Lösung zu Fall 6

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Lösung zu Fall 6
Lösung zu Fall 6
A)
Ansprüche des X gegen F und G
I.
§ 823 I gegen F
1.
2.
3.
Rechts(guts)verletzung (+), Verletzungen an der Hand = Körperverletzung
Handlung des F, hier allenfalls Unterlassung der ordnungsgemäßen Sicherung
Nur tatbestandsmäßig, wenn F eine Rechtspflicht zum Handeln trifft. Hier
denkbar: Verkehrs(sicherungs)pflicht
Merkpunkte zur Verkehrspflicht:
•
•
•
Terminologie: Der Begriff „Verkehrssicherungspflicht“ stammt aus der
Rechtsprechung des RG (RGZ 52, 373: Umstürzen eines morschen Baumes, RGZ
54, 53: Unfall auf eisglatter Treppe) und bezog sich auf die Verhinderung von
Gefahren im Zusammenhang mit Gefährdungen des Verkehrs im Zusammenhang
mit Grundstücken, Häusern und Straßen. Mittlerweile ist der Begriff veraltet, es hat
sich eingebürgert, von „Verkehrspflichten“ zu sprechen.
Bedeutung: Auf Verkehrspflichten kommt es im Rahmen des § 823 I immer dann
an, wenn die bloße kausale Herbeiführung des Erfolges nicht ausreicht, sondern
die Verletzung einer Verhaltenspflicht vorausgesetzt wird. Das ist nach h.M. bei der
Unterlassung und der mittelbaren Verletzung (Beispiel: Haftung des Autoherstellers
für einen Verkehrsunfall?) der Fall. Bei der unmittelbaren Verletzung braucht die
Pflichtverletzung regelmäßig nicht geprüft zu werden (auch wenn sich die Haftung
letztlich immer auf eine Pflichtverletzung zurückführen läßt). Eine solche Prüfung
kann aber ausnahmsweise sinnvoll sein, wenn das Verhalten des Schädigers nicht
zu beanstanden ist (s. Fall 1).
Einteilung: In Rechtsprechung und Schrifttum wird eine verwirrende Vielzahl von
Einteilungen vorgenommen. Die m.E. überzeugendsten Ansätze:
- Unterscheidung zwischen Sicherungspflichten (= Pflicht zur Kontrolle von
Gefahren, die dem eigenen Verantwortungsbereich entspringen, z.B.
Verantwortlichkeit für eigenes Grundstück und Gebäude, Eröffung einer
Gefahrenquelle, Inverkehrbringen von Gegenständen, Ingerenz) und
Fürsorgepflichten (= Pflicht zur Fürsorge für die Rechtsgüter anderer, z.B.
wegen enger persönlicher Beziehung, Übernahme, Gefahrengemeinschaft),
ähnlich die strafrechtliche Unterscheidung zwischen Schutz- und
Überwachungsgarant (so MüKo/Wagner, § 823, Rz. 228 f.)
- Unterscheidung zwischen Bereichshaftung durch Eröffnung oder Duldung eines
Verkehrs, Übernahme einer Aufgabe und vorangegangenem gefährlichem Tun
(Ingerenz) (so Larenz/Canaris, § 76 III 3 (S. 406 ff.)
-
Beide Ansätze ergänzen sich. Ansatz 1 betont Inhalt und Sinn der Pflicht,
Ansatz 2 den Entstehungsgrund. Man kann sie kombinieren.
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2
Prüfungsschema zur Verletzung einer Verkehrspflicht im Rahmen des § 823 I
(Ort: Tatbestand des § 823 I)
1.
2.
3.
a)
Rechtsverletzung
Handlung, hier Verletzung einer Verkehrspflicht
a)
Bestehen der Pflicht
b)
Anspruchsgegner als Adressat, ggf. Delegation der Pflicht
c)
Verletzung der Pflicht
Kausalität und Zurechnung
a)
Kausalität i.S.d. Äquivalenztheorie (Wäre die Schädigung bei
pflichtgemäßem Verhalten vermieden worden?)
b)
Adäquanz (wie immer wenig ergiebig)
c)
Schutzzweck der Norm, genauer: der Verkehrspflicht
aa)
in persönlicher Hinsicht (ist der Anspruchsteller in den
Schutzbereich einbezogen)
bb)
in sachlicher Hinsicht (erstreckt sich der Schutz gerade auf
diese Verletzung)?
Bestehen einer Verkehrspflicht (+), Pflicht zur Absicherung gefährlicher
Geräte gegen die Nutzung durch Unbefugte, Grund: Pflicht zur Überwachung
einer selbst geschaffenen Gefahrenquelle (zur Adressatenfrage sogleich).
Kriterien, die vor Annahme einer Verkehrspflicht abzuwägen sind:
• Höhe der Gefahr
• Sachnähe des Pflichtigen
• Kosten und Nutzen von Schutzmaßnahmen
• Möglichkeiten des Geschädigten zum Selbstschutz
b)
c)
Adressat:
aa)
regelmäßig nicht der einzelne Arbeitnehmer, sondern der Unternehmer
(lesenswertes Beispiel: OLG Düsseldorf NJW-RR 1993, 1309).
bb)
Hier aber die ausdrücklich von M übertragene Pflicht, den Strom
abzuschalten und das Kabel zu entfernen.
Verletzung dieser Pflicht ? Problem: Es ist ungeklärt, ob F oder G
verantwortlich ist. Denkbar: Beweiserleichterung des § 830 I 2
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•
Nach der Rechtsprechung ist § 830 I 2 eine eigenständige
Anspruchsgrundlage, s. Fall 5. Da die Vorschrift aber gerade keine
eigenen Anspruchsvoraussetzungen enthält, sondern sich auf sämtliche
Tatbestände der Delikts- und Gefährdungshaftung bezieht und
entsprechend sogar im Bereich der vertraglichen Haftung anwendbar ist,
spricht alles dafür, § 830 I 2 nur als eine Beweiserleichterung anzusehen
und im Rahmen der Kausalität zu prüfen (so überzeugend MüKo/Wagner,
§ 823, Rz. 29)
• Voraussetzungen des § 830 I 2:
a)
Anwendbarkeit: unmittelbar für §§ 823 ff., analog für
Gefährdungshaftung (soweit keine Sondervorschriften bestehen)
und für vertragliche Haftung
b)
Beteiligung an einer unerlaubten Handlung =
anspruchsbegründendes Verhalten jedes der Beteiligten abgesehen
vom Kausalitätsnachweis, Beteiligung nach Rspr. nur, wenn es sich
um einen örtlich und zeitlich einheitlichen Vorgang handelt.
c)
Verursachung durch Dritte ausgeschlossen
d)
Verursachung nicht feststellbar, insb. keine alleinige Verursachung
durch einen der Beteiligten
Testfrage: Bestünde der Anspruch, wenn man sich die Beteiligten als eine
Person denkt? Wenn ja, dann § 830 I 2 (+).
aa)
bb)
Anwendbarkeit des § 830 I auch im Rahmen der Haftungsbegründung
(+)
Schadensverursachung durch mehrere Beteiligte (-), es ist ungeklärt,
ob F überhaupt am fraglichen Nachmittag an der Säge gearbeitet hat.
Der bloße Umstand, daß F ebenso wie G üblicherweise das Gerät
bedient, macht ihn hier noch nicht zum Beteiligten, zumal das auf eine
allgemeine Pflicht des F zur Sicherung der Säge unabhängig von seiner
konkreten Tätigkeit hinauslaufen würde.
II.
§§ 823 II i.V.m. §§ 229, 13 StGB aus den gleichen Gründen (-)
III.
§ 823 I, II gegen G aus den gleichen Gründen (-)
B)
Ansprüche des X gegen M
I.
1.
a)
§ 823 I
Haftungsbegründung
Tatbestand
aa)
Rechts(guts)verletzung (+), Körperverletzung
bb)
Verletzungshandlung, hier denkbar: Verletzung einer Verkehrspflicht
(1)
Bestehen einer Verkehrspflicht (+), s.o.
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(2)
cc)
Adressat der Pflicht (+): Dem M ist als Bauleiter die Pflicht zur
Beaufsichtigung der Baustelle übertragen worden. Selbst wenn
er seinerseits F und G mit der Sicherung der Säge beauftragt
hätte, bliebe eine Kontroll- und Überwachungspflicht bestehen.
(3)
Verletzung der Verkehrspflicht = Unterlassen erforderlicher und
zumutbarer Sicherheitsvorkehrungen, hier in zweifacher
Hinsicht:
•
Die Baustelle hätte nach Feierabend abgesperrt werden müssen.
•
Der Strom hätte abgeschaltet werden müssen.
Für beides hätte M in zumutbarer Weise sorgen können.
Kausalität und Zurechnung
(1)
Kausalität (+), Wäre die Baustelle ordnungsgemäß gesichert
gewesen, so wäre es zu der Verletzung nicht gekommen.
(2)
Adäquanz (+), die Verletzung des X stellt geradezu eine typische
Folge der Pflichtverletzung dar.
(3)
Schutzzweck, Frage nach der Einbeziehung des X in den
Schutzbereich der Pflicht
•
Grundsatz: Die Verkehrspflicht besteht nur gegenüber
demjenigen, der mit der Gefahrenquelle befugt in Kontakt
kommt.
•
Ausnahme: Verkehrspflichten gegenüber Kindern, da
erfahrungsgemäß damit zu rechnen ist, dass sie gegen
Zutrittsverbote verstoßen. Das gilt vor allem, wenn mit der
Anwesenheit von Kindern zu rechnen ist, weil sich eine Schule in
der Nähe befindet.
b)
c)
Rechtswidrigkeit (+)
Verschulden (+), Fahrlässigkeit (§ 276 II)
2.
a)
Haftungsausfüllung
ersatzfähige Schadenspositionen: Heilungskosten (§ 249 II) und
Schmerzensgeld (§ 253 II)
Mitverschulden (§ 254 I), Problem: Zurechnungsfähigkeit, auch im Rahmen
des § 254 I richtet sich die Beurteilung der Verantwortlichkeit Minderjähriger
nach § 828. Daher individuelle Einsichtsfähigkeit erforderlich. Frage des
Einzelfalls, bei einem 8jährigen im Zweifel zu verneinen (vgl. auch für den
Straßenverkehr die neue Spezialbestimmung des § 828 II).
b)
II.
§ 823 II i.V.m. § 229, 13 StGB (+) (inhaltsgleicher Anspruch)
III.
§ 831 I
F und G = Verrichtungsgehilfen des M? (-)
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•
•
Verrichtungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen des Geschäftsherren in
dessen Interesse tätig ist und von dessen Weisungen abhängig ist.
Weisungsbefugt ist, wer die Tätigkeit beschränken und nach Zeit und Umfang
bestimmen kann. Das ist in diesem Fall nur der Unternehmer, nicht hingegen
der Bauleiter. Er kann zwar Anweisungen zum Verhalten auf der Baustelle
geben, nicht aber über Zeit und Umfang der Arbeitszeit ohne Absprache mit
dem Unternehmer bestimmen.
Aufbauschema zu § 831
Vorbemerkung: § 831 regelt die Voraussetzungen einer unerlaubten Handlung des
Geschäftsherrn und ist daher eigene Anspruchsgrundlage (anders als § 278, der
Zurechnungsnorm für fremdes Verschulden ist)
I.
Haftungsbegründung
1.
Tatbestand
a)
Verrichtungsgehilfe = Person, die mit Wissen und Wollen des
Geschäftsherren in dessen Interesse tätig ist und von dessen
Weisungen abhängig ist.
b)
unerlaubte Handlung (TB und RW, nicht Verschulden) des
Verrichtungsgehilfen
c)
in Ausübung der Verrichtung (nicht nur bei Gelegenheit)
2.
Rechtswidrigkeit (bezogen auf den Geschäftsherrn)
3.
Verschulden: wird vermutet, aber Exkulpationsmöglichkeit, § 831 I 2 =
Nachweis, daß Verrichtungsgehilfe ordnungsgemäß ausgewählt und
überwacht wurde.
II.
Haftungsausfüllung (§§ 249 ff.)
IV.
§ 831 II
1.
a)
Haftungsbegründung
Verrichtungsgehilfe: F und G sind zwar Verrichtungsgehilfen des U, die
Verantwortlichkeit trifft nach § 831 II aber auch denjenigen, der die Besorgung
der Geschäfte durch Vertrag übernimmt, das gilt insbesondere für
Zwischenpersonen in Großbetrieben, etwa den Werksführer oder
Betriebsleiter (Palandt/Thomas, Rz. 21 zu § 831). Anwendbarkeit auf M (+), da
ihm die Organisationszuständigkeit für die Baustelle übertragen wurde.
tatbestandsmäßige und rechtswidrige (nicht notwendigerweise schuldhafte)
Handlung des Verrichtungsgehilfen
aa)
Verletzung der Pflicht zum Abschalten des Stroms und zur Sicherung
des Kabels wurde von F oder G verletzt, Pflichtverletzung führte zu
Verletzung des X
b)
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bb)
c)
d)
Unklarheit, ob F oder G verantwortlich, ist unschädlich, sofern klar ist,
daß jedenfalls einer von mehreren Verrichtungsgehilfen verantwortlich
ist.
Handeln in Ausübung der Verrichtung = innerer und äußerer
Zusammenhang mit der übertragenen Aufgabe (+)
Exkulpation des M? M müßte nachweisen, dass F und G richtig ausgewählt
und überwacht wurden. Zur Auswahl der Arbeiter enthält der Sachverhalt
keine Informationen, hierfür ist wohl auch der U allein verantwortlich. Dem M
war aber die Überwachungspflicht übertragen, und diese Pflicht hat er
verletzt, s.o.
2.
Haftungsausfüllung: Wie oben, I.
C)
Ansprüche des X gegen U
I.
§ 823 I
1.
a)
b)
c)
Haftungsbegründung
Tatbestand, wie oben B I, einzige Frage: traf die Verkehrspflicht auch den U,
oder hat sich U dieser Pflicht durch Delegation an M entledigt?
aa)
Grundsätzlich ist auch der Bauunternehmer Adressat der Pflicht zur
Sicherung der Baustelle.
bb)
Hier Delegation auf M. Für den Delegierenden bleibt aber eine
Kontroll- und Überwachungspflicht, die nach § 823 I zu beurteilen
ist.
(1)
Hinsichtlich der unterlassenen Sicherung der Säge keine
Pflichtverletzung ersichtlich.
(2)
Die fehlende Absperrung der Baustelle aber erstreckte sich wohl
über einen längeren Zeitraum. Hier hätte U dafür sorgen können
und müssen, daß die Zufahrt abends verschlossen wurde.
Rechtswidrigkeit (+)
Verschulden (+), Fahrlässigkeit, § 276 II
2.
Haftungsausfüllung, s.o., B
II.
§§ 823 II, 229 StGB ebenfalls (+)
III.
§ 831 I
1.
Hinsichtlich der Pflichtverletzung des M
a)
M ist mit Wissen und Wollen des U tätig und dessen Weisungen unterworfen,
mithin Verrichtungsgehilfe.
M hat in Ausübung der Verrichtung eine unerlaubte Handlung begangen.
b)
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c)
Exkulpationsmöglichkeit (§ 831 I 2) (-), zwar wurde M sorgfältig ausgewählt,
doch hätte U ihn anweisen müssen, das Baugrundstück besser gegen das
Betreten durch Unbefugte zu sichern.
2.
a)
b)
Hinsichtlich der Pflichtverletzung durch F oder G
F und G sind Verrichtungsgehilfen des U, s.o.
Einer von beiden hat eine unerlaubte Handlung in Ausführung der Verrichtung
begangen, die Unklarheit darüber, wer von beiden verantwortlich ist, entlastet
U nicht.
Exkulpationsmöglichkeit (§ 831 I 2)
aa)
Auswahl von F und G: Beide sind "seit Jahren bewährt".
bb)
Überwachung? U hat F und G nicht persönlich überwacht, kann sich
aber möglicherweise auf den dezentralisierten Entlastungsbeweis
berufen (str., krit. etwa Larenz/Canaris, SchR II/2, § 79 III 3b): Wenn U
die Aufsicht übertragen und die Baustelle insgesamt ausreichend
organisiert hat, so ist er nicht zur höchstpersönlichen Aufsicht
verpflichtet. Hinsichtlich der Aufsicht über F und G hat U hier alles
Erforderliche getan, die fehlende Sicherung des Grundstücks steht mit
der unterlassenen Sicherung der Säge in keinerlei Zusammenhang.
c)
3.
Haftungsausfüllung, s.o.
D)
Ansprüche des X gegen H
I.
§ 823 I (-), den Bauherren trifft bei Beauftragung eines Bauunternehmers
keine Pflicht zur Sicherung der Baustelle.
II.
§ 831 I (-), mangels Weisungsgebundenheit sind weder M noch F und G
Verrichtungsgehilfen des H.
E)
Ergebnis: X stehen Ansprüche auf Ersatz der Heilungskosten und auf
Schmerzensgeld gegen M und U zu, beide Ersatzpflichtigen haften gem. §
840 I als Gesamtschuldner.
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Zur Vertiefung:
•
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•
•
•
Neue BGH-Urteile zu Verkehrspflichten (bitte lesen, um ein Gefühl für die
praktische Handhabung dieser Pflichten zu bekommen):
- BGH NJW 2007, 762, dazu Faust, JuS 2007, 389 (Explosion einer
Limonadenflasche)
- BGH NJW 2006, 3268 (Reiseveranstalter)
- BGH NJW 2006, 610 (Abfeuern eines Schreckschusses im Theater)
- BGH NJW-RR 2005, 251 (Wasserrutsche)
Larenz/Canaris SchR II/2, § 76 III
Kötz/Wagner, Rz. 232 ff.
Deckert, Jura 1996, 348 ff.
Nur zum Nachlesen für Details: sehr gute Kommentierung bei MüKo/Wagner,
§ 823, Rz. 220 ff.
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