Das Vergnügungsviertel - Fachbereich Geschichts

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Das Vergnügungsviertel - Fachbereich Geschichts
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Das Vergnügungsviertel
Heterotopischer Raum in den Metropolen der Jahrhundertwende
Tobias Becker
Every great city has its seamy underside.
– J. G. Farrell1
… certain activities seem to belong to certain areas,
or neighbourhoods, as if time itself were moved
or swayed by some unknown source of power.
– Peter Ackroyd 2
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL IN DER M ETROPOLE
Vergnügungsviertel, ›entertainment district‹, ›lieu de plaisir‹ sind Begriffe, wie
sie in Reiseführern und in der Umgangssprache gerne benutzt werden, weil sich
unter ihnen jeder etwas vorstellen kann, die aber gleichzeitig schwer oder gar nicht
zu definieren sind. Weder der Brockhaus noch Wikipedia führen einen Artikel und
ebenso wenig warten Stadtgeographie und -soziologie mit einer Definition auf.
Das Vergnügungsviertel scheint es nur in seiner konkreten Form, als Vergnügungsviertel von Paris, London oder New York zu geben, nicht aber als Abstraktion. Seine ausgesprochene Bildstärke – Großstadtnächte, Neonlicht – korrespondiert mit einer definitorischen Uneindeutigkeit: Wodurch wird ein Stadtraum zum
Vergnügungsviertel? Welche Charakteristika muss es besitzen, welche Faktoren
erfüllen? Welche Vergnügungen hält es bereit? Inwiefern unterscheidet es sich von
anderen Räumen der Stadt?
Einige Antworten fallen leicht: In Paris und London gab es ein Vergnügungsviertel, in Madrid, Manchester oder München aber nicht, und so ist das Vergnü1 | J. G. Farrell: The S ingapo r e G r ip [1978], London 1992, S. 4.
2 | Peter Ackroyd: L ondon. The Biog r aphy, London 2003, S. 774.
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gungsviertel erst einmal ein spezifisch großstädtisches, wenn nicht gar ein Metropolen-Phänomen. Von Metropolen kann aber erst seit dem 19. Jahrhundert die
Rede sein, und vieles spricht dafür, das Vergnügungsviertel – obgleich der Begriff
bisweilen auf die antike und vormoderne Stadt angewandt wird – vor dem Hintergrund der ›langen Jahrhundertwende‹ zu sehen, die zugleich »Zeit der Metropolen«, »massenmediale Sattelzeit« und Geburtsstunde der modernen Populärkultur
war – drei zeitgleiche, historische Prozesse, ohne die das Vergnügungsviertel unvorstellbar ist und die in ihm wiederum einen anschaulichen, materiellen Ausdruck fanden.3 Deshalb gilt es »die ein halbes Jahrhundert lang bemerkenswert
einflussreichen ›Vergnügungsviertel‹ […] als genuin städtische Räume verstärkt in
den Blick zu nehmen«, wie Pascal Eitler schreibt.4 Um eine Art idealtypisches Vergnügungsviertel zu zeichnen, werden im Folgenden die Vergnügungsviertel der
sechs größten und als Metropolen weitgehend unumstrittenen Städte der Jahrhundertwende betrachtet: der Pariser Montmartre (4,1 Millionen Einwohner), das Londoner West End (6,5 Millionen), Friedrichstraße und Kurfürstendamm in Berlin
(2,7 Millionen), der Wiener Prater (1,6 Millionen), der New Yorker Times Square
(4,9 Millionen) und das Asakusa-Viertel in Tokio (5,2 Millionen).5
Die Entstehungsgeschichte der Vergnügungsviertel und ihre Lokalisierung im
Raum der jeweiligen Metropole, der Gegenstand des ersten Abschnittes, erklären
allein jedoch noch nicht, was diese Gebiete so besonders macht. Wie die beiden
Säulenfiguren des ›Spatial Turns‹, Henri Lefebvre und Michel de Certeau, schrei3 | Clemens Zimmermann: D ie Z eit de r Met r opolen. U r banisie r ung und G r oßstadtentwicklung, Frankfurt a.M. 1996; siehe auch Anthony Sutcliffe (Hg.): Met r opolis, 1890-1940,
Chicago 1984; Heinz Reif: »Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden«, CMS Working
Paper Series 001/2006, www.metropolitanstudies.de/fileadmin/filestorage/reif_001.
pdf, S. 2; Bernd Weisbrod: »Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. Die medialen Bedingungen von Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert«, in: H isto r ische Anth r opologie
9 (2001), S. 270-283; Kaspar Maase: G r enzenloses Ve r gnügen. D e r Aufstieg de r Massenkultu r 1850-1970, Frankfurt a.M. 32001, S. 20.
4 | Pascal Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit. Körpergeschichte als Konsumgeschichte«, in: Claudius Torp/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): D ie Konsu mgesellschaft in
D eutschland 1890-1990, Frankfurt a.M. 2009, S. 370-383.
5 | Wolfgang Schwentker: »Die Megastadt als Problem der Geschichte«, in: ders. (Hg.):
Megastädte i m 20. J ah r hunde r t , Göttingen 2006, S. 7-26, hier S. 9; zwischen Berlin und
Wien lagen eigentlich noch Osaka (2 Mio.) und Chicago (1,8 Mio. Einwohner). Zum Metropolen-Diskurs der Jahrhundertwende siehe James Joll: »Die Großstadt – Symbol des Fortschritts oder der Dekadenz«, in: Peter Alter (Hg): I m Banne de r Met r opolen. Be r lin und L ondon in den 20e r J ah r en, Göttingen 1993, S. 23-39, insbes. S. 24; Peter Hall: W eltstädte ,
München 1966; Gerwin Zohlen: »Metropole als Metapher«, in: Gotthard Fuchs/Bernhard
Moltmann/Walter Prigge (Hg.): Mythos Met r opole , Frankfurt a.M. 1995, S. 23-34; Jürgen
Osterhammel: D ie Ve r wandlung de r W elt. Eine G eschichte des 19. J ah r hunde r ts, München
2009, S. 355-464.
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ben, ist »der (soziale) Raum ein (soziales) Produkt« beziehungsweise »space is a
practiced place«.6 Das gilt für keinen Raum mehr als für das Vergnügungsviertel,
das in besonderem Maße soziale Interaktion und Kommunikation strukturierte,
und zugleich »selbst erst kommunikativ geschaffen« wurde.7 Seine, im zweiten
Abschnitt untersuchte, spezifische Psychogeographie lässt es als einen grundsätzlich »anderen Raum« erscheinen. Deshalb wird vorgeschlagen, es als einen heterotopischen Raum im Sinne Michel Foucaults zu verstehen.8
Das Konzept der Heterotopie entwickelte Foucault in einer Vorlesung, die
mittlerweile zu den klassischen Texten der Raumtheorie gehört und insbesondere
in den Kulturwissenschaften einen festen Platz im Nachdenken über Räume behauptet. Als Heterotopie bezeichnet Foucault in Abgrenzung vom Nicht-Ort der
Utopie »reale, wirkliche Orte, […] die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich
verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die
man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins
Gegenteil verkehrt werden«.9 In der Folge unterscheidet er zwischen vormodernen
Krisenheterotopien, das heißt privilegierten oder verbotenen Orten, die Menschen
vorbehalten sind, die sich in einem Krisenzustand befinden (z.B. menstruierende Frauen, Heranwachsende, Alte), und den Abweichungsheterotopien moderner
Gesellschaften. Unter Abweichungsheterotopien versteht er Orte wie Sanatorien
oder Gefängnisse, in denen Menschen untergebracht werden, deren Verhalten von
gesellschaftlichen Normen abweicht. Alle Heterotopien unterliegen historischer
Wandelbarkeit, wie Foucault am Beispiel des Friedhofs erklärt, der im 19. Jahrhundert von der Stadtmitte an die Peripherie wandert. Ein weiteres Charakteristikum
ist die Überlagerung mehrerer, oft miteinander eigentlich inkompatibler Orte, an
einem einzigen Ort wie dem Theater oder dem Kino. Grundsätzlich stünden alle
Heterotopien in Verbindung mit zeitlichen Brüchen, die Foucault als »Heterochro6 | Henri Lefebvre: »Die Produktion des Raums«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.):
R au m theo r ie. G r undlagentexte aus Philosophie und Kultu r wissenschaften, Frankfurt a.M.
2006, S. 330-342, hier S. 330; siehe auch ders.: The P r oduction of S pace , Oxford 1984,
S. 73; sowie Mark Gottdiener: The S ocial P r oduction of U r ban S pace , Austin 1985, S. 123;
Michel de Certeau: The P r actice of Eve r yday L ife , Berkeley 1988, S. 117.
7 | Alexander C. T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold: »Verräumlichung. Kommunikative
Praktiken in historischer Perspektive, 1840-1930«, in: dies. (Hg.): O r tsgesp r äche. R au m
und Ko mm unikation i m 19. und 20. J ah r hunde r t , Bielefeld 2005, S. 15-49, hier S. 18.
8 | Das halb künstlerische, halb wissenschaftliche Konzept der Psychogeographie, ursprünglich von Guy Debord geprägt, ist bislang kaum auf deutsche Städte oder von Historikern angewandt worden, vgl. Guy Debord: »Introduction to a Critique of Urban Geography«,
in: Kenn Knabb (Hg.): S ituationist Inte r national Anthology, Berkeley 1981, S. 5-8; siehe
auch Merlin Coverley: Psychogeog r aphy, London 2006.
9 | Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): R au m theo r ie.
G r undlagentexte aus Philosophie und Kultu r wissenschaften, Frankfurt a.M. 2006, S. 317329, hier S. 320.
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nien« bezeichnet. Und ihnen allen sei eigen, dass sie ein System der Öffnung und
Abschließung voraussetzen, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen
ermöglicht.
Hinsichtlich ihrer Funktion unterscheidet Foucault zwischen »illusorischen
Heterotopien«, die »einen illusionären Raum schaffen, der den ganzen realen
Raum und alle realen Orte […] als noch größere Illusion entlarvt«, und »kompensatorischen Heterotopien«, die »im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung« aufweisen. Foucaults Konzept, das Gefängnis
und Garten ebenso umfasst wie Theater, Motel, Fest und das Boot – »die Heterotopie par excellence« –, ist daher denkbar weitgespannt und uneindeutig oder, wie
Edward W. Soja schreibt, »frustratingly incomplete, inconsistent, incoherent«.10
Andererseits war es vermutlich gerade diese Offenheit und Ungenauigkeit, die
den Reiz des Konzeptes begründete. Jeder, der es benutzt, kann – und muss – es
zwangsläufig den eigenen heuristischen Bedürfnissen anpassen. Die hauptsächliche Qualität von Foucaults Heterotopie ist jedoch, dass sie uns auf häufig übersehene Räume überhaupt erst aufmerksam macht, dass sie die Frage aufwirft, wie
und warum diese Räume existieren und funktionieren und welche Rolle sie in
einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt spielen. Inwiefern
nun das Vergnügungsviertel als heterotopischer Raum verstanden werden kann,
wird nach einem Blick auf sechs konkrete Viertel geklärt.11
Montmartre
Paris gilt als »Stadt der […] Vergnügungsviertel« schlechthin und diesen Ruf verdankt es keinem Viertel mehr als dem Montmartre.12 Seine Geschichte begann
bereits im 18. Jahrhundert, als sich in dem außerhalb der eigentlichen Stadt im
Norden auf einem Hügel gelegenen Gebiet zahlreiche Kneipen und Tanzböden an10 | Ebd. S. 326-327; Edward W. Soja: Thi r dspace. J ou r neys to L os Angeles and O the r
R eal-and-I m agined Places, Malden, Mass. u.a. 1996, S. 155-162, hier S. 162.
11 | Zum Konzept der Heterotopie siehe auch Tobias Klass: »Heterotopie«, in: Clemens
Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault- H andbuch. L eben, W e r k,
W i r kung, Stuttgart 2008, S. 263-266; Michael Ruoff: Foucault- L exikon. Entwicklung –
Ke r nbeg r iffe – Z usa mm enhänge , Paderborn 2007, S. 137. Als Beispiele für neuere Studien, die sich das Konzept zu Nutze machen, seien genannt: Rainer Warning: H ete r otopien
als R äu m e ästhetische r E r fah r ung, München 2009; Jürgen Hasse: Ü be r sehene R äu m e. Z u r
Kultu r geschichte und H ete r otopologie des Pa r khauses, Bielefeld 2007; Georg Christoph
Tholen: »Der Ort des Raumes. Zur Heterotopie der Einbildungskraft im ›digitalen‹ Zeitalter«,
in: Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Z u r R au m besch r eibung in den Kultu r- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 99-114.
12 | Walter Benjamin: »Die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, in: ders.: D as PassagenW e r k , hg. von Ralf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1983, S. 45-59; Klappentext zu Lion Feuchtwanger, Exil, Frankfurt a.M. 1979.
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siedelten. 1860 wurde es als 18. Arrondissement von Paris eingemeindet. Trotzdem
behielt es mit seinen Windmühlen und Weinbergen noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein einen ausgesprochen dörflichen Charakter. Mit der Vertreibung
unterbürgerlicher Schichten aus dem Zentrum von Paris im Zuge der ›Haussmannisierung‹ unter Napoleon III. (1808-1873) und dem Bau der Eisenbahn zog verstärkt eine proletarische Bevölkerung zu. Die Lage Montmartres zwischen zwei
Eisenbahnlinien sorgte überdies für einen konstanten Strom von Fremden. Das
Verhältnis zwischen Viertel und Stadt blieb gespannt, vor allem nachdem 1871 die
Pariser Kommune von hier ihren Ausgang genommen hatte. Es war sein unkonventioneller Ruf, der Bohème und Unterhaltungsindustrie anlockte. Vor allem um
die Place de Clichy, Place Blanche und Place Pigalle siedelten sich zahlreiche Vergnügungsetablissements an, wie die Music Halls Moulin Rouge und Folies Bergère. Der Montmartre war allerdings nie das einzige Vergnügungsviertel von Paris.
Eine ähnliche Funktion erfüllten die unterhalb des Hügels gelegenen Boulevards
mit ihren Theatern und das Gebiet rund um die Opéra Garnier. Die wachsende
Popularität des Viertels und der Ansturm der Touristen sorgten für steigende Mieten und die Abwanderung der proletarisch-kleinbürgerlichen Bevölkerung und der
Bohème. Diese ließ sich in der Zwischenkriegszeit vor allem auf dem Montparnasse im 14. Arrondissement von Paris nieder, der den Montmartre auch als Vergnügungsviertel ablöste.13
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West End
London besaß bereits seit dem späten Mittelalter in dem am jenseitigen Themseufer in Southwark gelegenen Gebiet Liberty of the Clink ein Vergnügungsviertel.
Außerhalb des Zugriffs der städtischen Behörden blühten hier Prostitution, Tierkämpfe, Glücksspiel und Theater.14 Spätestens die puritanische Revolution setzte
diesem Treiben ein Ende. Nach der Restauration 1660 entwickelte sich am Covent
Garden, einem der wichtigsten Marktplätze Großbritanniens, ein neues Vergnügungsviertel. Hier lagen die vom König lizenzierten Theater Drury Lane, Covent
Garden und Haymarket, deren Umfeld als Zentrum der Prostitution bekannt war.
Obwohl es auch im West End slumartige Gebiete gab, kristallisierte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine sozialräumliche Trennung der Stadt in ein feudales
West End und ein proletarisches East End heraus, die zum Sinnbild der britischen
Klassengesellschaft wurde. Schon seit georgianischer Zeit für seine Luxusgeschäfte bekannt, öffnete sich das West End um 1900 mit der Ansiedlung großer Warenhäuser wie Selfridges für alle sozialen Schichten. Zeitgleich entstand am Leicester Square, dem Strand und der Shaftesbury Avenue eine Fülle neuer Theater
und Music Halls. Damit hatte sich das West End zur Jahrhundertwende zu jenem
›shopping and entertainment district‹ entwickelt, der es bis heute geblieben ist.15
Friedrichstraße/Kurfürstendamm
13 | Vgl. Nicholas Hewitt: »Shifting Cultural Centers in Twentieth-century Paris«, in:
Michael Sheringham (Hg.): Pa r isian Fields, London 1996, S. 30-45; Claire Hancock:
»Capitale de plaisir. The Remaking of Imperial Paris«, in: Felix Driver/David Gilbert (Hg.):
I m pe r ial Cities. L andscape, D isplay and Identity, Manchester 2003, S. 64-77; Julia
Csergo: »Extension et mutation du loisir citadin, Paris XIXe siècle-début XXe siècle«, in:
Alain Corbin (Hg.): L’avène m ent des loisi r s, 1850-1960, Paris 1995, S. 121-168; Charles
Rearick: Pleasu r es of the Belle Epoque. Ente r tain m ent and Festivity in Tu r n-of-the-Centu r y
F r ance , New Haven/London 1985; Louis Chevalier: Mont m a r te du plaisi r et du c r i m e , Paris
1980; Jean-Paul Crespelle: L a vie quotidienne à Mont m a r t r e au te m ps de Picasso, 19001910, Paris 1978; Raymond Rudorff: Belle Epoque. Pa r is in the N ineties, London 1972,
insbes. S. 44-93; Jerrold E. Seigel: Bohe m ian Pa r is. Cultu r e, Politics, and the Bounda r ies
of Bou r geois L ife, 1830-1930, Baltimore u.a. 1999, S. 336-338; sowie die Beiträge in
Gabriel P. Weisberg (Hg.): Mont m a r t r e and the Making of Mass Cultu r e , New Brunswick u.a.
2001. Zur ›Haussmannisierung‹ und ihren Folgen vgl. Johannes Willms: Pa r is. H auptstadt
Eu r opas 1800-1914, München 1988, S. 288-326. Zum politischen Charakter des Viertels
siehe John Kim Munholland: »Republican Order and Republican Tolerance in Fin-de-Siècle
France. Montmartre as a Delinquent Community«, in: Weisberg (Hg.): Mont m a r t r e and the
Making of Mass Cultu r e , S. 15-36; Judith Stone: S ons of the R evolution. R adical D e m oc r ats
in F r ance 1862-1914, Baton Rouge 1996, insbes. S. 368-372; zu Sacré-Coeur Raymond
A. Jonas: »Sacred Tourism and Secular Pilgrimage. Montmartre and the Basilica of SacréCoeur«, in: Weisberg (Hg.): Mont m a r t r e and the Making of Mass Cultu r e , S. 94-119; David
Harvey: »Monument and Myth. The Building of the Basilica of the Sacred Heart«, in: ders.
Die Berliner Friedrichstraße entstand im späten 17. Jahrhundert als Teil einer durch
Bevölkerungswachstum notwendig gewordenen und von Friedrich I. (1657-1713)
(Hg): Consciousness and the U r ban Expe r ience. S tudies in the H isto r y and the Theo r y of
Capitalist U r banization, Baltimore 1985, S. 200-228.
14 | Vgl. Martha Carlin: Medieval S outhwa r k , London/Rio Grande 1996, insbes. S. 199227; David J. Johnson: S outhwa r k and the City, Oxford 1969, insbes. S. 43-92; Frank Rexroth: »Grenzen der Stadt, Grenzen der Moral. Der urbane Raum als Imaginarium einer vormodernen Stadtgesellschaft«, in: Peter Johanek (Hg.): D ie S tadt und ih r R and, Köln u.a.
2008, S. 147-165.
15 | Vgl. D. F. Stevens: »The Central Area«, in: J. T. Coppock/Hugh C. Prince (Hg.): G r eate r
L ondon, London 1964, S. 167-201; Patricia Garside: »West End, East End. London 18901914«, in: Anthony Sutcliffe (Hg.): Met r opolis, 1890-1920, Chicago 1984, S. 221-258;
Roy Porter: L ondon. A S ocial H isto r y (1994), London 2000, insbes. S. 115-120; Donald
J. Olsen: D ie S tadt als Kunstwe r k. L ondon, Pa r is, W ien, Frankfurt a.M./New York 1988,
S. 168-172; Judith R. Walkowitz: City of D r eadful D elight. N a rr atives of S exual D ange r in
L ate-Victo r ian L ondon, London 1994, insbes. S. 19-26, 45-49; John Eade: Placing L ondon.
F r o m I m pe r ial Capital to G lobal City, New York 2000, insbes. S. 49-64, 123-126; Erika D.
Rappaport: S hopping fo r Pleasu r e. Wo m en in the Making of L ondon’s W est End, Princeton,
New Jersey 2000; Ed Glinert: W est End Ch r onicles. 300 Yea r s of G la m ou r and Excess in the
H ea r t of L ondon, London 2007.
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verfügten Stadterweiterung. Sie durchzog die Friedrichstadt vom Oranienburger
Tor im Norden bis zum Halleschen Tor im Süden. In der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts etablierte sich die quer zu ihr verlaufende Leipziger Straße als Geschäfts- und Einkaufsstraße und die Friedrichstraße als Vergnügungsmeile Berlins. Zugleich verfügte sie aufgrund ihrer Lage am Bahnhof Friedrichstraße im
Norden und am Anhalter und Potsdamer Bahnhof im Süden über eine gute Verkehrsanbindung, was wiederum mit dazu beitrug, dass sie sich zur »Theatergegend« der Stadt entwickelte.16 Hinzu kam eine große Zahl von Restaurants, Cafés
und Nachtlokalen, in denen, ebenso wie auf der Straße selbst, viele Prostituierte
ihrem Gewerbe nachgingen. Noch vor dem Ersten Weltkrieg begann der Aufstieg
des Berliner Westens um den Kurfürstendamm und die Tauentzienstraße. Anfangs ein feudales Wohnviertel, führte die Eröffnung des Kaufhauses des Westens 1907 zur Ausbildung eines neuen Geschäftsviertels, dem bald eine Reihe von
Cafés, Tanzpalästen, Kinos und Theater folgten, so dass ein neues Vergnügungsviertel entstand. Als Theatergegend blieb die Friedrichstraße jedoch bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bedeutender.17
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wickelt, den an Sonn- und Feiertagen bis zu zehntausend Menschen besuchten.18
Mit dem Bau des Wiener Nordbahnhofs wurde sich der nahegelegene Praterstern
zu einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Stadt. Neben zahlreichen
Lokalen und Kaffeehäusern, Geister-, Achterbahnen und Karussellen gab es auch
mehrere Theater, darunter das Jantsch-Theater und das Prater-Varieté. Über das
Jahrhundert hinweg ließen sich auch mehrere Zirkusse im Prater nieder, in dem
sich in der Zwischenkriegszeit darüber hinaus sechs Kinos befanden. Für die Wiener Weltausstellung von 1873 wurde ein großes Gelände mit Ausstellungshallen
angelegt, darunter die auch als Theater genutzte Rotunde. 1897 bekam der Prater mit dem Riesenrad sein Wahrzeichen, nachdem zwei Jahre zuvor der Vergnügungspark Venedig in Wien seine Pforten geöffnet hatte.19
Times Square
Der Prater ist eine nordöstlich des Zentrums von Wien zwischen Donau und
Donaukanal gelegene ehemalige Aulandschaft. Das Gelände befand sich in kaiserlichem Besitz und wurde 1766 von Joseph II. (1741-1790) für die Öffentlichkeit freigegeben. Daraufhin siedelten sich im Westteil eine Reihe von Buden und
Vergnügungslokalen sowie die aus der Stadt vertriebenen Hanswurst-Theater an,
nach denen dieses Gebiet bald »Wurstelprater« genannt wurde. Bereits am Beginn
des 19. Jahrhunderts hatte es sich zum »Lieblingsvergnügungsort der Wiener« ent-
New York erlebte in den Jahrzehnten zwischen 1890 und 1940 den wichtigsten
Wandlungsprozess seiner Geschichte. Die Expansion des Finanz- und Verwaltungsdistrikts im Süden Manhattans setzte einen Verdrängungsprozess nach Norden in Gang. Die Konfektionsbranche beispielsweise ließ sich zwischen Broadway
und Eighth Avenue und zwischen der 35. und 40. Straße im Garment District nieder und vertrieb die dort ansässigen Theater. Bislang über verschiedene Teile der
Stadt verstreut, mit einem Schwerpunkt um den Union Square und den Madison
Square, folgten sie nach 1900 ihrem Publikum zunehmend in die Mitte Manhattans. Während in anderen Teilen der Stadt viele Theater schlossen, eröffneten im
Gebiet um den Times Square zwischen Sixth und Eighth Avenue und der 40. und
53. Straße 80 neue Bühnen. Gleichzeitig ließen sich hier zahlreiche Warenhäuser nieder sowie eine Fülle von Restaurants, Cafés, Cabarets und Nightclubs. Von
16 | Max Epstein: Theate r als G eschäft [1911], Berlin 1996, S. 22.
17 | Vgl. Satyr (=Richard Dietrich): L ebeweltnächte de r F r ied r ichstadt (Großstadt-Dokumente 30), Berlin 31907; Peter Mugay: D ie F r ied r ichst r aße. G eschichte und G eschichten,
Berlin 1991; Volker Wagner: D ie D o r otheenstadt i m 19. J ah r hunde r t. Vo m vo r städtischen
Wohnvie r tel ba r ocke r P r ägung zu eine m Teil de r m ode r nen Be r line r City, Berlin/New York
1998, insbes. S. 639-683; Ralph Hoppe: D ie F r ied r ichst r aße. Pflaste r de r Ext r e m e , Berlin
1999; Wolf Jobst: »Berlin. Unter den Linden/Kurfürstendamm. Bürgerliche Straßen in unbürgerlicher Welt«, in: Klaus Hartung (Hg.): Bouleva r ds. D ie Bühnen de r W elt , Berlin 1997,
S. 219-247; Karl-Heinz Metzger/Ulrich Dunker: D e r Ku r fü r stenda mm . L eben und Mythos
des Bouleva r ds in 100 J ah r en deutsche r G eschichte , Berlin 1986; Knud Wolffram: Tanzdielen und Ve r gnügungspaläste. Be r line r N achtleben in den d r eißige r und vie r zige r J ah r en.
Von de r F r ied r ichst r aße bis Be r lin W, vo m Moka Efti bis zu m D elphi, Berlin 1992; PeterAlexander Bösel: Ku r fü r stenda mm . Be r lins P r achtbouleva r d, Erfurt 2008; Helga Frisch:
Abenteue r Ku r fü r stenda mm . D a m als und heute , Berlin 2007.
18 | Otto Reinsberg-Düringsfeld: D as festliche J ah r in S itten, G eb r äuchen, Abe r glauben
und Festen de r G e r m anischen Völke r, Leipzig 1898, S. 159.
19 | Hans Pemmer/Nini Lackner: D e r P r ate r. Von den Anfängen bis zu r G egenwa r t , neu
bearb. von Günter Düriegl und Ludwig Sackmauer, Wien/München 1974; Bertrand Michael
Buchmann: D e r P r ate r. D ie G eschichte des U nte r en W e r d, Wien u.a. 1979, S. 63-81; Otmar Rychlik: »Die Entwicklung des Wiener Pratersterns«, in: Ö ste rr eichische Z eitsch r ift
fü r Kunst und D enk m alpflege 36 (1982), S. 11-26; Jutta Pemsle: D ie W iene r W eltausstellung von 1873. D as g r ünde r zeitliche W ien a m W endepunkt , Wien 1989; Bartel F. Sinhuber: Z u Besuch i m alten P r ate r. Eine S pazie r fah r t du r ch die G eschichte , Wien/München
1993; »Prater«, in: Felix Czeike (Hg.): H isto r isches L exikon W ien in 5 Bänden, Bd. 4, Wien
1995, S. 592-594; Norbert Rubey/Peter Schoenwald: Venedig in W ien. Theate r- und Ve rgnügungsstadt de r J ah r hunde r twende , Wien 1996; Marcello La Speranza: P r ate r-Kaleidoskop. Eine fotohisto r ische Be r g- und Talfah r t du r ch den W iene r Wu r stelp r ate r, Wien 1997;
Christian Dewald/Werner M. Schwarz (Hg.): P r ate r Kino W elt. D e r W iene r P r ate r und die
G eschichte des Kinos, Wien 2005; zum Prater siehe auch den Beitrag von Amália Kerekes
und Katalin Teller in diesem Band.
Prater
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Beginn an fungierte der Times Square darüber hinaus als Rotlichtviertel. Ein zentraler Faktor für seine Entwicklung war die durch die Nähe zum Grand Central
Terminal im Osten und zur Pennsylvania Station im Südwesten gegebene gute
Verkehrsanbindung. Über Eisenbahn und U-Bahn war das Zentrum von Manhattan aus den anderen Teilen der Stadt und der ganzen Nation zu erreichen, während
der Hafen ein Einfallstor für Reisende aus aller Welt war. Bevor der Times Square
in den 1990er Jahren ein Comeback erlebte, galt er als Symbol für den Niedergang
der amerikanischen Städte, der in den 1960er Jahren eingesetzt hatte.20
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1930 wies Asakusa mit 14 Kinos die höchste Konzentration an Lichtspielhäusern
innerhalb Tokios auf. Obschon Asakusa bis in die 1930er Jahre hinein ein wichtiges Vergnügungsviertel von Tokio blieb, bekam es seit dem Großen Kantō-Erdbeben von 1923 zunehmend Konkurrenz: erst durch die Ginza, eine völlig neue, in
westlicher Optik aus roten Backsteinen errichtete Einkaufsstraße südöstlich, dann,
nach dem Zweiten Weltkrieg, in den westlich des Stadtzentrums gelegenen Vierteln Shinjuku und Shibuya.21
* * *
Asakusa
Von all den hier betrachteten Vergnügungsvierteln blickt Asakusa auf die längste
Vorgeschichte zurück. Es begann seine Existenz als sakraler Raum aufgrund eines
bis heute dort existierenden Shinto-Schreins. Diesen passierten viele Reisende, die
in das nordöstlich von Edo (wie Tokio bis 1868 hieß) gelegene Yoshiwara strebten, eine eigenständige Siedlung, in der Shogun Tokugawa Hidetada (1579-1632)
im frühen 17. Jahrhundert die Prostitution hatte kasernieren lassen. Als 1842 alle
Theater Edos geschlossen und nach Asakusa verlegt wurden, um die Genusssucht
der unteren Klassen einzudämmen, begann der Aufstieg Asakusas zum Vergnügungsviertel. 1873 verfügte die Meiji-Regierung seine Umgestaltung zu einem Park
nach westlichem Vorbild, um dann doch die Ansiedlung von Vergnügungsetablissements zuzulassen. Neben den Theatern gab es die Nihon Panoramakan (Japanische Panorama-Halle) und den Ryōukaku, einen achteckigen, zwölfstöckigen
Aussichtsturm aus rotem Backstein von gut 67 Metern Höhe, dem Wahrzeichen
von Asakusa. 1903 eröffnete im sechsten Distrikt mit dem Denkikan (Haus der
Elektrizität) das erste, dauerhaft in einem eigenen Gebäude untergebrachte Kino;
20 | Vgl. Kenneth T. Jackson: »The Capital of Capitalism. The New York Metropolitan Region,
1890-1940«, in: Anthony Sutcliffe (Hg.): Met r opolis, 1890-1940, Chicago 1984, S. 319353; David C. Hammack: »Developing for Commercial Culture«, in: William R. Taylor (Hg.):
Inventing Ti m es S qua r e. Co mm e r ce and Cultu r e at the C r oss r oads of the Wo r ld, Baltimore/
London 1996, S. 36-50; Brooks McNamara: »The Entertainment District at the End of the
1930s«, in: ebd., S. 178-190; Neil Harris: »Urban Tourism and the Commercial City«, in:
ebd., S. 66-82; Laurence Senelick: »Private Parts in Public Places«, in: ebd., S. 329-353,
hier S. 331; Mary C. Henderson: The City and the Theate r, Clifton 1973; Lewis Erenberg:
S teppin’ O ut. N ew Yo r k N ightlife and the Tr ansfo r m ation of A m e r ican Cultu r e, 1880-1920,
New York 1981, insbes. S. xiii, 15, 114; Timothy J. Gilfoyle: City of E r os. N ew Yo r k City, P r ostitution, and the Co mm e r cialization of S ex, 1790-1920, New York 1992; William B. Scott/
Peter M. Rutkoff: N ew Yo r k Mode r n. The A r ts and the City, Baltimore 1999, S. 1; Burton W.
Peretti: N ightclub City. Politics and A m use m ent in Manhattan, Philadelphia 2007, insbes.
S. 8, 17, 21, 24; Marshall Berman: O n the Town. O ne H und r ed Yea r s of S pectacle in Ti m es
S qua r e , New York 2006; Lynne B. Sagalyn: Ti m es S qua r e R oulette. R e m aking the City Icon,
Cambridge, Mass. 2001.
Der Vergleich dieser sechs Vergnügungsviertel zeigt zunächst, dass die Vergnügungsorte im Laufe der Zeit ihren räumlichen Schwerpunkt verlagerten, indem
sie von der Peripherie der Städte in deren Mitte vordrangen. Während die Vergnügungsviertel der frühen Neuzeit, Southwark und Yoshiwara, ebenso wie die
im 18. Jahrhundert gegründeten, Prater, Montmartre und Asakusa, sich außerhalb
der Stadtgrenzen befanden, lagen die gegen Ende des 19. Jahrhunderts neu entstehenden Vergnügungsviertel, Friedrichstraße, West End und Times Square, im
Inneren der Städte. Darüber hinaus rückten die ehemals peripher gelegenen Gebiete aufgrund der Schleifung von Stadtmauern, der Eingemeindung alter und der
Entstehung neuer Vorstädte sowie des verbesserten Nahverkehrs in eine zentrale
Lage vor. Ehemals randständische Räume wie Montmartre und West End waren
um 1900 Teil des Zentrums oder doch von diesem aus wesentlich leichter zu erreichen. Die These, Vergnügungsviertel und Rotlichtquartiere seien auch um 1900
21 | Vgl. Joseph Ernest de Becker: The N ightless City, o r The H isto r y of the Yoshiwa r a
Y! kaku, Yokohama u.a. 1905; Tresmin-Trémolières: Yoshiwa r a, die L iebesstadt de r J apane r (Sexualpsychologische Bibliothek 4), Berlin o.J., ca. 1910; Nam-lin Hur: P r aye r and
Play in L ate Tokugawa J apan. Asakusa S ensoji and Edo S ociety, Cambridge, Mass./London
2000; Edward Seidensticker: L ow City, H igh City. Tokyo f r o m Edo to the Ea r thquake , New
York 1983, insbes. S. 8, 20-21, 267-270; Sepp Linhart: »Sakariba. Zone of ›Evaporation‹
between Work and Home?«, in: Joy Hendry (Hg.): Inte r p r eting J apanese S ociety. Anth r opological App r oaches, London/New York 1986, S. 231-242; Yoshimi Shunya: »Urbanization and Cultural Change in Modern Japan. The Case of Tokyo«, in: Steffi Richter/Annette
Schad-Seifert (Hg.): Cultu r al S tudies and J apan, Leipzig 2001, S. 89-101; Seiji M. Lippit:
Topog r aphies of J apanese Mode r nis m, New York 2002, S. 141-143; James L. McClain: J apan. A Mode r n H isto r y, New York/London 2002, insbes. S. 349-353; Fabian Schäfer: »Die
Bedeutung des urbanen Raums für die alltägliche Utopie eines modernen Lebensstils in
den 1920-30er Jahren«, in: Bochu m e r J ah r buch zu r O stasienfo r schung 28 (2004), S. 6584; Miriam Silverberg: E r otic G r otesque N onsense: The Mass Cultu r e of J apanese Mode r n
Ti m es, Berkeley 2006, S. 177-269; Soichiro Itoda: Be r lin & Tokyo – Theate r und H auptstadt , München 2008.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
immer noch segregiert und stigmatisiert worden und hätten deshalb stets am
Rand der Städte gelegen, ist daher nicht haltbar.22
Verantwortlich für diese räumliche Verlagerung war zunächst die beschleunigte Urbanisierung des 19. Jahrhunderts. Die zunehmende Konzentration von
Dienstleistung und Verwaltung im Stadtzentrum hatte steigende Bodenpreise zur
Folge, die wiederum zu einem Abzug der Wohnbevölkerung in neu entstehende
Vororte an der Peripherie der Städte führten, so dass es zu einer zunehmenden
räumlichen Trennung von Arbeit und Wohnen und zugleich zu einer räumlichen
Segregation der unterschiedlichen sozialen Schichten kam. Da sich dieser Prozess
erstmals in London beobachten ließ, wo sich die Londoner City zu einem globalen
Wirtschafts- und Finanzzentrum entwickelte, wird er als Citybildung bezeichnet.
Die entstehenden Cities waren ihrerseits wiederum in verschiedene funktionale Räume untergliedert. Regierung, Verwaltung, Banken, Mode, Zeitungen usw.
konzentrierten sich oft in eigenen Vierteln oder Straßen.23 Da die aufkommenden
Vergnügungsindustrien ökonomisch gesehen nichts anderes als Dienstleistungsbetriebe waren, war ihre Konzentration in einem zentral gelegenen Stadtraum also
nur eine folgerichtige Konsequenz von Urbanisierung und Citybildung und die
Vergnügungsviertel letztlich bloß ein funktionaler Stadtraum unter vielen. Mit der
Ausnahme von London, dessen urbane Transformation bereits früher eingesetzt
hatte, verschob sich der räumliche Schwerpunkt der Vergügunsindustrien teilweise noch. Die meisten der zwischen 1880 und 1900 entstandenen Vergnügungsviertel bekamen zwischen 1900 und 1930 zunehmend Konkurrenz. In Paris löste
der Montparnasse den Montmartre ab, in Berlin der Kurfürstendamm die Friedrichstraße. In New verlagerte sich das Vergnügungsviertel vom Union Square an
den Times Square und in Tokio von Asakusa an die Ginza. Nach dem Aufstieg von
Shinjuku und Shibuya bestand Asakusa nur noch als Tempel- und Touristenbezirk
fort. Die Stadträume, die sich in der Zwischenkriegszeit als Vergnügungsviertel
etabliert hatten, haben diese Funktion bis heute weitgehend behalten.
Der zweite Grund für die räumliche Verlagerung der Vergnügungsviertel hängt
eng mit der Disziplinierung des Vergnügens zusammen. John Fiske zufolge enthalten populäre Vergnügen immer Elemente des »Oppositionellen, Ausweichenden, Skandalhaften, Offensiven, Vulgären und Widerständigen«.24 In den Augen
22 | Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit«, S. 378.
23 | Zur Citybildung vgl. Heinz Heineberg: S tadtgeog r aphie , Paderborn 32006, S. 169170; Hildegard Schroeteler von Brandt: S tadtbau- und S tadtplanungsgeschichte. Eine
Einfüh r ung, Stuttgart 2008, S. 160-173; Harald Bodenschatz: »Citybildung und Altstadterneuerung in der Kaiserzeit. Beispiel Berlin«, in: Gerhard Fehl/Juan Rodríguez-Lores (Hg.):
S tadt- U m bau. D ie plan m äßige E r neue r ung eu r opäische r G r oßstädte zwischen W iene r
Kong r eß und W ei m a r e r R epublik , Basel u.a. 1995, S. 227-248.
24 | John Fiske: »Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur«, in: Andreas Hepp/Rainer
Winter (Hg.): Kultu r – Medien – Macht. Cultu r al S tudies und Medienanalyse , Opladen 1999,
S. 67-85, hier S. 84.
147
148
T OBIAS B ECKER
der Herrschenden ging deshalb von dem Vergnügen stets eine potentielle Gefahr
für die bestehende gesellschaftliche und politische Ordnung aus. Trunksucht,
Prostitution, Glücksspiel und subversives Theater konnten destabilisierend wirken
und waren zudem mit den Mitteln, die frühneuzeitlichen Staatsgewalten zur Verfügung standen, nicht zu überwachen und zu kontrollieren. Von Norm und Konventionen abweichende Verhaltensweisen und Praktiken wurden daher außerhalb
der Stadt in die Abweichungsheterotopie des Vergnügungsviertels verbannt. So
verdankte Yoshiwara seine Gründung dem Versuch, die Prostitution zu kasernieren, Asakusa der Verlagerung der Theater, der Prater dem Verbot der HanswurstTheater – alle gingen sie also direkt oder indirekt auf staatliche Initiativen zurück.
Southwark und Montmartre hingegen entwickelten sich zu Vergnügungsvierteln,
weil sie sich außerhalb des Zugriffs der städtischen Behörden befanden.
Mit dem Ausbau von Polizei und Bürokratie im Laufe des 19. Jahrhunderts
standen den Staatsapparaten wirksame Mittel zur Kontrolle und Disziplinierung
des Vergnügens zur Verfügung. Alle Zweige und Aspekte der Vergnügungsindustrie wurden juristisch reglementiert. Für jedes Gewerbe, egal ob Theater, Restaurant, Kneipe oder Kino, gab es entsprechende Verordnungen, deren Einhaltung
sorgfältig überwacht wurde. Theaterstücke wurden vor der Aufführung zensiert
und die Vorstellungen von Polizisten observiert. Prostituierte wurden kontrolliert
und medizinischen Untersuchungen unterzogen. Möglich geworden war der neue
Grad der Kontrolle auch durch die Einführung der Straßenbeleuchtung – eine
wichtige praktische Voraussetzung für nächtliche Polizeipatrouillen, aber auch für
das Aufkommen eines Nachtlebens überhaupt. Heimisch geworden im ›ehernen
Gehäuse‹ einer rationalisierten Moderne, konnte das nun kontrollierbare Vergnügen ins Zentrum der Metropole einziehen.25
Obwohl die Vergnügungsviertel durchweg in oder in die Nähe der Stadtzentren rückten, galt dies doch für West End, Friedrichstraße und Times Square weit
mehr als für Montmartre, Prater und Asakusa. Der Vergleich zeigt, dass generell
zwischen zwei Typen zu unterscheiden ist: dem peripheren und dem zentralen
Vergnügungsviertel. Dies war keineswegs nur eine Frage der Topographie beziehungsweise die topographische Lage prägte das jeweilige Vergnügungsviertel zu25 | Vgl. Wolfgang Schivelbusch: L ichtblicke. Z u r G eschichte de r künstlichen H elligkeit i m
19. J ah r hunde r t , München 1983, S. 81-97, 131-137; Joachim Schlör: N achts in de r g r oßen S tadt. Pa r is, Be r lin, L ondon 1840-1930, München 1991, S. 66-71, siehe zum Kontext
Alf Lüdtke (Hg.): ›S iche r heit‹ und ›Wohlfah r t‹. Polizei, G esellschaft und H e rr schaft i m 19.
und 20. J ah r hunde r t , Frankfurt a.M. 1992; zur Theaterzensur siehe Robert Justin Goldstein (Hg.): Political Censo r ship of the Theate r in N ineteenth-Centu r y Eu r ope , New York
2009; zur Kontrolle von Prostituierten Regina Schulte: S pe rr bezi r ke. Tugendhaftigkeit und
P r ostitution in de r bü r ge r lichen W elt , Hamburg 21994, Susanne Frank: S tadtplanung i m
G eschlechte r ka m pf. S tadt und G eschlecht in de r G r oßstadtentwicklung des 19. und 20.
J ah r hunde r ts, Opladen 2003, insbes. S. 151-160; zur Reglementierung der Vergnügungsindustrie im 19. Jahrhundert siehe den Beitrag von Angelika Hoelger in diesem Band.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
gleich strukturell. Der Prater und Asakusa, die eher Parkanlagen als Stadtviertel
waren, lagen nicht nur außerhalb des Stadtraums, sondern erinnerten mit ihren
Bäumen, Seen und Jahrmarktsbuden geradezu an ländliche Siedlungen. Dies
wird noch deutlicher, stellt man sie neben West End, Friedrichstraße und Times
Square, die mit ihren mehrstöckigen Häusern, ihrem rasanten Verkehr und ihrer
gleißenden Lichtreklame als Symbole moderner Urbanität galten. Der Montmartre
schließlich weist Elemente beider Typen auf: zweifellos städtischer, aber mit seinen rostigen Windmühlen, zwielichtigen Gassen und baufälligen Kneipen dann
doch dörflich, den Gegensatz zu den modernen Boulevards der Innenstadt noch
eigensinnig bei jeder Gelegenheit betonend. Das Vergnügungsviertel gibt es also
ebenso wenig wie die Stadt, aber dennoch gibt es auffällige Gemeinsamkeiten innerhalb und zwischen diesen beiden Typen.
D IE R ÄUME DES V ERGNÜGUNGSVIERTELS
Die Lokalisierung des Vergnügungsviertels im Raum der Metropole ist nur ein
erster Schritt zu seinem Verständnis. Nun geht es darum herauszufinden, welche
Vergnügen dieser Raum für seine Besucher bereithielt, wer diese Besucher waren und was der Aufenthalt in diesem Raum bei ihnen bewirkte – kurz, was das
Vergnügungsviertel zum Vergnügungsviertel machte. Wie in Foucaults Heterotopie, so überlappten, überlagerten und überschnitten sich hier eine Vielzahl unterschiedlicher Räume. Es war wechselweise oder zugleich ein liminaler, heterosozialer, egalitärer, kosmopolitischer, kommerzieller, medialer und theatraler Raum.
Liminaler Raum
Vergnügungsviertel wie Southwark und Yoshiwara, Montmartre und Asakusa
waren schon rein geographisch gesehen liminale Räume, da sie außerhalb beziehungsweise an der Peripherie der jeweiligen Metropole und damit an der Grenze
von Stadt und Umland lagen. Liminalität charakterisierte die Vergnügungsviertel aber nicht nur auf einer materiellen, sondern zugleich auf einer sozialen und
kulturellen Ebene, und das ganz unabhängig von ihrer Lage. Als liminale Räume
oder Schwellenräume bezeichnete der Ethnologe Victor Turner (1920-1983) Orte,
an denen »communitas« erfahren und neue Werte in die Körper der Beteiligten
eingeschrieben werden. Dies trifft ganz wesentlich auf das Vergnügungsviertel zu,
das gemeinschaftlich besucht wurde und das der Festigung bestehender und der
Formung neuer Gemeinschaften diente. Zugleich war es ein Raum der Initiation
– der gesellschaftlichen im Allgemeinen, insofern es das spielerische Erlernen von
Regeln, Verhaltensweisen und Konventionen gestattete (wozu immer auch deren
Überschreitung gehört), und der sexuellen Initiation im Besonderen. Ganz im Sinne Turners bekräftigte es die bestehende Ordnung, indem es sie entstrukturierte.
Es bot der Transgression einen Raum und trug so dazu bei, diese aus dem geordne-
149
150
T OBIAS B ECKER
ten Raum der Stadt fernzuhalten, wodurch es wiederum zu dessen Stabilisierung
beitrug.26
Praktiken, die am deutlichsten die Grenzen der gesellschaftlichen Ordnung
überschritten, waren Kriminalität und Prostitution. Ein gewisses Maß an Kriminalität gab es in jedem Vergnügungsviertel, zumindest Taschendiebe waren geradezu unvermeidlich, denn dort, »wo die entbehrlichen Kreuzer rollen, sitzen auch
die Börsen nicht fest«, wie es über den Prater hieß.27 Es ist kein Zufall, dass Kawabata Yasunaris dokumentarischer Roman Die Scharlachrote Bande von Asakusa
von einer Gruppe jugendlicher Kleinkrimineller, Schausteller und Prostituierter
handelt.28 In der populären Vorstellung der Jahrhundertwende war das Vergnügungsviertel oft zugleich »site of pleasure and danger«, wie dies Judith Walkowitz
für das West End feststellt.29 Insbesondere der Montmartre galt als »delinquent
community«. Nicht nur aufgrund der sich dort tummelnden »Apachen«, wie die
Banden räuberischer Kleinkrimineller hießen, sondern wegen seiner politischen
Vergangenheit, der antirepublikanischen Einstellung seiner Einwohner wie überhaupt wegen seiner Reputation als Ort für Vergnügen und sexuelle Freizügigkeit.30
All dies lief bürgerlichen Vorstellungen von Arbeitsethik, Disziplin, Rationalität
und der Rolle der Frau in der Gesellschaft zuwider und zog doch zugleich das bür26 | Victor Turner: D as R itual. S t r uktu r und Anti- S t r uktu r. Aus dem Engl. und mit einem
Nachw. von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M./New York 2000; siehe auch Hartmut Böhme: »Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft) – Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs«, in: Renate Glaser/Matthias Luserke (Hg.): Kultu r wissenschaft – L ite r atu r wissenschaft. Positionen, The m en, Pe r spektiven, Wiesbaden 1996, S. 48-68; Habbo Knoch:
»Schwellenräume und Übergangsmenschen. Öffentliche Kommunikation in der modernen
Großstadt, 1880-1930«, in: Geppert/Jensen/Weinhold (Hg.): O r tsgesp r äche. R au m und
Ko mm unikation i m 19. und 20. J ah r hunde r t , Bielefeld 2005, S. 257-285.
27 | Emil Kläger: D u r ch die W iene r Q ua r tie r e des Elends und Ve r b r echens. Ein W ande rbuch aus de m J enseits, mit einem Vorwort von Regierungsrat Friedrich Umlauft, Illustrationen nach Original-Photographien von Hermann Drawe, Wien 1908, S. 84, dort zu Taschendieben S. 83-92.
28 | Kawabata Yasunari: D ie R ote Bande von Asakusa [Asakusa ku r enaidan]. Aus dem Japanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Richmond Bollinger, Frankfurt a.M. 1981; Yoshimi: U r banization, S. 89-92; Silverberg: E r otic g r otesque nonsense ,
S. 203-206.
29 | Judith R. Walkowitz: »›The Vision of Salome‹. Cosmopolitanism and Erotic Dancing in
Central London, 1908-1918«, in: A m e r ican H isto r ical R eview 108 (2003), Nr. 2, S. 337376, hier S. 338.
30 | Munholland: »Republican Order«, S. 15-36 insbes. S. 16-17; Schlör: N achts in de r
g r oßen S tadt , S. 133-135; Klaus Schüle: Pa r is: die kultu r elle Konst r uktion de r f r anzösischen Met r opole. Alltag, m entale r R au m und sozialkultu r elles Feld in de r S tadt und in de r
Vo r stadt , Opladen 2003, S. 63-69; siehe auch Chevalier: Mont m a r te ; Hewitt: »Shifting
Cultural Centres«, S. 38; Willms: Pa r is, S. 441, Seigel: Bohe m ian Pa r is, S. 337.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
gerliche Publikum geradezu magisch an, das in Scharen die Varietés und Kneipen
des Montmartre frequentierte. So wurde das Vergnügungsviertel wohl vor allem
deshalb als gefährlich wahrgenommen, weil hier gesellschaftliche Tabus berührt
und verletzt wurden.
Prostitution ist ein Element, das in keinem Vergnügungsviertel fehlte. Die
aufkommende Vergnügungsindustrie war eng mit der modernen Prostitution
verknüpft. Dem Sozialpsychologen Willy Hellpach (1877-1955) zufolge leistete der
»sinnenkitzelnde, sinnenbetäubende Charakter« der Großstadt, vor allem die freizügige Unterhaltung der Theater und Varietés, der Prostitution Vorschub.31 Hans
Ostwald (1873-1940) zufolge war die Friedrichstraße der »öffentliche Hauptmarkt
der Dirnen in Berlin«.32 Ebenso war der Times Square von Beginn an ein Zentrum
der New Yorker Prostitution. Obwohl immer wieder durch Verbote, Kontrollen und
Razzien in die Illegalität abgedrängt und als liminale Praxis gebrandmarkt, blühte
die Prostitution um 1900 in allen Metropolen. Zwar war sie in vielen Teilen der
Stadt anzutreffen, ihr Schwerpunkt lag jedoch stets im jeweiligen Vergnügungsviertel. Prostitution allein machte aus einem Stadtquartier aber noch lange kein
Vergnügungsviertel, weshalb sie als notwendiges, aber nicht als hinreichendes
Merkmal eines Vergnügungsviertels zu sehen ist. Wo sie massiv auftrat, ohne von
Vergnügungsetablissements begleitet zu sein, ist deshalb richtiger von reinen Rotlichtvierteln zu sprechen.33
Prostitution beschränkte sich keineswegs auf heterosexuelle Formen, wie
überhaupt das Vergnügungsviertel auch ein Zentrum homosexuellen Lebens war.
Montmartre und Montparnasse waren ebenso bekannt für einschlägige Lokale,
Kneipen und Hotels wie der Berliner Westen und die Friedrichstraße. Selbst im
zugeknöpften London dienten die Galerien der Theater und Music Halls der Anknüpfung gleichgeschlechtlicher Kontakte.34 »Überall dieselben Treffpunkte und
31 | Willy Hellpach: »Unser Genußleben und die Geschlechtskrankheiten«, in: Mitteilungen
de r D eutschen G esellschaft zu r Bekä m pfung de r G eschlechtsk r ankheiten, Bd. 3, Berlin
1905, S. 100-107, hier S. 104; zur Verknüpfung von Prostitution und Vergnügungsmilieu
siehe auch Schulte: S pe rr bezi r ke , insbes. S. 56; Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit«.
32 | Hans Ostwald: P r ostitutions m ä r kte (Das Berliner Dirnentum 6), Leipzig 1907, S. 10.
33 | Zur Prostitution siehe auch Walkowitz: City of D r eadful D elight ; Schlör: N achts in de r
g r oßen S tadt , S. 175-204; Frank: S tadtplanung i m G eschlechte r ka m pf, insbes. S. 69-72;
155-157; Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit«.
34 | Vgl. Florence Tamagne: A H isto r y of H o m osexuality in Eu r ope. Be r lin, L ondon, Pa r is,
1919-1939, Bd. 1, New York 2004, S. 50-57, 61-62, 68-79; Martin Lücke: Männlichkeit
in U no r dnung. H o m osexualität und m ännliche P r ostitution in Kaise rr eich und W ei m a r e r
R epublik , Frankfurt a.M. 2008, insbes. S. 103, 188; Gilles Barbedette/Michel Carassou:
Pa r is gay 1925, Paris 2008; Matt Cook: L ondon and the Cultu r e of H o m osexuality, 18851914, Cambridge 2003, S. 28-29; Matt Houlbrook: Q uee r L ondon. Pe r ils and Pleasu r es
in the S exual Met r opolis, 1918-1957, Chicago 2005, S. 23-25, 52, 59; George Chauncey:
G ay N ew Yo r k. G ende r, U r ban Cultu r e, and the Making of the G ay Male Wo r ld, 1890-1940,
151
152
T OBIAS B ECKER
Sammelplätze«, meinte der Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935), in »der
Berliner Friedrichstraße […] im Hydepark in London, im Retiro in Madrid, im Asakusapark in Tokio, im Prater in Wien und in Paris in den Champs Elysées« zu finden.35 Wie der Park und der Boulevard war das Vergnügungsviertel ein von vielen
Menschen frequentierter Schwellenraum, der ebenso Begegnungen ermöglichen
wie Anonymität herstellen konnte. Als liminaler Raum bot es einen Ort, an dem
die Grenzen gesellschaftlich sanktionierter Sexualität ausgelotet und überschritten
werden konnten, eine Atmosphäre, zu der die hier teils versteckt, teils offen praktizierte Homosexualität ihrerseits wiederum beitrug. Dass sich im Vergnügungsviertel nur »heterosexuelle Praktiken und Phantasien« konsumieren ließen, wie
Pascal Eitler meint, gilt daher zumindest für die Jahrhundertwende nicht.36
Heterosozialer Raum
Manche zeitgenössischen Kommentatoren porträtierten das Vergnügungsviertel
als einen homosozialen Raum, den Frauen allenfalls als Prostituierte betraten – so
beschrieb jedenfalls der britische Theaterhistoriker Walter MacQueen-Pope (18881960) das West End: »The centre of all that was masculine pleasure – for the ladies
›who frequented Leicester Square‹ were ›intent‹ on one purpose only.«37 Darin
spiegelt sich die bürgerliche Vorstellung wider, derzufolge die Frau der privaten
Sphäre des Heimes angehörte, während die Öffentlichkeit männlich codiert war.
Eine Frau, die sich unbegleitet im öffentlichen Raum bewegte, setzte sich schnell
dem Verdacht aus, eine ›öffentliche Frau‹, also eine Prostituierte zu sein.38 Parallel zur Dynamisierung tradierter Geschlechterrollen entstanden um 1900 Orte,
an denen Frauen sich frei bewegen konnten beziehungsweise beide Geschlechter
in zuvor ungekannter Ungezwungenheit miteinander in Kontakt treten konnten.
Zu diesen »new heterosocial spaces« rechnet Judith Walkowitz im Anschluss an
Peter Bailey auch die kommerziellen Vergnügungsetablissements des West Ends,
allen voran die Music Halls.39 Wie die Londoner, so waren die Pariser Music Halls
New York 1994; Chad C. Heap: S lu mm ing. S exual and R acial Encounte r s in A m e r ican
N ightlife, 1885-1940, Chicago 2007.
35 | Magnus Hirschfeld: D ie H o m osexualität des Mannes und des W eibes, Berlin 1920,
S. 528.
36 | Eitler: »Sexualität als Ware und Wahrheit«, S. 371.
37 | Walter MacQueen-Pope: Ca rr iages at Eleven. The sto r y of the Edwa r dian Theat r e , London 1947, S. 73.
38 | Vgl. Walkowitz: City of D r eadful D elight , S. 3, 21, 23; Rappaport: S hopping fo r Pleasu r e , S. 45; Schlör: N achts in de r g r oßen S tadt , S. 162-175; Frank: S tadtplanung i m G eschlechte r ka m pf, S. 111-115.
39 | Walkowitz: City of D r eadful D elight , S. 45; Peter Bailey: »Parasexuality and Glamour.
The Victorian Barmaid as Cultural Prototype«, in: G ende r & H isto r y 2 (1990), Nr. 2, S. 148172; siehe auch Mary P. Ryan: Wo m en in Public. Between Banne r s and Ballots, 1825-1880,
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
vom Schlage der Moulin Rouge und der Moulin de la Galette und die vielen Cafésconcerts Orte, an denen sich verheiratete Männer mit ihren Frauen, unverheiratete
Männer und Frauen, Frauen allein und in der Gesellschaft anderer Frauen und
Prostituierte auf der Suche nach männlichen Kunden aufhielten.40 Ähnliche heterosoziale Orte gab es in jeder Metropole. Was Theater und Varieté für die europäischen Metropolen waren, waren die Nachtclubs für New York und die Cafés für
Tokio.41
Die Bündelung heterosozialer Orte im Vergnügungsviertel blieb nicht ohne
Folgen für diesen Raum insgesamt. MacQueen-Popes Beschreibung des West
Ends mag für die Mitte des 19. Jahrhunderts noch zutreffend gewesen sein, zur
Jahrhundertwende war sie bereits überholt. Als sich der italienische Journalist Mario Borsa (1870-1952) 1908 in London aufhielt, konnte er sich nur wundern über
die Unzahl von »shopgirls, milliners, dressmakers, typists, stenographers, cashiers
of large and small houses of business, telegraph and telephone girls« und die tausend anderen jungen Frauen, die er im West End auf der Suche nach Vergnügen
unbegleitet umherspazieren und vor den Theatern anstehen sah.42 Analog zu Borsa schrieb Susanne Suhr (1898-1989) in ihrer Untersuchung über Angestellte von
einem »Heer von jungen Mädchen und Frauen«, die »der Großstadtstraße das beherrschende Bild« gäben.43 Wie der von Felix Salten (1869-1945) beschriebene Prater waren alle Vergnügungsviertel Treffpunkte der Geschlechter: »Kein Mädchen,
dem sich hier nicht irgend ein Mann gesellen würde, kein Mann, dem es nicht geBaltimore 1990, S. 79-80; Rappaport: S hopping fo r Pleasu r e , S. 100-106; Frank: S tadtplanung i m G eschlechte r ka m pf, S. 104-105.
40 | Vgl. Stone: S ons of the R evolution, S. 8, 371; Munholand: »Republican Order«, S. 17,
31; Gabriel P. Weisberg: »Montmarte’s Lure. An Impact on Mass Culture«, in: ders. (Hg.):
Mont m a r t r e and the Making of Mass Cultu r e , S. 1-11, hier S. 6; Elizabeth K. Menon: »Images
of Pleasure and Vice. Women of the Fringe«, in: ebd., S. 37-71.
41 | Vgl. Scott/Rutkoff: N ew Yo r k Mode r n, S. 19; Lewis Erenberg: »Impresarios of Broadway Nightlife«, in: William R. Taylor (Hg.): Inventing Ti m es S qua r e. Co mm e r ce and Cultu r e
at the C r oss r oads of the Wo r ld, Baltimore/London 1996, S. 158-177, hier S. 163; ders.:
S teppin’ O ut , S. xiv, 60-91, 156; Peretti: N ightclub City, insbes. S. 21; Silverberg: »The modern girl as militant«, in: Gail L. Bernstein (Hg.): R ec r eating J apanese Wo m en, 1600-1945,
Berkeley 1991, S. 239-266; Sepp Linhart: »Das Entstehen eines modernen Lebensstils in
Japan während der Taisho-Periode (1912-1926)«, in: S aeculu m 1974, S. 115-127, insbes.
S. 125; Elise Tipton: »The Café. Contested Space of Modernity in Interwar Japan«, in: dies./
John Clark (Hg.): Being Mode r n in J apan. Cultu r e and S ociety f r o m 1910s to the 1930s,
Honolulu 2000, S. 99-136; Barbara Sato: The N ew J apanese Wo m an. Mode r nity, Media,
and Wo m en in Inte r wa r J apan, Durham 2003, insbes. S. 45-77.
42 | Mario Borsa: The English S tage of To- D ay. Translated from the original Italian and edited with a prefatory note by Selwyn Brinton, London 1908, S. 4-5.
43 | Susanne Suhr: D ie weiblichen Angestellten. A r beits- und L ebensve r hältnisse. Eine
U m f r age des Z ent r alve r bandes de r Angestellten, Berlin 1930, S. 3.
153
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T OBIAS B ECKER
länge, hier irgend ein Mädchen zu erobern.« Mit der zunehmenden Respektabilität
dieser Orte kamen verheiratete Männer nicht länger allein, sondern »mit Weib und
Kind und Kegel«.44 Und schließlich verweist die enge Verbindung von Räumen
wie dem Times Square, dem Kurfürstendamm oder dem Montmartre mit dem
›Flapper‹ (der jungen Frau mit kurzen Röcken und Bubikopf) oder der Ginza mit
der ›moga‹ (japanisch für ›modern girl‹) darauf, dass das Vergnügungsviertel ein
Laboratorium war, in dem mit neuen Lebensstilen und Geschlechteridentitäten
experimentiert wurde, bevor diese gesellschaftlich akzeptiert und zum Mainstream
wurden.45
Egalitärer Raum
Im Vergnügungsviertel relativierten sich nicht nur die Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern, sondern auch jene zwischen den Klassen. Es war ein
Raum, in dem Angehörige aus nahezu allen gesellschaftlichen Schichten anzutreffen waren. Im Gegensatz zu den luxuriösen Etablissements in der Gegend um
die Oper vergnügten sich im kleinbürgerlich-proletarischen Montmartre – neben
der einheimischen Wohnbevölkerung und der Bohème – die Bourgeoisie und Vertreter des internationalen Jetset wie der Prince of Wales. Joachim Willms spricht
deshalb von einem »Nivellement des Jouissances«, einer gesellschaftlichen Nivellierung im und durch das gemeinsame Sich-Vergnügen.46 Das West End hatte als
feudales Wohnviertel angefangen, um dann als Einkaufs- und Vergnügungsviertel
zum »meeting ground of rich and poor, east and west« zu werden.47 Natürlich
stand nicht jedes Lokal jedem Geldbeutel offen, insgesamt aber gab es im Vergnügungsviertel etwas »für alle Klassen und Börsen«, wie es über den Prater hieß.48
Auch in Berlin hatten sich die sozialen Unterschiede zwischen den Vergnügungslustigen »mehr und mehr abgeschlissen, ja, sie sind im Treiben der Nacht heute
nicht mehr zu erkennen«, wie der Führer durch Lebeweltnächte der Friedrichstadt
44 | Felix Salten: Wu r stelp r ate r, mit 75 Originalaufnahmen von Dr. Emil Mayer, Wien/Leipzig 1911.
45 | Curt Moreck: Füh r e r du r ch das »laste r hafte« Be r lin, Leipzig 1930, S. 40; Maggie B.
Gale: W est End Wo m en. Wo m en and the L ondon S tage, 1918-1962, London 1996, S. 1315; Billie Melman: Wo m en and the Popula r I m agination in the Twenties. Flappe r s and
N y m phs, New York 1988; McClain: J apan, S. 351-352.; Andrew A. Gordon: A Mode r n H isto r y of J apan. F r o m Tokugawa ti m e to the p r esent, New York 2003, S. 155-157; Barbara
Sato: The N ew J apanese Wo m an. Mode r nity, Media, and Wo m en in Inte r wa r J apan, Durham
2003, S. 45-77.
46 | Willms: Pa r is, S. 434; Weisberg: »Montmartre’s Lure«, S. 4; siehe auch Rudorff: Belle
Epoque , S. 51; Rearick, Pleasu r es of the Belle Epoque , S. 93; Stone: S ons of the R evolution, S. 8, 370; Munholland: »Republican Order«, S. 15-16, 22, 31.
47 | Rappaport: S hopping fo r Pleasu r e , S. 151.
48 | Reinsberg-Düringsfeld: D as festliche J ah r, S. 159.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
meinte.49 Selbst in der vergleichsweise egalitären New Yorker Gesellschaft war die
Teilnahme am Nachtleben bis in die 1870er und 80er Jahre hinein weitgehend
einer bürgerlichen Elite vorbehalten gewesen. Nur eine Dekade später gehörte es
dann der Bevölkerung der ganzen Stadt, egal ob »working class or genteel, female
or male, young or old, immigrant or native, straight or gay«.50 Ganz ähnlich berichtet ein 1914 erschienener Reiseführer von Asakusa: »People of every rank in the city
crowd in the park day and night – old and young, high and low, male and female,
rich and poor.«51 Wer genau hinsah, konnte zwar stets auf soziale Unterschiede
hinweisen, so lagen Welten zwischen der Hauptallee des Praters, traditionell Repräsentationsfeld von Adel und Großbürgertum, und den Praterauen, die vielen
Obdachlosen als Notunterkunft dienten. Als Gesamtraum aber vereinigte der Prater »Noblesse« und einen »demokratischen Zug der Volkstümlichkeit«.52
Mit der Nivellierung überkommener Klassengegensätze ging der Aufstieg einer
neuen sozialen Schicht einher, den Angestellten. Die schon zitierte Beschreibung
des West Ends von Borsa ist nicht nur insofern aufschlussreich, als sie die Präsenz
von Frauen in der Öffentlichkeit bezeugt, sie besteht bezeichnenderweise aus einer
Aufzählung von Angestelltenberufen. Und desgleichen sind es bei Susanne Suhr
nicht einfach Frauen, die der Großstadtstraße ein neues Gesicht geben, sondern
weibliche Angestellte. Angestellte bildeten auch die Stammkundschaft der Pariser
Music Halls und der Tokioter Warenhäuser, Cafés und Kinos.53 Obwohl sie kaum
mehr, mitunter sogar weniger als Arbeiter verdienten, versuchten sie, sich durch
Kleidung, Wohnung und Konsum vom Proletariat abzuheben und so ihre Zugehörigkeit zur Mittelschicht zu signalisieren. Ihr »innovationsoffener Lebensstil«
war ein grenzüberschreitendes Phänomen.54 So befleißigten sich die japanischen
Angestellten als erste soziale Schicht eines westlichen Kleidungsstils und genos49 | Satyr: L ebeweltnächte , S. 9, siehe auch Schlör: N achts in de r g r oßen S tadt , S. 190;
Wagner: D ie D o r otheenstadt , S. 679.
50 | Scott/Rutkoff: N ew Yo r k Mode r n, S. 16; David Nasaw: G oing O ut. The R ise and Fall of
Public A m use m ents, Cambridge, Mass., London 1999, S. 2.
51 | Taizo Fujimoto: The N ightside of J apan [1914], London 31927, S. 1.
52 | Arthur Roessler: Von W ien und seinen G ä r ten, Wien 1909, S. 69; Kläger: D u r ch die
W iene r Q ua r tie r e des Elends und Ve r b r echens, S. 133-143, siehe auch Siegfried Mattl/
Werner Michael Schwarz: »Utopia des ›zeitlos Popularen‹«, in: dies./Klaus Müller-Richter (Hg.): Felix S alten: Wu r stelp r ate r. Ein S chlüsseltext zu r W iene r Mode r ne , Wien 2004,
S. 127-146, hier S. 127-130.
53 | Vgl. Rudorff: Belle Epoque , S. 46; Stone: S ons of the R evolution, S. 371-372; Tipton: »Cleansing the Nation. Moral Reform in Interwar Japan«, in: Mode r n Asian S tudies 42
(2008), Nr. 4, S. 705-731, hier S. 706-707.
54 | Reinhard Spree: »Angestellte als Modernisierungsagenten. Indikatoren und Thesen
zum reproduktiven Verhalten von Angestellten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert«,
in: Jürgen Kocka (Hg.): Angestellte i m eu r opäischen Ve r gleich. D ie H e r ausbildung angestellte r Mittelschichten seit de m späten 19. J ah r hunde r t , Göttingen 1981, S. 279-308;
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T OBIAS B ECKER
sen das Vergnügen um seiner selbst willen.55 Ohne sie wäre weder der Aufstieg
der Vergnügungsviertel noch der Aufstieg der Populärkultur vorstellbar gewesen.
Kosmopolitischer Raum
Ein weiteres, allen hier betrachteten Vergnügungsvierteln gemeinsames Charakteristikum war ihr ausgesprochener Kosmopolitismus. Ausnahmslos lagen sie in
der Nähe großer Bahnhöfe: der Montmartre zwischen dem Gare Saint Lazare und
dem Gare du Nord, das West End in der Nähe von Charing Cross, die Friedrichstraße am Bahnhof Friedrichstraße, der Prater in der Nähe des Wiener Nordbahnhofs und der Times Square zwischen Pennsylvania Station und Grand Central
Terminal. Asakusa lag zwar abseits der Fernbahnhöfe, hier endete jedoch die erste
U-Bahnlinie von Tokio. Die Bahnhöfe waren »Einfallspforten der Fremdenkarawanen«, die aus allen Teilen des Landes und der Welt in die Metropolen strömten.56
New York war schon zur Jahrhundertwende die meistbesuchte Stadt der Vereinigten Staaten. Je nach Jahreszeit kamen 1910 täglich zwischen 100.000 bis 200.000
Touristen in die Stadt, von denen die meisten weniger an den Sehenswürdigkeiten,
als am Vergnügen interessiert waren.57 Neben jene, die schon immer politischer
oder geschäftlicher Angelegenheiten wegen in die Metropolen gereist waren, trat
nun eine wachsende Zahl von Menschen, die allein des Vergnügens halber kamen,
denn das »Vergnügungsviertel Montmartre ist für den Provinzler der Inbegriff der
Zerstreuung«, wie Alain Corbin schreibt.58
Immer präsenter wurden die Touristen im Stadtbild, vor allem im Zentrum
waren sie unübersehbar. »Berlin gehört den Fremden,« schrieb Alfred Kerr (18671948) 1895, um sich sogleich zu korrigieren, »nicht ganz Berlin, aber doch die
Friedrichstadt. Dort kommen sie meistens an, dort wohnen sie, dort finden sie die
Hauptrestaurants, die Hauptvergnügungstempel«.59 Die Friedrichstraße mit ihren
Bahnhöfen, Hotels, Restaurants, Cafés und Theatern stieg schnell zur »Hauptfremdenstraße« auf, denn sie bot alles, was die Touristen begehrten.60 Willy Pröger zufolge richtete sich die hier ansässige Prostitution vornehmlich an »Fremde
siehe auch Siegfried Kracauer: D ie Angestellten. Aus de m neuesten D eutschland [1930],
Frankfurt a.M. 41985, insbes. S. 67-69, 92.
55 | Linhardt: »Entstehen eines modernen Lebensstils«, S. 116, 124; McClain: J apan,
S. 345-347; Tipton: »Cleansing the Nation«, S. 706-708.
56 | Moreck: Füh r e r, S. 22.
57 | Harris: Urban Tourism, S. 66-82; Erenberg: S teppin’ O ut , S. xii-xiv.
58 | Alain Corbin: »Paris – Provinz«, in: Pierre Nora/Michael Bayer (Hg.): E r inne r ungso r te
F r ank r eichs, München 2005, S. 179-213, hier S. 206.
59 | Alfred Kerr: Wo liegt Be r lin? B r iefe aus de r R eichshauptstadt , hg. von Walter Rühle,
Berlin 1997, S. 72-73.
60 | Be r lin fü r Kenne r. Ein Bä r enfüh r e r bei Tag und N acht du r ch die deutsche R eichshauptstadt , Berlin 1912, S. 21.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
und Provinzler«.61 Mitunter vereinten sich in einem Gebäude die unterschiedlichen Funktionen des Vergnügungsviertels, zum Beispiel wenn sich der Bahnhof
Charing Cross nach außen hin als Hotel präsentierte oder Theater unmittelbar mit
Restaurants und Hotels verbunden waren. Die Touristen selbst trugen mit zur Veränderung der Stadtzentren bei, denn für die hier ansässige Vergnügungsindustrie
wurde ihre Nachfrage immer mehr zur Existenzbedingung. Ȇberhaupt wird das
Berliner Nachtleben in der Hauptsache durch den ständig wachsenden Fremdenstrom in diesem Umfange erhalten«, notierte der Führer durch die Lebeweltnächte
der Friedrichstadt.62 Und Edmund Edel (1863-1934) meinte 1908: »Berlins Nachtleben gehört der Provinz, von der es sich auch nährt.«63 In London stellte der Theaterdirektor John Hollingshead (1827-1904) schon 1866 fest, die Theater der Stadt
seien auf die Touristen angewiesen: »[…] provincial people come up to town, and
fresh audiences are created every night.«64 Zunehmend kamen die Fremden nicht
nur aus der Provinz, sondern auch aus dem Ausland.
Dennoch gehörten die Stadtzentren, anders als Alfred Kerr nahelegte, nicht
den Fremden allein. Vielmehr vermischten sich im Vergnügungsviertel Fremde
und Einheimische, wie es der Journalist Jules Huret (1863-1915) in den Lokalen
der Friedrichstraße beobachtete.65 Ebenso wenig verkehrten im West End nur
Touristen. Durch die 1906 eröffneten U-Bahn-Stationen am Piccadilly Circus und
dem Leicester Square strömten allabendlich 100.000 Menschen aus allen Teilen
der Stadt hierher.66 Die Anwesenheit vieler Touristen generierte eine Anonymität,
die auch dem Berliner, Pariser, Londoner gestattete, sich unbeobachtet und ungehemmt zu amüsieren. Das Vergnügungsviertel war ein Raum, in dem Menschen
unterschiedlicher nationaler und ethnischer Herkunft miteinander weitgehend
friedlich koexistierten. Der Prater war vielleicht einer der wenigen Orte überhaupt,
wo es gänzlich egal war, »ob jemand Bosniake, oder Tzscheche, Kroate, Slovene
oder Deutschnationaler« war.67 Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen begrüßten
61 | Weka (=Willy Pröger): S tätten de r Be r line r P r ostitution. Von den Elends-Absteigequa rtie r en a m S chlesischen Bahnhof und Alexande r platz zu r L uxus-P r ostitution de r F r ied r ichst r aße und des Ku r fü r stenda mms. Eine R epo r tage , Berlin 1930, S. 74.
62 | Satyr: L ebeweltnächte , S. 9.
63 | Edmund Edel: N eu-Be r lin, Leipzig 1908, S. 83.
64 | John Hollingshead zit.n. R epo r t f r o m the S elect Co mm ittee on Theat r ical L icenses
and R egulations. Togethe r with the P r oceedings of the Co mm ittee, Minutes of Evidence
and Appendix, London 1866, S. 191.
65 | Huret: Be r lin u m N eunzehnhunde r t , S. 63-64.
66 | Thomas Postlewaite: »The London Stage, 1895-1918«, in: Baz Kershaw/Peter Thomson (Hg.): The Ca m b r idge H isto r y of B r itish Theat r e. S ince 1895, Cambridge u.a. 2004,
S. 34-59, hier S. 40.
67 | Hirschfeld: D ie H o m osexualität des Mannes und des W eibes, S. 543; ähnlich: Gustav Habermann: Aus m eine m L eben, E r inne r ungen aus den J ah r en 1876-1877-1884-1896,
Wien 1919, S. 55.
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T OBIAS B ECKER
diesen Kosmopolitismus. Das ans West End angrenzende Soho mit seinem hohen
Anteil chinesischer Bewohner verkörperte in bürgerlichen Augen eine dunklere
und gefährliche Spielart des Kosmopolitismus, die rassistische Ressentiments
wachrief. Dasselbe gilt für die große ostjüdische Gemeinschaft, die in der Nähe
des Praters wohnte. In New York blieben Afroamerikaner lange Zeit vom Vergnügen ausgeschlossen, und die in Asakusa lebenden Koreaner, Chinesen und Russen
galten als »racially marked underclass«.68
Kommerzieller Raum
Die Verlagerung beziehungsweise die Entstehung neuer Vergnügungsviertel im
Rahmen der Citybildung hatte zur Folge, dass sie sich in unmittelbarer Nähe von
Einkaufsstraßen und Geschäftsvierteln befanden oder sich die beiden funktionalen Räume überlappten. Das beste Beispiel hierfür ist das West End, wo die Theater meist in unmittelbarer Nähe zu den großen Warenhäusern lagen, aber ebenso
verhielt es sich bei der Friedrichstraße und dem Times Square, wo Kultur nur in
ihrer kommerzialisierten Form existierte und sich Kommerz zu einer alle Lebensbereiche umfassenden Kultur entwickelte.69 Komplizierter verhält es sich dagegen
im Fall von Paris, Wien und Tokio. Hier lagen die großen Warenhäuser alle weitab
des Vergnügungsviertels, und dennoch besaßen diese Räume von Anfang an einen
kommerziellen Charakter, selbst wenn die Buden des Praters und die Ladenstraße
Nakamise in Asakusa eher vormoderne Assoziationen weckten.70
Die Nähe von Kommerz und Kultur war bezeichnend für die Entstehung einer
neuen Massenkultur, die Kaspar Maase zufolge wesentlich eine Marktkultur ist.71
Massenkonsum und Massenkultur gingen von Anfang an Hand in Hand. Nirgends wird dies so deutlich wie in der räumlichen und zeitlichen Überlappung
beider Phänomene in den Vergnügungsvierteln um 1900. Vergnügungsetablissements und Warenhäuser teilten sich nicht nur denselben urbanen Raum und
dasselbe Publikum, sie waren auf vielerlei Ebenen miteinander verknüpft. Wa68 | Walkowitz: »Vision of Salome«, S. 2, 4-5, 35-37; Wolfgang Maderthaner: »Von der Zeit
um 1860 bis zum Jahr 1945«, in: Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hg.): W ien. G eschichte
eine r S tadt , Bd. 3: Von 1790 bis zu r G egenwa r t , Wien/Köln/Weimar 2006, S. 175-544, hier
S. 284; Erenberg: S teppin’ out , S. 152, 187; Scott/Rutkoff: N ew Yo r k Mode r n, S. 136-138;
Heap: Slumming; Silverberg: E r otic G r otesque N onsense , S. 205-206, hier S. 228.
69 | So deutet schon der Titel von William Taylors Times Square-Anthologie Co mm e r ce and
Cultu r e at the C r oss r oads of the Wo r ld an; Rappaport: S hopping fo r Pleasu r e , S. 4, 183;
Peter Stürzebecher: D as Be r line r W a r enhaus. Bautypus, Ele m ent de r S tadto r ganisation,
R au msphä r e de r W a r enwelt , Berlin 1979, S. 13, 19.
70 | Fujimoto: N ightside , S. 28-42; Yoshimi: U r banization and Cultu r al Change , S. 92-93;
McClain: J apan, S. 351-352.
71 | Kaspar Maase: »Massenkultur«, in: Hans-Otto Hügel (Hg.): H andbuch Populä r e Kultu r,
Stuttgart/Weimar 2003, S. 48-56, hier S. 49.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
renhäuser hielten Aktien an Theaterunternehmen, verkauften Theatertickets und
griffen bei der Präsentation ihrer Produkte auf die Inszenierungsstrategien der
Theater zurück. Die Theater warben umgekehrt auf Reklamevorhängen und Programmen für Kaufhäuser und Modelabels und thematisierten die neue Welt des
Massenkonsums auf der Bühne, so beispielsweise in Stücken, die in Warenhäusern spielten und moderne Formen von Product-Placement vorwegnahmen.72 In
den Vergnügungsvierteln der Jahrhundertwende begann die Kommerzialisierung
der Unterhaltung, wie auch die Kommerzialisierung des urbanen Raumes durch
Plakate, Schaufenster und Lichtreklamen, derer sich Theater wie auch Warenhäuser bedienten, um die Aufmerksamkeit potentieller Konsumenten auf sich zu lenken. Letztlich trug auch die Prostitution zum kommerziellen Charakter des Vergnügungsviertels bei, indem sie aus der Sexualität eine ökonomische Transaktion
machte. Wie Walter Benjamin schrieb, war »die Dirne von jeher eine Vorläuferin
der Warenwirtschaft«.73
Medialer Raum
Vergnügungsviertel waren im doppelten Sinn mediale Räume. In allen hier betrachteten Fällen wies das Vergnügungsviertel die höchste Konzentration an Theatern, Varietés, Music Halls und Kinos auf. Meist lag nicht weit davon das jeweilige Zeitungsviertel der Stadt. Dem New Yorker Times Square – ehemals Longacre
Square – gab die New York Times ihren Namen, die Fleet Street, das Zentrum der
britischen Zeitungsproduktion, lag im West End und das Berliner Zeitungsviertel
in der Kochstraße, einer Querstraße der Friedrichstraße.74 Wiederum handelte es
sich um eine Nähe, die sich mit dem Prozess der Citybildung erklären lässt, die aber
nicht nur rein räumlicher Natur war. Während die Zeitungen ausführlich über die
Theater berichteten, suchten die Theaterautoren hier gern nach neuen Geschichten, Plots und Witzen oder übernahmen sogar ganze Charaktere aus populären
Satireblättern. Selbst jenen Provinzlern, denen ein Besuch des Vergnügungsvier72 | Vgl. Peter Bailey: »Musical comedy and the rhetoric of the girl, 1892-1914«, in: ders.:
Popula r Cultu r e and Pe r fo r m ance in the Victo r ian City, Cambridge 1998, S. 175-193;
Rappaport: S hopping fo r Pleasu r e , S. 4, 183; Len Platt: Musical Co m edy on the W est End
S tage, 1890-1939, Basingstoke/New York 2004; S. 4, 22, 42; Tobias Becker: »Feste des
Konsums? Unterhaltungstheater und Warenhäuser in Berlin und London um 1900«, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstat (Hg.): S taging Festivity. Theate r und Fest in Eu r opa ,
Tübingen 2009, S. 216-237, sowie den Beitrag von Stefanie Watzka in diesem Band.
73 | Benjamin: D as Passagen- W e r k , S. 439; siehe auch Eitler: »Sexualität als Ware und
Wahrheit«.
74 | Vgl. Elmer Davis: H isto r y of the N ew Yo r k Ti m es 1851-1921, New York 1921; Dennis
Griffiths: Fleet S t r eet. Five H und r ed Yea r s of the P r ess, London 2006; Peter de Mendelssohn: Z eitungsstadt Be r lin. Menschen und Mächte in de r G eschichte de r deutschen P r esse , Berlin 1960.
159
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tels versagt blieb, bezogen von hier einen Großteil ihrer Unterhaltung. Neben der
Presse ist vor allem an die Theatertourneen zu denken, so war das West End 1896
Heimat von 158 ›touring companies‹, die von hier die ganzen britischen Inseln, die
Kolonien und das Ausland mit Unterhaltung versorgten; in New York stieg deren
Zahl im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts von 50 auf 500.75 Vergleichbare
Institutionen gab es weder in Frankreich noch in Japan oder Deutschland. Das
heißt aber nicht, dass die Metropole in diesen Ländern eine geringere kulturelle
Dominanz ausübte. Immer wieder gab es Klagen, die »große Mehrzahl aller […]
Theater« habe »sich freiwillig in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Berlin begeben,
das durchaus zu beklagen« sei.76 Am Leicester Square, dem Kurfürstendamm und
in Asakusa lagen die Uraufführungskinos, deren Publikum darüber entschied, ob
ein Film die Vororte und die Provinz überhaupt erreichte.77 Alain Corbin zufolge
drangen die »Darbietungen selbst der unscheinbarsten Sängerinnen in den Pariser
Tanzcafés […] bis nach Carcasonne und übertönen die traditionellen Arbeiterlieder,
die im Aude-Tal gesungen werden«.78 Ein Verdrängungsprozess begann, bei dem
die kommerzielle, professionelle und schichtübergreifende Unterhaltungskultur
der Metropolen die bis dahin vorherrschenden regionalspezifischen und selbstproduzierten Vergnügen zunehmend ersetzte.
Doch das Vergnügungsviertel war noch in anderer Hinsicht ein medialer
Raum: Julia Csergo fragt, ob es sich bei dem Ruf des Montmartres letzten Endes
nicht lediglich um einen bloßen Mythos gehandelt habe.79 Tatsächlich waren alle
Vergnügungsviertel im höchsten Maß medial generierte Räume. Romane, Theaterstücke, Zeitungsberichte und Reiseführer mit Titeln wie Guides du viveur, Guides
de plaisir, New London Guide to the Night Houses, Paris by Night, Führer durch das
nächtliche Berlin, Die Geheimnisse der Berliner Passage oder The Nightside of Japan
prägten als »Lehrbücher der Genußkunst« populäre Bilder und Klischees und
wirkten auf diese Weise an der medialen Konstruktion des Vergnügungsviertels
75 | Vgl. Booth: Theat r e in the Victo r ian Age , S. 18-21; James Forsher: The Co mm unity
of Cine m a. H ow Cine m a and S pectacle Tr ansfo r m ed the A m e r ican D owntown, Westport,
Conn./London 2003, S. 25; Hammack: D eveloping fo r Co mm e r cial Cultu r e , S. 46; Scott/
Rutkoff: N ew Yo r k Mode r n, S. 19.
76 | »Das Theatermonopol Berlins«, in: D e r Kunstwa r t 5 (1891/92), Nr. 10, S. 148.
77 | Vgl. Hubert Llewellyn Smith: The N ew S u r vey of L ondon L ife & L abou r, Bd. 4, London 1935, S. 45; Siedler: »Berlin«, S. 219-247, 239; Metzger/Dunker: Ku r fü r stenda mm,
S. 102, 127; Silverberg: E r otic G r otesque N onsense , S. 195; siehe auch Fujimoto: N ightside , S. 1-2; Seidensticker: L ow City, H igh City, S. 267; Peter High: »The Dawn of Cinema in
Japan«, in: J ou r nal fo r Conte m po r a r y H isto r y 19 (1984), Nr. 1, S. 23-57; McClain: J apan,
S. 353; William Gardner: Adve r tising Towe r. J apanese Mode r nis m and Mode r nity in the
1920s, Cambridge, Mass./London 2006, S. 141.
78 | Corbin: »Paris – Provinz«, S. 206.
79 | Julia Csergo: »Extension et mutation du loisir citadin«, S. 122-126.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
mit.80 Daran beteiligte sich auch die jeweilige Bohème, z.B. Maler wie Henri de
Toulouse-Lautrec (1864-1901) oder Walter Sickert (1860-1942) mit ihren Darstellungen der Pariser und Londoner Music Halls. Nur der Montmartre diente der
Bohème auch als Wohnort, aber die anderen Vergnügungsviertel übten eine kaum
geringere Faszination auf Schriftsteller und Künstler aus. Felix Saltens Buch über
den Wurstelprater und Kawabata Yasunaris Roman über Asakusa haben sowohl
die zeitgenössischen Bilder als auch die Erinnerung der Nachwelt an diese Vergnügungsviertel ganz wesentlich geprägt.
Ein wichtiges Element der medialen Konstruktion war der Vergleich zwischen
den einzelnen Vergnügungsvierteln, wobei keines so oft als Referenz diente wie
der Montmartre – nirgends war Paris so sehr »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«
wie in der Sphäre des Vergnügens.81 Mitunter galten die lokalen Vergnügungsviertel anderer Städte nur als bescheidene Statthalter der Freuden von Paris. Dem
Dichter Arthur Symons (1865-1845) zufolge war das West End »[n]ever really normal London«, sondern »an escape, a sort of shamefaced and sordid and yet irresistible reminder of Paris«.82 An anderer Stelle beklagt er, französischen Freunden
auf die Frage »Where is your Montmartre, where is your Quartier Latin?« nur abschlägig antworten zu können.83 Die Frage verdeutlicht, wie sehr der Raum des
Vergnügungsviertels sich zu einer Chiffre für Vergnügen schlechthin entwickelt
hatte. In Berlin übernahmen unzählige Vergnügungslokale die Namen berühmter
französischer Vorbilder wie etwa Moulin Rouge, Folies Bergères und Chat Noir.84
Zeitgenössischen Reiseführern zufolge zogen die Kabaretts in der Gegend des
Oranienburger Tors ein »Quartier latin-Publikum« an, das hier in »MontmartreStimmung« schwelgte.85 (Nur der Alexanderplatz gilt zur Abwechslung als »Berliner Yoshiwara«.)86 Entsprechend hieß die erste New Yorker Revuebühne Folies
Bergères, ebenso wie das erste Revuetheater von Asakusa Casino Folies (Kajino
Fuorii) getauft wurde, eine Kombination aus Casino de Paris und Folies Bergères.87
80 | Iwan Bloch: D as S exualleben unse r e r Z eit in seinen Beziehungen zu r m ode r nen Kultu r,
Berlin 41908, S. 325; siehe auch Csergo: »Extension et mutation«, S. 121-168.
81 | Walter Benjamin: »Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts«, in: ders.: D as Passagen- W e r k , S. 45-59.
82 | Arthur Symons: Cities and S ea-Coasts and Islands [1918], Evanston 1998, S. 247.
83 | Ebd., S. 197.
84 | Huret: Be r lin u m N eunzehnhunde r t , S. 62.
85 | Be r lin und die Be r line r. L eute. D inge. S itten. W inke , Karlsruhe 1905, S. 270; Be r lin
fü r Kenne r, S. 11.
86 | Moreck: Füh r e r du r ch das ›laste r hafte‹ Be r lin, S. 189, 198.
87 | Erenberg: S teppin’ O ut , S. 115-116, 214; ders.: I m p r esa r ios of B r oadway N ightlife ,
S. 162; Jörg von Uthmann: »New York. Broadway. Der ›Große Weiße Weg‹«, in: Hartung (Hg.):
Bouleva r ds, S. 315-341, S. 326, 334; Silverberg: E r otic G r otesque N onsense , S. 235-236;
siehe auch Lippit: Topog r aphies of J apanese Mode r nis m, S. 141; Tipton: »Cleansing the
Nation«, S. 719.
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T OBIAS B ECKER
Alle diese Etablissements wollten am Ruhm des Montmartres partizipieren
und schrieben auf diese Weise gleichzeitig an seinem Mythos mit. Mit dem lautstarken Aufstieg Berlins zur Metropole seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
musste die Friedrichstraße immer wieder als Beweis für den weltstädtischen und
weltläufigen Charakter der Stadt herhalten. Vielfach betonen die Reiseführer, sein
Nachtleben sei mit dem »Nachtleben keiner anderen Stadt, selbst nicht mit dem
von Paris zu vergleichen«, das hier Gebotene fände sich »weder in Paris, noch
sonstwo auf der Welt.« »Galt früher Paris als die Stadt des Lichts und des Lasters
[…] so ist man sich heute auf dem ganzen Erdenrund darüber einig, daß die Berliner Nächte das Lockendste bieten«, wusste der Führer durch die Lebeweltnächte
der Friedrichstadt.88 Selbst Jules Huret ließ sich von dieser Stimmung anstecken
und musste sich fragen: »Sollte Paris in dieser Hinsicht überholt sein?«89 Diese Konkurrenz um das attraktivste Nachtleben zeigt, welche Bedeutung dem Vergnügungsviertel beigemessen wurde und wie sehr sich die Metropolen darüber
definierten. Sie zeigt jedoch zugleich, wie sehr die Unterschiede zu verwischen
begannen, wie sehr der internationale Austausch zu einer Standardisierung des
Vergnügens beitrug: jedes Vergnügungsviertel erinnerte an jedes andere. »Gehen
sie über den Times Square«, beklagt sich Klaus Mann (1906-1949) in New York,
»sprechen sie unausgesetzt vom Montmartre.«90 Bei Asakusa dienten die Vergleiche nicht zuletzt dazu, europäischen Lesern den Charakter dieses Viertels zu verdeutlichen. Dass Asakusa am häufigsten aber mit dem Prater verglichen wurde,
zeigt noch einmal, dass diese beiden Räume eine Spezialform des Vergnügungsviertels darstellen.91 Neben Metropolen-Konkurrenz und Erklärungshilfe verweist
der Vergleich noch auf einen anderen, am deutlichsten von Magnus Hirschfeld
artikulierten Aspekt:
»Im Grunde genommen ist es freilich in England […] dasselbe Bild wie überall. Was in Wien
der Prater, ist in London der Hydepark, der Union Square New Yorks, heißt hier Leicester
Square, die Pariser Alhambra nennt sich an der Themse Colosseum, die Promenaden von
Ostende befinden sich am Strande von Brighton […]«. 92
88 | Be r lin fü r Kenne r, S. 13; Satyr: L ebeweltnächte , S. 10, 7.
89 | Huret: Be r lin u m N eunzehnhunde r t , S. 61.
90 | Klaus Mann: Aufsätze, R eden, K r itiken, Bd. 4: Zwei m al D eutschland, hg. von Uwe Naumann, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 188.
91 | Mit dem Times Square und Montmartre vergleichen Asakusa: Richmond Bollinger:
»Nachwort«, in: Kawabata Yasunari: D ie R ote Bande von Asakusa [Asakusa ku r enaidan].
Aus dem Japanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Richmond Bollinger, Frankfurt a.M. 1981, S. 195-216, hier S. 197; Donald Richie: Tr avels in the East ,
Berkeley 2008, S. 166; mit dem Prater: Hirschfeld: D ie H o m osexualität des Mannes und
des W eibes, S. 528; Hans Meyer: Eine W elt r eise. Plaude r eien aus eine r zweijäh r igen E r du msegelung, Leipzig 1885, S. 387.
92 | Hirschfeld: D ie H o m osexualität , S. 547.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
Nach der Vernichtung des Raumes in der Verkehrsrevolution begann um 1900 ein
Prozess der kultur- und grenzüberschreitenden Angleichung, in dem Orte ihre nationale und kulturelle Individualität einbüßten und zu bloßen Konkretisierungen
abstrakter Funktionen wurden: »When anywhere is everywhere, only the familiar
is familiar.«93
Theatraler Raum
Von Southwark und Yoshiwara in der frühen Neuzeit bis zum heutigen Broadway
und West End war das Vergnügungsviertel immer ein theatraler Raum und das
wiederum auf zweifache Weise: aufgrund der hohen Konzentration von Theatern
und weil es selbst als Bühne diente. Nicht selten wirkte der Stadtraum, in dem die
Theater ansässig waren, zurück auf die Unterhaltung, die sie anboten. Am deutlichsten ist dies, wenn die Ortsangabe zu einem Teil des Genres wurde, wie im Fall
der »West End musical comedy«, dem »East End melodrama«, dem »Broadway
musical«, der »Boulevard-Komödie« oder der »Askusa Opera«.94 In den im West
End, an den Boulevards oder an der Friedrichstraße gelegenen Theatern mit ihrem
regional und sozial diversen Publikum liefen andere Stücke und wurde anders inszeniert als in den proletarischen Stadtteilen und Vororten, wobei diese sich langfristig dem Sog der Standardisierung nicht entziehen konnten.95
Umgekehrt begann eine Theatervorstellung nicht erst, wenn der Vorhang sich
öffnete. Die Theater prägten den sie umgebenden Raum, ihr Publikum betrieb für
einen Theaterbesuch, zumal wenn es sich um eine Premiere handelte, einen ähnlichen Aufwand wie die Schauspieler auf der Bühne. Die Damen trugen die neuesten Pariser und Wiener Moden, die Männer kamen im Frack: »Even the lighter
entertainments were attuned to a stiff collar, white tie and tails occasion.«96 Wie
die Kritiker nicht müde wurden zu bemerken, diente das Theater immer noch als
Raum sozialer Kommunikation und Repräsentation der eigenen sozialen Stellung.
Eine Premiere war ein theatrales Ereignis, das sowohl im wie auch vor dem Gebäude inszeniert wurde. Denn das Vorfahren der Wagen, das Aussteigen und die
Versammlung vor dem Theater lockten ihrerseits ein eigenes Publikum an.
93 | Iain Sinclair: »Sickening«, in: Matthew Beaumont/Gregory Dart (Hg.): R estless Cities,
London/New York 2010, S. 257-276, hier S. 258.
94 | Vgl. Marvin A. Carlson: The H aunted S tage. The Theat r e as Me m o r y Machine , Ann
Arbor 2003, S. 140, siehe auch ders.: Places of Pe r fo r m ance. The S e m iotics of Theat r e
A r chitectu r e , Ithaca u.a. 1989, insbes. S. 14-37. Zur Asakusa-Oper vgl. Seidensticker: L ow
City, H igh City, S. 267-269, McClain: J apan, S. 353.
95 | Vgl. Michael R. Booth: »East-End and West-End. Class and audience in Victorian London«, in: Theat r e R esea r ch Inte r national 2 (1977), Nr. 2, S. 98-103; Martin Baumeister:
»Theater und Metropolenkultur. Berlin um 1900«, in: Erika Fischer-Lichte/Matthias Warstatt (Hg.): S taging Festivity. Theate r und Fest in Eu r opa , Tübingen, Basel 2009, S. 193-215.
96 | Ernest Short: Theat r ical Cavalcade , London 1942, S. 162.
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Zum theatralen Charakter des Vergnügungsviertels trugen nicht zuletzt die
Prostituierten bei, deren Arbeitskleidung dezent genug sein musste, um nicht von
der Polizei festgenommen zu werden, aber nicht so dezent, dass sie von potentiellen Kunden nicht erkannt wurden. »Es war die Zeit der großen Federhüte, der
Federboas und des hochgeschnürten Busens. Die hin und her geschwenkte Tasche
war das Abzeichen der Gilde«, beobachtete George Grosz (1893-1959) in der Friedrichstraße, deren hektischen, egalitären, kosmopolitischen und widersprüchlichen
Charakter er auch graphisch ein Denkmal setzte.97 Das Vergnügungsviertel war
ein Raum, in dem sich aus dem Alltag ausbrechen und mit neuen Identitäten experimentieren ließ, wie dies die Flappers und Mogas am Times Square – jener »stage
for urban life« – im West End, auf dem Kurfürstendamm oder der Ginza taten,
wenn sie spielerisch neue Geschlechterrollen erprobten.98 Ein gutes Beispiel hierfür ist erneut Kawabata Yasunaris Asakusa-Roman, dessen Protagonisten je nach
Situation ihre Kleidung, Identität und gar ihr Geschlecht wechselten. Das Vergnügungsviertel nahm auf diese Weise theatrale Züge an und wurde deshalb, wie Elise
Tipton für die Ginza bemerkt, von den Zeitgenossen oft mit einem Theater oder
einer Bühne verglichen, auf der das moderne Leben aufgeführt wurde.99
* * *
Mehrere der genannten Charakteristika legen nahe, das Vergnügungsviertel als
eine Heterotopie im Sinne Michel Foucaults zu verstehen. Dafür spricht zunächst,
dass sich hier eine Vielzahl unterschiedlicher, wenn nicht gar gegensätzlicher Räume überlagerten. Strukturell schichtübergreifend diente das Vergnügungsviertel
mitunter ebenso als Ort der sozialen Repräsentation wie auch als Aufenthaltsort
gesellschaftlich marginalisierter Gruppen. Es war ein Raum, den sich Fremde und
Einheimische, Familien und Prostituierte, Hetero- und Homosexuelle, Polizisten
und Unternehmer teilten und der für jede Gruppe und jedes Individuum eine
andere Bedeutung, Funktion und Symbolik hatte – Vergnügen, Gelderwerb, Treffpunkt oder Bedrohung. Zweitens spricht für die Klassifizierung als Heterotopie
sein räumlich wie sozial liminaler Charakter. Als ein Raum, in dem deviante Verhaltensweisen und Praktiken – bis zu einem bestimmten Grad jedenfalls – geduldet wurden, erscheint das Vergnügungsviertel als eine Abweichungsheterotopie.
97 | George Grosz: Ein kleines J a und ein g r oßes N ein. S ein L eben von ih m selbst e r zählt ,
Hamburg 1955, S. 98; zur Prostituierten als urbanem Typus siehe auch Susan Buck-Morss:
»The Flaneur, the Sandwichman and the Whore. The Politics of Loitering«, in: N ew G e r m an
C r itique 39 (1986), S. 99-140; Schlör: N achts in de r g r oßen S tadt , S. 176.
98 | Sagalyn: Ti m es S qua r e R oulette , S. 49.
99 | Tipton: The Café , S. 123; siehe auch Brigitte Marschall: »Öffentlicher Raum als theatraler Raum. Praktiken des Gehens und Strategien der Stadtnutzung«, in: Ralf Bohn (Hg.):
Inszenie r ung und E r eignis. Beit r äge zu r Theo r ie und P r axis de r S zenog r afie , Bielefeld
2009, S. 171-187 sowie den Beitrag von Tim Opitz in diesem Band.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
Drittens korrespondierte mit der Heterotopie Vergnügungsviertel eine spezifische
Heterochronie, hielten sich die Besucher hier doch in ihrer Freizeit und in den
Nachtstunden auf, also in oftmals als außeralltäglich wahrgenommenen Zeiträumen. Ein System der Öffnung und Abschließung ist, viertens, allerdings in den
wenigsten Vergnügungsvierteln feststellbar, sind doch ihre Grenzen oft gar nicht
klar benennbar. Öffentliche Zugänglichkeit war vielmehr eine Bedingung für die
Existenz eines Vergnügungsviertels. Andererseits verfügten die dort geballt auftretenden Vergnügungsorte und -etablissements über je eigene Modi des Zugangs,
meist in Form einer Eintrittskarte, wie bei Kinos und Theatern, die Foucault selbst
unter die Heterotopien rechnete und die in allen Vergnügungsvierteln in großer
Anzahl zu finden waren. Was, fünftens, die Funktion des Vergnügungsviertels angeht, so lässt es sich am ehesten als eine Kombination aus illusorischer und kompensatorischer Heterotopie betrachten. Als medialer und theatraler Raum schuf
das Vergnügungsviertel zunächst einen Ort, an dem sich Realität und Illusion
durchdrangen. Indem es einen Spielraum für Experimente mit Geschlechteridentitäten und sozialen Rollen anbot, die mitunter in einem dialektischen Verhältnis
zu herrschenden gesellschaftlichen Normen standen, konnte es diese als konstruiert und illusorisch entlarven. Andererseits nahm es eine kompensatorische Funktion wahr, wobei es weniger eine vollkommene Ordnung entwarf, als dass es einen
Raum der Kompensation bot, was wiederum darauf verweist, dass Vergnügungsviertel, sechstens, als »tatsächlich verwirklichte Utopien« zu verstehen sind.
Utopisch ist ein Begriff, der in vielen Texten über Vergnügungsviertel benutzt
wird. Joachim Willms versteht den Montmartre als »utopischen Ort nostalgischer
Idyllik«, der zum einen ein »Gegengift für jenen traumatisch erlebten Einbruch
der Moderne« und zum anderen einen »gesellschaftlich sanktionierten Freiraum«
darstellte, »der von der sonst herrschenden strikten sozialen Kontrolle ausgenommen war«.100 Ähnlich meint Klaus Müller-Richter über den Prater, dieser sei »[u]topisch […] insofern er das Glücksversprechen eines […] für alle Klassen, Stände und
Schichten frei zugänglichen Raums des Konsums, der Schaulust und Behebung
von Bedürfnissen […]« abgebe.101 Bei beiden ist es also primär der egalitäre Charakter des jeweiligen Vergnügungsviertels, aufgrund dessen sich dieses in ihren
Augen als utopischer Raum qualifiziert. Utopisch war es nicht nur, insofern es die
Grenzen zwischen den Klassen verschwimmen ließ, sondern auch jene zwischen
den Geschlechtern, In- und Ausländern, Weltstadtbürgern und Provinzlern. Auf
diese Weise antizipierte es eine künftige Gesellschaft. Dennoch konnte das Vergnügungsviertel mitunter solche Barrieren auch erst errichten oder akzentuieren.
Es war heterosozialer, egalitärer und kosmopolitischer als alle anderen Räume in
100 | Willms: Pa r is, S. 440-441; Rearick: Pleasu r es of the Belle Epoque , S. 62.
101 | Klaus Müller-Richter: »Phantasmagorien des Praters. Ein Versuch über urbane
Raum-, Geh-, Schreib- und Sehweisen«, in: ders./Mattl/Schwarz (Hg.): Felix S alten: Wu r stelp r ate r, S. 147-161, hier S. 147; siehe auch Mattl/Schwarz: »Utopia des ›zeitlos Popularen‹«, S. 127-146.
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den sonst stark segregierten Metropolen der Jahrhundertwende, brachte aber die
bestehende Ordnung nicht wirklich in Gefahr. Es trug daher eher Züge des Karnevals, wie ihn Michail Bachtin beschreibt, wobei seine karnevalistische Subversivität
letzten Endes systemstabilisierend wirkte.102 Rein begrifflich müsste schließlich
schon deshalb eher von einer Heterotopie als von einer Utopie die Rede sein, da
das Vergnügungsviertel in seiner materiellen und sozialen Realität kein ou-topos,
kein Nicht-Ort, sondern eben ein anderer Ort, ein hetero-topos war.
Obwohl es Vergnügungsviertel schon in vormodernen Städten gegeben hatte,
auf die manche der hier angeführten Beispiele zurückgingen, sind sie doch alle
eng mit den Metropolen der Jahrhundertwende verknüpft. Vergnügungsviertel
wie der Times Square, das West End und der Kurfürstendamm behaupteten sich
selbstbewusst im Herz der Metropole und waren Symbole urbaner Modernität.
Doch genauso war die betonte Antimodernität des Montmartre ein Kommentar zu
den Umbrüchen der Jahrhundertwende. Das Vergnügungsviertel war der urbane
Raum, in dem Neues ausprobiert werden konnte, von Mode und Lebensstil bis hin
zu neuen Formen des Miteinanders. In diesem Sinne trug es zu dem von Gottfried Korff als »innere Urbanisierung« bezeichneten Prozess der Anpassung an
das Leben in der Großstadt bei, der vielleicht richtiger noch als ›innere Modernisierung‹ zu bezeichnen wäre. Anstelle einer fremdgesteuerten »Kolonialisierung von
Lebenswelten« (Jürgen Habermas), der die Subjekte hilflos ausgeliefert werden,
bezeugt das Vergnügungsviertel vielfältig kreative Reaktion auf die fundamentalen
soziokulturellen Umbrüche der Jahrhundertwende.103
Und schließlich ist das Vergnügungsviertel ein Paradebeispiel für Henri Lefebvres Feststellung, dass sozialer Raum ein soziales Produkt ist. Denn die Vergnügungsviertel waren nicht das Ergebnis einer hegemonialen Stadtplanung, sondern
Produkt vieler verschiedener Aushandlungsprozesse, an denen staatliche und städtische Behörden ebenso beteiligt waren wie die Betreiber der Vergnügungsetablissements und ihre Konsumenten, die Autoren von Reiseführern, Stadtberichten und
Theaterstücken bis hin zu den Passanten und Prostituierten. Um diese Prozesse zu
analysieren, gilt es neben der Makroebene der Stadt und der Mikroebene einzelner
102 | Michail Bachtin: R abelais und seine W elt. Volkskultu r als G egenkultu r, Frankfurt a.M.
1989; siehe auch Rüdiger Hause/Peter Jehle: »Karneval«, in: H isto r isch-K r itisches Wö r te rbuch des Ma r xis m us, Bd. 7/1, Berlin 2008, Sp. 397-406.
103 | Vgl. Gottfried Korff: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur ›inneren‹ Urbanisierung«, in: Theodor Kohlmann/Hermann Bausinger (Hg.): G r oßstadt. Aspekte e mpi r ische r Kultu r fo r schung, Berlin 1985, S. 343-361; zur Adaption dieses
Konzepts siehe auch Peter Fritzsche: R eading Be r lin 1900, Cambridge, Mass. 1996, S. 13,
219-220; Schlör: N achts in de r g r oßen S tadt , S. 17; Habbo Knoch: »Schwellenräume und
Übergangsmenschen«, insbes. S. 265-267; Moritz Föllmer: »Grenzen und urbane Modernität. Überlegungen zu einer Gesellschaftsgeschichte städtischer Interaktionsräume«, in:
H - S oz-u-Kult , http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=788&type=diskussionen;
Becker: »Feste des Konsums?«, S. 236-237.
D AS V ERGNÜGUNGSVIERTEL
Orte, wie dem Theater oder dem Kino, die Mesoebene von Stadträumen wie dem
Viertel oder Kiez zu betrachten.104 Die oft konstatierte Fragmentierung der Metropole wahrzunehmen und das Ganze über seine Fragmente und Einzelräume zu
betrachten, wäre die Aufgabe einer Stadtgeschichte, die jenseits abstrakter Debatten
über ›die Metropole‹ und ›die Stadt‹ oder die ›Eigenlogik der Städte‹ operiert.105
Auf diese Weise ließe sich dem Umstand Rechnung tragen, dass unterschiedliche
Räume spezifische Aktivitäten, Praktiken, Verhaltensmuster und Mentalitäten aufweisen, beziehungsweise diese überhaupt erst generieren, kurz gesagt über eine je
spezifische Psychogeographie verfügen. Dies belegt nicht zuletzt der heterotopische
Raum des Vergnügungsviertels.
104 | Vgl. den Beitrag von Johanna Niedbalski und Hanno Hochmuth in diesem Band.
105 | Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.): D ie Eigenlogik de r S tädte. N eue W ege de r S tadtfo r schung, Frankfurt a.M./New York 2008; Martina Löw: S oziologie de r S tädte , Frankfurt
a.M. 2008.
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Tobias Becker, Anna Littmann, Johanna Niedbalski (Hg.)
Die tausend Freuden der Metropole
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Vergnügungskultur um 1900
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Das Vergnügungsviertel
Heterotopischer Raum in den Metropolen der Jahrhundertwende
Tobias Becker | 137
U NGLEICHZEITIGKEITEN – B LICKE JENSEITS DER M ETROPOLE
Inhalt
Die Flucht des Theaters vor der Metropole
Das Kraiburger Volksschauspiel in der Zeit des späten Kaiserreiches
Karl Borromäus Murr | 171
Die temporäre Verdorfung Berlins
Die Metropole der tausend Freuden
Der Alpenball als urbane Vergnügungspraxis um 1900
Franka Schneider | 197
Stadt und Vergnügungskultur um 1900
Tobias Becker und Johanna Niedbalski | 7
Frühes Kino zwischen Stadt und Land
R EPRÄSENTATIONEN – P OLITIK UND V ERGNÜGEN
IN DER M ETROPOLE
Die Reglementierung öffentlicher Lustbarkeiten in Berlin um 1900
Einige Überlegungen zum Verhältnis von Kinoprogrammgestaltung,
Kinopublikum und moderner Stadterfahrung vor 1914
Andrea Haller | 229
V ERFLECHTUNGEN – I NTERMEDIALITÄT DES V ERGNÜGENS
Angelika Hoelger | 23
Comme il faut
Die drei Bühnen der Stadt
Der Berliner Königsplatz als lokaler, nationaler und globaler Ort
Tim Opitz | 43
Theater und Mode um die Jahrhundertwende
Stefanie Watzka | 259
»Welt von Wundern«
Periphere Urbanisierung
Massenkonzepte der Unterhaltungskultur in Wien und Budapest
in den 1920er Jahren
Amália Kerekes und Katalin Teller | 67
U NGLEICHHEITEN – G ESELLSCHAFT UND V ERGNÜGEN
IN DER M ETROPOLE
Die Berliner Urania um 1900
Kristin Becker | 283
Ein Kabinett im Panoptikum
Musikautomaten und die Ökonomisierung der Kunst
Rebecca Wolf | 303
Bildnachweis | 325
Wie ›jüdisch‹ war das Theater im Berlin der Jahrhundertwende?
Peter Jelavich | 87
Kiezvergnügen in der Metropole
Zur sozialen Topographie des Vergnügens im Berliner Osten
Hanno Hochmuth und Johanna Niedbalski | 105
Personen- und Sachregister | 329