reformatio in peius _SV und Lsg

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reformatio in peius _SV und Lsg
Mattias Wendel, Maîtr. en droit (Paris I) | Juristische Fakultät | Walter-Hallstein-Institut | www.mattiaswendel.eu |[email protected]
PÜ Allgemeines Verwaltungsrecht, Verwaltungsprozessrecht
SoSe 2009, Donnerstag 10-12 Uhr, Unter den Linden 6, Raum BE 229.
Fall 9 – reformatio in peius
DT/FM/RK/MW
K ist irakischer Staatsangehöriger kurdischer Herkunft. Er lebt und arbeitet bereits seit vier Jahren in S
als Kellner in einem Restaurant. Seit einiger Zeit ist er Mitglied in einer kurdischen Vereinigung und
hat mehrfach zu gewalttätigen Aktionen gegen türkische, „kurdenfeindliche“ Gruppen in S aufgerufen.
Er wurde im Strafbefehlsverfahren zweifach zur Zahlung einer Geldstrafe wegen Körperverletzung
verurteilt. Als es erneut zu einer Gewaltaktion gegen eine türkische Einrichtung in S kommt, an der K
beteiligt war, weist ihn die zuständige Ausländerbehörde A nach Anhörung durch schriftlichen Bescheid vom 14.1.2007 mit Wirkung zum 1.5.2007 für die Dauer von drei Jahren aus. Auf den sofort
eingelegten Widerspruch des K ergeht am 28.1.2007 durch die übergeordnete Behörde B ein Bescheid
mit folgendem Tenor:
„1. Ihr Widerspruch wird als unbegründet zurückgewiesen.
2. Zugleich verkürze ich das Inkrafttreten der Ausweisung auf den 1.3.2007.
3. Außerdem untersage ich Ihnen mit sofortiger Wirkung jegliche politische Betätigung in der
Bundesrepublik.
4. (Rechtsbehelfsbelehrung)“
Daraufhin erhebt K am 2.2.2007 Klage auf Aufhebung der getroffenen Maßnahmen vor dem Verwaltungsgericht. Wie wird dieses entscheiden?
Bearbeitervermerk: Es ist von einem mehrstufigen Verwaltungsaufbau mit A als Unterbehörde und B
als Mittelbehörde sowie einer uneingeschränkten Anwendbarkeit der §§ des AufhG auf K auszugehen.
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§ 47 AufenthG1 Verbot und Beschränkung der politischen Betätigung
(1) Ausländer dürfen sich im Rahmen der allgemeinen Rechtsvorschriften politisch betätigen. Die politische Betätigung eines Ausländers kann beschränkt oder untersagt werden,
soweit sie
1. die politische Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland oder das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern oder von verschiedenen Ausländergruppen
im Bundesgebiet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt oder gefährdet,
(...)
§ 53 AufenthG Zwingende Ausweisung
Ein Ausländer wird ausgewiesen, wenn er
1. wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsoder Jugendstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist oder wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheits- oder Jugendstrafen von
zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist,
(...)
§ 54 AufenthG Ausweisung im Regelfall
Ein Ausländer wird in der Regel ausgewiesen, wenn
1. er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist,
(...)
§ 55 AufenthG Ermessensausweisung
(1) Ein Ausländer kann ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland
beeinträchtigt.
(2) Ein Ausländer kann nach Absatz 1 insbesondere ausgewiesen werden, wenn er
(...)
2. einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder
gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Straftat begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche
Straftat anzusehen ist,
(...)
1
AufenthG zuletzt geändert am 22.12.2008.
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Fall 9 – Lösungshinweise
Ausgangsfall
Die Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Verwaltungsrechtsweg
Keine aufdrängende oder abdrängende Sonderzuweisung für ausländerrechtliche Streitigkeiten.
40 I VwGO: öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht-verfassungsrechtlicher Art. Hier jedenfalls Auftreten
des Staates gegenüber einem Bürger aufgrund des AufenthG (+)
II. Klageart
In Betracht kommt eine Anfechtungsklage nach 42 I Alt. 1 VwGO. Die Anfechtungsklage ist statthaft,
wenn die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt wird. Der Ausweisungsbescheid der Ausländerbehörde und der Widerspruchsbescheid der übergeordneten Behörde B sind Verwaltungsakte im
Sinne des § 35 VwVfG. Fraglich ist hier jedoch, welcher der richtige Klagegegenstand ist. Hier begehrt
der Kläger zum einen die Aufhebung der Ausweisung und zum anderen die Aufhebung deren früheren
Inkrafttretens und des politischen Betätigungsverbots. Er wendet sich somit sowohl gegen den ursprünglichen VA als auch gegen den Widerspruchsbescheid. Nach § 79 I Nr. 1 VwGO ist somit „Gegenstand der Anfechtungsklage ... der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat“. Aus der Bestimmung ergibt sich, dass Ursprungs-VA und Widerspruchsbescheid nicht etwa zwei getrennte VAs sind, sondern als gestufte Rechtsetzung einen einheitlichen VA bilden.
Vgl. insoweit etwa OVG Bautzen, NVwZ-RR 2002, 410:
„Wird ein Widerspruchsverfahren (§§ 68 ff. VwGO) mit einem Widerspruchsbescheid beendet, ist
Gegenstand der Anfechtungsklage gem. § 79 I Nr. 1 VwGO der ursprüngliche Verwaltungsakt in
der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Ausgangs- und Widerspruchsbescheid bilden danach eine prozessuale Einheit, wobei der Widerspruchsbescheid als „letztes
Wort der Verwaltung“ (so die prägnante Formulierung bei Happ, in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl.,
§ 79 Rdnr. 5) dem Bescheid in Tenor und Begründung seine maßgebliche Gestalt gibt.“
Anmerkung: Nach § 79 II VwGO kann die Klage auch allein, dh ohne gleichzeitige Anfechtung auch des
AusgangsVA, gegen den Widerspruchsbescheid gerichtet werden, wenn dieser ein zusätzliche selbständige Beschwer enthält, d.h. den Kläger zusätzlich in formellen oder materiellen Rechten beeinträchtigt (reformatio in peius). Eine erstmalige Beschwer im Sinne des § 79 I Nr. 2 VwGO liegt dagegen bei
allen VAen mit Drittwirkung vor, wenn ein ursprünglich den Dritten begünstigender VA durch den Widerspruchsbescheid zu dessen Nachteil abgeändert wurde (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 79 Rn. 7, 11)
III. Besondere Zulässigkeits- / Sachurteilsvoraussetzungen
1. Klagebefugnis; § 42 II VwGO
Hier geht es um die Abwehr belastender Maßnahmen. Nach der Möglichkeitstheorie ist K somit wegen des umfassenden Schutzumfangs der Grundrechte klagebefugt. Konkret kommt eine Verletzung
des Art. 5 I GG bzgl. des politischen Betätigungsverbots und des Art. 2 I GG bzgl. der Ausweisung (nicht
Art. 11 GG, da „Deutschengrundrecht“) in Betracht.
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2. Vorverfahren
Das Vorverfahren wurde in Übereinstimmung mit §§ 68 ff. VwGO durchgeführt.
Anmerkung: Nach § 68 I Nr. 2 VwGO ist im Fall einer erstmaligen Beschwer durch den Widerspruchsbescheid die Durchführung eines erneuten Widerspruchsverfahrens entbehrlich. § 68 I Nr. 2 VwGO meint
hier – jedenfalls in analoger Anwendung – sowohl die Fälle, in denen der Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer eines Dritten enthält, als auch Fälle, in denen der Widerspruchsbescheid erstmalig den Widerspruchsführer beschwert. Im letzteren Fall ist als erstmalige Beschwer unter Berücksichtigung des § 79 II VwGO jede zusätzliche selbständige Beschwer zu sehen (Kopp/Schenke, VwGO, § 68
Rn. 20)
3. Frist
Die Monatsfrist des § 74 I VwGO wurde eingehalten.
IV. Allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzungen
Gegeben. Insbesondere ist die sachliche und örtliche Zuständigkeit des VG Berlin gegeben. K ist als
natürliche Person und Kläger Beteiligter nach §§ 61 Nr. 1, 63 Nr. 1 VwGO. Nach § 78 I Nr. 1 VwGO ist
die Klage gegen den Verwaltungsträger zu richten, dem die Behörde des ursprünglichen VAs zuzurechnen ist: hier der Verwaltungsträger, zu dem A gehört.
Anmerkung: In Berlin gehören sowohl die Bezirke als auch die Senatsverwaltung zum Verwaltungsträger Land Berlin. Die Klage ist somit immer gegen das Land Berlin zu richten. In Flächenstaat ist dagegen regelmäßig die Gemeinde oder der Landkreis untere Verwaltungsebene, während der Widerspruchsbescheid regelmäßig von der nächst höheren Ebene des Regierungspräsidiums oder des Landes
entschieden wird. Wenn der Widerspruchsbescheid isoliert angefochten wird, ist er somit gegen den
Verwaltungsträger der Oberbehörde zu richten, vgl. § 78 II VwGO. In allen Fällen reicht nach § 78 I
Nr.1, 2. Hs. VwGO die Bezeichnung der Behörde.
V. Ergebnis
Die Klage ist zulässig.
B. Begründetheit
Die Klage ist begründet, soweit der VA rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt
ist, vgl. § 113 I 1 VwGO.
I. Ausweisung
Anmerkung: ein durchgehend getrennter Aufbau von Ausgangs-VA und Verböserung ist ohne Weiteres
möglich, vgl. etwa Schmidt, VerwPR, 12. Aufl. 2008
1. Ermächtigungsgrundlage
§§ 53, 54 AufenthG kommen als Ermächtigungsgrundlagen nicht in Frage, da die Voraussetzungen für
eine zwingende Ausweisung oder eine Regelausweisung ersichtlich nicht gegeben sind. In Betracht
kommt hier vielmehr § 55 I AufenthG mit § 55 II Nr. 2 AufenthG.
(Ein Verstoß gegen höherrangiges Recht ist nicht ersichtlich, auch nicht gegen die jüngst angenommenen EG-Richtlinien über Mindeststandards zum Flüchtlingsstatus.)
Zur EGL der Verböserung, siehe unten
2. Formelle Rechtmäßigkeit
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a) Zuständigkeit
aa) ursprüngliche Ausweisung
Laut Sachverhalt war die Ausgangsbehörde A zuständig.
bb) zeitliche Ausdehnung der Ausweisung
Die Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde ergibt sich aus § 73 I Nr. 1 VwGO. Laut Sachverhalt handelte die übergeordnete Behörde, die somit zuständig war.
Anmerkung: Die heute herrschende Auffassung folgt dem BVerwG und sieht bei Verschiedenheit von
Ausgangs- und Widerspruchsbehörde die Widerspruchsbehörde dann zur Verböserung durch den Widerspruchsbescheid in der Sache zuständig, wenn sie gleichzeitig Fachaufsichtsbehörde der Ausgangsbehörde ist. (zB VGH Mannheim, NVwZ-RR 2002,4; a.A. Kopp/Schenke, VwGO, § 68 Rn. 10 b).
b) Verfahren
aa) ursprüngliche Ausweisung
K wurde bzgl. des Ausgangs-VAs laut Sachverhalt nach § 28 VwVfG angehört.
bb) zeitliche Ausdehnung der Ausweisung
Fraglich ist, ob er wegen § 71 VwGO auch vor Erlass der „Verböserung“ hätte angehört werden müssen.
Entbehrlichkeit? Eine erneute Anhörung könnte hier jedoch entbehrlich gewesen sein, vgl. - OVG Koblenz, NVwZ 1992, 386: „Auch ein Verstoß gegen § 28 VwVfG ist bei dem Erlass des Widerspruchsbescheides nicht begangen worden. Wird ein Ausgangsbescheid - wie hier - im Widerspruchsverfahren
verbösert, so ist eine vorherige Anhörung, wie sie beispielsweise § 367 II 2 AO 1977 für das abgabenrechtliche Einspruchsverfahren und § 71 VwGO für die erstmalige Beschwer eines Dritten vorsieht,
nach § 28 VwVfG nur geboten, wenn neue Tatsachen vorliegen“.
Erforderlichkeit, aber Nachholbarkeit: so BVerwG NVwZ 1999, 1218 (1219): Die fehlende Anhörung
stellt danach stets ein wesentlichen Verfahrensfehler dar, da § 71 VwGO nicht nur für Fälle der Beschwer eines Dritten, sondern auch für die reformatio in peius gilt (Überlegung ähnlich wie bei § 68 I 2
VwGO); die fehlende Anhörung kann indessen nach § 45 I, II VwVfG bis zum Abschluss des Verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden.
c) Form
§ 77 I 1 AufenthG erfordert als spezialgesetzliche Vorgabe, die dem VwVfG vorgeht, die Schriftform,
die hier eingehalten wurde.
3. Materielle Rechtmäßigkeit
a) ursprüngliche Ausweisung
aa) Tatbestand
Die nach § 55 I AufenthG erforderliche „Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ ist
hier gegeben, vor allem auch im Hinblick auf die gesetzliche Regelfallnormierung in § 55 II Nr. 2 AufenthG.
bb) Rechtsfolge
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Die Ausländerbehörde besitzt nach § 55 I, II AufenthG Ermessen („kann (insbesondere)“). Ermessensfehler hinsichtlich des Ausgangsbescheids, insbesondere eine Ermessensüberschreitung durch Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, sind nicht ersichtlich.
b) zeitliche Ausdehnung der Ausweisung
Hinsichtlich des Widerspruchsbescheids könnte jedoch im Hinblick auf Art. 19 IV GG ein Ermessensfehler vorliegen, weil die Widerspruchsbehörde aufgrund eines Widerspruchs des K die Ausweisung
zeitlich vorzog.
aa) (Generelle) Zulässigkeit der reformatio in peius (r.i.p.)
Dies wirft die Frage auf, ob es ein Verbot der sog. reformatio in peius im Widerspruchsverfahren gibt.
Das Verbot der reformatio in peius ist etwa im Strafprozess anerkannt: Soweit der Angeklagte, nicht
aber die Staatsanwaltschaft, Berufung oder Revision einlegt, kann er im Ergebnis nicht schlechter gestellt werden, als im angefochtenen Urteil. Aus Art. 19 IV GG folgt der Grundsatz eines effektiven
Rechtsschutzes, der ausgehöhlt würde, wenn das Einlegen eines Rechtsmittels zu einer Schlechterstellung führte. Fraglich ist, ob dieser Gedanke auch für das verwaltungsrechtliche Widerspruchsverfahren gilt, das gerade kein gerichtliches Rechtschutzverfahren ist, sondern diesem vorgeschaltet ist?
Argumente:
contra Verböserungsmöglichkeit
-
spricht Rechtsschutzfunktion des Widerspruchsverfahrens, da dieses notwendige Vorstufe
für den gerichtlichen Rechtsschutz ist. Jedoch ist die Effizienz des Rechtsschutz entgegen
Art. 19 IV GG gefährdet, wenn der Bürger bei Einlegung eines Rechtsbehelfs mit einer Verböserung zu rechnen hat.
-
Dispositionsmaxime und Bindung des Gerichts an die Anträge (§§ 88, 129 VwGO) sprechen
zudem gegen r.i.p.
pro Verböserungsmöglichkeit (hM):
-
Das Widerspruchverfahren ist gerade kein gerichtliches Verfahren. Sein Zweck besteht u.a.
auch darin, zur Entlastung der Verwaltungsgerichte eine Selbstkorrektur durch die Verwaltung zu ermöglichen (BVerwGE 51, 310, 314).
-
Rechtsschutzsuchender hat Bestandskraft selbst durch Einlegung eines Rechtsbehelfs verhindert.
-
Unter Rechtsschutzgesichtspunkten erlangt VA erst mit Ergehen des Widerspruchsbescheids seine endgültige Gestalt, § 79 I Nr. 1 VwGO.
-
Das Gesetz geht in § 79 II VwGO selbst von einer zusätzlichen, selbständigen Beschwer des
Widerspruchsbescheids aus.
-
Bund hat – soweit man ihm überhaupt die Kompetenz für die abschließende Regelung des
Verwaltungsverfahrens zubilligt – die r.i.p im Verwaltungsverfahren jedenfalls noch nicht
(abschließend) geregelt. Daher ist die r.i.p. auch nicht ausgeschlossen. Zur Anwendung gelangt das einschlägige materielle Bundes- bzw. Landesrecht.
BVerwG, NVwZ 1987, 215:
„Zutreffend hat das BerGer. unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerwG ausgeführt,
daß eine "reformatio in peius" im Widerspruchsverfahren nicht generell ausgeschlossen ist;
ihre Zulässigkeit folgt zwar nicht schon aus den §§ 68 ff., 73 VwGO, sondern richtet sich vielmehr nach dem jeweils anzuwendenden materiellen Bundes- oder Landesrecht einschließlich
seiner Zuständigkeitsvorschriften“
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Mit der hM folgt daraus, dass eine reformatio in peius nicht generell ausgeschlossen ist.
bb) Konkrete Voraussetzungen
Materiellrechtlich sind für die reformatio in peius die §§ 48 ff. VwVfG (analog) heranzuziehen
(Kopp/Schenke, VwGO, § 68 Rn. 10 c). Hier überwiegt das Vertrauensinteresse des K jedenfalls nicht
das öffentliche Interesse an der schnelleren Ausweisung (a.A. vertretbar). Die übergeordnete Behörde
konnte die Ausreisefrist verkürzen.
4. Zwischenergebnis
Hinsichtlich der Ausweisung ist der VA in der Form des Widerspruchsbescheids rechtmäßig.
II. Politisches Betätigungsverbot
1. Ermächtigungsgrundlage
In Betracht kommt hier § 47 I AufenthG. Die – durchaus umstrittene – Vereinbarkeit der Norm mit
höherrangigem Recht sei lt. Sachverhalt unterstellt.
2. Formelle Rechtmäßigkeit
a) Zuständigkeit
Grundsätzlich ist die Ausgangsbehörde für den Erlass eines VA zuständig. Die Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde ergibt sich aus § 73 I Nr. 1 VwGO. Insoweit findet ein Kompetenzübergang auf die
Widerspruchbehörde statt. Hierbei ist sie in Übereinstimmung mit den vorstehenden Ausführungen
auch zu einer reformatio in peius berechtigt.
Mit dem OVG Berlin NJW 1977, 1166/1167 ist jedoch anzunehmen, dass die Möglichkeit der Verböserung auf „quantitative“ Änderungen beschränkt ist. „Qualitative“ Änderungen des AusgangsVA in
Bereichen, die über den Gegenstand des Widerspruchsverfahrens, den angegriffenen VA hinausgehen, sind dagegen unzulässig. Hier ist der Widerspruch nur Anlass für die belastende Regelung, die
Widerspruchsbehörde erlässt einen eigenen Verwaltungsakt an Stelle der Ausgangsbehörde. Die Zulässigkeit richtet sich in diesem Fall nach dem einschlägigen Organisationsrecht und dem materiellen
Verwaltungsverfahrensrecht. Regelmäßig darf sie die Regelung nur treffen, wenn sie gesetzlich dazu
ermächtigt ist (etwa weil die Ausgangsbehörde fehlerhaft oder gar nicht exekutiert) oder der von ihr
erlassene Verwaltungsakt in ihrer originären Zuständigkeit liegt (die Ausgangsbehörde also zur Entscheidung gar nicht berufen war).
Als eigenständige neue Regelung ist das Verbot der politischen Betätigung aufgrund einer gesonderten Ermächtigungsgrundlage hier nicht von der Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde umfasst. Die
Ausgangsbehörde hätte im vorliegenden Fall ein derartiges Verbot wohl vorsehen können – nicht aber
die Widerspruchsbehörde.
b) Zwischenergebnis
Die Widerspruchsbehörde war nicht zuständig.
3. Zwischenergebnis
Soweit das politische Betätigungsverbot betroffen ist, ist der VA in der Form des Widerspruchsbescheids formell rechtswidrig.
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III. Rechtsverletzung
Da der Bürger einen Grundrechtseingriff nur hinnehmen muss, wenn dieser formell und materiell
rechtmäßig ist, ist K auch in seinen Rechten verletzt.
C. Ergebnis
Hinsichtlich des politischen Betätigungsverbots ist Klage begründet. Insoweit hebt das VerwG den VA
in der Form des Widerspruchsbescheids auf. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.