Zweitsommer - Leseprobe

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Zweitsommer - Leseprobe
ISKA
Zweitsommer
Roman
LESEPROBE
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© 2013 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2013
Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag
Coverbild: ISKA
Printed in Germany
Taschenbuch:
Großdruck:
eBook epub:
eBook PDF:
Sonderdruck:
ISBN 978-3-8459-0930-1
ISBN 978-3-8459-0931-8
ISBN 978-3-8459-0932-5
ISBN 978-3-8459-0933-2
Mini-Buch ohne ISBN
AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin
www.aavaa-verlag.com
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Voller Trauer
Berit atmete tief durch, ehe sie aus dem Auto
stieg und auf die Fernbedienung drückte. Das
Geräusch der Verriegelung erschien ihr heute
unnatürlich laut zu sein. Oder war sie momentan nur überempfindlich? Sie lief den
Gartenweg entlang zur Eingangstür und ärgerte sich zum wiederholten Mal, dass die
Bodenplatten locker waren. Irgendwann würde jemand stolpern und sich verletzten. Aber
wie so vieles, was eigentlich am Haus hätte
repariert werden müssen, blieb es liegen. Daniel investierte alle seine Kraft in sein Geschäft und das seit Jahren. Es musste zwangsläufig einiges andere auf der Strecke bleiben.
Noch einmal ging ein Seufzer durch ihre
Brust, dann steckte sie den Schlüssel ins
Schloss und öffnete die Tür.
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»Guten Abend Schatz, da bist du ja! Habt ihr
alles erledigen können? Ich habe schon mal
was zum Abendessen vorbereitet. Bestimmt
hast du Hunger.« Daniel steckte seinen Kopf
aus der Küche und hauchte seiner Frau einen
flüchtigen Kuss auf die Wange.
Berit hängte ihre Jacke an die Garderobe und
ließ sich auf einen Stuhl in der Diele fallen.
Eben noch hatte sie im Auto gesessen, doch
sie fühlte sich so schlapp, als wäre sie kilometerweit gelaufen. »Eigentlich habe ich gar keinen Appetit«, erwiderte sie ihrem Mann,
»doch wahrscheinlich hast du recht, ein wenig
muss ich wohl essen.«
Daniel gesellte sich zu ihr. »Ich weiß, das ist
jetzt alles andere als leicht für dich, schließlich
ist dein Vater gerade einen Tag tot. Das ist ein
schwerer Einschnitt in dein Leben; es wird
dauern, bis du es begriffen und verarbeitet
hast. Ich hätte dich und Jana doch auch gerne
zum Bestatter begleitet, aber ich kann nicht
einfach das Geschäft allein lassen.« Er sah sei-
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ne Frau mit einem um Verständnis bittenden
Blick an.
Daniel hatte sich vor mehr als 15 Jahren mit
einem Ersatzteilhandel selbständig gemacht
und es nie bereut, auch wenn die Geschäfte
gerade nicht mehr so gut liefen wie ganz am
Anfang. Eine Zeit lang hatte er sogar drei Mitarbeiter gehabt und Arbeitsplätze in dieser
strukturschwachen Region geschaffen, doch
nun war es seine Schwester, die ihm als einzige Angestellte im Büro und im Laden unter
die Arme griff. Aber gerade jetzt war Marion
mit ihrem Mann im Urlaub. Es tat ihm wirklich leid, dass er seine Frau nicht unterstützen
konnte und sie mit ihrer Schwester Jana allein
alle Wege erledigen musste. Berits Mutter hatte einen Schwächeanfall erlitten, als sie ihren
Mann tot im Bett fand. Auch um sie musste
sich gekümmert werden. Aber den Laden einfach schließen? Nein, das hatte er nicht gewollt. Wer einmal vor verschlossener Tür
stand, der kam nicht wieder, war seine Erfahrung.
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Berit legte ihrem Mann die Hand auf den
Arm. Sie verstand ihn ja. Aber verstand er sie
auch? Ihre Ehe war in die Jahre gekommen.
Vor drei Jahren hatte Berit ihren 50. Geburtstag gefeiert. Die Silberhochzeit hatten sie
längst hinter sich. Ihr Sohn Markus war seit
ein paar Jahren verheiratet und hatte seine Eltern schon zu Großeltern gemacht. Nur ihr
Nesthäkchen Julia wohnte noch zu Hause und
kämpfte sich gerade erfolgreich durch die 11.
Klasse des Gymnasiums.
Stumm saßen Berit und Daniel sich gegenüber, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Was war das doch einmal für eine
himmelstürmende Liebe gewesen! Sie hatten
ihre Beziehung schon als Jugendliche vor der
Welt verteidigt und gewusst, dass sie füreinander geschaffen waren und eine Familie
gründen wollten. So lange war das her. Da
war Berits Vater noch Abteilungsleiter in der
Kreisverwaltung gewesen, dem Rat des Kreises, wie es damals genannt wurde. Mit der
Umstrukturierung nach der Wende hieß es für
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ihn, in den Ruhestand zu gehen. Die Mutter
hatte noch ein paar Jahre eine Bürotätigkeit
bei einer der diversen neuen Krankenkassen
ausgeübt, bis auch sie in Rente ging. Berits Eltern waren alt geworden. Das eine oder andere Zipperlein hatte sich eingestellt. Und doch
kam der Tod des Vaters vollkommen überraschend und sie konnte sich auch noch gar
nicht richtig vorstellen, dass er nicht mehr da
war.
Daniel durchbrach die Stille. »Du, ich müsste
noch mal kurz rüber in den Laden. Ich möchte
wenigstens das Nötigste an Papieren ordnen,
damit Marion nicht das blanke Chaos vorfindet, wenn sie wieder da ist. Oder soll ich besser bei dir bleiben?«
Jetzt huschte doch ein leichtes Schmunzeln
über Berits Gesicht. Sie kannte ihren Mann
einfach zu gut. »Nein, lass nur, du kannst
noch mal rüber gehen. Ich bin doch nicht
krank und Julia wird bestimmt auch bald
kommen.«
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Daniel strich seiner Frau sanft übers Haar.
»Bis gleich, Schatz, ich beeile mich.«
Berit räumte das Geschirr in die Küche und
ging dann ins Wohnzimmer. Es war geräumig
und hatte Fenster in zwei Richtungen, außerdem eine Tür zur Terrasse. Im Halbdunkel
stand sie da und sah hinaus.
Damals, als sie anfingen hier zu bauen, war
der Blick noch frei gewesen. Man konnte bis
zur Kirche sehen. Jetzt waren im Laufe der
Zeit die Bäume, die während der intensiv betriebenen Aufforstungen Mitte der 80er Jahre
angepflanzt worden waren, so groß und dicht,
dass sie einer undurchschaubaren Hecke glichen. Wie hatten sie sich gefreut, diesen Bauplatz am Stadtrand gefunden zu haben! Das
Gebiet war nach dem 2. Weltkrieg erschlossen
worden, um dort Neubauern anzusiedeln.
Doch nicht jede Parzelle war belegt worden.
Als junge Familie hatten sie damals die Chance erhalten, ihr eigenes Häuschen zu errichten.
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Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, von
hier weg zu gehen, viel zu sehr liebte sie ihre
Heimatstadt, die sich in das enge Flusstal der
Wipper zwängte. Die kleinen Häuser, in denen früher die Bergarbeiter gewohnt hatten,
drängten sich rechts und links des Flusses an
den Hängen dicht an dicht. Doch hier oben,
wo die Stadt an die weitläufigen Felder grenzte, da war genug Platz gewesen. Der Bergbau
war zu der Zeit schon als Geschichte in der
näheren Umgebung abgehakt, lediglich die
großen und weithin sichtbaren Abraumhalden kündeten von der jahrhundertealten Tradition. Doch das große Walzwerk und die
Kupferhütten hatten den Einwohnern Arbeit
und ein gutes Auskommen gesichert.
Freilich, die jungen Leute hatten oft kämpfen
müssen um das knappe Baumaterial, jeder
Sack Zement, den man ergatterte, war ein Erfolg. Und nun rostete das Gartentor vor sich
hin und die schwer errungenen Natursteinbodenplatten lagen lose auf dem Weg und
zerbröselten wie ihre Beziehung.
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Berit drehte sich um. Der Bewegungsmelder
hatte die Hausbeleuchtung aufflammen lassen, jedenfalls einen Teil davon. Im Schein der
einzigen, funktionierenden Glühbirne sah sie
zwei eng umschlungene Gestalten. Obwohl
sie den Abnabelungsprozess eines Kindes bereits bei ihrem Sohn erlebt hatte, konnte sie
sich doch jetzt bei Julia noch nicht damit abfinden, dass ihr kleines Mädchen eigene Wege
ging. Und wenn sie ehrlich war, ihren zukünftigen Schwiegersohn hatte sie sich auch etwas
anders vorgestellt. Sie war durch ihre Arbeit
bei einer Jugendeinrichtung des Landkreises
durchaus offen gegenüber den Erscheinungen
der Jugendkultur, doch musste ausgerechnet
ihre Julia einen Jungen anschleppen, der so
düster wirkte, der gepierct und tätowiert war?
Sie war froh, als die Tür klappte und ihre
Tochter wohlbehalten in die Diele trat.
Julia schaltete das Licht an. »Mama, du stehst
ja hier im Dunkeln.« Das Mädchen drückte
die Mutter an sich. »Wie geht es dir? Ich war
auch den ganzen Tag heute so traurig, dass
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Opa nicht mehr lebt. Aber Basti hat mich ganz
lieb getröstet. Wir haben Musik gehört und er
hat mir Gedichte vorgelesen, das war voll
schön! Ich bin so froh, dass ich ihn gefunden
habe.«
Berit unterdrückte eine erstaunte Bemerkung
und versuchte ein Lächeln.
»Ach, es geht soweit. Wollen wir noch etwas
fernsehen und uns ablenken?« Julia nickte zustimmend und so kuschelten sich Mutter und
Tochter gemeinsam in die Sofaecke und folgten einem Liebesfilm.
Als Daniel vom Geschäft zurückkam, waren
beide eingeschlafen. Während Julia sich später
in ihr Zimmer zurückzog, blieb Berit auf dem
Sofa liegen. Ihr unruhiger Schlaf war von
Träumen durchzogen, in denen sie selbst ein
Mädchen war, kaum älter als ihre Julia heute.
Auch sie hatte an der Haustür gestanden und
sich mit ihrem Freund geküsst. Doch ihr Empfang durch die Mutter war so ganz anders
gewesen.
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»Was soll das?«, hörte sie die aufgebrachte
Stimme ihrer Mutter wieder fragen. »Willst
du wirklich mit einem dreckigen Schlosser
zusammen leben?« Berits Tränen hatten die
Mutter nicht erreicht. Erst als sich der Vater
einmischte, hatte die Mutter eingelenkt, wohl
in der Hoffnung, dass sich das Problem noch
von selbst lösen würde.
Als Berit aufwachte, schien ihr die Morgensonne ins Gesicht. Im Haus war es ruhig und
kündete davon, dass Daniel im Geschäft und
Julia in der Schule war. Bruchstückhaft kam
ihr der Traum wieder in Erinnerung. Sie lächelte einen Moment in sich hinein. Heute
war ihre Mutter überzeugt, dass es keinen
besseren Schwiegersohn geben könnte als Daniel. Na ja, Kunststück, dachte Berit bei sich,
schließlich hat sie ja nur einen! Jana war
glücklicher Single aus Überzeugung und
würde wohl auch nicht mehr heiraten. Dabei
war sie eine sehr aparte Frau mit ihren nun
auch bald 50 Jahren. Aber es war wirklich
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dem Vater zu verdanken gewesen, dass die
Mutter bereit war, Daniel näher kennen zu
lernen und ihre Vorurteile schmolzen wie
Schnee in der Sonne. Durch seine strebsame,
fleißige Art hinterließ er nur den besten Eindruck und war bald Schwiegermutters Liebling. Als Berit die Oberschule abschloss, konnte man schon sagen, dass die beiden ein festes
Paar waren. Und daran sollte sich auch nichts
mehr ändern.
Berit stieg die Treppe hinauf und ließ sich
erst einmal ein Bad einlaufen. Dann stand sie
suchend vor dem Kleiderschrank, schließlich
hatte sie die Nacht in ihren Sachen verbracht.
Sie musste sich so oder so von Kopf bis Fuß
umziehen. Gestern hatte sie eine graue Jacke
und einen grauen Pulli angezogen, das erschien ihr durchaus angemessen. Doch heute
musste sie direkt zu ihrer Mutter gehen, die
erwartete mit Sicherheit schwarze Trauerkleidung. Berit mochte schwarz nicht. Gerade
jetzt, im Frühling, hätte sie lieber luftige, bunte Kleidung getragen, doch bis zur Beerdi14
gung kam sie wohl nicht um eine gewisse
Kleiderordnung herum. Ganz hinten im
Schrank entdeckte sie eine schwarze Bluse, die
hatte sie einmal zur Beerdigung einer Tante
angehabt. Ein Glück, sie passte noch! Dazu
das schwarze Kostüm, welches für gelegentliche offizielle Anlässe parat hing, so konnte sie
der Mutter entgegen treten.
Jana hatte die Nacht bei der Mutter verbracht
und Berit war ihrer Schwester dankbar gewesen. Nun machte sie sich auf den Weg in die
Altstadt zur Wohnung ihrer Eltern.
»Da bist du ja endlich«, empfing Jana ihre
Schwester. »Mama hat schon nach dir gefragt.« Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer, wo die Mutter auf dem Sofa saß und
blicklos ins Leere zu starren schien. Der Tod
ihres Mannes hatte sie schwer getroffen. Berit
setzte sich zu ihr und legte den Arm um ihre
Schultern. Sie hätte sie trösten wollen, doch
eigentlich brauchte sie selber Trost. Stumm
sahen sich Mutter und Tochter an.
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Jana durchbrach die Stille: »Ich mache uns
jetzt mal einen Kaffee. Vielleicht kannst du die
Mama überreden, dass sie auch etwas isst. Sie
hat wahrscheinlich seit vorgestern nicht viel
zu sich genommen.«
»Das ist eine gute Idee«, stimmte Berit ihrer
Schwester zu. »Ich habe ja heute auch noch
nichts gegessen. Vielleicht kommt gemeinsam
der Appetit.«
Wenig später stand der Kaffe auf dem Tisch
und duftete mit dem frischen Toast um die
Wette. Die Schwestern sahen sich aufatmend
an, als die Mutter wirklich begann eine Scheibe Toast mit Käse zu essen.
Später legte Jana den Katalog des Bestattungshauses auf den Tisch. Mit Klebezetteln
hatte sie markiert, was sie gemeinsam mit Berit am Tag zuvor bestellt hatte. Sie hatten den
Wunsch des Vaters respektiert und sich für
eine Urnenbestattung entschieden, auch wenn
die Meinung der Mutter eine andere gewesen
war. Doch nun nickte sie zustimmend zu der
ausgewählten Urne und dem Blumen16
schmuck. »Ihr beide habt das genau richtig
gemacht, Heinrich hätte es wohl so gewollt.«
Die Schwestern waren innerlich erleichtert.
Nun mussten sie noch eine Grabstelle aussuchen. »Glaubst du, dass du mitkommen
kannst zum Friedhof?«, fragte Jana ihre Mutter.
»Ich sollte mich wohl dazu aufraffen«, antwortete die Mutter. So langsam schienen ihre
Lebensgeister zurückgekehrt zu sein. Die drei
Frauen zogen sich die Schuhe an und traten
vor die Haustür.
»Wo hast du denn das Auto geparkt?« Jana
sah Berit fragend an.
»Ich bin den kurzen Weg gelaufen«, entgegnete Berit ihrer Schwester. »So konnte ich
nämlich ein wenig den Kopf wieder frei bekommen. Ich hatte so einen blöden Traum
von früher, das war richtig wie echt. So was
kommt einem wohl wieder hoch, wenn ein
vertrauter Mensch plötzlich nicht mehr lebt.«
»Dann musst du dich aber auf die Rückbank
zwängen«, grinste Jana ihre Schwester an. Ihr
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schmuckes Cabrio hatte den Komfort auf die
Vordersitze begrenzt. Aber Berit lachte nur
und war schon nach hinten durchgerutscht.
So ungelenkig war sie nun doch noch nicht.
Die Fahrt führte aus der Innenstadt stetig
bergauf. Oben auf der Anhöhe lag der Friedhof inmitten einer parkähnlichen Anlage. Hohe, alte Bäume säumten die Hauptwege und
spendeten im Sommer erholsamen Schatten.
In der Friedhofsverwaltung war wenig Publikumsverkehr und die Frauen wurden von
der netten Mitarbeiterin sofort hereingebeten.
»Ja, was soll es denn sein, ein Reihengrab oder ein Einzelgrab? Dort könnten dann später
noch mehrere Urnen beigesetzt werden.«
Es war wohl genau die letzte Bemerkung, die
den Ausschlag gab. »Wir nehmen ein Einzelgrab. Dann könnte ihr mich mal direkt neben
meinem Heinrich begraben.« Die Mutter hatte
die Worte sehr energisch gesprochen und
auch wenn ihre Töchter jetzt noch nicht an ih-
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ren Tod denken mochte, so stimmten sie doch
der Entscheidung zu.
»Wollen wir dann eine schöne Stelle aussuchen? Es sind mehrere Grabstellen frei geworden, die im alten Teil des Friedhofs liegen,
das wäre doch bestimmt etwas für Sie. Dann
ist auch der Fußweg nicht so weit bis zum
Grab.« Die Mitarbeiterin schloss die Bürotür
ab und trat mit den Frauen nach draußen. Sie
hatte während ihrer Lehre den nun Verstorbenen noch kennengelernt und war wirklich
daran interessiert, seiner Witwe und den Kindern unter den gegeben Umständen etwas
Gutes tun zu können.
Schon bald war der passende Platz gefunden
und die restlichen Formalitäten erledigt. Alles
Übrige würde das Bestattungshaus übernehmen.
Als die Frauen wieder im Auto saßen, war es
Nachmittag geworden. Irgendwie knurrte Jana und Berit nun doch der Magen und so beschlossen sie, in einem Restaurant einzukehren und eine Kleinigkeit zu essen. Die
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Schwestern ließen auch das Argument der
Mutter, dass sie ja gar kein Appetit habe, nicht
gelten; und zum Schluss schmeckte es allen
gut. So gestärkt trafen sie bei der Wohnung
der Mutter wieder ein.
»Soll ich noch eine Nacht bei dir bleiben?«,
wollte Jana wissen. Doch die Mutter verneinte. »Ihr habt doch beide euer eigenes Leben.
Heute geht es ja auch schon wieder. Die Frau
Doktor will am Abend noch mal nach dem
Kreislauf sehen. Und ich kann euch ja anrufen, wenn was ist.«
Es war für Berit wie ein Gedankenblitz, den
das Wort anrufen ausgelöst hatte. Sie hatte
seit gestern ihr Handy auf Stummschaltung
und nicht einmal darauf gesehen. Oh Gott,
das war ihr ja noch nie passiert! Sie kramte
das Gerät aus der Tasche und sah ein halbes
Dutzend unbeantwortete Anrufe. Die von den
Kollegen ignorierte sie weiter, schließlich hatte sie Urlaub genommen. Doch Daniel musste
sie unbedingt schnellstens zurückrufen. Sie
verabschiedete sich von Mutter und Schwes20
ter und lief in Richtung Stadtpark. Hier war
sie ungestört und setzte sich auf eine Bank,
um Daniel anzurufen.
Er nahm das Gespräch an, kaum dass sie auf
die Verbindungstaste gedrückt hatte. »Da bist
du ja! Ich habe schon ein paar mal versucht,
dich zu erreichen.« Leicht vorwurfsvoll klang
Daniels Stimme.
»Bitte entschuldige, ich hatte die Stummschaltung an und deine Anrufe nicht bemerkt.
Auf dem Friedhof war das auch besser, das
Kinderhaus hat auch schon versucht, mich zu
erreichen. Aber diesmal muss Urlaub auch
Urlaub sein! Ich kann nicht noch nebenbei für
die anderen die Arbeit mit machen, ich habe
den Kopf so schon voll.« Berit machte aus ihrer momentanen Stimmung keinen Hehl.
»Oh, dann sollte ich wohl besser absagen.
Markus und Familie wollten eigentlich nachher mal rum kommen.«
»Nein, nein!«, beeilte sich Berit zu versichern.
»Die Kinder können ruhig kommen, das ist
doch ganz anderer Stress, der lenkt höchstens
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ab. Und den Kleinen habe ich auch schon
wieder viel zu lange nicht gesehen.«
Obwohl Markus mit seiner Frau Tanja und
dem kleinen Paul kaum eine Fahrstunde entfernt wohnte, sahen sie sich nicht all zu oft.
»Soll ich noch was einkaufen?« Berit wurde
schmerzlich bewusst, dass ihr nicht einmal
der Inhalt ihres Kühlschrankes mehr bekannt
war.
»Nein, das ist nicht nötig, die Kinder wollen
Pizza bestellen.«
Berit atmete auf. Auch wenn sie nicht viel
von Fastfood hielt, heute war sie froh, nicht
noch etwas zubereiten zu müssen.
»Gut, dann mache ich mich jetzt auf den
Heimweg, bis gleich, Daniel.«
»Ja, bis gleich, Liebling!«
Kaum, dass Berit richtig zuhause angekommen war, hielt auch schon das Auto von Markus und Tanja vor dem Haus und der kleine
Paul in seinem Kindersitz strahlte ihr entgegen. Das war, als ginge die Sonne in ihrem
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Herzen auf. Der Kleine war seinem Vater sehr
ähnlich und Berit fühlte sich bei jeder Geste
des Jungen an ihren kleinen Markus vor 25
Jahren erinnert. Sie liebte dieses Kind über alles! Manchmal dachte sie mit einem schlechten Gewissen, ich liebe ihn mehr als meine eigenen Kinder. Doch dann erinnerte sie sich an
ihre Oma, die hatte einmal gesagt: »Liebe hat
die Fähigkeit, größer zu werden, wenn man
sie teilt.« Und so hoffte sie, dass ihre Liebe für
alle reichte.
Markus übernahm die Bestellung der Pizzen
und dachte sogar an seine kleine Schwester.
Und als hätte er es geahnt, kam Julia fast mit
dem Pizzaboten gemeinsam zur Tür herein.
Auch sie freute sich, ihren Bruder und seine
Frau wieder zu sehen. Doch noch mehr freute
sie sich über den kleinen Paul. Sie war vernarrt in ihren Neffen und verschwand schon
bald mit dem Pizzateller und Paul in ihrem
Zimmer, um mit ihm zu spielen.
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Nun wurde das Gesprächsthema ernster.
»Wisst ihr schon, wann die Beerdigung sein
wird?«, wollte Markus wissen.
»Ja, das ist heute in zwei Wochen, also am
Donnerstag. Und morgen oder übermorgen
wird auch die Anzeige in der Zeitung erscheinen. Es gab ja doch viele, die Papa gekannt
haben.« Berit sah voller Trauer in die kleine
Runde. Daniel legte ihr den Arm um die
Schultern, es war ein stummer Trost.
»Also, wenn ihr noch Hilfe braucht, wegen
der Trauerfeier oder so, dann sagt uns das bitte, wir helfen gerne«, griff Tanja in die Unterhaltung ein.
Berit putzte sich die Nase. »Um ehrlich zu
sein, so weit habe ich noch gar nicht gedacht.
Mamas Wohnung ist ja groß, aber ich möchte
ihr nicht den ganzen Trubel zumuten. Es wird
wohl darauf hinauslaufen, dass wir einen
Raum in einer Gaststätte mieten werden, dort
eben Kaffee trinken und dann ganz ruhig der
Mama zur Seite stehen können, statt in der
Küche.«
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Alle nickten zustimmend.
Eine Stunde später brach die kleine Familie
zur Heimfahrt auf. Paul war schon auf Julias
Arm eingeschlafen und ließ sich ohne noch
einmal aufzuwachen in den Kindersitz verfrachten.
Berit schloss die Tür und drehte sich zu ihrem Mann um. »Weißt du was, jetzt könnte
ich einen Schnaps vertragen!«
Während Daniel zur Bar ging und jedem einen Weinbrand einschenkte, ließ sich Berit auf
das Sofa fallen. »Aber nicht wieder hier einschlafen!«, ermahnte sie ihr Mann. Doch das
war nicht nötig. Sie tranken ihre Gläser aus
und gingen gemeinsam die Treppe hinauf
zum Schlafzimmer.
In dieser Nacht schlief Berit tief und traumlos
und eng an Daniel geschmiegt, so wie ganz
früher, zu Beginn ihrer Ehe.
Wieder war das Haus in Stille gehüllt, als Berit die Augen aufschlug. Sie überlegte kurz,
was heute noch alles zu erledigen sein würde.
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Schließlich hatte sie heute noch frei. In der
nächsten Woche rief die Arbeit wieder.
Sie stellte sich kurz unter die Dusche und begann, noch im Bademantel, zu frühstücken.
Der Alltag setzte sich wieder durch und mit
ihm die ureigensten Bedürfnisse. Der Kühlschrank hatte ihr nicht mehr viel geboten, sie
musste also dringend Lebensmittel einkaufen.
Aber auch ein paar Kleidungsstücke waren
nötig. Noch einmal streifte sie die Bluse und
das Kostüm über, aber es waren einfach nicht
die Sachen, mit denen sie länger rumlaufen
wollte, Todesfall hin oder her.
Heute entschied sich Berit wieder dafür, das
Auto zu nehmen. Es musste nicht sein, dass
sie mit schweren Beuteln beladen den Berg
hoch stieg. Und der Familien-Audi bot schon
einiges an Stauraum. Den Berg runter hätte sie
allerdings glatt den Motor sparen können, da
rollte das Gefährt ganz von selbst.
Berit parkte in der Nähe des Marktplatzes
und wollte als erstes nach Bekleidung suchen.
Sie erinnerte sich noch, als ihre Großeltern ge26
storben waren. Da gab es das große Kaufhaus
der Handelsorganisation noch. Und im Obergeschoss, ganz hinten in der letzten Ecke, da
fand sich ein Schild: »Trauerbekleidung«. Das
hatte weder mit hübsch noch mit modisch
was zu tun, es war einfach nur schwarz und
hässlich gewesen. Jetzt befand sich in dem
Gebäude die Niederlassung einer Jeans-Kette
und genau dorthin führte sie ihr Weg. Schon
der erste Ständer war voll mit schwarzen TShirts in vielen Varianten, mit StrassApplikationen, mit dezenten Logos oder mit
kleinen Raffungen und Puffärmeln. Berit griff
sich ein paar Bügel und verschwand in der
Umkleidekabine.
Bei der letzten Anprobe rief sie leise, um
nicht aufzufallen, nach einer Verkäuferin. »Ich
würde das gerne anlassen, geht das?«
Die junge Verkäuferin, vielleicht im Alter von
Markus und Tanja musterte sie von Kopf bis
Fuß und erkannte Berits Problem.
»Natürlich geht das, ich werde gleich den
Diebstahlschutz entwerten, dann können Sie
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es anziehen. Aber ich glaube, Sie können noch
mehr brauchen. Wir haben auch noch sehr
schöne dunkle Jeans oder auch Jeans-Röcke
und ein Sweatshirt würde ich Ihnen auch
noch empfehlen. Dazu noch diese Blousonjacke und Sie sind für die nächsten Wochen gut
angezogen.«
Dankbar blickte Berit die junge Frau an. Wenig später hatte sie die größte Einkaufstüte
voll mit Klamotten gepackt, die sie je getragen
hatte. Na, wenigstens musste sie nicht noch
Schuhe kaufen, die waren, wie bei Frauen üblich, in allen Farben vorhanden, auch in
schwarz.
Berit wuchtete die Riesentüte ins Auto und
widmete sich den Lebensmitteln. Als sie alles
eingekauft hatte, sah der Kofferraum gut gefüllt aus. Das Wochenende würde nicht in eine Schlankheitskur ausarten müssen, wie
noch vorhin zu befürchten war. Berit sah auf
die Uhr und beschloss, noch einen kurzen Abstecher zu ihrer Mutter zu machen. Die hatte
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sich zwar nicht gemeldet, aber Berit dachte
sich, sicher ist sicher.
Einen Moment überlegte sie, ob sie ihren
Schlüssel benutzen sollte um gleich in die
Wohnung zu gehen. Doch sie entschied sich,
zu klingeln. Es dauerte auch gar nicht lange,
bis die Mutter an die Tür kam.
»Ach, das ist aber lieb, dass du mal reinschaust«, begrüßte sie ihre Tochter. Sie gingen
in die Küche, wo die Mutter gerade mit dem
Abwasch beschäftigt war. Seit Jahren versuchte die Familie sie von der Nützlichkeit eines
Geschirrspülers zu überzeugen. Doch das war
für die alte Dame viel zu viel Schnickschnack.
Und das bisschen Geschirr kriegte sie immer
noch mit der Hand sauber. Schließlich kam ja
schon das warme Wasser aus dem Hahn.
Welcher Fortschritt zu früher, als jeder Liter
auf dem Herd heiß gemacht werden musste.
»Was hat denn die Frau Doktor gestern gesagt?« Berit wollte wenigstens erfahren, wie
sie den Gesundheitszustand ihrer Mutter einschätzen konnte. Es war gut, dass die Haus29
ärztin gleich um die Ecke wohnte. Schon der
Vater der jetzigen Frau Doktor, der alte Sanitätsrat war der Hausarzt der Familie gewesen,
nun aber schon lange tot.
»Ach, was soll sie sagen? Ich bin eine alte
Frau, da muss man die Wehwehchen hinnehmen. Aber der Blutdruck ist wieder ganz
gut und der Puls auch. Ich soll mich nicht aufregen, hat sie gesagt. Aber ich habe mir ja die
Aufregung nicht ausgesucht.«
Berit sah ihre Mutter liebevoll an. »Ach Mama, wie kann ich dir nur helfen? Möchtest du
mit zu uns kommen und ein paar Tage oben
bleiben?«
»Nein, lass nur Kind, hier habe ich doch alles
was ich brauche. Und wenn ich aus der Haustür trete, habe ich Bekannte um mich. Bei euch
oben wäre ich ab nächster Woche doch den
ganzen Tag alleine.«
Berits Blick war voller Zweifel. »Aber du
rufst gleich an, wenn was nicht in Ordnung
ist!«
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»Das mache ich, versprochen. Aber nun fahr
heim und kümmere dich um deinen Mann
und deine Tochter.«
Berit nickte. Sie verabschiedete sich von ihrer
Mutter und stieg ins Auto. Ein kurzes Hupen,
dann war sie um die Ecke verschwunden.
Zuhause angekommen, räumte Berit die Lebensmittel in die Schränke und füllte den leeren Kühlschrank auf. Dann breitete sie ihre
neu erworbenen Sachen auf dem Bett aus.
Obwohl sie schwarz waren, war es keine typische Trauerbekleidung und damit mochte sie
sich durchaus identifizieren, jedenfalls eine
Zeit lang.
Und so konnte sie auch zur Arbeit gehen. In
der nächsten Woche musste sie ihren gewohnten Rhythmus wieder aufnehmen. Die Kollegen und die Kinder vertrauten darauf, dass
sie dann wieder einsatzfähig war. Und Berit
war sich sicher, dass ihr die Arbeit mit den
Kindern gut tun würde. So nahm sie das Telefon und rief endlich bei ihrer Kollegin zurück.
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Mehr als eine kurze Rückmeldung war auch
nicht nötig, alles Weitere würden sie am
Dienstag besprechen können.
Jetzt wollte sie sich erst einmal eine kleine
Ruhepause gönnen. Sie hatte gerade die Kaffeemaschine angestellt, als Daniel vom Geschäft herüber kam. »Das passt ja wunderbar,
einen Kaffee könnte ich jetzt auch gebrauchen!« Er ließ sich in der Diele nieder.
»Kannst du denn einfach weg, sind keine
Kunden da?«, sah Berit ihren Mann verwundert an.
»Marion ist gestern wieder aus dem Urlaub
gekommen«, berichtete er. »Eigentlich würde
sie ja erst am Dienstag nach Pfingsten wieder
anfangen, aber sie möchte uns gerne unterstützen und ist heute schon vorbei gekommen. Und als ich gesehen habe, dass du auch
wieder da bist, bin ich gleich rüber gekommen.«
Berit lächelte ihrem Mann zu. Auch sie war
der Schwägerin dankbar. So eine gemeinsame
Kaffeestunde in aller Ruhe, das tat beiden gut.
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Ausführlich berichtete Berit ihrem Mann von
ihren großen Einkauf, vor allem der Bekleidung. Daniel konnte sich kaum das Lachen
verkneifen angesichts des Kaufrausches seiner
Frau. Aber da sie sich jetzt wenigstens wieder
in ihrer Haut wohlzufühlen schien, war es
ihm auch recht. Und schließlich ließen sich
schwarze Sachen ja auch mit anderem kombinieren. Es musste also nicht gleich wieder jemand sterben, um die Kleidung zu nutzen.
Fast nahtlos gingen die Eheleute vom Kaffee
trinken zum Abendessen über. Wie in der
letzten Zeit so oft, zog es Julia vor, gemeinsam
mit ihrem Freund irgendwo ein Schnellgericht
zu sich zu nehmen. Aber das war wohl ihrer
Jugend geschuldet und natürlich dem
Wunsch, so viel wie möglich mit Sebastian
zusammen zu sein.
Während Berit später eine Ladung Wäsche
für die Maschine fertig machte und eine kurze
Grundreinigung mit dem Staubsauger in Angriff nahm, ging Daniel noch einmal ins Geschäft, um mit Marion zu besprechen, was
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während ihres Urlaubs an Arbeit angefallen
war und was nun dringend erledigt werden
musste.
Berit hatte gerade den Staubsauger wieder in
den Flurschrank geräumt, als sie Julias Stimme vor der Haustür hörte. Sie schien den Abschied von ihrem Freund gewollt in die Länge
zu ziehen und Berit fühlte sich wieder an ihre
eigene Jugend und an den Traum vor zwei
Tagen erinnert. Sie klapperte betont laut mit
der Schranktür, um bei den beiden draußen
keine peinliche Situation aufkommen zu lassen, dann öffnete sie schwungvoll die Tür.
»Oh, Mama.« Julia sah trotzdem erstaunt ihre
Mutter an.
»Na ihr beiden, was steht ihr denn hier draußen?« Berit wollte sicher klingen, doch selbst
spürte sie, dass sie nicht recht wusste, wie sie
sich jetzt richtig verhalten sollte. Jedenfalls
nicht wie ihre Mutter vor vielen Jahren!
Sie lächelte den jungen Leuten zu. »Kommt
doch rein.«
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Sebastian sah fragend zu seiner Freundin,
machte dann aber den ersten Schritt in Richtung Haustür. »Guten Abend, Frau Schwerzer«, grüßte er Julias Mutter höflich.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer musste Berit
beinahe lachen, und sie sprach diesen komischen Gedanken auch gleich aus. »Heute passen wir ja richtig gut zusammen«, wandte sie
sich an Sebastian. »Heute haben wir beide
schwarze Klamotten an! Und dazu noch unser
Name, da wird alles gleich noch schwärzer!«
Das Wortspiel war ihr spontan in den Sinn
gekommen.
»Mama! Das ist ja makaber!« Julia wusste
nicht, was sie von ihrer Mutter zu halten hatte.
Doch Sebastian konterte sofort. »Lass nur,
Humor ist, wenn man trotzdem lacht, selbst
wenn man schon den Sarg zu macht!« Julia kicherte leise über Sebastians Reim.
»Ja, vielleicht ist es sogar gut, auch angesichts
des Todes zu lachen, schließlich gehört er zum
Leben«, sinnierte Berit.
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»Sie haben Julia ja auch getröstet, als ihr Opa
gestorben ist«, sprach sie nun wieder Sebastian direkt an. »Sie hat mir von Musik und Gedichten erzählt. Darf ich mal fragen, was das
für Musik ist, die Sie so hören?«
Sebastian dachte kurz nach. »Gibt es hier einen USB-Anschluss? Ich habe einen Stick in
der Tasche, der ist randvoll, da könnten wir
mal reinhören.«
Berit schüttelte den Kopf. »Nein, hier nicht.
Der PC steht im Büro drüben im Geschäft.«
Aber Julia war schon aufgesprungen. »Wartet, ich hole mein Laptop. Da wird zwar die
Klangqualität nicht so optimal sein, aber zum
Anhören wird es genügen.«
Während Julia die Treppe herauf lief, unterhielten sich Berit und Sebastian weiter. »Ich
weiß nicht, ob Sie schon was davon kennen,
Frau Schwerzer«, begann der junge Mann zu
erklären. »Vielleicht haben Sie ja schon mal
was von »Unheilig« gehört. Das kommt jetzt
sogar im Radio. Noch vor ein paar Jahren waren die Fans nur in der Gothic-Szene zu fin36
den, jetzt hört es die halbe Welt. Auch »Rosenstolz« kommen eigentlich aus der Ecke. So
ähnliche Bands gibt es viele, aber die meisten
bleiben eher unbekannt oder sind nur in einem engen Fankreis bekannt, dort aber um so
beliebter. Wenn Julia das Laptop hier hat,
können wir mal in Songs reinhören von
»Lacrimosa«, »L´Ame Immortelle«, »ASP«,
»Oomph«, »Illuminate« oder »Das Ich«. Es gibt
auch welche mit ganz schön krassen Namen
und ebensolchen Outfits, aber alle machen total gefühlvolle Musik. Schon mein Bruder hat
das gehört und mir gefällt es auch. Und in
den Zeitschriften der Gothic-Szene findet man
immer ein paar Seiten mit Gedichten von Lesern, in denen man sich wieder findet, die oft
traurig sind, aber trotzdem irgendwie Mut
machen. Glauben Sie mir, Frau Schwerzer, wir
sind keine potentiellen Selbstmörder und
auch keine so genannten Satanisten.«
Julia hatte schon einen Moment an der Treppe gestanden und gehört, was Sebastian ihrer
Mutter erklärt hatte. Sie hatte nicht dazwi37
schen platzen wollen, denn jetzt sah sie ihre
Chance, dass die Mutti ihre bisher so ablehnende Haltung revidierte. Zu gerne wäre sie
doch mit Sebastian noch am Pfingstwochenende nach Leipzig gefahren. Aber bisher hatte
sie sich nicht getraut, ihren Eltern diesen
Wunsch nahe zu bringen.
Sebastian hatte eine kleine Pause gemacht
nach seinem Monolog. Nun setzte sich Julia
wieder zu ihnen. Sebastian klappte das Laptop auf und steckte den USB-Stick in den Anschluss. Und schon bald erfüllten ungewohnte
Töne und Klänge den Raum. Berit gab sich
ganz dem Gefühl hin, das diese Musik plötzlich in ihr hervorrief. Ohne, dass es ihr bewusst wurde, liefen Tränen über ihre Wangen. Doch das Weinen tat nicht weh, es war
auf unerklärliche Weise beruhigend und befreiend.
Nach einer Weile drückte Sebastian die Pausentaste. »Ich kann Ihnen gerne auch eine CD
brennen, dann können Sie es im Auto hören,
da mag ich die Musik auch besonders gern.«
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Berit sah Julia und ihren Freund an und nickte nur. Ja, im Auto, da hatte sie jetzt immer
das Radio ausgeschaltet, weil ihr die Unterhaltungsmusik zu viel wurde. Aber das hier,
das wollte sie gerne ab und zu hören.
Jetzt war Julias Moment gekommen. Sie
nahm die Hand ihrer Mutter. »Mama, jetzt
kennst du den Basti und die Musik. Und jetzt
habe ich eine Bitte. Darf ich morgen mit ihm
nach Leipzig fahren zum Wave Gotik Treffen?
Bitte Mama, sag ja!«
Für einen Augenblick fühlte sich Berit überrumpelt. Doch dann lächelte sie die beiden
erwartungsvoll blickenden jungen Leute an.
»Ich denke mal, ich kann gar nicht nein sagen,
oder? Dann erzählt mal, wie ihr euch das vorgestellt habt.«
Sebastian begann zu erklären: »Ich bin ja
schon 18 und habe auch einen Führerschein.
Morgen darf ich das Auto von meinem Vater
nehmen. Aber wir fahren nur bis zum Stadtrand, dort steigen wir in die Straßenbahn um.
Wir haben auch keine teure Festivalkarte ge39
kauft, aber es gibt genug Veranstaltungen, die
öffentlich sind, wo wir hingehen können.«
»Wo will wer hin?« Von den dreien unbemerkt war Daniel zur Tür herein gekommen
und sah erstaunt auf die muntere Diskussionsrunde im Wohnzimmer mit dem Laptop
auf dem Tisch.
Berit sah ihren Mann durchdringend an. »Ich
erzähle es dir später, es ist nichts Schlimmes.«
Julia war aufgestanden. »Ich bringe noch
rasch den Basti raus, dann verziehe ich mich
nach oben. Gute Nacht, Papi. Gute Nacht,
Mami!«
Auch Sebastian verabschiedete sich, nicht
ohne noch einmal ein dankbares Lächeln zu
Julias Mutter zu werfen.
Daniel fand kurz darauf kaum Worte für das,
was sich hier in seiner Abwesenheit ereignet
hatte. Nur einmal hatte er fassungslos gefragt:
»Was, zu den Gruftis?« Doch nachdem ihm
seine Frau einen Teil von Sebastians Erklärung wiedergegeben hatte, war auch er halbwegs beruhigt. Und außerdem, da gab es
40
doch ganz andere Sorgen, die Eltern mit ihren
heranwachsenden Kindern hatten. Julia hatte
Vertrauen zu ihnen und das sollten sie ja wohl
auch zu ihr haben!
Am nächsten Morgen saß Julia, ganz entgegen ihren Gewohnheiten am Wochenende in
der letzten Zeit, gemeinsam mit den Eltern am
Frühstückstisch. Berit beobachtete ihre Tochter aus den Augenwinkeln heraus und amüsierte sich über deren Unruhe. Dann endlich
ertönte die Hupe eines Autos vor dem Haus
und Julia sprang sofort auf. Mit ihrem Freund
an der Hand kam sie zurück zu den Eltern.
Sebastian hatte eine an den Seite geschnürte
schwarze Lederhose an, die ihm ausgezeichnet stand, und ein naturfarbenes Hemd, ebenfalls mit Schnürung statt Knöpfen. Julia trug
zum langen schwarzen Rock ein knallrotes
Trägertop. Und zum Erstaunen aller hatte sie
sich die ungeliebte »Beerdigungsbluse« der
Mutter frisch von der Wäscheleine geholt und
locker über dem Top gebunden. Julias Haar
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fiel lang und glatt über ihre Schulter, während
Sebastian die dunkel gefärbten Haare in Irokesenart steil nach oben gestylt hatte. Nun sah
man auch, dass seine seitlichen Kopfpartien
rasiert waren, was er aber im Alltag mit den
darüber liegenden Haaren verdeckte. Doch
auf diese kleinen Ungewöhnlichkeiten seines
Äußeren kam es längst nicht mehr an. Die Eltern sahen das Glück in Julias Augen und
wünschten den beiden einen schönen ereignisreichen Tag in Leipzig.
Als das Auto um die Straßenecke gebogen
war, gingen die Eltern zur Tagesordnung
über. Berit räumte den Frühstückstisch ab und
nahm die restliche Wäsche von der Leine,
während sich Daniel in den Laden verabschiedete. Bedrückt sah ihm Berit nach. Mit
seinem Geschäft schien er mehr verheiratet zu
sein als mit ihr. Daniel war im Grunde ein lieber Ehemann, doch sie fühlte sich irgendwie
von ihm vernachlässigt. Sie hatten kaum noch
Gemeinsamkeiten. Als Julia noch jünger ge42
wesen war, hatte es noch ab und zu gemeinsame Ausflüge gegeben, wohl um des Kindes
Willen. Doch diese Zeit war nun endgültig
vorbei. Ihr Julchen baute sich sein eigenes Leben auf, und darin spielten die Eltern nicht
mehr die erste Geige.
Also versuchte Berit mal wieder, sich mit der
Situation zu arrangieren. Im Haushalt war einiges liegen geblieben, was ihr jetzt unangenehm ins Auge fiel. Mit Staubtuch und Möbelspray bewaffnet brachte sie wieder Sauberkeit und Ordnung in die Räume. Zum Mittag setzte sie Kartoffeln auf und legte Bratwürstchen in die Pfanne. Daniel mochte
Hausmannskost, und Kartoffelbrei mit Würstchen am meisten. Sie wollte gerade zum Telefon greifen und im Geschäft anrufen, als er
schon in der Tür stand.
»Na, das klappt ja wieder mit uns wie ein
Länderspiel!«, rief er Berit entgegen, als er
sah, dass das Essen fertig war.
43
Berit stellte die gefüllten Teller auf den Tisch.
Ein Glück, dass er so ans Essen gewöhnt ist,
ging ihr durch den Kopf.
Sie hatte eigentlich erwartet, dass Daniel sich
nach dem Essen wieder in den Laden verziehen würde, doch er schüttelte den Kopf.
»Nein, von jetzt an bis zum Dienstag ist
Pfingsten. Weißt du, das muss auch einmal
sein. Wenn ich dran denke, wie schnell das
Leben zu Ende sein kann, dann sollte man
doch ab und zu eine Pause einlegen.«
Durch den Tod von Berits Vater schien ihm
das plötzlich wieder bewusst zu werden, wie
wertvoll doch das Leben war. Sicherlich hatte
er es über Jahre hinweg verdrängt, nachdem
seine eigenen Eltern kurz nacheinander verstorben waren. Berit nahm es dankbar zur
Kenntnis.
So setzten sich die Eheleute nach dem Mittagessen ins Wohnzimmer und nahmen sich
jeder ein Buch zum Lesen. Berit musste für einen Moment überlegen, wo sie sich gerade in
der Handlung befand. Sie hatte zwar ein Le44
sezeichen im Buch liegen, aber so lange nicht
hinein gesehen, dass sie kaum noch wusste,
worum es ging. Doch nach zwei Seiten war sie
in die Handlung eingetaucht und schon bald
davon gefesselt. Daniel waren die Augen zugefallen. Die viele Arbeit in der letzten Zeit,
dazu die traurigen Ereignisse, das alles forderte seinen Tribut.
Berit schlich sich in die Küche und begann
ein paar Blätterteigtaschen zu backen. Mit Besuch war eher nicht zu rechnen und für sie
beide würde es reichen. Der Kaffeeduft weckte dann auch ihren Mann wieder auf. Er schaltete den Fernseher an und zappte durch die
Programme. Und so, als hätte er es gewusst,
kam ein kurzer Bericht vom Wave Gotik Treffen in Leipzig. Da also, inmitten dieser
schwarzen Szenegestalten lief nun auch ihre
Tochter herum. Aber der Bericht war so positiv, selbst die »normalen« Passanten auf der
Straße äußerten sich nicht abfällig über das illustre Völkchen, dass die Eltern sich nun von
Herzen für ihre Tochter freuen konnten.
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»Weißt du was, Berit«, überlegte Daniel am
Abend, »wir könnten doch morgen einen
Ausflug machen.« Berit ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, als sie erwiderte:
»Gute Idee, hast du schon ein Ziel ausgesucht?«
»Ich dachte, wir fahren in den Harz, das ist
nicht weit und ich denke, am Josephskreuz ist
bestimmt einiges los zu Pfingsten. Wir könnten auch deine Mutti fragen, ob sie mitkommt.
Es wäre doch gut, wenn sie mal rauskommt
nach dem Schock. Auf Julia brauchen wir
wohl nicht mehr zählen. Wer weiß, wann die
beiden wieder zurück sind, da ist bestimmt
erst mal ausschlafen angesagt und dann wird
sie doch lieber zu Sebastian wollen als mit uns
rum zu kutschen.«
»Ja, genau so machen wir es!« Berit war mit
allem einverstanden, was ihr Mann vorgeschlagen hatte. Es würde ihnen allen gut tun,
dem Stress der letzten Tage zu entfliehen. »Ich
rufe Mama gleich noch an.«
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Als Berit ihrer Mutter von Daniels Vorschlag
berichtet hatte, war die, entgegen aller Befürchtungen, sofort einverstanden. »Wir holen
dich dann ab, so gegen 10!«
Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter und
wandte sich dem Fernsehprogramm zu. Die
seichte Samstagabendunterhaltung plätscherte aber mehr an ihr vorbei, als sie es in sich
aufnahm. Irgendwie waren ihre Gedanken
nicht bei der Sache. Mehrfach ging ihr Blick
zur Uhr und zum Telefon und wieder zurück.
Zu gerne hätte sie Julia auf ihrem Handy angerufen, wollte wissen, ob es ihr gut ging, wo
sie war. Doch sie verkniff es sich lieber. Wie
peinlich war es damals gewesen, wenn die
Mutter einfach »zur Kontrolle« in ihr Zimmer
geplatzt war, wenn sie Besuch hatte oder
wenn ihr Vater am Abend vor dem Jugendclub stand, um sie abzuholen. Oh, hätte es
damals schon Handys gegeben, Berit hätte
wohl keine ruhige Minute gehabt.
Schließlich gingen Berit und Daniel zu Bett.
Doch spät in der Nacht drang das vertraute
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Geräusch der Haustür an Berits Ohr und Julias Schritte auf der Treppe. Nun erst schlief
sie ruhig weiter bis zum Morgen.
Nach einem gemütlichen Sonntagsfrühstück
rüstete sich das Ehepaar für den geplanten
Ausflug. Sie legten für ihre Tochter einen Zettel auf den Tisch, dass sie zum Abend wieder
da sein würden. Daniel zückte seine Geldbörse und holte noch 20 Euro heraus. Vom Taschengeld dürfte wohl nach dem Tag in
Leipzig nicht mehr viel übrig sein. Vielleicht
wollten die jungen Leute ja ein Eis essen gehen. Und auch wenn Sebastian schon 18 war,
er befand sich noch in der Ausbildung und
das Lehrgeld war hierzulande nicht so üppig.
Berits Mutter musste schon fix und fertig angezogen hinter der Gardine gestanden haben.
Kaum, dass sie mit dem Auto vor dem Haus
angehalten hatten, kam sie auch schon aus der
Tür.
Berit war ausgestiegen, um ihrer Mutter den
Platz auf dem Beifahrersitz anzubieten. Doch
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die lehnte ab. »Lass nur, Mädchen, euer Auto
ist hinten doch auch bequem und Platz genug
habe ich auch.« So stieg die Mutter also hinten
ein und lehnte sich ins Polster zurück. Daniel
sah noch einmal nach hinten, ob seine
Schwiegermutter auch den Gurt umgelegt
hatte, dann fuhren sie los.
Sie nahmen die steil bergan führende Ausfallstraße in Richtung Harz. Der Vater hatte
Berit einmal erklärt, dass diese Straße ein
Stück der alten Kohlenstraße sei, die vom Harz
bis zur Saale führte. Noch immer war es die
kürzeste Verbindung, wenn man in den Harz
wollte. Sie durchquerten zwei kleine Dörfer
und bogen dann auf die Bundesstraße ein, die
Harzhochstraße, die seit Jahrhunderten den
Ostharz und den Westharz verband. Auch das
hatte ihr der Vati erzählt. Im Atlas ihrer
Schulzeit und den damaligen Landkarten hatten der Harz und die Straße abrupt im Nichts
geendet und Berit hatte sich gar nicht vorstellen können, dass danach doch noch etwas
kam. Als die Straße wieder durchgängig be49
fahrbar war, hatten sie sich auch den westlichen Teil des Harzes angesehen, waren in
Braunlage und Clausthal-Zellerfeld gewesen.
Doch es zog sie immer wieder hier her, in den
östlichen Teil des Gebirges. Zwar waren auch
hier die Souvenirläden und Restaurants nur
so aus dem Boden geschossen, doch hatte sich
der Kommerz nicht in dem Maße durchsetzen
können, wie im westlichen Teil. Vieles hier
war einfacher, aber auch uriger und die Menschen irgendwie herzlicher.
So in ihre Gedanken versunken, bemerkte Berit gar nicht, dass sie die Hauptstraße schon
verlassen hatten und sich dem Auerberg näherten. Daniel bog auf den Parkplatz ein. Früher hatten sie meistens in einem ständig
feuchten Waldweg geparkt, wenn sie mit
Markus hier hoch gefahren waren. Jetzt gab es
einen, den Touristenströmen angepassten,
großen befestigten Parkplatz. Aber noch immer stand der winzige Andenkenkiosk an der
selben Stelle wie vor 25 Jahren. Fast so etwas
50
wie Nostalgie kam in Berit bei dem Anblick
auf.
Am Beginn des Waldweges, der hinauf auf
den Berg führte, stand ein Pferdegespann mit
einem Kremserwagen. Daniel hatte es als erster entdeckt.
»Seht mal, da könnten wir doch nach oben
mitfahren!«, schlug er den beiden Frauen vor.
Er dachte dabei natürlich an seine Schwiegermutter, welcher der beschwerliche Weg
nach oben doch Mühe bereiten würde. Aber
wie aus einem Mund kam von beiden die
Antwort: »Gute Idee!«
Der Fahrpreis, den der Kutscher verlangte,
war moderat. So nahmen die drei in dem Wagen Platz. Rasch füllten sich auch die anderen
Plätze und das Pferdegespann setzte sich in
Bewegung. Langsam und bedächtig wand
sich der Waldweg dem Gipfel entgegen. Und
nach der letzten Kurve kam es den Fahrgästen
ins Blickfeld, das Josephskreuz. Es galt noch
immer als das größte eiserne Doppelkreuz der
Welt. Vor über 110 Jahren nach dem Vorbild
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des Eiffelturms in Paris errichtet, erhob es sich
seit dem auf dem Großen Auerberg fast 40 Meter in die Höhe. Ein traumhafter Blick war der
Lohn für die mühsame Kletterei hinauf. Aber
wer nicht schwindelfrei war, dem wurde
dringend von der Besteigung abgeraten.
Die drei Ausflügler hatten das auch gar nicht
vor. Schon von Weitem hatte Blasmusik vom
Berg geklungen. Nun setzten sie sich am
Waldrand auf eine Bank und lauschten den
Klängen der Kapelle, die sich mit einem Chor
abwechselte, der romantische Volkslieder vortrug. Es war eine melancholische Stimmung,
die doch nicht ins Traurige umschlug. Berit
und Daniel sahen sich an und ohne Worte waren sie sich einig. Es war eine gute Idee gewesen, mit der Mutter hier her zu fahren.
Eine Stunde später saßen sie im Biergarten
des Berggasthauses und ließen sich das deftige Mittagessen schmecken.
»Wollen wir nachher wieder mit dem Kremser fahren oder vielleicht laufen?«, erkundigte
sich Daniel bei den beiden Frauen.
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»Ach weißt du«, meinte Berits Mutter, »es
geht ja bergab und ein paar von den Kalorien
kann man sich ruhig wieder ablaufen.« Sie
deutete auf ihren gesättigten Bauch.
»Gut, dann machen wir aber einen Abstecher
zum Schindelbruch. Dort können wir Kaffee
trinken oder ein Eis essen.« Das Hotel am Fuße des Berges entwickelte sich immer mehr
zum Touristenmagneten. Vor zwei Jahren hatte Daniel seine Berit einmal zu einem Wochenendaufenthalt eingeladen. Und am Lächeln seiner Frau sah er, dass sie es noch immer in der besten Erinnerung hatte.
Pünktlich zur Kaffeezeit nahmen sie auf der
Terrasse des Hotels Platz.
»Ach, wenn ich nur die Speisekarte lese,
könnte ich schon wieder essen!«, schwärmte
Daniel in Erinnerung an die Kochkünste des
Hauses. Doch schließlich entschieden sich alle
drei für Kaffee und Kuchen und genossen das
Ambiente, hier inmitten des Waldes.
Noch einmal gut gestärkt machten sie sich
schließlich auf den Rückweg zum Auto. Da53
niel hatte zwar vorgeschlagen, alleine bis dort
hin zu laufen und das Auto her zu holen,
doch das war von seiner Schwiegermutter vehement abgelehnt worden. Und Berit war
froh, ihre Mutti wieder in so guter Verfassung
zu wissen. Sie konnte die Kraft brauchen, es
würde noch schwer genug werden, bis sie den
plötzlichen Tod ihres Mannes verarbeitet hatte.
»Danke für den schönen Tag, ihr Lieben!« Berits Mutter stand vor der Haustür und umarmte Daniel und ihre Tochter. »Lass nur
Mama, es hat auch uns gut getan. Morgen
werden wir es noch ein bisschen schleifen lassen, aber am Dienstag geht die Arbeit von
vorn los. Nur Julia hat Glück, bei ihr sind
Pfingstferien. Sie wird dich ganz bestimmt
mal besuchen kommen. Sie hat übrigens einen
sehr netten Freund. Lass dich nur nicht von
seinem Äußeren abschrecken. Sebastian ist ein
wirklich lieber junger Mann und er tut Julia
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gut. Vielleicht lernst du ihn ja bald einmal
kennen.«
Damit umarmte Berit ihre Mutter noch einmal und stieg wieder ins Auto ein. Hinter der
Mutter fiel die Tür ins Schloss.
Kurz darauf lenkte Daniel das Auto in die
Einfahrt. Es gab zwar auch eine Garage am
Haus, doch wegen des Geschäfts hatte Daniel
einen kleinen Lieferwagen angeschafft, der
momentan wenig genutzt wurde und meistens in der Garage stand. Also musste der
Audi mit dem Außenplatz vorlieb nehmen.
Als sie ins Haus eintraten, wirbelte ihnen eine
fröhlich lachende Julia entgegen.
»Hallo Mami, hallo Papi! Na, hattet ihr einen
schönen Ausflug? Und wie geht es Omi?«
Daniel bremste den Überschwang seiner
Tochter. »Mal immer langsam mit den jungen
Pferden! Unser Ausflug war schön. Aber wir
müssen dir doch erst mal die Gegenfrage stellen. Wie war denn euer Ausflug? Es war ja
ganz schön spät oder eher früh letzte Nacht!«
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»Ach, wenn ich das alles erzählen würde, es
könnte etwas länger dauern. Ihr könnt euch
nicht vorstellen, was da ab geht in Leipzig!
Einfach genial. Und alles ganz friedlich, wir
haben einen Haufen nette Leute kennengelernt. Wir haben sogar ein Autogramm von
einem Sänger bekommen. Der lief da einfach
auf der Straße rum und Basti hat ihn angesprochen. Der war so was von cool drauf! Ich
glaube, nächstes Jahr kaufen wir uns eine Wochenendkarte und fahren mit dem Zelt hin.
Ich fange schon mal an mit sparen.« Sie machte eine kleine Verschnaufpause. »Und danke
noch für das Geld, das war lieb von Euch, wir
haben uns Döner gekauft, irgendwann am
Nachmittag hatten wir doch Hunger.
Aber nun sagt schon, wie geht es der Oma?
Hat es ihr im Harz gefallen?«
Berit legte ihrer Tochter den Arm um die
Schulter. »Der Oma hat es gut gefallen und
ich glaube, es ging ihr heute auch gut. Sie
braucht einfach etwas Gesellschaft. Kannst du
nächste Woche ab und zu mal bei ihr vorbei
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gehen und nach ihr sehen? Du hast doch Ferien.«
»Aber klar, mache ich das. Ist doch auch immer schön, sich von Omi eine heiße Schokolade kochen zu lassen.«
Berit stand auf und sah ihre Eltern an. »Seid
ihr böse, wenn ich noch mal zu Basti gehe?«
Sie war schon auf dem Weg zur Tür.
Daniel lachte. »Verschwinde schon!«
»Und grüße den Sebastian von uns!«, fügte
Berit noch hinzu, ehe die Tür ins Schloss fiel.
Berit richtete für sich und ihren Mann ein
paar belegte Brote zum Abendessen an und
schaltete den Fernseher ein. Daniel öffnete eine Flasche Wein und so ließen die beiden den
Tag ausklingen.
Auch wenn morgen noch ein Feiertag war
und damit etwas Ruhe, so wussten sie doch,
dass die kommenden Tage jeden wieder fordern würden.
Als Berit am nächsten Morgen die Augen
aufschlug, hingen dunkle Wolken vor dem
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Fenster. Noch fiel kein Regen, aber wer weiß,
wie lange sich das Wetter noch halten würde.
Welch ein Glück, dass sie den Ausflug am
Sonntag gemacht hatten!
Nun ließen sie es also ruhig angehen. Nach
einem ausgiebigen Frühstück, zu dem sich
sogar Julia hinzu gesellte, bereitete Berit das
Mittagessen vor.
»Und, was steht bei dir heute noch auf dem
Plan?«, wollte sie von ihrer Tochter wissen.
Julia grinste ihre Mutter an. »Na was schon!
Nach dem Essen gehe ich zu Basti, bisschen
Musik hören und auf dem Sofa rumhängen.
Wenn ich den Himmel ansehe, wird es keinen
Spaziergang geben.«
Berit lächelte vor sich hin. Ach ja, wenn man
jung und zu zweit ist, dann ist das Wetter sowieso egal, solange sich irgendwo ein gemeinsames Plätzchen findet. Und Sebastians
Eltern schienen der Beziehung der beiden offen gegenüber zu stehen. Berit erinnerte sich
noch an die Zeit, als Markus so alt war. Da
waren sie irgendwie ruhiger und gelassener
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gewesen. Wahrscheinlich lag es doch daran,
dass Markus eben ihr großer Junge und Julia
ihr kleines Mädchen war.
Nach dem Essen nutzte Berit die Zeit, um
sich der Bügelwäsche zu widmen. Das gehörte wahrhaftig nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Doch Daniels Hemden und die Arbeitskittel sollten schon entsprechend gepflegt
aussehen. Schließlich stand er tagtäglich den
Kunden gegenüber. Als Berit auch noch eine
offene Naht an einem der Kittel entdeckte,
holte sie kurzerhand die Nähmaschine hervor.
Dann ist heute eben der Bügel- und Flicktag,
dachte sie bei sich.
Daniel hatte sich in die Garage verzogen und
sah mal nach den Autos. Schließlich hatte er
Schlosser gelernt und konnte viel selbst erledigen. Leider fehlte ihm oft die Zeit. Heute
nutzte er sie aber intensiv und Berit hörte später sogar das Brummen des Staubsaugers zu
ihr herüber dringen und riss sie aus ihren Gedanken.
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Morgen würde sie wieder zur Arbeit gehen.
Morgen war der Vater genau eine Woche tot.
Noch immer schien es ihr so unwirklich zu
sein. Er war der Held ihrer Kindheit gewesen,
war wie ein Fels in der Brandung gewesen.
Nun gab es ihn nicht mehr. Was blieb, war die
Erinnerung.
Berit dachte an die Kinder, um die sie sich
morgen wieder kümmern würde. Sie arbeitete
gern mit Kindern. Viele von denen hatten keinen Vater, der sie liebte. Manche kannten ihren nicht einmal.
Nein, sie durfte nicht traurig sein, dass es den
Vati nicht mehr gab. Sie musste froh und
dankbar sein, dass er ihr so viele schöne Jahre
mit so viel Zuneigung geschenkt hatte.
Das Geräusch des Staubsaugers war verstummt. Berit räumte die Nähmaschine und
das Bügeleisen weg und sah verwundert auf
die Uhr. Die Zeit war vergangen wie nichts.
Zum Kaffee trinken war es zu spät. So setzte
sie Teewasser auf und richte ein kleines Buffet
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an. Daniel würde bestimmt Appetit mitbringen, wenn er rüber kam.
Ein wenig später trudelte auch Julia wieder
ein und stopfte sich gleich ein paar der leckeren Häppchen in den Mund.
»Ach Mama, ich glaube, zum Essen werde ich
auch in zehn Jahren noch her kommen, bei dir
schmeckt es noch immer am Besten!«, rühmte
sie ihre Mutter.
»Na, darüber sprechen wir aber noch mal«,
wand Berit sichtlich amüsiert ein, während
Daniel genüsslich kauend seiner Tochter beipflichtete: »Aber recht hat sie!«
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