft. »Soll ich noch was einkaufen?« Berit wurde schmerzlich bewusst, dass ihr nicht einmal der Inhalt ihres Kühlschrankes mehr bekannt war. »Nein, das ist nicht nötig, die Kinder wollen Pizza bestellen.« Berit atmete auf. Auch wenn sie nicht viel von Fastfood hielt, heute war sie froh, nicht noch etwas zubereiten zu müssen. »Gut, dann mache ich mich jetzt auf den Heimweg, bis gleich, Daniel.« »Ja, bis gleich, Liebling!« Kaum, dass Berit richtig zuhause angekommen war, hielt auch schon das Auto von Markus und Tanja vor dem Haus und der kleine Paul in seinem Kindersitz strahlte ihr entgegen. Das war, als ginge die Sonne in ihrem 22 Herzen auf. Der Kleine war seinem Vater sehr ähnlich und Berit fühlte sich bei jeder Geste des Jungen an ihren kleinen Markus vor 25 Jahren erinnert. Sie liebte dieses Kind über alles! Manchmal dachte sie mit einem schlechten Gewissen, ich liebe ihn mehr als meine eigenen Kinder. Doch dann erinnerte sie sich an ihre Oma, die hatte einmal gesagt: »Liebe hat die Fähigkeit, größer zu werden, wenn man sie teilt.« Und so hoffte sie, dass ihre Liebe für alle reichte. Markus übernahm die Bestellung der Pizzen und dachte sogar an seine kleine Schwester. Und als hätte er es geahnt, kam Julia fast mit dem Pizzaboten gemeinsam zur Tür herein. Auch sie freute sich, ihren Bruder und seine Frau wieder zu sehen. Doch noch mehr freute sie sich über den kleinen Paul. Sie war vernarrt in ihren Neffen und verschwand schon bald mit dem Pizzateller und Paul in ihrem Zimmer, um mit ihm zu spielen. 23 Nun wurde das Gesprächsthema ernster. »Wisst ihr schon, wann die Beerdigung sein wird?«, wollte Markus wissen. »Ja, das ist heute in zwei Wochen, also am Donnerstag. Und morgen oder übermorgen wird auch die Anzeige in der Zeitung erscheinen. Es gab ja doch viele, die Papa gekannt haben.« Berit sah voller Trauer in die kleine Runde. Daniel legte ihr den Arm um die Schultern, es war ein stummer Trost. »Also, wenn ihr noch Hilfe braucht, wegen der Trauerfeier oder so, dann sagt uns das bitte, wir helfen gerne«, griff Tanja in die Unterhaltung ein. Berit putzte sich die Nase. »Um ehrlich zu sein, so weit habe ich noch gar nicht gedacht. Mamas Wohnung ist ja groß, aber ich möchte ihr nicht den ganzen Trubel zumuten. Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass wir einen Raum in einer Gaststätte mieten werden, dort eben Kaffee trinken und dann ganz ruhig der Mama zur Seite stehen können, statt in der Küche.« 24 Alle nickten zustimmend. Eine Stunde später brach die kleine Familie zur Heimfahrt auf. Paul war schon auf Julias Arm eingeschlafen und ließ sich ohne noch einmal aufzuwachen in den Kindersitz verfrachten. Berit schloss die Tür und drehte sich zu ihrem Mann um. »Weißt du was, jetzt könnte ich einen Schnaps vertragen!« Während Daniel zur Bar ging und jedem einen Weinbrand einschenkte, ließ sich Berit auf das Sofa fallen. »Aber nicht wieder hier einschlafen!«, ermahnte sie ihr Mann. Doch das war nicht nötig. Sie tranken ihre Gläser aus und gingen gemeinsam die Treppe hinauf zum Schlafzimmer. In dieser Nacht schlief Berit tief und traumlos und eng an Daniel geschmiegt, so wie ganz früher, zu Beginn ihrer Ehe. Wieder war das Haus in Stille gehüllt, als Berit die Augen aufschlug. Sie überlegte kurz, was heute noch alles zu erledigen sein würde. 25 Schließlich hatte sie heute noch frei. In der nächsten Woche rief die Arbeit wieder. Sie stellte sich kurz unter die Dusche und begann, noch im Bademantel, zu frühstücken. Der Alltag setzte sich wieder durch und mit ihm die ureigensten Bedürfnisse. Der Kühlschrank hatte ihr nicht mehr viel geboten, sie musste also dringend Lebensmittel einkaufen. Aber auch ein paar Kleidungsstücke waren nötig. Noch einmal streifte sie die Bluse und das Kostüm über, aber es waren einfach nicht die Sachen, mit denen sie länger rumlaufen wollte, Todesfall hin oder her. Heute entschied sich Berit wieder dafür, das Auto zu nehmen. Es musste nicht sein, dass sie mit schweren Beuteln beladen den Berg hoch stieg. Und der Familien-Audi bot schon einiges an Stauraum. Den Berg runter hätte sie allerdings glatt den Motor sparen können, da rollte das Gefährt ganz von selbst. Berit parkte in der Nähe des Marktplatzes und wollte als erstes nach Bekleidung suchen. Sie erinnerte sich noch, als ihre Großeltern ge26 storben waren. Da gab es das große Kaufhaus der Handelsorganisation noch. Und im Obergeschoss, ganz hinten in der letzten Ecke, da fand sich ein Schild: »Trauerbekleidung«. Das hatte weder mit hübsch noch mit modisch was zu tun, es war einfach nur schwarz und hässlich gewesen. Jetzt befand sich in dem Gebäude die Niederlassung einer Jeans-Kette und genau dorthin führte sie ihr Weg. Schon der erste Ständer war voll mit schwarzen TShirts in vielen Varianten, mit StrassApplikationen, mit dezenten Logos oder mit kleinen Raffungen und Puffärmeln. Berit griff sich ein paar Bügel und verschwand in der Umkleidekabine. Bei der letzten Anprobe rief sie leise, um nicht aufzufallen, nach einer Verkäuferin. »Ich würde das gerne anlassen, geht das?« Die junge Verkäuferin, vielleicht im Alter von Markus und Tanja musterte sie von Kopf bis Fuß und erkannte Berits Problem. »Natürlich geht das, ich werde gleich den Diebstahlschutz entwerten, dann können Sie 27 es anziehen. Aber ich glaube, Sie können noch mehr brauchen. Wir haben auch noch sehr schöne dunkle Jeans oder auch Jeans-Röcke und ein Sweatshirt würde ich Ihnen auch noch empfehlen. Dazu noch diese Blousonjacke und Sie sind für die nächsten Wochen gut angezogen.« Dankbar blickte Berit die junge Frau an. Wenig später hatte sie die größte Einkaufstüte voll mit Klamotten gepackt, die sie je getragen hatte. Na, wenigstens musste sie nicht noch Schuhe kaufen, die waren, wie bei Frauen üblich, in allen Farben vorhanden, auch in schwarz. Berit wuchtete die Riesentüte ins Auto und widmete sich den Lebensmitteln. Als sie alles eingekauft hatte, sah der Kofferraum gut gefüllt aus. Das Wochenende würde nicht in eine Schlankheitskur ausarten müssen, wie noch vorhin zu befürchten war. Berit sah auf die Uhr und beschloss, noch einen kurzen Abstecher zu ihrer Mutter zu machen. Die hatte 28 sich zwar nicht gemeldet, aber Berit dachte sich, sicher ist sicher. Einen Moment überlegte sie, ob sie ihren Schlüssel benutzen sollte um gleich in die Wohnung zu gehen. Doch sie entschied sich, zu klingeln. Es dauerte auch gar nicht lange, bis die Mutter an die Tür kam. »Ach, das ist aber lieb, dass du mal reinschaust«, begrüßte sie ihre Tochter. Sie gingen in die Küche, wo die Mutter gerade mit dem Abwasch beschäftigt war. Seit Jahren versuchte die Familie sie von der Nützlichkeit eines Geschirrspülers zu überzeugen. Doch das war für die alte Dame viel zu viel Schnickschnack. Und das bisschen Geschirr kriegte sie immer noch mit der Hand sauber. Schließlich kam ja schon das warme Wasser aus dem Hahn. Welcher Fortschritt zu früher, als jeder Liter auf dem Herd heiß gemacht werden musste. »Was hat denn die Frau Doktor gestern gesagt?« Berit wollte wenigstens erfahren, wie sie den Gesundheitszustand ihrer Mutter einschätzen konnte. Es war gut, dass die Haus29 ärztin gleich um die Ecke wohnte. Schon der Vater der jetzigen Frau Doktor, der alte Sanitätsrat war der Hausarzt der Familie gewesen, nun aber schon lange tot. »Ach, was soll sie sagen? Ich bin eine alte Frau, da muss man die Wehwehchen hinnehmen. Aber der Blutdruck ist wieder ganz gut und der Puls auch. Ich soll mich nicht aufregen, hat sie gesagt. Aber ich habe mir ja die Aufregung nicht ausgesucht.« Berit sah ihre Mutter liebevoll an. »Ach Mama, wie kann ich dir nur helfen? Möchtest du mit zu uns kommen und ein paar Tage oben bleiben?« »Nein, lass nur Kind, hier habe ich doch alles was ich brauche. Und wenn ich aus der Haustür trete, habe ich Bekannte um mich. Bei euch oben wäre ich ab nächster Woche doch den ganzen Tag alleine.« Berits Blick war voller Zweifel. »Aber du rufst gleich an, wenn was nicht in Ordnung ist!« 30 »Das mache ich, versprochen. Aber nun fahr heim und kümmere dich um deinen Mann und deine Tochter.« Berit nickte. Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter und stieg ins Auto. Ein kurzes Hupen, dann war sie um die Ecke verschwunden. Zuhause angekommen, räumte Berit die Lebensmittel in die Schränke und füllte den leeren Kühlschrank auf. Dann breitete sie ihre neu erworbenen Sachen auf dem Bett aus. Obwohl sie schwarz waren, war es keine typische Trauerbekleidung und damit mochte sie sich durchaus identifizieren, jedenfalls eine Zeit lang. Und so konnte sie auch zur Arbeit gehen. In der nächsten Woche musste sie ihren gewohnten Rhythmus wieder aufnehmen. Die Kollegen und die Kinder vertrauten darauf, dass sie dann wieder einsatzfähig war. Und Berit war sich sicher, dass ihr die Arbeit mit den Kindern gut tun würde. So nahm sie das Telefon und rief endlich bei ihrer Kollegin zurück. 31 Mehr als eine kurze Rückmeldung war auch nicht nötig, alles Weitere würden sie am Dienstag besprechen können. Jetzt wollte sie sich erst einmal eine kleine Ruhepause gönnen. Sie hatte gerade die Kaffeemaschine angestellt, als Daniel vom Geschäft herüber kam. »Das passt ja wunderbar, einen Kaffee könnte ich jetzt auch gebrauchen!« Er ließ sich in der Diele nieder. »Kannst du denn einfach weg, sind keine Kunden da?«, sah Berit ihren Mann verwundert an. »Marion ist gestern wieder aus dem Urlaub gekommen«, berichtete er. »Eigentlich würde sie ja erst am Dienstag nach Pfingsten wieder anfangen, aber sie möchte uns gerne unterstützen und ist heute schon vorbei gekommen. Und als ich gesehen habe, dass du auch wieder da bist, bin ich gleich rüber gekommen.« Berit lächelte ihrem Mann zu. Auch sie war der Schwägerin dankbar. So eine gemeinsame Kaffeestunde in aller Ruhe, das tat beiden gut. 32 Ausführlich berichtete Berit ihrem Mann von ihren großen Einkauf, vor allem der Bekleidung. Daniel konnte sich kaum das Lachen verkneifen angesichts des Kaufrausches seiner Frau. Aber da sie sich jetzt wenigstens wieder in ihrer Haut wohlzufühlen schien, war es ihm auch recht. Und schließlich ließen sich schwarze Sachen ja auch mit anderem kombinieren. Es musste also nicht gleich wieder jemand sterben, um die Kleidung zu nutzen. Fast nahtlos gingen die Eheleute vom Kaffee trinken zum Abendessen über. Wie in der letzten Zeit so oft, zog es Julia vor, gemeinsam mit ihrem Freund irgendwo ein Schnellgericht zu sich zu nehmen. Aber das war wohl ihrer Jugend geschuldet und natürlich dem Wunsch, so viel wie möglich mit Sebastian zusammen zu sein. Während Berit später eine Ladung Wäsche für die Maschine fertig machte und eine kurze Grundreinigung mit dem Staubsauger in Angriff nahm, ging Daniel noch einmal ins Geschäft, um mit Marion zu besprechen, was 33 während ihres Urlaubs an Arbeit angefallen war und was nun dringend erledigt werden musste. Berit hatte gerade den Staubsauger wieder in den Flurschrank geräumt, als sie Julias Stimme vor der Haustür hörte. Sie schien den Abschied von ihrem Freund gewollt in die Länge zu ziehen und Berit fühlte sich wieder an ihre eigene Jugend und an den Traum vor zwei Tagen erinnert. Sie klapperte betont laut mit der Schranktür, um bei den beiden draußen keine peinliche Situation aufkommen zu lassen, dann öffnete sie schwungvoll die Tür. »Oh, Mama.« Julia sah trotzdem erstaunt ihre Mutter an. »Na ihr beiden, was steht ihr denn hier draußen?« Berit wollte sicher klingen, doch selbst spürte sie, dass sie nicht recht wusste, wie sie sich jetzt richtig verhalten sollte. Jedenfalls nicht wie ihre Mutter vor vielen Jahren! Sie lächelte den jungen Leuten zu. »Kommt doch rein.« 34 Sebastian sah fragend zu seiner Freundin, machte dann aber den ersten Schritt in Richtung Haustür. »Guten Abend, Frau Schwerzer«, grüßte er Julias Mutter höflich. Auf dem Weg ins Wohnzimmer musste Berit beinahe lachen, und sie sprach diesen komischen Gedanken auch gleich aus. »Heute passen wir ja richtig gut zusammen«, wandte sie sich an Sebastian. »Heute haben wir beide schwarze Klamotten an! Und dazu noch unser Name, da wird alles gleich noch schwärzer!« Das Wortspiel war ihr spontan in den Sinn gekommen. »Mama! Das ist ja makaber!« Julia wusste nicht, was sie von ihrer Mutter zu halten hatte. Doch Sebastian konterte sofort. »Lass nur, Humor ist, wenn man trotzdem lacht, selbst wenn man schon den Sarg zu macht!« Julia kicherte leise über Sebastians Reim. »Ja, vielleicht ist es sogar gut, auch angesichts des Todes zu lachen, schließlich gehört er zum Leben«, sinnierte Berit. 35 »Sie haben Julia ja auch getröstet, als ihr Opa gestorben ist«, sprach sie nun wieder Sebastian direkt an. »Sie hat mir von Musik und Gedichten erzählt. Darf ich mal fragen, was das für Musik ist, die Sie so hören?« Sebastian dachte kurz nach. »Gibt es hier einen USB-Anschluss? Ich habe einen Stick in der Tasche, der ist randvoll, da könnten wir mal reinhören.« Berit schüttelte den Kopf. »Nein, hier nicht. Der PC steht im Büro drüben im Geschäft.« Aber Julia war schon aufgesprungen. »Wartet, ich hole mein Laptop. Da wird zwar die Klangqualität nicht so optimal sein, aber zum Anhören wird es genügen.« Während Julia die Treppe herauf lief, unterhielten sich Berit und Sebastian weiter. »Ich weiß nicht, ob Sie schon was davon kennen, Frau Schwerzer«, begann der junge Mann zu erklären. »Vielleicht haben Sie ja schon mal was von »Unheilig« gehört. Das kommt jetzt sogar im Radio. Noch vor ein paar Jahren waren die Fans nur in der Gothic-Szene zu fin36 den, jetzt hört es die halbe Welt. Auch »Rosenstolz« kommen eigentlich aus der Ecke. So ähnliche Bands gibt es viele, aber die meisten bleiben eher unbekannt oder sind nur in einem engen Fankreis bekannt, dort aber um so beliebter. Wenn Julia das Laptop hier hat, können wir mal in Songs reinhören von »Lacrimosa«, »L´Ame Immortelle«, »ASP«, »Oomph«, »Illuminate« oder »Das Ich«. Es gibt auch welche mit ganz schön krassen Namen und ebensolchen Outfits, aber alle machen total gefühlvolle Musik. Schon mein Bruder hat das gehört und mir gefällt es auch. Und in den Zeitschriften der Gothic-Szene findet man immer ein paar Seiten mit Gedichten von Lesern, in denen man sich wieder findet, die oft traurig sind, aber trotzdem irgendwie Mut machen. Glauben Sie mir, Frau Schwerzer, wir sind keine potentiellen Selbstmörder und auch keine so genannten Satanisten.« Julia hatte schon einen Moment an der Treppe gestanden und gehört, was Sebastian ihrer Mutter erklärt hatte. Sie hatte nicht dazwi37 schen platzen wollen, denn jetzt sah sie ihre Chance, dass die Mutti ihre bisher so ablehnende Haltung revidierte. Zu gerne wäre sie doch mit Sebastian noch am Pfingstwochenende nach Leipzig gefahren. Aber bisher hatte sie sich nicht getraut, ihren Eltern diesen Wunsch nahe zu bringen. Sebastian hatte eine kleine Pause gemacht nach seinem Monolog. Nun setzte sich Julia wieder zu ihnen. Sebastian klappte das Laptop auf und steckte den USB-Stick in den Anschluss. Und schon bald erfüllten ungewohnte Töne und Klänge den Raum. Berit gab sich ganz dem Gefühl hin, das diese Musik plötzlich in ihr hervorrief. Ohne, dass es ihr bewusst wurde, liefen Tränen über ihre Wangen. Doch das Weinen tat nicht weh, es war auf unerklärliche Weise beruhigend und befreiend. Nach einer Weile drückte Sebastian die Pausentaste. »Ich kann Ihnen gerne auch eine CD brennen, dann können Sie es im Auto hören, da mag ich die Musik auch besonders gern.« 38 Berit sah Julia und ihren Freund an und nickte nur. Ja, im Auto, da hatte sie jetzt immer das Radio ausgeschaltet, weil ihr die Unterhaltungsmusik zu viel wurde. Aber das hier, das wollte sie gerne ab und zu hören. Jetzt war Julias Moment gekommen. Sie nahm die Hand ihrer Mutter. »Mama, jetzt kennst du den Basti und die Musik. Und jetzt habe ich eine Bitte. Darf ich morgen mit ihm nach Leipzig fahren zum Wave Gotik Treffen? Bitte Mama, sag ja!« Für einen Augenblick fühlte sich Berit überrumpelt. Doch dann lächelte sie die beiden erwartungsvoll blickenden jungen Leute an. »Ich denke mal, ich kann gar nicht nein sagen, oder? Dann erzählt mal, wie ihr euch das vorgestellt habt.« Sebastian begann zu erklären: »Ich bin ja schon 18 und habe auch einen Führerschein. Morgen darf ich das Auto von meinem Vater nehmen. Aber wir fahren nur bis zum Stadtrand, dort steigen wir in die Straßenbahn um. Wir haben auch keine teure Festivalkarte ge39 kauft, aber es gibt genug Veranstaltungen, die öffentlich sind, wo wir hingehen können.« »Wo will wer hin?« Von den dreien unbemerkt war Daniel zur Tür herein gekommen und sah erstaunt auf die muntere Diskussionsrunde im Wohnzimmer mit dem Laptop auf dem Tisch. Berit sah ihren Mann durchdringend an. »Ich erzähle es dir später, es ist nichts Schlimmes.« Julia war aufgestanden. »Ich bringe noch rasch den Basti raus, dann verziehe ich mich nach oben. Gute Nacht, Papi. Gute Nacht, Mami!« Auch Sebastian verabschiedete sich, nicht ohne noch einmal ein dankbares Lächeln zu Julias Mutter zu werfen. Daniel fand kurz darauf kaum Worte für das, was sich hier in seiner Abwesenheit ereignet hatte. Nur einmal hatte er fassungslos gefragt: »Was, zu den Gruftis?« Doch nachdem ihm seine Frau einen Teil von Sebastians Erklärung wiedergegeben hatte, war auch er halbwegs beruhigt. Und außerdem, da gab es 40 doch ganz andere Sorgen, die Eltern mit ihren heranwachsenden Kindern hatten. Julia hatte Vertrauen zu ihnen und das sollten sie ja wohl auch zu ihr haben! Am nächsten Morgen saß Julia, ganz entgegen ihren Gewohnheiten am Wochenende in der letzten Zeit, gemeinsam mit den Eltern am Frühstückstisch. Berit beobachtete ihre Tochter aus den Augenwinkeln heraus und amüsierte sich über deren Unruhe. Dann endlich ertönte die Hupe eines Autos vor dem Haus und Julia sprang sofort auf. Mit ihrem Freund an der Hand kam sie zurück zu den Eltern. Sebastian hatte eine an den Seite geschnürte schwarze Lederhose an, die ihm ausgezeichnet stand, und ein naturfarbenes Hemd, ebenfalls mit Schnürung statt Knöpfen. Julia trug zum langen schwarzen Rock ein knallrotes Trägertop. Und zum Erstaunen aller hatte sie sich die ungeliebte »Beerdigungsbluse« der Mutter frisch von der Wäscheleine geholt und locker über dem Top gebunden. Julias Haar 41 fiel lang und glatt über ihre Schulter, während Sebastian die dunkel gefärbten Haare in Irokesenart steil nach oben gestylt hatte. Nun sah man auch, dass seine seitlichen Kopfpartien rasiert waren, was er aber im Alltag mit den darüber liegenden Haaren verdeckte. Doch auf diese kleinen Ungewöhnlichkeiten seines Äußeren kam es längst nicht mehr an. Die Eltern sahen das Glück in Julias Augen und wünschten den beiden einen schönen ereignisreichen Tag in Leipzig. Als das Auto um die Straßenecke gebogen war, gingen die Eltern zur Tagesordnung über. Berit räumte den Frühstückstisch ab und nahm die restliche Wäsche von der Leine, während sich Daniel in den Laden verabschiedete. Bedrückt sah ihm Berit nach. Mit seinem Geschäft schien er mehr verheiratet zu sein als mit ihr. Daniel war im Grunde ein lieber Ehemann, doch sie fühlte sich irgendwie von ihm vernachlässigt. Sie hatten kaum noch Gemeinsamkeiten. Als Julia noch jünger ge42 wesen war, hatte es noch ab und zu gemeinsame Ausflüge gegeben, wohl um des Kindes Willen. Doch diese Zeit war nun endgültig vorbei. Ihr Julchen baute sich sein eigenes Leben auf, und darin spielten die Eltern nicht mehr die erste Geige. Also versuchte Berit mal wieder, sich mit der Situation zu arrangieren. Im Haushalt war einiges liegen geblieben, was ihr jetzt unangenehm ins Auge fiel. Mit Staubtuch und Möbelspray bewaffnet brachte sie wieder Sauberkeit und Ordnung in die Räume. Zum Mittag setzte sie Kartoffeln auf und legte Bratwürstchen in die Pfanne. Daniel mochte Hausmannskost, und Kartoffelbrei mit Würstchen am meisten. Sie wollte gerade zum Telefon greifen und im Geschäft anrufen, als er schon in der Tür stand. »Na, das klappt ja wieder mit uns wie ein Länderspiel!«, rief er Berit entgegen, als er sah, dass das Essen fertig war. 43 Berit stellte die gefüllten Teller auf den Tisch. Ein Glück, dass er so ans Essen gewöhnt ist, ging ihr durch den Kopf. Sie hatte eigentlich erwartet, dass Daniel sich nach dem Essen wieder in den Laden verziehen würde, doch er schüttelte den Kopf. »Nein, von jetzt an bis zum Dienstag ist Pfingsten. Weißt du, das muss auch einmal sein. Wenn ich dran denke, wie schnell das Leben zu Ende sein kann, dann sollte man doch ab und zu eine Pause einlegen.« Durch den Tod von Berits Vater schien ihm das plötzlich wieder bewusst zu werden, wie wertvoll doch das Leben war. Sicherlich hatte er es über Jahre hinweg verdrängt, nachdem seine eigenen Eltern kurz nacheinander verstorben waren. Berit nahm es dankbar zur Kenntnis. So setzten sich die Eheleute nach dem Mittagessen ins Wohnzimmer und nahmen sich jeder ein Buch zum Lesen. Berit musste für einen Moment überlegen, wo sie sich gerade in der Handlung befand. Sie hatte zwar ein Le44 sezeichen im Buch liegen, aber so lange nicht hinein gesehen, dass sie kaum noch wusste, worum es ging. Doch nach zwei Seiten war sie in die Handlung eingetaucht und schon bald davon gefesselt. Daniel waren die Augen zugefallen. Die viele Arbeit in der letzten Zeit, dazu die traurigen Ereignisse, das alles forderte seinen Tribut. Berit schlich sich in die Küche und begann ein paar Blätterteigtaschen zu backen. Mit Besuch war eher nicht zu rechnen und für sie beide würde es reichen. Der Kaffeeduft weckte dann auch ihren Mann wieder auf. Er schaltete den Fernseher an und zappte durch die Programme. Und so, als hätte er es gewusst, kam ein kurzer Bericht vom Wave Gotik Treffen in Leipzig. Da also, inmitten dieser schwarzen Szenegestalten lief nun auch ihre Tochter herum. Aber der Bericht war so positiv, selbst die »normalen« Passanten auf der Straße äußerten sich nicht abfällig über das illustre Völkchen, dass die Eltern sich nun von Herzen für ihre Tochter freuen konnten. 45 »Weißt du was, Berit«, überlegte Daniel am Abend, »wir könnten doch morgen einen Ausflug machen.« Berit ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, als sie erwiderte: »Gute Idee, hast du schon ein Ziel ausgesucht?« »Ich dachte, wir fahren in den Harz, das ist nicht weit und ich denke, am Josephskreuz ist bestimmt einiges los zu Pfingsten. Wir könnten auch deine Mutti fragen, ob sie mitkommt. Es wäre doch gut, wenn sie mal rauskommt nach dem Schock. Auf Julia brauchen wir wohl nicht mehr zählen. Wer weiß, wann die beiden wieder zurück sind, da ist bestimmt erst mal ausschlafen angesagt und dann wird sie doch lieber zu Sebastian wollen als mit uns rum zu kutschen.« »Ja, genau so machen wir es!« Berit war mit allem einverstanden, was ihr Mann vorgeschlagen hatte. Es würde ihnen allen gut tun, dem Stress der letzten Tage zu entfliehen. »Ich rufe Mama gleich noch an.« 46 Als Berit ihrer Mutter von Daniels Vorschlag berichtet hatte, war die, entgegen aller Befürchtungen, sofort einverstanden. »Wir holen dich dann ab, so gegen 10!« Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter und wandte sich dem Fernsehprogramm zu. Die seichte Samstagabendunterhaltung plätscherte aber mehr an ihr vorbei, als sie es in sich aufnahm. Irgendwie waren ihre Gedanken nicht bei der Sache. Mehrfach ging ihr Blick zur Uhr und zum Telefon und wieder zurück. Zu gerne hätte sie Julia auf ihrem Handy angerufen, wollte wissen, ob es ihr gut ging, wo sie war. Doch sie verkniff es sich lieber. Wie peinlich war es damals gewesen, wenn die Mutter einfach »zur Kontrolle« in ihr Zimmer geplatzt war, wenn sie Besuch hatte oder wenn ihr Vater am Abend vor dem Jugendclub stand, um sie abzuholen. Oh, hätte es damals schon Handys gegeben, Berit hätte wohl keine ruhige Minute gehabt. Schließlich gingen Berit und Daniel zu Bett. Doch spät in der Nacht drang das vertraute 47 Geräusch der Haustür an Berits Ohr und Julias Schritte auf der Treppe. Nun erst schlief sie ruhig weiter bis zum Morgen. Nach einem gemütlichen Sonntagsfrühstück rüstete sich das Ehepaar für den geplanten Ausflug. Sie legten für ihre Tochter einen Zettel auf den Tisch, dass sie zum Abend wieder da sein würden. Daniel zückte seine Geldbörse und holte noch 20 Euro heraus. Vom Taschengeld dürfte wohl nach dem Tag in Leipzig nicht mehr viel übrig sein. Vielleicht wollten die jungen Leute ja ein Eis essen gehen. Und auch wenn Sebastian schon 18 war, er befand sich noch in der Ausbildung und das Lehrgeld war hierzulande nicht so üppig. Berits Mutter musste schon fix und fertig angezogen hinter der Gardine gestanden haben. Kaum, dass sie mit dem Auto vor dem Haus angehalten hatten, kam sie auch schon aus der Tür. Berit war ausgestiegen, um ihrer Mutter den Platz auf dem Beifahrersitz anzubieten. Doch 48 die lehnte ab. »Lass nur, Mädchen, euer Auto ist hinten doch auch bequem und Platz genug habe ich auch.« So stieg die Mutter also hinten ein und lehnte sich ins Polster zurück. Daniel sah noch einmal nach hinten, ob seine Schwiegermutter auch den Gurt umgelegt hatte, dann fuhren sie los. Sie nahmen die steil bergan führende Ausfallstraße in Richtung Harz. Der Vater hatte Berit einmal erklärt, dass diese Straße ein Stück der alten Kohlenstraße sei, die vom Harz bis zur Saale führte. Noch immer war es die kürzeste Verbindung, wenn man in den Harz wollte. Sie durchquerten zwei kleine Dörfer und bogen dann auf die Bundesstraße ein, die Harzhochstraße, die seit Jahrhunderten den Ostharz und den Westharz verband. Auch das hatte ihr der Vati erzählt. Im Atlas ihrer Schulzeit und den damaligen Landkarten hatten der Harz und die Straße abrupt im Nichts geendet und Berit hatte sich gar nicht vorstellen können, dass danach doch noch etwas kam. Als die Straße wieder durchgängig be49 fahrbar war, hatten sie sich auch den westlichen Teil des Harzes angesehen, waren in Braunlage und Clausthal-Zellerfeld gewesen. Doch es zog sie immer wieder hier her, in den östlichen Teil des Gebirges. Zwar waren auch hier die Souvenirläden und Restaurants nur so aus dem Boden geschossen, doch hatte sich der Kommerz nicht in dem Maße durchsetzen können, wie im westlichen Teil. Vieles hier war einfacher, aber auch uriger und die Menschen irgendwie herzlicher. So in ihre Gedanken versunken, bemerkte Berit gar nicht, dass sie die Hauptstraße schon verlassen hatten und sich dem Auerberg näherten. Daniel bog auf den Parkplatz ein. Früher hatten sie meistens in einem ständig feuchten Waldweg geparkt, wenn sie mit Markus hier hoch gefahren waren. Jetzt gab es einen, den Touristenströmen angepassten, großen befestigten Parkplatz. Aber noch immer stand der winzige Andenkenkiosk an der selben Stelle wie vor 25 Jahren. Fast so etwas 50 wie Nostalgie kam in Berit bei dem Anblick auf. Am Beginn des Waldweges, der hinauf auf den Berg führte, stand ein Pferdegespann mit einem Kremserwagen. Daniel hatte es als erster entdeckt. »Seht mal, da könnten wir doch nach oben mitfahren!«, schlug er den beiden Frauen vor. Er dachte dabei natürlich an seine Schwiegermutter, welcher der beschwerliche Weg nach oben doch Mühe bereiten würde. Aber wie aus einem Mund kam von beiden die Antwort: »Gute Idee!« Der Fahrpreis, den der Kutscher verlangte, war moderat. So nahmen die drei in dem Wagen Platz. Rasch füllten sich auch die anderen Plätze und das Pferdegespann setzte sich in Bewegung. Langsam und bedächtig wand sich der Waldweg dem Gipfel entgegen. Und nach der letzten Kurve kam es den Fahrgästen ins Blickfeld, das Josephskreuz. Es galt noch immer als das größte eiserne Doppelkreuz der Welt. Vor über 110 Jahren nach dem Vorbild 51 des Eiffelturms in Paris errichtet, erhob es sich seit dem auf dem Großen Auerberg fast 40 Meter in die Höhe. Ein traumhafter Blick war der Lohn für die mühsame Kletterei hinauf. Aber wer nicht schwindelfrei war, dem wurde dringend von der Besteigung abgeraten. Die drei Ausflügler hatten das auch gar nicht vor. Schon von Weitem hatte Blasmusik vom Berg geklungen. Nun setzten sie sich am Waldrand auf eine Bank und lauschten den Klängen der Kapelle, die sich mit einem Chor abwechselte, der romantische Volkslieder vortrug. Es war eine melancholische Stimmung, die doch nicht ins Traurige umschlug. Berit und Daniel sahen sich an und ohne Worte waren sie sich einig. Es war eine gute Idee gewesen, mit der Mutter hier her zu fahren. Eine Stunde später saßen sie im Biergarten des Berggasthauses und ließen sich das deftige Mittagessen schmecken. »Wollen wir nachher wieder mit dem Kremser fahren oder vielleicht laufen?«, erkundigte sich Daniel bei den beiden Frauen. 52 »Ach weißt du«, meinte Berits Mutter, »es geht ja bergab und ein paar von den Kalorien kann man sich ruhig wieder ablaufen.« Sie deutete auf ihren gesättigten Bauch. »Gut, dann machen wir aber einen Abstecher zum Schindelbruch. Dort können wir Kaffee trinken oder ein Eis essen.« Das Hotel am Fuße des Berges entwickelte sich immer mehr zum Touristenmagneten. Vor zwei Jahren hatte Daniel seine Berit einmal zu einem Wochenendaufenthalt eingeladen. Und am Lächeln seiner Frau sah er, dass sie es noch immer in der besten Erinnerung hatte. Pünktlich zur Kaffeezeit nahmen sie auf der Terrasse des Hotels Platz. »Ach, wenn ich nur die Speisekarte lese, könnte ich schon wieder essen!«, schwärmte Daniel in Erinnerung an die Kochkünste des Hauses. Doch schließlich entschieden sich alle drei für Kaffee und Kuchen und genossen das Ambiente, hier inmitten des Waldes. Noch einmal gut gestärkt machten sie sich schließlich auf den Rückweg zum Auto. Da53 niel hatte zwar vorgeschlagen, alleine bis dort hin zu laufen und das Auto her zu holen, doch das war von seiner Schwiegermutter vehement abgelehnt worden. Und Berit war froh, ihre Mutti wieder in so guter Verfassung zu wissen. Sie konnte die Kraft brauchen, es würde noch schwer genug werden, bis sie den plötzlichen Tod ihres Mannes verarbeitet hatte. »Danke für den schönen Tag, ihr Lieben!« Berits Mutter stand vor der Haustür und umarmte Daniel und ihre Tochter. »Lass nur Mama, es hat auch uns gut getan. Morgen werden wir es noch ein bisschen schleifen lassen, aber am Dienstag geht die Arbeit von vorn los. Nur Julia hat Glück, bei ihr sind Pfingstferien. Sie wird dich ganz bestimmt mal besuchen kommen. Sie hat übrigens einen sehr netten Freund. Lass dich nur nicht von seinem Äußeren abschrecken. Sebastian ist ein wirklich lieber junger Mann und er tut Julia 54 gut. Vielleicht lernst du ihn ja bald einmal kennen.« Damit umarmte Berit ihre Mutter noch einmal und stieg wieder ins Auto ein. Hinter der Mutter fiel die Tür ins Schloss. Kurz darauf lenkte Daniel das Auto in die Einfahrt. Es gab zwar auch eine Garage am Haus, doch wegen des Geschäfts hatte Daniel einen kleinen Lieferwagen angeschafft, der momentan wenig genutzt wurde und meistens in der Garage stand. Also musste der Audi mit dem Außenplatz vorlieb nehmen. Als sie ins Haus eintraten, wirbelte ihnen eine fröhlich lachende Julia entgegen. »Hallo Mami, hallo Papi! Na, hattet ihr einen schönen Ausflug? Und wie geht es Omi?« Daniel bremste den Überschwang seiner Tochter. »Mal immer langsam mit den jungen Pferden! Unser Ausflug war schön. Aber wir müssen dir doch erst mal die Gegenfrage stellen. Wie war denn euer Ausflug? Es war ja ganz schön spät oder eher früh letzte Nacht!« 55 »Ach, wenn ich das alles erzählen würde, es könnte etwas länger dauern. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was da ab geht in Leipzig! Einfach genial. Und alles ganz friedlich, wir haben einen Haufen nette Leute kennengelernt. Wir haben sogar ein Autogramm von einem Sänger bekommen. Der lief da einfach auf der Straße rum und Basti hat ihn angesprochen. Der war so was von cool drauf! Ich glaube, nächstes Jahr kaufen wir uns eine Wochenendkarte und fahren mit dem Zelt hin. Ich fange schon mal an mit sparen.« Sie machte eine kleine Verschnaufpause. »Und danke noch für das Geld, das war lieb von Euch, wir haben uns Döner gekauft, irgendwann am Nachmittag hatten wir doch Hunger. Aber nun sagt schon, wie geht es der Oma? Hat es ihr im Harz gefallen?« Berit legte ihrer Tochter den Arm um die Schulter. »Der Oma hat es gut gefallen und ich glaube, es ging ihr heute auch gut. Sie braucht einfach etwas Gesellschaft. Kannst du nächste Woche ab und zu mal bei ihr vorbei 56 gehen und nach ihr sehen? Du hast doch Ferien.« »Aber klar, mache ich das. Ist doch auch immer schön, sich von Omi eine heiße Schokolade kochen zu lassen.« Berit stand auf und sah ihre Eltern an. »Seid ihr böse, wenn ich noch mal zu Basti gehe?« Sie war schon auf dem Weg zur Tür. Daniel lachte. »Verschwinde schon!« »Und grüße den Sebastian von uns!«, fügte Berit noch hinzu, ehe die Tür ins Schloss fiel. Berit richtete für sich und ihren Mann ein paar belegte Brote zum Abendessen an und schaltete den Fernseher ein. Daniel öffnete eine Flasche Wein und so ließen die beiden den Tag ausklingen. Auch wenn morgen noch ein Feiertag war und damit etwas Ruhe, so wussten sie doch, dass die kommenden Tage jeden wieder fordern würden. Als Berit am nächsten Morgen die Augen aufschlug, hingen dunkle Wolken vor dem 57 Fenster. Noch fiel kein Regen, aber wer weiß, wie lange sich das Wetter noch halten würde. Welch ein Glück, dass sie den Ausflug am Sonntag gemacht hatten! Nun ließen sie es also ruhig angehen. Nach einem ausgiebigen Frühstück, zu dem sich sogar Julia hinzu gesellte, bereitete Berit das Mittagessen vor. »Und, was steht bei dir heute noch auf dem Plan?«, wollte sie von ihrer Tochter wissen. Julia grinste ihre Mutter an. »Na was schon! Nach dem Essen gehe ich zu Basti, bisschen Musik hören und auf dem Sofa rumhängen. Wenn ich den Himmel ansehe, wird es keinen Spaziergang geben.« Berit lächelte vor sich hin. Ach ja, wenn man jung und zu zweit ist, dann ist das Wetter sowieso egal, solange sich irgendwo ein gemeinsames Plätzchen findet. Und Sebastians Eltern schienen der Beziehung der beiden offen gegenüber zu stehen. Berit erinnerte sich noch an die Zeit, als Markus so alt war. Da waren sie irgendwie ruhiger und gelassener 58 gewesen. Wahrscheinlich lag es doch daran, dass Markus eben ihr großer Junge und Julia ihr kleines Mädchen war. Nach dem Essen nutzte Berit die Zeit, um sich der Bügelwäsche zu widmen. Das gehörte wahrhaftig nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Doch Daniels Hemden und die Arbeitskittel sollten schon entsprechend gepflegt aussehen. Schließlich stand er tagtäglich den Kunden gegenüber. Als Berit auch noch eine offene Naht an einem der Kittel entdeckte, holte sie kurzerhand die Nähmaschine hervor. Dann ist heute eben der Bügel- und Flicktag, dachte sie bei sich. Daniel hatte sich in die Garage verzogen und sah mal nach den Autos. Schließlich hatte er Schlosser gelernt und konnte viel selbst erledigen. Leider fehlte ihm oft die Zeit. Heute nutzte er sie aber intensiv und Berit hörte später sogar das Brummen des Staubsaugers zu ihr herüber dringen und riss sie aus ihren Gedanken. 59 Morgen würde sie wieder zur Arbeit gehen. Morgen war der Vater genau eine Woche tot. Noch immer schien es ihr so unwirklich zu sein. Er war der Held ihrer Kindheit gewesen, war wie ein Fels in der Brandung gewesen. Nun gab es ihn nicht mehr. Was blieb, war die Erinnerung. Berit dachte an die Kinder, um die sie sich morgen wieder kümmern würde. Sie arbeitete gern mit Kindern. Viele von denen hatten keinen Vater, der sie liebte. Manche kannten ihren nicht einmal. Nein, sie durfte nicht traurig sein, dass es den Vati nicht mehr gab. Sie musste froh und dankbar sein, dass er ihr so viele schöne Jahre mit so viel Zuneigung geschenkt hatte. Das Geräusch des Staubsaugers war verstummt. Berit räumte die Nähmaschine und das Bügeleisen weg und sah verwundert auf die Uhr. Die Zeit war vergangen wie nichts. Zum Kaffee trinken war es zu spät. So setzte sie Teewasser auf und richte ein kleines Buffet 60 an. Daniel würde bestimmt Appetit mitbringen, wenn er rüber kam. Ein wenig später trudelte auch Julia wieder ein und stopfte sich gleich ein paar der leckeren Häppchen in den Mund. »Ach Mama, ich glaube, zum Essen werde ich auch in zehn Jahren noch her kommen, bei dir schmeckt es noch immer am Besten!«, rühmte sie ihre Mutter. »Na, darüber sprechen wir aber noch mal«, wand Berit sichtlich amüsiert ein, während Daniel genüsslich kauend seiner Tochter beipflichtete: »Aber recht hat sie!« 61 Alle im AAVAA Verlag erschienenen Bücher sind in den Formaten Taschenbuch und Taschenbuch mit extra großer Schrift sowie als eBook erhältlich. Bestellen Sie bequem und deutschlandweit versandkostenfrei über unsere Website: www.aavaa.de Wir freuen uns auf Ihren Besuch und informieren Sie gern über unser ständig wachsendes Sortiment. Einige unserer Bücher wurden vertont. 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