Literatur im Film: Der Roman Professor Unrat (1905) von Heinrich

Transcription

Literatur im Film: Der Roman Professor Unrat (1905) von Heinrich
Univerzita Karlova v Praze
Pedagogická fakulta
Katedra germanistiky
Literatur im Film: Der Roman Professor Unrat (1905)
von Heinrich Mann und der Film Der blaue Engel (1930)
von Josef von Sternberg
Autor: Jitka Kutková
Vedoucí práce: Thomas Maria Haupenthal, M.A.
Praha 2013
„Prohlašuji,
že jsem předloženou bakalářskou práci vypracovala samostatně a veškerou literaturu a
další podkladové materiály, které jsem použila, uvádím v Seznamu použité literatury.“
21. června 2013
________________________________
Vlastnoruční podpis
Ráda bych vyjádřila poděkování Thomasi M. Haupenthalovi, M.A. za cenné
rady, připomínky a trpělivost při vedení mé práce.
ANOTACE
Bakalářská práce seznamuje s osobností Heinricha Manna a s dobou, ve které
spisovatel žil. Jako svůj hlavní cíl porovnává původní satirický román Profesor Neřád
s jeho filmovou podobou nazvanou Modrý anděl. Výsledkem je zjištění, že filmové
zpracování do jisté míry změnilo původní autorův záměr. Jednotlivé kapitoly se také
zaměřují na režiséra filmové adaptace Josefa Sternberga a herce v hlavních rolích. Dále
se zabývá soudobou filmovou kritikou a významem hudby v jednom z prvních
zvukových filmů.
Klíčová slova: román, Heinrich Mann, Wilhelminismus, satira, zvukový film,
Marlene Dietrich, Josef von Sternberg, Emil Jannings
ANNOTATION
This bachelor thesis discusses the personality of Heinrich Mann and the period
in which the writer lived. The main goal is to compare the original satirical novel
Professor Unrat with its film adaptation, Blue Angel. The conclusion is that the film
changed the original intention of the author to a certain extent. Individual chapters also
focus on the director of the film of the book, Josef von Sternberg, and the leading
actors. It also deals with the contemporary 1930s film critic and the importance of the
music in one of the first films with sound.
Key words: novel, Heinrich Mann,Wilhelminism, satire, sound film, Marlene
Dietrich, Josef von Sternberg, Emil Jannings
Inhalt
1
EINLEITUNG ..........................................................................................................6
2
HEINRICH MANN ..................................................................................................9
2.1
Heinrich Manns Leben......................................................................................9
2.2
Zwei ungleiche Brüder....................................................................................10
2.3
Heinrich Manns literarisches Werk ................................................................11
3
WILHELMINISCHES ZEITALTER (1890 – 1918) .............................................13
4
ROMAN PROFESSOR UNRAT ...........................................................................16
4.1
Entstehung des Romans ..................................................................................16
4.2
Herausgabe des Romans .................................................................................16
4.3
Handlung des Romans ....................................................................................17
4.4
Roman als Kritik an der Gesellschaft .............................................................24
5
ANFÄNGE DES TONFILMS ................................................................................25
6
DER BLAUE ENGEL ............................................................................................26
6.1
Filmhandlung ..................................................................................................26
6.2
Vergleich von Buch und Film .........................................................................29
6.3
Die Figur des Professors Raat im Vergleich von Buch und Film ...................30
6.4
Fakten zum Film .............................................................................................33
6.5
Josef von Sternberg .........................................................................................35
6.6
Emil Jannings ..................................................................................................36
6.7
Marlene Dietrich .............................................................................................38
6.8
Kritiker über Marlene Dietrichs Auftritt im Blauen Engel .............................41
6.9
Hans Albers.....................................................................................................42
6.10
Musik im Blauen Engel ..................................................................................42
6.11
Der blaue Engel in der zeitgenössischen Kritik ..............................................44
7
ZUSAMMENFASSUNG .......................................................................................46
8
RESUMÉ ................................................................................................................48
9
LITERATURVERZEICHNIS ................................................................................49
1 EINLEITUNG
In meiner Bachelorarbeit werde ich mich mit dem Roman von Heinrich Mann
Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen und dessen Verfilmung mit dem Titel
Der blaue Engel befassen. Die Literaturvorlage stammt aus dem Jahre 1905 und wurde
dann später im Jahre 1930 unter der Regie von Josef von Sternberg zu einem der ersten
Tonfilme bearbeitet.
Bereits die unterschiedlichen Titel des Buches und des Films weisen auf die
ungleichen Handlungsinhalte hin. Ich habe mir vorgenommen, eine Interpretation des
Romans und des Films zu formulieren. Aufmerksamkeit wird dabei vor allem den
vielen Unterschieden gewidmet, die zwischen Buch und Film bestehen. Aufgrund dieser
Analyse versuche ich auch die Frage zu beantworten, ob das Anliegen des satirischen
Romans von Heinrich Mann im Film erhalten bleibt oder nicht.
Die Arbeit wird in mehrere Kapitel gegliedert. Zuerst werde ich mich mit
Heinrich Manns Leben befassen (2.1). Ich möchte auch die komplizierte Beziehung der
Brüder Heinrich und Thomas Mann beschreiben (2.2). Im folgenden Subkapitel (2.3)
werde ich mich mit der schriftstellerischen Entwicklung des Autors beschäftigen und
zugleich mit den Themen seiner bedeutendsten Werke. Da es sich um einen satirischen
Roman handelt, sehe ich als wichtigen Bestandteil der Bachelorarbeit die Beschreibung
der Zeit und der Zustände, in denen der Schriftsteller lebte, schuf und die er kritisierte
(3). Auf den Beweggrund, warum der Autor diesen Roman schrieb, werde ich mich
hauptsächlich im Subkapitel (4.4) konzentrieren. Der Inhalt des Romans (4.3) wird
ähnlich wie auch die Filmhandlung (6.1) beschrieben. Ich versuche darüber hinaus, die
Unterschiede zwischen der Handlung der Filmfassung und der ursprünglichen Vorlage
von Heinrich Mann aufzuzeigen (6.2). Der Charakter Professor Raats und seine
Darstellung in Buch und Film wird in dem folgenden Subkapitel (6.3) verglichen. In
den weiteren Kapiteln werde ich interessante Informationen über den Regisseur Josef
von Sternberg (6.5) und die Hauptdarsteller des Films Emil Jannings (6.6), Marlene
Dietrich (6.7 und 6.8) und Hans Albers (6.9) zusammentragen. Der Musik im Film
werde ich mich ebenfalls widmen, denn die Lieder, die im Film gesungen werden, sind
6
für die Filmfassung von großer Bedeutung (6.10). Das letzte Subkapitel wird der
Aufnahme des Films, seiner Rezeption und der zeitgenössischen Kritik gewidmet
(6.11). Im Anhang möchte ich noch meine Arbeit mit den Fotografien der Darsteller
und der Schöpfer des Films ergänzen.
Die
Basis
der
Arbeit
werden
hauptsächlich
Informationen
aus
der
Sekundärliteratur bilden, die besonders zur Darlegung der historischen und
biographischen Angaben und Fakten dienen. Die Hauptquellen, von denen ich ausgehe,
sind Publikationen, die sich mit der Biographie und mit den Werken Heinrich Manns
beschäftigen, besonders Manfred Mais Geschichte der deutschen Literatur und
Deutsche Literaturgeschichte von Ingo Leiße und Hermann Stadler. Die Beschreibung
des Wilhelminischen Zeitalters kann unter anderem in Helmut Müllers Deutsche
Geschichte in Schlaglichtern gefunden werden. Viele nützliche Informationen über
Marlene Dietrichs Leben habe ich aus dem Buch Marlene Dietrich. Eine Chronik ihres
Lebens in Bildern und Dokumenten von Renate Seydel und Bernd Meier, das auch
zahlreiche Aussagen der Schauspielerin enthält. Aus diesem Buch stammen auch die
Bilder von den Dreharbeiten, der Uraufführung des Films und Marlene Dietrichs erstem
Jahr in Hollywood. Diese Bilder führe ich im Anhang an. Zu den ausführlichen
Angaben über die wichtigsten Persönlichkeiten, die am Film beteiligt waren, werden
mir viele andere Werke und auch Internetquellen dienen, die sich mit den Anfängen des
Tonfilms, der Filmmusik und den Biographien der Schauspieler und des Regisseurs
beschäftigen. Beim Vergleich der unterschiedlichen Darstellung der Hauptfigur
Professor Raats im Roman und im Film benutze ich vor allem Thomas Koebners Idole
des deutschen Films und Filmklassiker. 1913 – 1946 zur Unterstützung meiner eigenen
Ideen.
Meine Themenauswahl hängt vor allem damit zusammen, dass ich mich sehr für
die Geschichte der Kinematographie interessiere. Die Einführung des Tonfilms war ein
Meilenstein in der Entwicklung des Films. Im Blauen Engel kam es zu einem der ersten
Einsätze des Tons im deutschen Film. Dank der Verfilmung wurde auch das Werk
Heinrich Manns weltberühmt. Die Tatsache, dass es viele interessante Quellen über das
Thema gibt, spielte auch eine wichtige Rolle. Außerdem ist ein Vergleich des Romans
7
mit dem Film eine neue Erfahrung für mich. Ich bin der Meinung, dass eine
Romanverfilmung nicht immer die ursprüngliche Absicht des Schriftstellers
unverändert beibehalten und wiedergeben kann.
8
2
HEINRICH MANN
2.1 Heinrich Manns Leben
Heinrich Mann wurde 1871 als erstes Kind des Lübecker Kaufmanns Thomas
Johann Heinrich Mann, des Senators für Wirtschaft und Finanzen und dessen Ehefrau
Julia geboren. Sein jüngerer Bruder Thomas kam vier Jahre später zur Welt. Die Brüder
wuchsen in großbürgerlichen und wohlhabenden Verhältnissen auf und beide begannen
schon in jungen Jahren zu schreiben.1 Nachdem Heinrich Mann das Lübecker
Gymnasium nach Erwerb des Reifezeugnisses verlassen hatte, begann er eine
Buchhändlerlehre in Dresden. Diese Lehre brach er aber nach einem Jahr ab und begann
ein Volontariat bei einem Verlag in Berlin, das er jedoch im Februar 1892 ebenfalls
abbrach. Nach dem Tod des Vaters 1891, der folgenden Auflösung der Firma und dem
Umzug der Familie nach München hatte Heinrich Mann bei finanzieller Unabhängigkeit
die Möglichkeit zu reisen, wohin er wollte. Neben dem Reisen konnte er sich auch mit
dem Schreiben befassen. Da er keinen festen Wohnsitz hatte, hielt sich der Schriftsteller
bis zum Ersten Weltkrieg bei seinem jüngeren Bruder Thomas in Rom auf. Begeistert
von der Antike und der Renaissance, fand er in Italien seine Wahlheimat und führte dort
ein ungebundenes Bohème-Leben.2 1910 beging Heinrich Manns jüngste Schwester
Carla Selbstmord, was ein großer Verlust für ihn war. Bei den Probearbeiten der
Uraufführungen seiner Schauspiele Varieté (1910), Schauspielerin (1912) und Die
große Liebe (1912) lernte er seine spätere Frau, die Prager Schauspielerin Maria
Kanová, kennen. Die Tochter Leonie, das einzige Kind Heinrich Manns, kam im Jahre
1916 zur Welt. 1914 kam es zum ersten ernsthaften Konflikt zwischen Heinrich und
Thomas Mann, und zwar nach dem Erscheinen der von Thomas Mann verfassten
Gedanken im Kriege3. In demselben Jahr erschien in der Zeitschrift Zeit im Bild
Heinrich Manns Fortsetzungsroman Der Untertan. Dieser Vorabdruck wurde in
Deutschland nach Beginn des Ersten Weltkrieges abgebrochen. Im Jahre 1922 erkrankte
Heinrich Mann schwer und musste sich einer Operation unterziehen. In demselben Jahr
kam es zur Aussöhnung mit seinem Bruder. 1923 verstarb seine Mutter Julia und im
1
MAI, M. Geschichte der deutschen Literatur. 2001, S. 101.
LEIß, I., STADLER H. Deutsche Literaturgeschichte. 1997, S. 75.
3
Thomas Mann unterstützte und verteidigte, im Unterschied zu Heinrich Mann, den Ersten Weltkrieg.
2
9
Jahre 1927 starb auch seine Schwester Julia durch Suizid. Heinrich Mann lernte 1929,
ein Jahr vor der Trennung von Maria Kanová, seine spätere Frau Nelly Kröger kennen.
1933 unterzeichnete er Aufrufe zur Aktionseinheit der Kommunistischen Partei
Deutschlands und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gegen den
Faschismus. 1933 wurde die Akademie der Künste durch die Nationalsozialisten
geschlossen4 und dem Schriftsteller wurde die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen.
Deshalb verließ er seine Heimat und zog nach Nizza, wo er bis 1940 lebte. Im Jahre
1936 nahm Heinrich die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft an. 1940 floh er mit
Hilfe von Lion Feuchtwanger in die USA, wo er sich wieder mit Thomas Mann treffen
konnte. 1944 nahm sich seine zweite Frau Nelly Kröger in Los Angeles wegen
Alkoholproblemen das Leben. Heinrich Mann wurde 1949 zum Präsidenten der
Deutschen Akademie der Künste gewählt. 1950 verstarb er im Alter von 79 Jahren in
Santa Monica.5
Heinrich Manns Leben war alles andere als einfach. Er musste sich mit vielen
Schicksalsschlägen abfinden. Der Verlust seiner nahen Verwandten, die komplizierte
Beziehung zu seinem Bruder Thomas und auch die Tatsache, dass er wegen den
politischen Verhältnissen gezwungen war, seine Heimat zu verlassen - dass alles musste
für ihn ohne Zweifel sehr hart sein.
2.2 Zwei ungleiche Brüder
Heinrich und Thomas Mann entwickelten sich politisch und literarisch völlig
unterschiedlich. „Thomas Mann sah sich als Schriftsteller in der Tradition Goethes.“6
Ihm ging es darum, Texte zu komponieren, in denen, wie bei großen Musikstücken,
jeder Ton sitzt. Wie Hanno7 litt auch Thomas Mann schon als Junge unter der Spannung
zwischen Bürgerlichkeit und Künstlertum.8
4
Heinrich Mann war unter 40 Künstler, die zum Austritt gezwungen wurden.
OTTE, B. Text + Kritik. Vita Heinrich Mann. 1986, S. 158 - 163.
6
MAI, M. Geschichte der deutschen Literatur. 2001, S. 101.
7
Hanno ist der letzte männliche Buddenbrook in Thomas Manns erstem Roman Buddenbrooks, für den
der Schriftsteller 1929 den Nobelpreis für Literatur erhielt.
8
MAI, M. Geschichte der deutschen Literatur. 2001, S. 101.
5
10
Diese Art Literatur war ebenso wenig die Sache Heinrich Manns wie die
politische Neutralität seines Bruders. „Literatur und Politik, die beide den Menschen
zum Gegenstand haben, sind nicht zu trennen“, schrieb Heinrich Mann. Er forderte von
den Schriftstellern, „dass sie Agitatoren werden, sich dem Volk verbünden, gegen die
Macht“. Dichter wie Goethe „haben in Deutschland nichts verändert, keine
Unmenschlichkeit ausgemerzt, …“ Obwohl Heinrich Mann wegen dieser Ansicht scharf
angegriffen und von seinem Bruder als „Zivilisationsliterat“9 verunglimpft wurde, ließ
er sich von seinem Weg nicht abbringen. Er kritisierte wie kein anderer den
wilhelminischen Obrigkeits- und Untertanenstaat.10
2.3 Heinrich Manns literarisches Werk
Die Abkehr vom Naturalismus, dessen Gesellschaftskritik sich Heinrich Mann
ursprünglich verpflichtet gefühlt hatte, führte ihn zunächst zu einem elitären
Ästhetizismus und zu neuromantisch-symbolistischen Kunstprinzipien.11 „Dass ein
bloßes Ästhetentum letztlich menschenfeindlich ist, dass es abgelöst bzw. ergänzt
werden muss durch eine Verpflichtung des Künstlers zu sozialer und politischer
Verantwortung, war Ziel und Ergebnis Heinrich Manns Selbsterziehung. Mehrere große
Essays dienten ihm dabei als theoretische Begründung für die neuen Themen und den
Stilwandel seiner Werke.“12
„Es ist notwendig, soziale Zeitromane zu schreiben. Diese deutsche Gesellschaft
kennt sich selbst nicht. Sie zerfällt in Schichten, die einander unbekannt sind, und die
führende Klasse verschwimmt hinter Wolken.“13
Heinrich Mann war ein satirischer Gesellschaftskritiker des Kaiserreichs bzw.
des Wilhelminischen Zeitalters. Das Schlaraffenland bezeichnet einen fiktiven Ort, in
dem den Menschen ohne jede geistige oder körperliche Anstrengung alle materiellen
9
„Zivilisationsliterat“ war nach Thomas Mann ein engagierter Schriftsteller, Satiriker, der den deutschen
Obrigkeitsstaat und den spießigen Deutschen kritisierte.
10
MAI, M. Geschichte der deutschen Literatur. 2001, S. 101 - 102.
11
LEIß, I., STADLER, H. Deutsche Literaturgeschichte. 1997, S. 74.
12
LEIß, I., STADLER, H. Deutsche Literaturgeschichte. 1997, S. 75.
13
LEIß, I., STADLER, H. Deutsche Literaturgeschichte. 1997, S. 75.
11
Güter und Genüsse zuteil werden.14 „Heinrich Mann verlegt dieses Utopia ins Berlin der
Jahre 1893/94, also der Nachgründerzeit und des frühen Wilhelminismus.“15
Als der Roman Der Untertan im Jahre 1918 erschien, am Ende des für
Deutschland verlorenen Ersten Weltkriegs, schien er wie für diesen historischen
Augenblick geschrieben. Der Roman wurde ein Sensationserfolg. Der Untertan war
aber gar nicht ganz neu, er wurde nur erst nach der Aufhebung der Zensur endlich
veröffentlich. Der Roman trug den Untertitel Geschichte der öffentlichen Seele unter
Wilhelm II.16 Mit diesem Werk verwirklichte Heinrich Mann die Forderung nach einer
Politisierung der Literatur.17
Heinrich Mann war ein Schriftsteller, der soziale und politische Themen nicht
auslassen wollte. Die Kritik am wilhelminischen Gesellschaftssystem bildete die Basis
seiner satirischen Romane.
14
LEIß, I., STADLER, H. Deutsche Literaturgeschichte. 1997, S. 75.
LEIß, I., STADLER, H. Deutsche Literaturgeschichte. 1997, S. 75.
16
LEIß, I., STADLER, H. Deutsche Literaturgeschichte. 1997, S. 79.
17
LEIß, I., STADLER, H. Deutsche Literaturgeschichte. 1997, S. 89.
15
12
3 WILHELMINISCHES ZEITALTER (1890 – 1918)
Der Zeitabschnitt von 1890 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wird aus
deutscher Sicht als Wilhelminisches Zeitalter bezeichnet. Im Jahre 1890 wurde nämlich
Otto von Bismarck vom letzten deutschen Kaiser Wilhelm II. entlassen. Diese Epoche
wird auch das Zeitalter des Imperialismus genannt. Der Imperialismusbegriff hängt mit
der Rivalität der europäischen und der außereuropäischen Großmächte zusammen, die
sich durch den Erwerb der Kolonien eine Weltmachtposition aufbauen wollten.18
Im Januar 1871 wurde das Deutsche Reich nach dem gewonnenen DeutschFranzösischen Krieg in Versailles proklamiert. Die süddeutschen Staaten schlossen sich
mit dem Norddeutschen Bund zusammen und der preußische König Wilhelm I. ließ sich
in Paris zum deutschen Kaiser ausrufen. Otto von Bismarck wurde im selben Jahr zum
Reichskanzler ernannt.19 In Mitteleuropa entstand eine neue politische Großmacht mit
fast 43 Millionen Einwohnern. Nachdem Kaiser Wilhelm I. am 9. März 1888 verstorben
war, kam sein Sohn Friedrich III. auf den Thron. Da er jedoch todkrank war, dauerte
seine Regierungszeit nur 99 Tage.20
„Geboren im Jahre 1859 als ältester Sohn des preußischen Kronprinzen
Friedrich Wilhelm, des späteren Kaisers Friedrich III., kam der Prinz als Kaiser
Wilhelm II. mit 29 Jahren 1888 nach dem Tode seines Großvaters Wilhelm I. und
seines Vaters auf den Thron.“21 Zwischen dem neuen Monarchen und dem Kanzler kam
es bald zu Konflikten. Wilhelm II. war jung, aber selbstbewusst und entschlossen, selbst
zu regieren, was bald mit Bismarcks Entlassung endete. Der neue Kaiser war oft
sprunghaft in seinen Entscheidungen, beeinflusst von seinen Beratern, was der
deutschen Politik bald den Ruf des Unsteten und Unberechenbaren einbrachte.22
Während sich Wilhelm II. gerne als „Friedenskaiser“ sah, der hervorragend im
Reich regierte, verfolgte das Ausland das Aufkommen des Nationalismus in
18
MÜLLER, H. Deutsche Geschichte in Schlaglichtern. 2002, S. 200.
HOMOLKOVÁ, B. Reálie německy mluvících zemí. 1997, S. 12.
20
RIES, H. Deutsche Geschichte. 2005, S. 127, 132.
21
MÜLLER, H. Deutsche Geschichte in Schlaglichtern. 2002, S. 202.
22
MÜLLER, H. Deutsche Geschichte in Schlaglichtern. 2002, S. 202 - 203.
19
13
Deutschland mit Besorgnis, die durch die Reden des Kaisers noch verstärkt wurde.23
„Unter dem letzten Kaiser Wilhelm II. suchte Deutschland den Vorsprung der anderen
Großmächte aufzuholen, was wirklich gelang, aber außenpolitisch geriet es in eine
immer größere Isolierung.“24
Das wichtigste Ziel des „Neuen Kurses“25 Wilhelms II. im Inneren des Reiches
waren die Sozialreformen, die eine Annäherung der Arbeiterbewegung an den Staat
bringen sollten.26 Am Anfang sah es so aus, dass sich der Kaiser mit dem brennendsten
Problem der Zeit, der sozialen Frage, wirklich beschäftigen würde und in die
Innenpolitik mit dem propagierten „Neuen Kurs“ tatsächlich eine Veränderung bringen
könnte. Als jedoch klar wurde, dass es nicht so einfach sein würde, die Arbeiterschaft
auf die Seite des Monarchen zu ziehen, ließ Wilhelm II. seine Reformpläne fallen und
kehrte zu der verhärteten Politik von Otto von Bismarck zurück. Der Kaiser interessierte
sich in Wirklichkeit gar nicht für die drängenden sozialen Probleme der Arbeiterschaft.
Genauso wenig nahm er auch den gesellschaftlichen Wandlungsprozess zur Kenntnis,
nämlich den Übergang vom Agrar- zum Industriestaat.27
Das Deutsche Reich erlebte in der Wilhelminischen Zeit einen großen Aufstieg.
Die Weltmachtstellung des Reiches war die Ursache des neuen deutschen Wertgefühls,
das auch für die Kleinbürger in den entferntesten Provinzstädten typisch war. Der
Lebensstil des Kaisers, der hauptsächlich in seinem Auftreten und seinen Äußerungen
deutlich wurde, wurde auch der Lebensstil der Gesellschaft, vor allem der höheren
Beamtenschaft, des durch Wirtschaftswachstum zu Wohlstand gelangten Bürgertums
sowie der Bankiers, Großagrarier und auch zum Beispiel der Schulprofessoren.
Kaisermanöver, Flottenparaden und Galauniformen bei jedem gesellschaftlichen
Ereignis, dafür hatte Wilhelm II. eine Vorliebe. Das vom Kaiser so bevorzugte Militär
beherrschte das Leben im damaligen Deutschland. Die Paraden und Manöver führten in
der deutschen Gesellschaft zu einer Überschätzung des Soldatentums. Dazu trugen auch
das Auftreten und die Reden Wilhelms II. bei, die oft im kriegerischen Ton gehalten
23
RIES, H. Deutsche Geschichte. 2005, S. 132, 134.
HOMOLKOVÁ, B. Reálie německy mluvících zemí. 1997, S. 13.
25
„Neuer Kurs“ bezeichnete die innenpolitische Neuorientierung nach der Entlassung von Otto von
Bismarck.
26
RIES, H. Deutsche Geschichte. 2005, S. 133.
27
MÜLLER, H. Deutsche Geschichte in Schlaglichtern. 2002, S. 201.
24
14
waren. Der Glaube an den Kaiser und an eine Autorität in Uniform war im PreußenDeutschland des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts so stark wie nie
zuvor. Diese Haltung in der Gesellschaft führte oft zu grotesken und peinlichen
Situationen. 28
Die Vorliebe Wilhelms II. für den Militarismus, die Ordnung und die Hierarchie
beeinflusste das zivile Leben der damaligen deutschen Gesellschaft. Auf die
Gehorsamkeit wurde im Schulsystem des Wilhelminismus sehr viel Wert gelegt.
Besonders für das wirtschaftlich erfolgreiche Bürgertum war der Lebensstil des Adels
und der Offiziere ein Vorbild.
28
MÜLLER, H. Deutsche Geschichte in Schlaglichtern. 2002, S. 200.
15
4 ROMAN PROFESSOR UNRAT
4.1 Entstehung des Romans
Heinrich Mann schrieb seinen Roman Professor Unrat oder Das Ende eines
Tyrannen im Jahre 1904.29
Er äußerte sich zur Idee und zum Anlass des Romans:
„Durchweg sind meine Romane soziologisch. Den menschlichen Verhältnissen,
die sie darstellen, liegen überall zu Grunde die Machtverhältnisse der Gesellschaft. Die
am häufigsten von mir durchgeführte Idee ist eben die der Macht. (…) So saß ich
ahnungslos im Teatro Alfieri zu Florenz, die Pause kam, ich kaufte eine Zeitung und las,
aus Berlin berichtet, von einem Professor X, der im trauten Verein mit einer
Chanteuse30
auf
die
traurigsten
Abwege
gerathen
war.
Ein
Moment
der
selbstvergessenen Empfängniß, und Professor Unrat lebte…“31
Aus der Niederschriftsphase des Buches ist kaum etwas bekannt. Es blieben
keine Manuskripte oder Notizen zu diesem Roman erhalten.32 Der Autor berichtete nur
dem Lübecker Schulfreund Ludwig Ewers am 23. Dezember 1904:
„Jetzt soll eine höchst ausfallende Geschichte in Druck gehen; weniger erotisch
als geistig ausfallend. Ich hoffe sie Dir im März schicken zu können. Sie spielt übrigens
in Lübeck…“33
4.2 Herausgabe des Romans
Die Erstausgabe erschien 1905 im Albert-Langen-Verlag in München in einer
Auflage von zweitausend Exemplaren und wurde dort bereits 1906 in weiteren
zweitausend Exemplaren als zweite Auflage nachgedruckt.34
29
SCHNEIDER, P.-P. Editorische Notiz. Im Buch: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen
(MANN, H.). 1994, S. 241 (weiter zitiert als Editorische Notiz).
30
Barsängerin.
31
Editorische Notiz, S. 241.
32
Editorische Notiz, S. 241.
33
Editorische Notiz, S. 241, 242.
34
Editorische Notiz, S. 242.
16
Ab 1916 mit Übernahme der Werke Heinrich Manns durch den Kurt-WolffVerlag stiegen die Auflagenziffern bis auf zweiunddreißigtausend im Jahre 1917 stetig
an. Im Jahre 1930 erreichte Professor Unrat siebenundvierzigtausend Ausgaben.
Weltberühmt jedoch wurden Roman und Autor durch die Verfilmung des Buches.35
4.3 Handlung des Romans
Der Gymnasialprofessor Raat ist Witwer. Er hat sich von seinem Sohn
abgewendet, weil er mehrmals bei den Prüfungen durchgefallen war und sich mit
zweifelhaften Frauen in der Kleinstadt gezeigt hatte.
Raat wird von seinen Schülern als „Unrat“ verspottet, was für ihn ein Angriff
auf seine Person ist. Obwohl er sich darüber sehr ärgert, kann er den Studenten meistens
nichts beweisen.
„Es war ein guter Tag, an dem er einen „gefaßt“ hatte, besonders wenn es einer
war, der ihm „seinen Namen“ gegeben hatte. Dadurch war das ganze Jahr gut. Leider
hatte er schon seit zwei Jahren keinen der heimtückischen Schreier mehr „fassen“
können. Das waren schlechte Jahre gewesen. Ein Jahr war gut oder schlecht, je
nachdem Unrat einige „faßte“ oder ihnen „nichts beweisen“ konnte.“36
Nicht nur seine Schüler, die immer wieder Aufsätze über Die Jungfrau von
Orleans schreiben müssen, sondern die ganze Kleinstadt nennt ihn nicht anders als
„Unrat“ – also „Schmutz“ – und macht sich über ihn lustig. Er trägt diesen Namen
schon seit vielen Jahren.
„Unrat aber trug den seinigen seit vielen Generationen, der ganzen Stadt war er
geläufig, seine Kollegen benutzten ihn außerhalb des Gymnasium und auch drinnen,
sobald er den Rücken drehte.“37
In einer Szene mit einem Kassierer stellt er sich fast selbst als Unrat vor:
„"Ich bin nämlich der Professor Un – der Professor Raat, Ordinarius der
Untersekunda am hiesigen Gymnasium. "“ 38
35
Editorische Notiz, S. 242.
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994, S. 16.
37
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994, S. 16.
38
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994, S. 28.
36
17
Unrat ist ein Schultyrann. Er genießt und nutzt seine Macht in der Klasse aus. Im
Unterricht stellt er den Studenten absichtlich Fragen, die sie nicht antworten können.
„"Sie haben noch fünfviertel Stunden", bemerkte Unrat gleichmütig, während er
innerlich jubelte. Dieses Aufsatzthema hatte noch keiner gefunden von den
unbegreiflich gewissenlosen Schulmännern, die durch gedruckte Leitfäden es der Bande
ermöglichten, mühelos und auf Eselsbrücken die Analyse jeder beliebigen Dramenszene
herzustellen.“39
Jedes Lachen oder Unachtsamkeit in der Klasse versteht Unrat als „Widerstand
gegen die Staatsgewalt“.40
„Was in der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens.
Trägheit kam der Verderblichkeit eines unnützen Bürgers gleich…“41
Unrat ist ein strenger Hüter der Moral, der seine Studenten im kleinbürgerlichen
Untertanengeist erzieht.42 Er verfolgt seine jetzigen und ehemaligen Schüler auch
außerhalb der Schule.
„Die Schule endete für ihn nicht mit der Hofmauer; sie erstreckte sich über die
Häuser ringsumher und auf alle Altersklassen der Einwohner.“43
Vor allem der Schüler Lohmann, der unglücklich in die verheiratete Frau
Breetpoot verliebt ist, macht zusammen mit den Schülern Ertzum und Kieselack Unrats
Leben zur Hölle. Unrats Hauptgegner ist Lohmann, der lieber Gedichte schreibt, als für
die Schule arbeitet. Obwohl er sehr intelligent ist, musste er die Klasse zweimal
wiederholen, weil er sich gegen die Autorität und Strenge des Professors auflehnte.
Lohmann durchschaut Unrats Persönlichkeit und weiß genau, wie er den Professor
ärgern kann.
„Unrat haßte Lohmann beinahe mehr als die andern, wegen seiner unnahbaren
Widersetzlichkeit, und fast auch deshalb, weil Lohmann ihm nicht seinen Namen gab;
denn er fühlte dunkel, das sei noch schlimmer gemeint.“44
39
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
41
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
42
MAI, M. Geschichte der deutschen Literatur. 2001, S. 102.
43
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
40
S. 14.
S. 17.
S. 16.
S. 17.
18
Eines Tages findet Unrat in Lohmanns Heft eine „Huldigung an die hehre
Künstlerin Fräulein Rosa Fröhlich“45 - ein Gedicht mit den Zeilen:
„Du bist verderbt bis in die Knochen,
Doch bist du’ne große Künstlerin;
Und kommst du erst mal in die Wochen -“46
Diese Künstlerin zu finden stellt für Unrat eine Herausforderung dar. Obwohl
über die Sängerin in der Stadt viel gesprochen wird, hat Unrat keine Ahnung, wer diese
Künstlerin ist und wo sie auftritt. Das hängt vor allem damit zusammen, dass jeder in
der Stadt mehr Weltläufigkeit besitzt als Unrat. Er interessiert sich für das Geschehen in
der Kleinstadt sehr wenig.
„Die Künstlerin Fröhlich hatte in der Zeitung gestanden, war im Lehrerzimmer
besprochen worden, hing im Fenster bei Kellner. Die ganze Stadt wußte Bescheid über
sie, außer Unrat.“47
Weil sich Unrat mit den anderen Menschen außerhalb der Schule fast gar nicht
trifft und sich mit niemandem befreundet, versteht er auch nicht die Mundart, die die
Leute in der Stadt benutzen.
„Zwei Arbeiter stapften herbei, der eine von Rechts, der andere von Links. Dicht
bei Unrat trafen sie sich, und der eine sagte: "Na, wo geit hen, Klaas?" Der zweite
antwortete düster und im Baß: "Dun supen." Unrat musste sinnen über das Wort: wo er
es heute schon gehört habe und was es besage.“48
Unrat macht sich auf die Suche nach der Künstlerin, wobei er seine ehemaligen
Studenten und Kollegen in der Kleinstadt trifft.
„Und im Weitergehen unterhielt er sich ausgezeichnet. Wenn er wieder auf ein
Türschild mit dem Namen eines Kollegen oder eines alten Schülers stieß, dachte er:
"Sie faß ich auch noch mal", und rieb sich die Hände.“49
44
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
46
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
47
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
48
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
49
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
45
S. 19.
S. 24.
S. 24.
S. 42.
S. 49.
S. 48.
19
Mit etwas Mühe findet Unrat heraus, dass die Barfußtänzerin im Lokal „Der
blaue Engel“ auftritt. So erfährt er, dass Lohmann ein zweifelhaftes Lokal besucht, in
dem die Künstlerin Fröhlich singt. Er macht sich auf den Weg, um Lohmann zu
ertappen. Im Saal erfährt er, dass die Schüler im Hinterzimmer sind, aber er scheut sich,
den vollen Saal zu durchqueren.
„Es bildete sich in ihm Unmut: das Gefühl, verschlagen zu sein in eine Welt, die
die Verneinung seiner selbst war…“50
Als Unrat die Schüler erblickt, springt er vom Stuhl auf, um sie zu fassen.
Plötzlich landet er in der Künstlergarderobe, wo sich die Künstlerin Fröhlich befindet.
Er wirft ihr vor, die Schüler zu verführen und droht mit der Polizei.
„"Ich rate Ihnen", sagte er, "verlassen Sie mit Ihrer Gesellschaft diese Stadt!"
(…) "Ich werde – fürwahr denn – dafür sorgen, daß sich mit Ihrem Treiben die Polizei
beschäftigt."“51
Noch in der Garderobe sagt Unrat in seinem Bildungsbürgerdeutsch52 zu ihr:
„"Ich bin der Lehrer! Dieser Schüler ist ein so beschaffener, daß er die höchsten
Strafen verdient. Seien Sie eingedenk Ihrer Pflicht, damit kein Verbrecher der
Gerechtigkeit entkomme!"“53 Und Rosa antwortet wie gewöhnlich in ihrer
schnippischen Art. „"Liebes Gottchen! Sie wollen gewiß Wurst machen aus dem
Menschen! "“54
Der Professor will nicht gerade Wurst aus seinen Zöglingen machen, aber eben
Untertanen55.
Nach einer Weile fühlt er sich mit den Künstlern in der Garderobe ganz wohl
und das Naturell dieser Menschen beginnt ihm zu gefallen.
50
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
52
MAI, M. Geschichte der deutschen Literatur. 2001, S. 102, 103.
53
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
54
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
55
MAI, M. Geschichte der deutschen Literatur. 2001, S. 102, 103.
51
S. 55.
S. 59.
S. 69.
S. 69.
20
„Er fühlte sich hier von Leuten, denen er trotz der Nennung seines Titels
offenbar noch im Inkognito gegenübersaß, mit eigentümlicher Wärme angefaßt. Ihnen
verdachte er ihre Respektlosigkeit nicht.“56
Nachdem Unrat das Lokal verlassen hat, kommen die Schüler Lohmann,
Kieselack und Ertzum, der Rosa anhimmelt, wieder in die Garderobe.
Am nächsten Abend ist Unrat schon im „Blauen Engel“, noch bevor die Schüler
kommen. Auch in den nächsten Tagen muss er jeden Abend zu Rosa zurückkehren,
angeblich um die Schüler zu „fassen“. Gegen alle bürgerliche Sitte verliebt sich Unrat
in die Künstlerin Fröhlich. Obwohl sie in Wirklichkeit nur eine gewöhnliche Sängerin
ist, bewundert er sie. Dazu hilft auch Guste, die Frau des Ensembledirektors, die mit
Unrat über die Künstlerin Fröhlich spricht und der er alles glaubt.
„"Sondern weil ihr Herz mal so is. Denn die älteren Herren haben eine
liebevolle Behandlung am nötigsten… Manchmal is sie wirklich gutmütiger, als von der
Polizei erlaubt is."“57
Er beginnt, der Tingeltangelsängerin jeden Abend beim Umziehen zu helfen.
„Für Unrat war es Pflicht, und sie war täglich erfreulicher, je mehr er sich
einlebte bei der Künstlerin Fröhlich. (…) Unrat erfreute sich der Bedeutung, die er in
der Garderobe erobert hatte.“58
Unrat will Rosa alle ihre Wünsche erfüllen. Er kümmert sich immer weniger
darum, was seine Mitbürger über ihn denken. Es gibt bald Gerüchten über Unrat unter
den Menschen in der Kleinstadt. Vor allem seine Kollegen wollen die Wahrheit über
seine Lebensweise in der letzten Zeit erfahren.
„Ein junger Oberlehrer besuchte, unter dem Schutze des ältesten Professors,
eines halbtauben Greises, den Blauen Engel und gewann Einblicke in die Wahrheit. Am
nächsten Morgen im Lehrerzimmer sprach der taube Professor zu Unrat einige
beschwörende Worte über die Würde des Erzieherstandes.“59
56
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
58
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
59
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
57
S. 62.
S. 90.
S. 110, 111.
S. 107.
21
Unrat entlässt sogar seine Wirtschafterin, die „an Besuchen der Künstlerin
Fröhlich Anstoß nahm“.60 An ihre Stelle kommt eine Magd aus dem „Blauen Engel“,
die dann in ihrem Zimmer „den Fleischerburschen, den Schornsteinfeger, den
Gasmenschen und die ganze Straße“61 empfängt.
Unrats Schüler respektieren ihn schon gar nicht mehr und machen sich über ihn
lustig. Vor allem Lohmann ist sich des moralischen Verfalls seines Professors bewusst.
„"Die Zigarette", versetzte Lohmann, "gehört zur Situation. Die Situation ist
ungewöhnlich – für uns beide, Herr Professor." Unrat, erschrocken über den
Widerstand, mit unterirdischem Beben: "Die Zigarette wegwerfen, sage ich!"
"Bedaure", sagte Lohmann. (…) "Sie werfen sie weg, oder ich hemme Sie in Ihrer
Laufbahn! Ich zerschmettere Sie!" (…) "Wie bedauerlich, Herr Professor. Das alles ist
ja vorüber. Daß Sie die Umstände so mißverstehen können."“62
Als Rosa bei Gericht angeklagt wird, dass sie zusammen mit den Schülern ein
Hünengrab verwüstet habe, verteidigt Unrat noch ihre Ehre, obwohl ihn das Publikum
auslacht.
„"Wie lange noch werden diese katilinarischen Existenzen durch die Last ihrer
Schändlichkeit den Erdboden, den sie drücken, beleidigen! Diese nun behaupten, die
Künstlerin Fröhlich habe an ihren verbrecherischen Orgie teilgehabt. Wahrhaftig: es
hat diesen nichts weiter gefehlt, als daß sie die Künstlerin Fröhlich antasteten in ihrer
Ehre!" Inmitten der Heiterkeit, die seine Worte bewirkten, brach Unrat fast
zusammen.“63
Doch danach vermeidet Unrat jeden Kontakt mit seiner Geliebten, was ihm sehr
schwer fällt.
„Aber Unrat glaubte ihr nicht mehr! Und er war hilflos erstaunt hierüber: daß
die Künstlerin Fröhlich sich als unglaubwürdig herausstellte. Bis heute, bis zu diesem
60
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
62
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
63
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
61
S. 153.
S. 153.
S. 140.
S. 161.
22
schrecklichen Augenblick, war sie ein Stück von ihm gewesen; und unversehens riß sie
sich los…“64
Danach wird Unrat aus dem Gymnasium entlassen. Er wird zum Gespött der
Kleinstadt und die Bürger verachten ihn.
„"So ’n altes Ekel hätt man schon lange totschlagen sollen", äußerte bei Unrats
Nahen, in seine Ladentür gelehnt, der Zigarrenhändler Meyer. (…) Der Pächter des
Café Central sagte in der Frühe, wenn Unrat die Hausfront entlang schlich, zu seinen
das Lokal säubernden Kellern: "Sittlicher Unrat muß egal raus."“65
Andererseits beginnt Lohmann für Unrat Mitleid und sogar Sympathie zu fühlen.
Unrat wird für ihn ein interessanter Typ, der „unbedenklich so viel gegen sich auf die
Beine brachte“.66 Von dem Wunsch nach Rache besessen, wird Unrat aus einem
Tyrannen zum Anarchisten. Es gibt auch Bürger, die seine Emanzipation begrüßen.
Diese Leute waren unzufrieden mit der bisherigen Ordnung und mit den Umständen in
der Kleinstadt.
Unrat heiratet Rosa trotz der Feststellung, dass sie eine Tochter hat. Er muss
auch bald Rosas Seitensprünge ertragen. Weil Unrat die Bürger der Stadt in den
moralischen und finanziellen Ruin treiben will, wird aus seinem Haus ein Treffpunkt für
Glückspiele - vor allem für die wichtigsten Herren der Kleinstadt. Immer mehr wird
Unrat auf Rosa eifersüchtig.
„Unrat, den sie nicht begriff, war zuckend entrückt in wahre Sternenstürze von
Leidenschaft. Seine Liebe, die er täglich verwunden mußte, um seinen Haß zu füttern,
reizte diesen Haß zu immer tollerem Fieber.“67
Doch am Ende ist es Unrat, der finanziell ruiniert ist. Nachdem er Rosa
angegriffen hatte, als er sie mit Lohmann zusammen erwischte und geglaubt hatte, dass
sie ein Verhältnis hätten, wird er von Lohmann der Polizei übergeben. Als das Ehepaar
64
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
66
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
67
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994,
65
S. 165.
S. 168.
S. 170.
S. 215, 216.
23
Raat verhaftet wird, werden sie von den Bürgern verspottet, die sich noch vor kurzem
gerne in ihrem Haus unterhalten haben. Kieselack ruft: „"‘ne Fuhre Unrat!"“68
4.4 Roman als Kritik an der Gesellschaft
Mit dem Roman Professor Unrat erreichte Heinrich Mann eine gesellschaftliche
Verallgemeinerung. Es handelt sich um eine Schulsatire gegen die wilhelminische
Schule, die klassische Bildung und den Drill. Dieses satirische Porträt ist eine Karikatur
des deutschen Bildungsbürgers der Wilhelminischen Epoche. 69
Der Roman zeigt auch die Doppelmoral des Bürgertums und stellt die Mentalität
der Leuten in Deutschland vor den Weltkriegen bloß. Im Untergang des Professors, der
sich zum Diener einer Tingeltangelsängerin erniedrigt, wird die sich nähernde
Katastrophe des deutschen Bürgertums deutlich.70 „Heinrich Manns Abrechnung mit
der Spießbürgergesellschaft des Kaiserreichs wird auf den tragischen Abstieg eines
alternden Mannes reduziert, der den Reizen ungehemmter Erotik erliegt.“71
Unrat ist gleichzeitig Tyrann, Außenseiter der Gesellschaft und Anarchist in
einer Person. Diese Figur stellt den Autoritätsanspruch des Systems dar, das Unrat
selbst zum Außenseiter macht. Er wird Opfer und Gegner der bürgerlichen Prinzipien.72
Unrats Untergang enthüllt den sittlichen Ruin der Gesellschaft.73
Obwohl der Professor zuerst das Schul- und Gesellschaftssystem mit der
Ordnung und Hierarchie sehr lange und hartnäckig verteidigt, wird dann am Ende diese
konservative Gesellschaft von ihm kritisiert und verurteilt. Er kämpft gegen sie.
Dieser Roman erregte Widerstand nicht nur in Heinrich Manns Heimatstadt
Lübeck, sondern im ganzen Deutschen Reich, vor allem bei der Bourgeoisie, die sich
durch dieses Werk angegriffen und lächerlich gemacht fühlte.74
68
MANN, H. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. 1994, S. 238.
SPRENGEL, P. Geschichte der deutshsprachigen Literatur 1900 – 1918. 2004, S. 340.
70
KNIETZSCH, H. Filmgeschichte in Bildern. 1984, S. 94.
71
KRAMER, T. Reclams Lexikon des deutschen Films. 1995, S. 52.
72
SPRENGEL, P. Geschichte der deutshsprachigen Literatur 1900 – 1918. 2004, S. 8.
73
STEIN, H., STEIN, P. Chronik der deutschen Literatur. 2008, S. 550.
74
FELDSTEIN V. Editorische Notiz. Im Buch: Profesor Neřád neboli Konec tyrana. (MANN, H.). 1958,
S. 217, von Jitka Kutková ins Deutsche übersetzt.
69
24
5 ANFÄNGE DES TONFILMS
Das Kino war nie völlig stumm. Schon in den Filmen der Brüder Lumière
wurden die Figuren auf der Leinwand von einem dahinterstehenden Sprecher
kommentiert. Der Erklärer und der Mann am Klavier begleiteten die Filme.
Grammophone wurden auch eingesetzt. Alle Bemühungen, den Ton über Schallplatte
aufzuzeichnen und synchron mit dem Film vorzuführen, waren unbefriedigend. Der
Tonfilm kam nicht über Nacht. Als er sich aber gegen Ende der zwanziger Jahren
durchzusetzen begann, stand die Filmproduktion vor einer tiefgreifenden ökonomischen
und ästhetischen Revolution. Leidenschaftlich stritten die Künstler um das Für und
Wider der neuen Technik. Doch die Zuschauer waren vom ersten Tage an bereit, dem
Tonfilm ihre Sympathie zu schenken. Zahlreiche Schauspieler, die die Kunst des
stummen Spiels weit entwickelt hatten, scheiterten an ihrer für den Tonfilm
ungeeigneten Stimme.75
Der blaue Engel ist ein früher Tonfilm, in dem die neu entwickelte Technik
eingesetzt wurde. „Da schlägt die Turmuhr und bimmelt die Schulglocke, da zwitschert
der Wellensittich im Käfig, miauen die Katzen in den Gassen und vom fernen Hafen
ertönt eine Schiffssirene.“76 In der Garderobe von Lola Lola im „Blauen Engel“ kommt
jedes Mal mit dem Öffnen der Tür Lärm herein, Gesang, Musik und der Applaus des
Publikums.77 Mit der Vertonung des Films wurde eine neue Dimension erreicht. Es ist
evident, dass Josef von Sternberg das neue Filmelement nicht nur in den zahlreichen
Dialogen, sondern auch in den Liedern und verschiedenen Geräuschen nutzen wollte.
75
KNIETZSCH, H. Filmgeschichte in Bildern. 1984, S. 93.
KOBNER, T., NEUMANN T.-L. Idole des deutschen Films. 1997, S. 209.
77
KOBNER, T., NEUMANN T.-L. Idole des deutschen Films. 1997, S. 209.
76
25
6 DER BLAUE ENGEL
6.1 Filmhandlung
Der Film fängt mit dem Plakat von Lola Lola an, das in einem Schaufenster in
der Stadt hängt. In der ersten Szene bereitet die Wirtschafterin dem vereinsamten
Professor Immanuel Rath Frühstück. Beim Frühstücken bemerkt er, dass sein Vogel
gestorben ist.
Rath ist Professor an einem Kleinstadtgymnasium. Er wird von den Schülern
wegen seinen strengen Erziehungsmethoden gefürchtet. Am Anfang ist er ein wahrer
Tyrann, der viel Wert auf Ordnung und Disziplin legt. Die Tatsache, dass Rath ein
pedantischer Lehrer ist, zeigt die Szene aus dem Klassenzimmer, als der Schüler Ertzum
aus Hamlet geprüft wird:
RATH: „So meine Herren, nun wollen wir mal sehen, was Sie noch gelernt haben!“
Also wir sind gestern stehengeblieben, Hamlet.“
RATH: „Ertzum!“
RATH: „Nun! Nun!?“
RATH: „To be …. ha? To be or not to be!“
Ertzum versucht mühevoll nachzusagen: „To be or not to be, that is the ….“
RATH: „Halt! Falsch! Sie können ja noch nicht einmal den englischen Artikel
aussprechen. Sprechen Sie mir nach! the“
ERTZUM (falsch): „the“
RATH sagt lauter: „the“
ERTZUM: „the“
RATH sagt wieder lauter: „the“
ERTZUM: „the“
RATH: „the“
ERTZUM: „the“
RATH: „the“
ERTZUM: „the“
RATH: „Zähne auseinander!!“ Rath steckt Ertzum den Bleistift in den Mund. „the“
ERTZUM: „the“
26
RATH: „the“
ERTZUM: „the“
RATH: „Setzen!“78
Trotzdem machen sich Raths Schüler über ihn lustig. Er ist sehr unbeliebt und
wird wie im Buch von seinen Schülern „Unrat“ genannt. Bei seinem besten Schüler
Angst entdeckt Rath Bilder einer Kabaretttänzerin mit einer geklebten Feder als Rock.
Die Bilder wurden dem Streber Angst absichtlich von seinen Mitschülern in die
Schultasche gesteckt. So erfährt Rath, dass seine Schüler Lohmann, Goldstaub und
Ertzum ein Doppelleben führen und dass sie das Varieté „Der blaue Engel“ besuchen.
Er will sie so bald wie möglich „fassen“ und von dort verjagen.
Als Rath das Lokal „Der blaue Engel“ findet, entdeckt er dort seine Schüler, die
sich vor ihm hinter dem Paravent in der Garderobe verstecken. Er lernt dort die
Kabaretttänzerin Lola Lola, den stummen Clown, den Ensembledirektor Kiepert und
seine Frau Guste kennen. Lola Lola, in freizügiger Kleidung, macht sich gerade für den
Auftritt fertig. Der Ensembledirektor tritt als Zauberer und seine Frau auch als Sängerin
auf. In der Nacht wird Angst von seinen Mitschülern, die er an Rath verriet, verprügelt.
Am nächsten Abend muss Rath das Lokal wieder aufsuchen, um Lolas
Schlüpfer, die er am vorigen Abend unabsichtlich nach Hause genommen hatte,
zurückzubringen. Schon nach dem zweiten Treffen äußert Lola Rath direkt ihre
Zuneigung:
„Eigentlich sind sie doch’n ganz hübscher Mann.“79
Die Schüler verstecken sich vor ihm diesmal im Keller. Nach dem Konflikt mit
einem Zuschauer, der sich mit Lola unterhalten will, versteckt sich Rath vor der Polizei
auch in den Keller, aus dem er dann die Schüler verjagt. Die Schüler fliehen vor ihm
durch ein Fenster, was Rath fast eine Herzattacke verursacht. Trotzdem verbringt Rath
die ganze Nacht im Lokal, wo er vom Ensembledirektor betrunken gemacht wird. Er
verfällt selbst der Tingeltangelsängerin Lola Lola. Daran ändert auch die Tatsache
nichts, dass „Der blaue Engel“ ziemlich schäbig ist und die Musik hier falsch klingt.
Auch Lolas Auftritt ist keinesfalls perfekt. Rath wird vom Direktor als Ehrengast
78
79
VON STERNBERG, J. Der blaue Engel. 1930, [00:09:50 - 00:11:21].
VON STERNBERG, J. Der blaue Engel. 1930, [00:40:22].
27
vorgestellt und lässt sich von Lolas Lied Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt
hinreißen.
Am Morgen erwacht er in ihrem Bett und sie frühstücken zusammen, während
Lolas Vogel im Käfig singt. Rath muss in die Klasse eilen. Doch in der Klasse wird es
laut, die Schüler malen Karikaturen von Rath und lachen ihn aus. Er wird dann vom
Direktor des Gymnasiums zur Rede gestellt, dem er sagt, dass er Lola heiraten wolle.
Dieses Bekenntnis bedeutet das Ende seiner Karriere als Gymnasialprofessor.
Nach einem Heiratsantrag kurz vor Lolas Abreise aus der Stadt findet die
Hochzeit von Rath und Lola im Kreis der Varietékünstler statt. Danach schließt sich
Rath dem Ensemble an. Die Beziehung zu Lola beginnt sich langsam zu ändern. Sie ist
nicht mehr so nett zu ihm wie früher. Rath muss anfangen, Lolas Postkarten zu
verkaufen, denn es gibt bald Geldprobleme. Kiepert verachtet ihn und kritisiert ihn für
sein ungepflegtes Aussehen. Rath wird bald zu einem gebrochenen Mann.
Als das Ensemble wieder nach einigen Jahren in Raths Heimatstadt kommt, wird
er vom Kabarettdirektor zu einer entwürdigenden Clownnummer gezwungen. Es soll
die Hauptattraktion sein. Rath kommt widerwillig auf die Bühne. Mit dem
Clownskostüm und der falschen Nase verliert er seine Identität komplett. Er wird zum
Gespött der ganzen Stadt.
KIEPERT: „Ich weiß, meine Damen und Herrn, daß Sie alle annehmen, der
Zauberkünstler hat jetzt schon die Taube darunter gesetzt. Oh nein, Sie irren sich! Bitte!
Leer! (Er schlägt auf den Zylinder, den er gerade Rath vom Kopf abnahm.) Leer! (Er
schlägt Rath auf die Stirn). Alles leer!“. Das Publikum lacht.80
Kiepert zerschlägt dann auf Raths Stirn ein Ei und zwingt ihn zu krähen.
KIEPERT: „Ha! Kräh! Kikeriki! Mach Kikeriki! Kikeriki! Wenn Du jetzt nicht Kikeriki
machst, bring ich Dich um! Kikeriki!“81
Dabei sieht Rath noch, dass Lola ihn mit dem Artisten Mazeppa betrügt. Rath
bricht vor Scham und Zorn zusammen. Er würgt Lola in Eifersucht, wird aber mit einer
80
81
VON STERNBERG, J. Der blaue Engel. 1930, [01:30:17 – 01:30:31].
VON STERNBERG, J. Der blaue Engel. 1930, [01:33:30].
28
Zwangsjacke überwältigt. In der Nacht schleicht er sich in sein früheres Klassenzimmer
und stirbt beim Schlag der Glocke am Katheder.
6.2 Vergleich von Buch und Film
Das Drehbuch Des Blauen Engels wurde frei nach Heinrich Manns Roman
geschrieben, was die Tatsache begründet, dass die beiden Handlungen nicht ganz
identisch sind. Während im Buch Raat ein Spielkasino für die reichen Stadtbürger
gründet, mit dem Ziel ihnen ihren Spott zu vergelten und ihren moralischen Ruin zu
erreichen, schließt er sich dagegen im Film der Kabarettgruppe an und wird im Laufe
der Zeit zu einem gebrochenen Mann, den die anderen verachten.
Beim Vergleich der Figuren im Buch und im Film ist es vor allem die
Hauptgestalt Raat, bei der gewisse Charakterunterschiede gefunden werden können.
Diese Figur entwickelt sich mit bedeutenden Unterschieden. Bereits in der ersten Szene
im Film, in der der Professor gerührt vom Tod seines Vogels ist, scheint er psychisch
schwächer als im Buch. In der Klasse malen die Schüler Karikaturen von ihm und
lachen ihn aus. In Verwirrung verliert er in Lolas Garderobe seinen Hut und bringt auch
unabsichtlich ihren Schlüpfer nach Hause. In ungewöhnlichen Situationen benimmt er
sich fahrig und ist oft sehr nervös. Mit dem Vergleich des Hauptprotagonisten werde ich
mich ausführlicher im folgenden Subkapitel 6.3 befassen.
Die Musik spielt im Film eine wichtige Rolle. Die Lieder, die Lola Lola singt,
unterstreichen die Freizügigkeit der Unterhaltung im Kabarett. Sie werden symbolisch
zum Beispiel als eine angedeutete Warnung benutzt, was sich vor allem im Lied Nimm
Dich in Acht vor blonden Frauen äußert. Den Vogelszenen folgt immer eine Glocke, die
eine Melodie schlägt, was eine gewisse Bedeutung hat. Während der Vogel zweimal im
Film vorkommt und so zu einem Symbol wird, wird er im Buch gar nicht erwähnt. Mit
der Musik im Film, ihrer Bedeutung und Herkunft werde ich mich im Subkapitel 6.10
beschäftigen.
Bei dem Vergleich von Buch und Film lassen sich eine ganze Reihe von
Unterschieden finden. Die Kabaretttänzerin Rosa Fröhlich wird im Film Lola Lola
29
genannt. Marlene Dietrich wurde als Kabarettsängerin Lola Lola zu einem Sexidol82
und deshalb wurde ihr mehr Aufmerksamkeit als im Roman gewidmet. Der Schüler
Angst und der stumme Clown kommen im Roman gar nicht vor. Die Szene, in der die
Schüler aus Hamlet geprüft werden, fehlt im Buch. Im Buch bekommen sie dagegen ein
Aufsatzthema über Schillers Jungfrau von Orleans. In der Filmhandlung ist Rath über
Lohmanns Fotografien empört, jedoch später amüsiert er sich bei ihrer Betrachtung. Im
Roman ist es Lohmanns Gedicht über die Künstlerin Fröhlich, das Raat nicht beim
Streber Angst, sondern direkt in Lohmanns Heft findet. Die drei Mitschüler Lohmann,
Ertzum und Goldstaub, der im Buch Kieselack genannt wird, bleiben im Film viel mehr
im Hintergrund als im Buch und ihre Liebeskummer werden auch nicht erwähnt.
6.3 Die Figur des Professors Raat im Vergleich von Buch und Film
Die Figur des Professors Raat wurde von Heinrich Mann schon kurz nach der
Jahrhundertwende entworfen. Heinrich Mann hatte einen diktatorischen, anmaßenden
und aggressiven Menschen im Sinn, der in der Opposition an der Seite von Rosa
Fröhlich zum Herausforderer der Gesellschaft wird.83 Dieser Charakteristik eines
Provokateurs und Rebellen entspricht der Professor im Film nicht. In der Filmfassung
des Romans wird die Umwandlung des Tyrannen zum Anarchisten nicht so deutlich wie
im Buch. Im Buch wird Unrat mit Rosa verhaftet, im Film stirbt er dagegen einsam als
gebrochener Mann.
Emil Jannings Figur ist merklich sanft. Zum Beispiel wenn er sich rührend nach
dem kleinen Vogel umschaut, den er dann tot im Käfig entdeckt. Dies kann ein
Bedürfnis nach Zärtlichkeit symbolisieren, das er nur selten äußert.84
Bereits die ersten Auftritte des Professors Rath im Film präsentieren ihn als
eigenbrötlerischen Junggesellen mit Allüren. Diese Gestalt entspricht eher einem
Sonderling als einem wilhelminischen Schultyrannen. Auch im Klassenzimmer ähnelt
er mehr einer behäbigen Spottfigur als einem grausamen Lehrer.85 Während im Buch es
meistens der Schüler Lohmann ist, der es wagt, den Professor direkt zu verspotten, ist es
82
TÖTEBER, M. Metzler Filmlexikon. 2005, S. 82.
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 92.
84
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 92, 93.
85
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 92, 93.
83
30
im Film dagegen die ganze Klasse, die den Lehrer auslacht. Zum Beispiel wenn die
Schüler Karikaturen auf die Tafel malen. Nach dem Skandal mit der Kabaretttänzerin
stellt er für sie keine Autorität mehr dar.
Emil Jannings als Professor Unrat ist ein pedantischer Mensch. Auch die richtige
Kleidung und Haltung sind besonders wichtig für ihn. „Mit dem vorgewölbtem Bauch,
über dem sich Weste und Uhrkette spannen, stolziert er durch die engen Gassen.“86
Im Milieu des „Blauen Engels“ benimmt sich Rath wie ein naiver
Unzeitgemäßer. Die Blicke der „feschen Lola“ gefallen ihm und er ist auch
geschmeichelt, wenn sie ihm im Film sagt87:
„Eigentlich sind sie doch’n ganz hübscher Mann.“88
„Plötzlich fühlt er sich als Mann erkannt.“89 Genauso genießt er die
Ehrerbietung des Ensembledirektors.90
Als Rath den Hut in Rosas Garderobe vergisst, ist das der Beginn seines
Abstiegs. Obwohl er nicht zu den Künstlern gehört, verlässt er seine alte
gesellschaftliche Stellung.91 Der Abgang vom Gymnasium raubt ihm einen
wesentlichen Teil seiner Identität. Emil Jannings überträgt diese Tatsache ins
Körperbild, wenn er schleppenden Schrittes hin und her geht, monoton, ohne spontane
Bewegung. Er ist ein verfallener Mann.92
Das traurige Ende der Karriere des Professors wird akustisch betont. Sein
glücklicher Hahnenschrei am Hochzeitstag wurde zum Bestandteil des Programms.
„Die endgültige Vernichtung seiner Würde, seines öffentlichen Ansehens und seiner
Selbstachtung erlebt er, nachdem die Truppe in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist. Er
tritt als dummer Clown August auf, soll wie ein Hahn krähen, als ihm ein Ei auf dem
86
KOEBNER, T., NEUMANN K.-L. Filmklassiker. 1913 – 1946. 1995, S. 208.
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 93.
88
VON STERNBERG, J. Der blaue Engel. 1930, [00:40:22].
89
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 93.
90
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 93.
91
KOEBNER, T., NEUMANN K.-L. Filmklassiker. 1913 – 1946. 1995, S. 209.
92
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 93.
87
31
Kopf zerklatscht wird.“93 Währenddessen muss er das teils johlende, teils entrüstete
Publikum sehen, zugleich, wie Mazeppa ihm die Frau verführt.94
Den einzigen Widerstand leistet der Professor gegen Ende des Films, gerade als
er in seiner Rolle als Clown zu stöhnen beginnt. Dieser Aufschrei enthüllt seine
gefolterte Seele. Die Einschränkungen und Triebverzicht beschweren ihn weniger als
das Leben an der Seite einer Frau, deren Diener er wird. Der Film zeigt, wie trostlos das
Leben derer sein muss, die vom konservativen Lebensweg abweichen und aus der
bürgerlichen Ordnung herausfallen.95
Heinrich Manns Professor Unrat ist dagegen ein satirischer Roman, der vor
allem die Schwäche des deutschen Bürgertums kritisiert. Es handelt sich um eine
Gesellschaftssatire. Am Drehbuch des Films haben sich Robert Liebmann, Carl
Zuckmayer und Karl Vollmoeller beteiligt.96 Die Romanvorlage und der Film
unterscheiden sich wesentlich, besonders das Geschehen nach Raths Hochzeit mit Rosa
bzw. Lola Lola ist ganz anders. Die Entwicklung und die Aussage des Films ist in
Wirklichkeit das Gegenteil des Geschehens im Buch. Der Professor im Roman genießt,
dass die Stadtbürger am Glückspiel teilnehmen und beobachtet befriedigt ihren
moralischen Verfall. Er ist ein Rebell, der sich an den Leuten in der Stadt rächen will.
Im Film dagegen handelt es sich vor allem um das traurige Schicksal des Professors.
Heinrich Mann musste zuerst dieser Art der Verfilmung zustimmen. Der Autor
war mit der Verfilmung seines Romans zufrieden, was ganz überraschend ist, weil er
ursprünglich eine Kritik der damaligen Gesellschaft schrieb. Er war der Meinung, dass
in einem Film nur bestimmte Aspekte aus der Romanvorlage erscheinen können.
„Kommt es daher, dass ich für den Film Der blaue Engel von Anfang an
Verständnis gehabt habe? Ein Film ist kein Roman, seine Handlung kann nicht genau
93
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 93.
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 93.
95
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 93, 94.
96
PRINZLER, H-H. Chronik des deutschen Films. 1995, S. 92.
94
32
so verlaufen wie dort, sowohl die Straßen wie die Menschenleben verlangen andere
Perspektiven.“97
Die unterschiedliche Handlung entspricht der politischen Situation Anfang der
dreißiger Jahre. Der Film sollte vor allem zur Unterhaltung dienen und die
Liebesgeschichte steht im Vordergrund im Gegensatz zu Heinrich Manns satirischem
Werk.
„Der literarische Repräsentant der Linken lag nicht auf der politischen Linie der
deutschnationalen Ufa98.“99 Die Ufa teilte zu dem geplanten Film mit, dass der Roman
von Heinrich Mann seinerzeit beim Erscheinen im Mittelpunkt lebhaftester
Diskussionen gestanden habe. Deshalb werde der Stoff vollkommen umgearbeitet und
die Figur des Professors Unrat in menschlicher Weise geschildert, so dass zu den
befürchteten Angriffen kein Anlass bestehen würde.100
Im Blatt Montag wurde geschrieben:
„In Wahrheit ist Der blaue Engel kein Film mit Heinrich Mann, sondern ein
Film gegen ihn.“ 101
6.4 Fakten zum Film
Am 23. August 1929 kam es zur Vertragsunterzeichnung durch Heinrich Mann.
Der Schriftsteller erhielt 25 000 RM für die Rechte und weitere 10 000 RM bei der
Uraufführung des Films in Amerika.102 Der Film wurde auch in einer englischen
Version gedreht mit dem Titel The Blue Angel. Am 4. November 1929 begannen in den
Ufa-Ateliers in Potsdam die Dreharbeiten, die am 30. Januar 1930 endeten.103 Die
Uraufführung Des blauen Engels war am 1. April 1930 im Gloria-Palast in Berlin.104
97
MEIER B., SEYDEL R. Marlene Dietrich. Eine Chronik ihres Lebens in Bildern und Dokumenten.
1986, S. 102 (weiter zitiert als Marlene Dietrich).
98
Die Ufa ist ein traditionsreiches deutsches Filmunternehmen, das 1917 gegründet wurde.
99
TÖTEBER, M. Metzler Filmlexikon. 2005, S. 82.
100
Marlene Dietrich, S. 97.
101
TÖTEBER, M. Metzler Filmlexikon. 2005, S. 82.
102
Marlene Dietrich, S. 97.
103
KRAMER, T. Reclams Lexikon des deutschen Films. 1995, S. 52.
104
Marlene Dietrich, S. 99.
33
In der Filmzeitschrift Film-Kurier vom 2. 4. 1930 wurde das Geschehen vor der
Uraufführung folgend dargestellt:
„Eintrittskarten zu stark erhöhten Preisen schon lange im voraus ausverkauft.
Menschenspalier am Kurfürstendamm bei der Autoanfahrt. Kampf der Autobesitzer –
und Chauffeure um die wenigen Parkplätze. (…) so liest man doch auf den Gesichtern
der Erschienenen die große Erwartung vor einer neuen wichtigen Schlacht des
Tonfilms. Die meisten sind sichtbar etwas geschmeichelt, bei dieser neuen GroßfilmGeburt Zeuge zu sein. (…) Zum Schluß ungezählte Vorhänge für Emil Jannings und
Marlene Dietrich.“105
Das Drehbuch des Films wurde von Robert Liebmann, Carl Zuckmayer und Karl
Vollmoeller frei nach dem Roman Professor Unrat geschrieben. Der Komponist
Friedrich Hollaender schuf die berühmten Lieder, die vor allem Marlene Dietrich im
Film singt. Neben Marlene Dietrich (Rosa Fröhlich, im Film Lola Lola genannt) spielt
im Film Emil Jannings (Professor Immanuel Rath) die Hauptrolle, die weiteren
Darsteller sind Kurt Gerron (Ensembledirektor Kiepert, Zauberkünstler), Rosa Valetti
(Guste, seine Frau), Hans Albers (Mazeppa), Reinhold Bernt (Clown), Eduard von
Winterstein (Schuldirektor), Hans Roth (Pedell), die Schüler: Rolf Müller (Angst),
Rolant Varno (Lohmann), Carl Balhaus (Ertzum), Robert Klein-Lörck (Goldstaub);
Karl Huszar-Puffy (Wirt), Wilhelm Diegelmann (Kapitän), Gerhard Bienert (Polizist),
Ilse Fürstenberg (Raths Wirtschafterin) und Friedrich Hollaender (Pianist).106
Die Aufführung des Films wurde später in Deutschland von der NSDAP verboten.
Heinrich Mann wurde in demselben Jahr die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen.107
Ein Ausschnitt aus einer Filmkritik im Völkischen Beobachter108:
„Bewußt jüdische Zersetzung und Beschmutzung deutschen Wesens und deutscher
Erziehungswerte ist hier am Werke, in dem sich jüdischer Zynismus selten gemein
offenbart.“109
105
Marlene Dietrich, S. 108.
PRINZLER, H-H. Chronik des deutschen Films. 1995, S. 92.
107
Marlene Dietrich, S. 99.
108
Völkischer Beobachter war eine Zeitung der NSDAP.
109
TÖTEBER, M. Metzler Filmlexikon. 2005, S. 83.
106
34
6.5 Josef von Sternberg
Josef von Sternberg wurde 1894 in Wien geboren und starb im Jahre 1969 in
Hollywood. 1963 wurde ihm ein Bundesfilmpreis für langjährige Verdienste um den
deutschen Film verliehen. Er drehte zwar nur einen Film in Deutschland und das war
Der blaue Engel, aus der Berlinerin Marlene Dietrich machte er aber einen Weltstar.110
Als siebenjähriges Kind kam Josef von Sternberg mit seinen armen Eltern auf
einem Auswandererschiff nach Amerika. Die ersten Arbeitsjahre waren hart. Zuerst
arbeitete er als Monteur, dann als Hilfsregisseur. Mit ersparten sechstausend Dollar
machte er seinen ersten eigenen Film Salvation Hunters (1925). Charlie Chaplin sah
diesen Film durch einen Zufall, den Sternberg geschickt arrangierte. Begeistert davon,
half er ihm mit dem Start in einem New Yorker Kinotheater. Die Lichtreklame auf dem
Broadway verkündete bald Josef von Sternbergs Namen. Weltberühmt wurde der
Regisseur seit seinem Film Underworld (1927).111
Für die Filmzeitschrift Film-Kurier vom 16. 8. 1929 äußerte sich Josef von
Sternberg zu seiner Rückkehr nach Berlin, wohin er mit dem Ziel kam, einen neuen
Tonfilm zu drehen - Der blaue Engel:
„"Der Sprechfilm hat mich wieder zum deutschen Film gebracht." Josef von
Sternberg, den die Ufa für den deutschen Sprechfilm mit Emil Jannings verpflichtet hat,
ist heute in Berlin eingetroffen. "Ich habe mich", erklärt er, "in Amerika freigemacht,
weil mich mein Herz hinzog, mit Emil112 zu arbeiten. Ich sehne mich auch danach, einen
Film von künstlerischem Format zu machen. (…) Was ich von Amerika mitbringe? 11
Jahre Tonfilmerfahrung. Wir haben die ersten Stufen hinter uns und haben gelernt, was
zu machen ist. Was der Sprechfilm heute gewinnen muß – über das Technische hinaus –
das Menschliche. Wir staunen das Instrument noch zu sehr als Mirakel an. Es wird
darauf ankommen, weniger darauf zu achten, wie etwas klingt, sondern was man zu
sagen hat."“113
110
PRINZLER, H-H. Chronik des deutschen Films. 1995, S. 270, 280.
KRÜNES, E. Film-Magazin. 1929, Nr. 34. [online] [2012-05-27] Dostupné na WWW:
<http://www.marlenedietrich-filme.de/html/bengel_pre02.html>.
112
Emil Jannings.
113
Film-Kurier. Berlin, 1929, 11. Jahrgang, Nr. 194. [online] [2012-05-25] Dostupné na WWW:
<http://www.marlenedietrich-filme.de/html/bengel_pre01.html>.
111
35
In der Berliner Zeitung Film-Magazin wurde im Jahre 1929 die Ankunft Josef
von Sternbergs in Berlin gemeldet. Aus Anlass der Rückkehr des Regisseurs in seine
Heimat wurde auch sein interessantes Aussehen in der Zeitung beschrieben:
„Aus dem blauen Nordexpreß, der keuchend und dampfend aus Paris kommend,
im Bahnhof Zoo hält, steigt ein kleiner, graziöser Herr. Typ: Künstler, interessanter
Kopf, welliges Haar, kleines Schnurrbärtchen. (…) Doch Emil Jannings erwartet ihn,
küßt ihn auf beide Wangen, sagt “du” zu ihm; Erich Pommer114 schüttelt ihm die Hand.
(…) Es ist Josef von Sternberg. Er ist auf Einladung der UFA nach Berlin gekommen,
um hier mit Emil Jannings als Hauptdarsteller den ersten deutschen Tonfilm zu drehen.
Der Ruf, einer der Ersten seines Faches zu sein, eilte ihm voraus. (…) Und er hat,
obwohl er bereits ein paßverbriefter Amerikaner ist, noch immer die Grazie seiner
Wiener Heimat an sich. (…) „Als mich die UFA nach Europa rief, folgte ich dieser
Einladung mit großer Freude. Es war immer mein Wunsch gewesen, einmal in Berlin
einen Film herzustellen. Und noch dazu mit Emil Jannings! Wir sind in gemeinsamer
Arbeit gute Freunde geworden, und ich schätze ihn als den besten Künstler, den man
sich denken kann.” (…) Und schon am ersten Tag, den Sternberg in Berlin weilte,
gingen sie zu dritt an die Arbeit: der kluge Erich Pommer, der große Emil Jannings, der
kleine Josef von Sternberg, der aber trotzdem ein ganzer Kerl ist. Ein interessantes
Kleeblatt. Aus der Arbeit dieser drei muß ein guter Film werden.“115
Josef von Sternberg gehört zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der
Weltkinematographie. Hohes künstlerisches Niveau war für seine Filme typisch. Im
Blauen Engel kann man ein raffiniertes Spiel von Licht und Schatten bemerken, das der
Verfilmung eine bedrohliche Atmosphäre verleiht.
6.6 Emil Jannings
Emil Jannings war ein bedeutender Filmschauspieler der Weimarer Republik. Er
wurde als Theodor Friedrich Emil Janenz am 23. Juli 1884 in Rorschach, Schweiz, als
Sohn eines Deutschamerikaners und dessen deutscher Frau geboren. Noch vor dem
114
Erich Pommer war Produzent u. a. des Films Der blaue Engel.
KRÜNES, E. Film-Magazin. 1929, Nr. 34. [online] [2012-05-27] Dostupné na WWW:
<http://www.marlenedietrich-filme.de/html/bengel_pre02.html>.
115
36
Abschluss verließ er das Gymnasium und arbeitete als Schiffsjunge. 1900 bekam er eine
Stelle als Volontär am Stadttheater Görlitz. Im Jahre 1914 zog Emil Jannings nach
Berlin, wo er am Künstlertheater auftrat und seine ersten kleineren Filmrollen bekam.
1918 spielte er am Königlichen Schauspielhaus in Berlin den Dorfrichter Adam in
Heinrich von Kleists116 Zerbrochenem Krug. Mit dieser Rolle feierte er einen seiner
größten
Bühnenerfolge.
Emil
Jannings
überzeugte
durch
außergewöhnliche
schauspielerische Leistungen in Literaturverfilmungen und Historienfilmen wie Die
Brüder Karamasoff (1920), Anna Boleyn (1920), Danton (1921) oder Quo Vadis (1925).
Vor allem spielte er wiederholt Charaktere, die ihre gesellschaftliche Position verlieren
oder aufgeben. 1926-1929 war Emil Jannings als Filmschauspieler in den USA tätig, wo
er schnell zum international anerkannten Star wurde. 1929 wurde er für seine Rollen in
The Way of All Flesh (1927) und Josef von Sternbergs The Last Command (1928) im
ersten Jahr der Oscar-Verleihung als bester Hauptdarsteller mit dem Oscar
ausgezeichnet. Bis heute ist Emil Jannings der einzige deutsche Schauspieler, der diese
Ehrung erhielt. Infolge der Umstellung von Stumm- auf Tonfilm kehrte Emil Jannings
aufgrund sprachlicher Probleme nach Europa zurück. Der blaue Engel (1930) war sein
erster Tonfilm, mit dem ihm ein Comeback als Filmschauspieler in Deutschland gelang.
Ab 1930 wurde Emil Jannings unter Vertrag der Universum-Film AG (Ufa) einer der
bestbezahltesten deutschen Filmschauspieler. Später diente seine Kunst dem NSRegime. Obwohl der Schauspieler selbst nie Mitglied der Nationalsozialistischen
Deutschen Arbeiterpartei wurde, bekannte er sich öffentlich zur NS-Ideologie und
gehörte zu den Lieblingsschauspielern von Adolf Hitler.117 Im Jahre 1937 spielte Emil
Jannings die Hauptrolle des Dorfrichters Adam in der Kleist-Verfilmung Der
zerbrochene Krug. Das Prinzip des „Aus-der-Bahn-Geworfenwerdens“ gilt sehr oft für
Emil Jannings Rollen.118 1938 verlieh ihm Propagandaminister Joseph Goebbels den
"Adlerschild"119. Nach der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg erhielt er von
den Alliierten auf Grund seiner propagandistischen Werke, seiner schauspielerischen
und unternehmerischen Tätigkeit während des Nationalsozialismus und seiner
116
Ein deutscher Dramatiker, Erzähler, Lyriker und Pubizist, 1777 – 1811.
Biographie: Emil Jannings, 1884 - 1950. [online] [2012-05-30] Dostupné na WWW:
<http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/JanningsEmil>.
118
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. München. 1997, S. 95.
119
eine der höchsten kulturellen Auszeichnungen des NS-Regimes
117
37
persönlichen Nähe zu den Machthabern des "Dritten Reichs" ein lebenslanges
Berufsverbot. 1947 nahm Emil Jannings die österreichische Staatsbürgerschaft an und
verließ Deutschland. Am 2. Januar 1950 starb er in Strobl in Österreich.120
6.7 Marlene Dietrich
Marlene Dietrich war eine gebürtige deutsche Schauspielerin, Sängerin und eine
der faszinierendsten Frauen des letzten Jahrhunderts. Sie wurde im Jahre 1901 in
Schöneberg121 geboren. Ihre Karriere begann sie als Schauspielerin am Theater und in
Stummfilmen im Berlin der goldenen zwanziger Jahre122, mit dem Glamour des
Kurfürstendamms, den vielen Künstlern in den Cafés, den Träumen und Illusionen einer
Nachkriegsgeneration. Als junge Schauspielschülerin am Deutschen Theater Max
Reinhardts begegnete Marlene Dietrich vielen der Künstler, die sie ein Leben lang
begleiteten.123
Gerade der Film Der blaue Engel begründete Marlene Dietrichs langjährige
Zusammenarbeit mit Josef von Sternberg.124 Sie beschrieb ihre Mitarbeit mit dem
berühmten Regisseur:
„In dieser Zeit lernte ich schnell sehr viel über Kamera-Einstellungen. Der
Film wurde eben von Josef von Sternberg gedreht – und das war das Entscheidende. Ich
war tief beeindruckt von seinem Wissen. Er zeigte mir, wie man Filme schneidet und
zusammenklebt. Ich habe seine Lehren all die Jahre über behalten und werde niemals
den Zauber dieser „Lehrlingswochen“ mit ihm vergessen.“125
Marlene Dietrich wurde dank Der blaue Engel über Nacht zum Star. Josef von
Sternberg nahm sie noch am Premierenabend nach Amerika mit.126
In der Berliner Zeitung vom 2. 4. 1930 wurde das Geschehen nach der festlichen
Premiere am 1. 4. 1930 beschrieben:
120
Biographie: Emil Jannings, 1884 - 1950. [online] [2012-05-30] Dostupné na WWW:
<http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/JanningsEmil>.
121
Ein Ortsteil im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg.
122
Der Ausdruck „Goldene Zwanziger Jahre“ bezeichnet die Blütezeit der Kunst, Kultur und
Wissenschaft.
123
Marlene Dietrich, Buchumschlag.
124
TÖTEBER, M. Metzler Filmlexikon. 2005, S. 82.
125
Marlene Dietrich, S. 101.
126
TÖTEBER, M. Metzler Filmlexikon. 2005, S. 82.
38
„Nachher verharrt noch ein Troß unprominenter Kino-Enthusiasten vorm
Theater und wartet auf die sexappealsche Marlene. Als sie sich im Foyer blicken läßt,
stürmte, wie in einer schlecht inszenierten Operette, ein Trupp unermüdlicher Verehrer
auf sie los und erbettelte von ihr Autogramme. Polizei und uniformierte Kinodiener
mußten der Diva, die ja zum Bahnhof in Richtung Hollywood eilen wollte, einen Weg
bis zum Auto bahnen. Der Wagen rollt ab…“127
„Noch während die Berliner Kritik sie enthusiastisch feierte, überquerte sie auf
dem Passagierschiff des Norddeutschen Lloyd „Bremen“ den Atlantik, um in der
Filmmetropole Hollywood einen kometenhaften Aufstieg zu nehmen.“128 Zu ihrer
Abreise nach Amerika sagte Marlene Dietrich:
„Aber nach langen Diskussionen zu Hause beschlossen wir, dass ich zunächst
einmal allein hinfahren solle, um mich in diesem fremden Land umzusehen und dann zu
entscheiden, ob ich meine Familie der Unbequemlichkeit aussetzen wolle, fremd in
einem fremden Land zu sein. Ich wurde sozusagen auf Erkundungsreise geschickt.“129
„So kam es, dass wir mit einem Tag Verspätung in New York eintrafen. Ich
wurde unzählige Male photographiert und interviewt, und sogar die Zollkontrolleure
waren außerordentlich liebenswürdig beim Durchsuchen meines Gepäcks. Amerika!
Das erste, was ich in der Neuen Welt unternahm, war – nach Berlin zu
telephonieren!“130
Die Kabarettkünstlerin im Blauen Engel stellte keine Femme fatale und keinen
Vamp vor. Sie war noch weit entfernt von dem geheimnisvollen und ätherischen
Geschöpf, zu dem sie vor allem Josef von Sternberg später stilisierte. Er machte sie in
den folgenden Filmen wie Morocco (1930)131, Shanghai Express (1931/32) und Blonde
Venus (1932) zu einer ätherischen Schönheit.132 Ihre Zusammenarbeit mit Josef von
Sternberg in Amerika wurde von Marlene Dietrich in dieser Weise beschrieben:
127
Marlene Dietrich, S. 109.
Marlene Dietrich Buchumschlag.
129
Marlene Dietrich, S. 101.
130
Marlene Dietrich, S. 113.
131
Die Fotografie von Marlene Dietrich aus dem Film Morocco führe ich im Anhang an.
132
TÖTEBER, M. Metzler Filmlexikon. 2005, S. 82.
128
39
„Er wollte mich über Nacht zu einem Weltstar machen. Gut, ich war jung und
verletzlich; ich war da, um dem großen amerikanischen Publikum zu gefallen, aber
trotz allem war ich das, was ich noch heute bin: eine Deutsche, die ihre Pflicht tun will,
aber nicht mehr. Es war so einfach für mich: ich lehnte mich an ihn und überließ ihm
meine Sorgen. Er übernahm alles. Er war mein Vater, mein Bruder, mein Beichtvater.
Es gibt nichts, was er nicht war. Er war Kritiker, Lehrer, Ratgeber, Geschäftsmann,
Agent, Fürsprecher und Friedensstifter für mich und meinen Haushalt; Manager in
jeder Beziehung, angefangen vom Kauf eines Rolls Royce bis zum Engagement des
Chauffeurs. Er lehrte mich außer Englisch und Schauspielen tausend andere Dinge, und
ich nahm alles an.“133
Marlene Dietrichs Persönlichkeit wurde zum Symbol, in dem sich Schönheit und
große Anziehungskraft mit künstlerischer Ausstrahlung vereinten. Sie wurde zu einem
Filmidol, das bald in allen Hauptstädten der Welt Hunderttausende in die Kinosäle
lockte. Im Laufe der Zeit eroberte sie sich von Las Vegas aus als Sängerin in einer „One
Woman Show“ Buenos Aires, London, Kopenhagen, Warschau, Berlin, Stockholm,
Moskau und Sidney – vor allem aber blieb immer wieder Paris der Zenit ihrer Auftritte.
Diese Gala-Abende waren mit ihren berühmten Bühnenkostüme verbunden: dem
Paillettenkleid, dem Hermelinmantel, dem Frack und Zylinder. 134
Doch Marlene Dietrich blieb auch während dieser Jahre fest mit Europa – ihrer
geistigen Heimat - verbunden. Sie war tief in Deutschland verwurzelt, wo sich der
Faschismus verbreitete. Klar war ihre Entscheidung, sich von diesem Deutschland
abzuwenden. Sie wurde in diesen Jahren zu einer Verfechterin der demokratischen Idee,
für die sie mit großem persönlichen Mut unerschrocken eintrat.135
Marlene Dietrich befreundete sich mit solchen Persönlichkeiten wie Jean Gabin,
Erich Maria Remarque, Ernest Hemingway, den Sängern Maurice Chevalier, Frank
Sinatra und dem Musiker Louis Armstrong.136
Nach den Dreharbeiten an dem Film Schöner Gigolo, armer Gigolo (1979) zog
sich Marlene Dietrich aus der Öffentlichkeit zurück und lebte in ihrem Pariser
133
Marlene Dietrich, S. 126.
Marlene Dietrich, Buchumschlag.
135
Marlene Dietrich, Buchumschlag.
136
Marlene Dietrich, Buchumschlag.
134
40
Appartement. Sie starb am 6. Mai 1992 in Paris und wurde in Berlin-Friedenau
beigesetzt.137 Ihre letzten Jahre in Paris beschrieb Marlene Dietrich:
„Jetzt lebe ich in Paris, meiner geliebtesten Stadt. Wie ein Netz, das
Schmetterlinge einfängt, so wirft Paris das Liebesnetz über uns alle. (…) Die
Faszination, die Paris uns schenkt, ist genauso schwer zu erklären wie die Liebe
zwischen Mann und Frau. (…) Man kann ruhig leben in diesem Land der Schönheit, bis
die Engel uns holen.“138
Der Film Der Blaue Engel war ein internationaler Erfolg und stellte für Marlene
Dietrich zweifellos den Durchbruch ihrer Karriere dar. Dank der Zusammenarbeit mit
dem
berühmten amerikanischen Regisseur
Josef von Sternberg erhielt
die
Schauspielerin und Sängerin die Möglichkeit, zum Weltstar zu werden. Mit ihrem
interessanten Image wurde sie zum Sexidol ihrer Zeit.
6.8 Kritiker über Marlene Dietrichs Auftritt im Blauen Engel
Die Darstellung der Sängerin Lola Lola im Film Der blaue Engel wurde
allgemein sehr positiv aufgenommen. Die Tageszeitung Berliner Börsen-Courier vom
2. 4. 1930 äußerte sich zum Marlene Dietrichs Auftritt:
„Das Ereignis: Marlene Dietrich. Sie singt und spielt fast unbeteiligt,
phlegmatisch. Aber dieses sinnliche Phlegma reizt auf. Sie ist ordinär, ohne zu spielen.
Alles ist Film, nichts Theater. Zum erstenmal kommt eine Frauenstimme im Tonfilm mit
Timbre, Klangfarbe, Ausdruck heraus. Außerordentlich.“139
Die deutsche Wochenzeitschrift Die Weltbühne vom 29. 4. 1930 drückte genauso
Begeisterung über den gelungenen Auftritt der Künstlerin aus:
„Das Ereignis bleibt nur Marlene Dietrich. Weiß Gott, ob dieser Frau ein
zweites Mal so etwas gelingen wird, aber dies hier macht ihr in den Filmateliers einiger
Kontinente niemand nach. Dieses herrlich laszive Gesicht, diese hagere stelzende
Gestalt mit den schäbigen Seidenhöschen und den unwahrscheinlichen schwarzen
137
Marlene Dietrich, S. 296.
Marlene Dietrich, S. 296.
139
Marlene Dietrich, S. 106.
138
41
Gummistrumpfbändern gehört zu den wenigen wirklich großen Filmeindrücken seit
Jahren.“140
6.9 Hans Albers
Die Figur Mazeppa im Blauen Engel wurde von Hans Albers dargestellt. Hans
Albers wurde im Jahre 1891 in Hamburg geboren. Bevor er in der Kinematographie
Erfolg hatte, war er bereits der Star des deutschen Revuetheaters mit vielen
akrobatischen Nummern gewesen. 1929 spielte Hans Albers im ersten deutschen
Tonfilm Die Nacht gehört uns. Kurz darauf erschien er an der Seite von Marlene
Dietrich in der Rolle des Artisten Mazeppa im Blauen Engel. Auch da arbeitete er mit
seiner ungewöhnlich brummigen Redeweise und seinem betont gewöhnlichen
Verhalten. Als er zum Beispiel einen Liebhaber spielte, benahm er sich wie ein
gewöhnlicher Mensch. Er gähnte, er schnitt Grimassen, er nahm sich nicht zusammen.
Hans Albers war in Sternbergs Film der unverschämte Artist, der Marlene Dietrich ganz
ungeniert und direkt umwirbt.141
In einer Szene turnte Hans Albers auf der Wendeltreppe, auf der Marlene
Dietrich davongehen will, herum. Es handelt sich um eine für die Zeit ungewöhnlich
offene Anspielung sexueller Begierde.142
MAZEPPA: „Permettez-vous, Madame! Erlauben Sie mir, dass ich mich bekannt
mache: Mazeppa, Hans Adalbert Mazeppa, Kraftakt.“
LOLA LOLA: „Na, und?“
MAZEPPA: „Und? Bleibe hier! Ihretwegen! So bin ich nun mal: ein Mann der Tat!“143
6.10 Musik im Blauen Engel
Friedrich Hollaender (1896 – 1976) war ein deutscher Tonfilmkomponist und
Kabarettist. Sein Beitrag zum Blauem Engel waren hauptsächlich Marlene Dietrichs
Gesangseinlagen. Es handelt sich um den Höhepunkt seines Schaffens. Wegen der
140
Marlene Dietrich, S. 106.
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 196.
142
KOEBNER, T. Idole des deutschen Films. 1997, S. 197.
143
VON STERNBERG, J. Der blaue Engel. 1930, [01:21:40 – 01:21:50].
141
42
jüdischen Abstammung musste Friedrich Hollaender 1933 Deutschland verlassen, nach
Paris und später nach Hollywood emigrieren.144
Friedrich Hollaenders Lieder singt Lola Lola immer auf der Bühne an das
Publikum im Saal. Zum Reichsfilmblatt vom 10. 5. 1930 teilte Hollaender mit:
„Der Regisseur, von Sternberg, hatte den Wunsch geäußert, meine Komposition
vor Beginn seiner Dreharbeit kennenzulernen. Starke Befruchtung des eigenen
Schaffens erwartete er von der Musik. Schon mit dem Schlager „Ich bin von Kopf bis
Fuß auf Liebe eingestellt“ war die Charakterrolle von Marlene Dietrich so scharf
umrissen, dass durch dieses Chanson eine klare Grundlinie für die Handlung gewonnen
war. Das Thema dieser Melodie war prädestiniert dazu, Leitmotiv für das innerste
Geschehen zu werden, Schicksalsmotiv des verführten Professor Rath.“145
Die Lieder und die Musik-Motive sind Teil der Handlung. Das Lied Nimm Dich
in Acht vor blonden Frau'n erhält eine Warnung, die der Professor nicht bemerkt. Für
das Filmpublikum stellt dieses Lied genauso wie die Hafensirene eine Andeutung von
seinem Untergang dar.
Die Glocke schlägt die Melodie von Üb immer Treu und Redlichkeit.146 Mozarts
Melodie-Motiv Üb immer Treu und Redlichkeit ist eng mit dem Motiv aus Papagenos
Arie Ein Mädchen oder Weibchen wünscht Papageno sich147 verwandt. Die Glocke
spielt die Melodie dreimal im Film und zweimal davon in Verbindung mit einer
vorangegangenen Vogelszene.148 Zum ersten Mal schlägt die Uhr, nachdem der
Professor seinen toten Vogel aus dem Käfig holt und seine Haushälterin ihn kalt in den
Ofen wirft. Die Glocke folgt zum zweiten Mal nach der Szene in Lolas Schlafzimmer.
Lola hat auch einen Singvogel in einem Käfig, der während der Morgenszene singt. Das
Glockenspiel ruft Professor Rath wieder zur Pflicht. Zuletzt schlägt die Uhr ganz am
Ende des Films, als der Professor sterbend, nach dem Zusammenbruch, auf dem
Schreibtisch in seinem Klassenzimmer liegt und sich am Tisch festhält.
144
THIEL, W. Filmmusik in Geschichte und Gegenwart. 1981, S. 145.
Marlene Dietrich, S. 104.
146
Text: Ludwig Hölty, Musik: W. A. Mozart.
147
Eine Arie aus der Zauberflöte von W. A. Mozart.
148
STEIN, R. Das deutsche Dirnenlied. Literarisches Kabarett von Bruant bis Brecht. 2007, S. 425.
145
43
Ich bin von Kopf bis Fuß auf die Liebe eingestellt wurde nicht nur zum
Weltschlager, sondern zeigte ebenso wie die drei anderen Lieder149 und das GlockenLeitmotiv Üb immer Treu und Redlichkeit, dass ein Titelsong in dieser Zeit aus
kommerziellen Gründen auch in Filmen ernsthafter Thematik fast immer zu finden
war.150
Nach dem Jahre 1933 begann der Prozess der Monopolisierung und der
ideologischen Gleichschaltung. Die neuen politischen Verhältnisse zwangen viele
Musiker zur Emigration, von denen viele populäre Melodien der frühen dreißiger Jahre
stammten. Unter ihnen befand sich auch der Komponist Friedrich Hollaender.151
6.11 Der blaue Engel in der zeitgenössischen Kritik
Die Aufführung des Films war nicht nur in Deutschland sondern auch in anderen
Ländern sehr erfolgreich. Der Film brachte dem Regisseur und den Protagonisten
Anerkennung. Die Auftritte der Schauspieler wurden mit großer Begeisterung vom
Publikum und auch von der Kritik aufgenommen. In der Berliner Zeitschrift Licht Bild
Bühne vom 1. 5. 1930 wurde die Premiere in Budapest beschrieben:
„Die Premiere des Jannings-Sternberg-Ufa-Tonfilms Der blaue Engel gestaltete
sich in Budapest zu einem starken künstlerischen und geschäftlichen Erfolg.“152
Die Berliner Zeitschrift Licht Bild Bühne vom 7. 7. 1930 äußerte sich auch zu der
englischen Aussprache der Schauspieler:
„London: Der lange erwartete Emil Jannings-Sprechfilm zeigt, dass die
Deutschen eine neue Linie suchen. Amerika hatte jene Mischung von Theater, Beinen
und Schlagermusik mit den Lichtern des Broadway im Hintergrund geschaffen –
Deutschland mit Emil Jannings brach mit dieser Entwicklung und gab seinem
Hauptdarsteller die Möglichkeit, sich in einem klaren dramatischen Geschehen zu
149
Ich bin die fesche Lola, Nimm Dich in Acht vor blonden Frauen, Kinder heute abend da suche ich mir
was aus.
150
THIEL, W. Filmmusik in Geschichte und Gegenwart. 1981, S. 145.
151
THIEL, W. Filmmusik in Geschichte und Gegenwart. 1981, S. 150.
152
Marlene Dietrich, S. 107.
44
entfalten. Der englische Dialog ist guttural, aber gut verständlich. Marlene Dietrich
spricht das Englische mehr amerikanisch.“153
Reichsfilmblatt berichtete am 10. 1. 1931 über die Rekordeinnahme des Films:
„New York: Die führende amerikanische Fachzeitung Motion Pictures News
stellt in ihrer Nummer vom 20. Dezember fest, dass am ganzen Broadway die
Einnahmen der Film-Theater durchweg nachgelassen haben, und zwar in einem
katastrophalen Ausmaße. In sämtlichen Kinos seien die Einnahmen weit unter dem
normalen Standard gewesen. Die einzige Ausnahme habe der Ufa-Film Der blaue
Engel, herausgebracht von der Paramount, gemacht, welcher in einer Woche die
„grandiose“ Einnahme von 60 900 Dollar im Rialto154 erzielt habe. Die Zeitung stellt
fest, daß dies alle Rekorde übertrifft.“155
Der Blaue Engel erzielte einen riesigen Erfolg. Er wurde von einem anerkannten
Regisseur gedreht und auch die hochkarätige Filmbesetzung spielte eine wichtige Rolle
- Emil Jannings war zu der Zeit bereits Oscarpreisträger. Auch die Tatsache, dass der
Film nicht nur in Deutsch, sondern auch in Englisch gedreht wurde, war von großer
Bedeutung.
153
Marlene Dietrich, S. 107.
Die Rialto Film GmbH ist eine in Berlin ansässige Filmproduktionsfirma.
155
Marlene Dietrich, S. 107.
154
45
7 ZUSAMMENFASSUNG
Meine Bachelorarbeit zum Thema Literatur im Film: Der Roman Professor
Unrat (1905) von Heinrich Mann und der Film Der blaue Engel (1930) von Josef von
Sternberg führte mich zu interessanten Erkenntnissen. Durch die Beschäftigung mit
seiner Biographie erfuhr ich Wissenswertes über die Lebensgeschichte Heinrich Manns.
In seinem literarischen Werk kritisierte oft der Schriftsteller die Doppelmoral des
deutschen Bürgertums der wilhelminischen Epoche und schrieb vor allem zeitkritische
Romane. Sein Bekenntnis zur Demokratie und seine Kritik am Krieg zwangen ihn, aus
seinem Vaterland zu emigrieren.
Der Film Der blaue Engel wurde in der Zeit des Aufstiegs des
Nationalsozialismus in Deutschland gedreht. Ich erwähnte die Haltung der Künstler, die
an dem Film beteiligt waren, zu dieser Ideologie. Während die weltberühmte deutsche
Schauspielerin Marlene Dietrich nach der Machtergreifung die NS-Propaganda zu
unterstützen ablehnte und Deutschland verließ, blieb Emil Jannings und wirkte in vielen
Propagandafilmen mit. Ich beschäftigte mich auch mit der charakteristischen Art der
Rollendarstellung. Die einzelnen Fakten waren in den Publikationen, die sich mit der
Geschichte des Films beschäftigen, leicht zugänglich. Viel Interessantes wurde darüber
hinaus aus zeitgenössischen Filmzeitschriften und Filmmagazinen zitiert. Einen
wichtigen Raum widmete ich auch der Filmmusik und ihrer Bedeutung.
Im praktischen Teil meiner Arbeit beschäftigte ich mich vor allem mit der
Beschreibung der beiden teilweise recht
unterschiedlichen Handlungen und
konzentrierte mich weiterhin auf den Vergleich der literarischen Originalvorlage von
Heinrich Mann mit ihrer Verfilmung. Aufmerksamkeit wurde nicht nur den
Veränderungen im Film gewidmet, sondern auch der Frage nach deren Grund. Den
ganzen Inhalt des Romans kann ein Film nicht umfassen, deshalb wurde die Handlung
auch verkürzt. Heinrich Mann bejahte zwar die Verfilmung seines Romans, an dem
Drehbuch arbeiteten jedoch andere Persönlichkeiten. Die Arbeit am Film begann
fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen des Romans, was das Geschehen im Film
ebenfalls beeinflusste. Der Handlungsstrang der Schulsatire wurde nicht genau
beibehalten. Der bedeutendste Unterschied ist mit der Hauptfigur Professor Raat
verbunden und zwar mit seinem Charakter, seiner Entwicklung und mit der Art und
46
Weise, wie die Handlung ihren Höhepunkt erreicht. Meiner Meinung nach erregt der
Professor beim Leser Bewunderung, beim Filmpublikum jedoch eher Mitleid. Die
Kritik an Macht und Autorität, die Heinrich Mann in seinem Werk betonte, bleibt im
Film erhalten. Unrat ist ein Schultyrann, der seine Machtstellung in der Klasse oft
ausnutzt und missbraucht. Die stark satirische Kritik der damaligen Gesellschaft wird
dagegen nicht so klar. Heinrich Mann schrieb seine Romane in der Absicht, die
Doppelmoral des Bürgertums
aufzuzeigen und bloßzustellen. Der Ausgang des
satirischen Romans und des Films ist allerdings ganz verschieden. Damit kann ich
meine Hypothese aus der Einleitung bestätigen und zwar, dass diese Buchverfilmung
die Originalgeschichte teilweise ihres Sinns beraubt. Der Film entspricht nicht der
ursprünglichen Absicht des Schriftstellers.
Trotz der Tatsache, dass der Film ein großer Erfolg war und zu den
bedeutendsten Filmen der Weimarer Zeit gehört, enthält er die Hauptideen der
Romanvorlage nicht. In diesem Sinne handelt es sich – meiner Ansicht nach – nicht um
eine gelungene Filmadaptation. Obwohl der Ausgang des Films nicht genau mit der
Botschaft Heinrich Manns übereinstimmt, wurde sein Roman dank der erfolgreichen
Verfilmung weltberühmt. Er geriet in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit und
konnte so viele Leute ansprechen.
47
8 RESUMÉ
Práce přibližuje román Profesor Neřád s podtitulem Konec tyrana (německy
celým názvem Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen). Jedná se o jedno ze
stěžejních děl německého spisovatele Heinricha Manna, které bylo vydáno v Německu
v roce 1905. Zvláštní kapitola je věnována době, ve které autor žil, neboť se ve svých
dílech často zabýval kritikou tehdejší německé společnosti. Tento satirický román není
výjimkou.
Filmová podoba románu byla natočena pod názvem Modrý anděl (Der blaue
Engel). Jedná se o slavnou německou filmovou adaptaci z roku 1930, na jejímž scénáři
se Heinrich Mann nepodílel. Originální text byl do jisté míry upraven.
Hlavním cílem práce je popis obou dějů a jejich srovnání. Důraz je kladen
především na odlišnosti ve filmovém ztvárnění hlavní postavy profesora Raata s knižní
podobou. Porovnání originálního příběhu s filmovým zpracováním ukazuje na
vypuštění některých z hlavních myšlenek původně satirického románu. Zatímco v textu
Heinricha Manna se z profesora Raata stává anarchista odsuzující společnost, filmová
verze románu naproti tomu zdůrazňuje smutný osud bývalého profesora a končí jeho
smrtí.
Nedílnou součást práce tvoří dostupné informace o režisérovi Josefu
Sternbergovi a hercích v hlavních rolích Modrého anděla (Emil Jannings, Marlene
Dietrich). Dále práce obsahuje i kritické ohlasy na tento film, které byly vesměs
pozitivní.
Závěrem lze však podotknout, že i přes fakt, že má filmové zpracování jinou
podobu než román, mělo velký podíl na jeho zpopulárnění, což byl jeden z jeho
hlavních přínosů. Film také znamená začátek herecké kariéry Marlene Dietrich.
Vzhledem ke skutečnosti, že se jedná o jeden z prvních zvukových filmů, jehož
předlohou bylo dílo uznávaného spisovatele a zároveň obsahoval celou řadu chytlavých
melodií, slavil ve své době velký úspěch a zapsal se tak do dějin světové
kinematografie.
48
9 LITERATURVERZEICHNIS
Primärliteratur
MANN, Heinrich. Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Frankfurt am
Main : S. Fischer Verlag, 1994. ISBN 3-10-047808-8.
MANN, Heinrich. Profesor Neřád neboli Konec tyrana. Z něm. originálu
přeložila Jaroslava Vobrubová-Koutecká. Praha : Státní nakladatelství krásné literatury,
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Sekundärliteratur
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tyrana. Z něm. originálu přeložila Jaroslava Vobrubová-Koutecká. Praha : Státní
nakladatelství krásné literatury, hudby a umění, 1958.
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Moderne 1890 – 1918. München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997. Band 8. ISBN
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MAI, Manfred. Geschichte der deutschen Literatur. Weinheim/Basel : Beltz
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49
MEIER, Bernd; SEYDEL, Renate. Marlene Dietrich. Eine Chronik ihres Lebens
in Bildern und Dokumenten. Berlin : Henschelverlag, 1986.
MÜLLER, Helmut M. aj. Deutsche Geschichte in Schlaglichtern.
Leipzig/Mannheim : F. A. Brockhaus, 2002. ISBN 3-7653-0201-5.
OTTE, Birgit. Text + Kritik. Vita Heinrich Mann. München : Hrsg. von Heinz
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WWW: <http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/JanningsEmil/index.html>.
Film-Kurier. Berlin : 1929, roč. 11, č. 194. [online] [2012-05-25] Dostupné na
WWW: <http://www.marlenedietrich-filme.de/html/bengel_pre01.html>.
50
KRÜNES, Erich. Film-Magazin. Berlin : 1929, č. 34. [online] [2012-05-27]
Dostupné na WWW: <http://www.marlenedietrich-filme.de/html/bengel_pre02.html>.
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