Gesetzliche Krankenkassen unter Druck - IG Bauen-Agrar

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Gesetzliche Krankenkassen unter Druck - IG Bauen-Agrar
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Titel
Operation Kra
Gesetzliche Krankenkassen unter Druck
Die große Angstmache geht um. Fast täglich berichten die Zeitungen von
Krankenkassen, die vor der Insolvenz stehen, fusionieren müssen oder bald
Zusatzbeiträge erheben. Gesetzlich krankenversichert scheint altmodisch
geworden zu sein. Die Finanzierung ist schwieriger geworden, das Prinzip
der solidarischen Sozialversicherung – immerhin seit Bismarck, also seit über
100 Jahren ein Prinzip – ist gefährdet. „Der Grundstein/Der Säemann“ hat hinter die Kulissen dieser Polit-Show geschaut: Die Wirklichkeit sieht ganz anders
aus. Und es gibt eine Alternative: die Bürgerversicherung.
D
ie gesetzlichen Krankenkassen sind dabei, die Buhmänner der Nation zu werden.
Als jetzt die Berliner City BKK insolvent wurde und andere Krankenkassen einspringen
mussten, kam es zu schlimmen Pannen. Etliche Versicherte wurden erst einmal abgewiesen. Das hat viele verunsichert und den
Gegnern des Solidargedankens im Gesundheits- und Sozialsystem in die Hände gespielt – die FDP, die den Weg in ein anderes
Gesundheitssystem mit willfährigen Medien inszeniert, reibt sich die Hände. In
Wirklichkeit wird nicht ein einziger gesetzlich Krankenversicherter seinen Schutz verlieren, auch wenn noch nicht alle City BKKVersicherte eine neue Krankenkasse gefunden haben. Die ganze Aufregung ist aufgebauscht, die wirklich fetten Beitragserhöhungen gibt es (ungebremst) bei der Privaten Krankenversicherung (PKV). Statt sachlich aufzuklären, spielen viele Medien den
Marktradikalen und Privatisierungsjüngern
(wieder einmal) in die Hände.
Das Spiel ist bekannt und hat bereits
beim systematischen Schlechtreden und
| Der Grundstein | Juli/August 2011
Schlechtmachen der gesetzlichen Rente
bestens funktioniert. Profitiert hat hiervon
auf gigantische Weise die private Versicherungswirtschaft: Milliardeneinnahmen an
„Bearbeitungsgebühren“ für die über 13
Millionen Riester-Renten lassen grüßen.
Jetzt soll das Gleiche auf dem Milliardenfeld der Kranken-, Zusatz- und Pflegeversicherungen passieren. Dazu muss das
System der Gesetzlichen Krankenkassen
(GKV) ordentlich geschwächt und der
„Wettbewerb als Heilmittel“ durchgesetzt
werden.
Irreführung der Öffentlichkeit
Die aktuelle Schließung der Berliner City
BKK war hier leider Öl ins Feuer dieser Stimmungsmache. Robert Feiger, Stellvertretender Bundesvorsitzende der IG BauenAgrar-Umwelt (IG BAU), kann über die Medien nur den Kopf schütteln und spricht von
„Irreführung der Öffentlichkeit“ (siehe das
Interview auf Seite 11).
Die Regierung aus CDU/CSU und FDP mag
zwar in vielen Punkten eine Luftnummer
sein und nichts zustande bringen, in der
Gesundheitspolitik aber zieht die FDP (die
den Gesundheitsminister stellt) ihre Vorhaben durch:
✸ Schwarz-Gelb hat mit der solidarischen
Finanzierung des Gesundheitssystems gebrochen.
✸ Der Wechsel in das Private Krankenversicherungs-System wurde erleichtert.
✸ Der Arbeitgeberanteil an den Krankenversicherungsbeiträgen ist seit 1. Januar
2011 auf 7,3 Prozent festgeschrieben
(maximal rund 270 Euro im Monat).
✸ Der Arbeitnehmeranteil beträgt zurzeit
8,2 Prozent.
✸ Die Arbeitnehmer sollen alle Mehrkosten des Gesundheitssystems in der Zukunft
alleine tragen.
✸ Die Bundesregierung übt politischen
Druck aus, dass die Kassen darüber hinaus
Zusatzbeiträge verlangen – und so einen
Preiswettbewerb in Gang setzen, der
(außer den Privatversicherungen) nur Verlierer kennt.
✸ Dieser Zusatzbeitrag belastet Geringverdiener weit mehr als Gutverdiener, die
steuerlich mehr Möglichkeiten zum Absetzen haben.
✸ Ein dubioser „Sozialausgleich“ gleicht
die Mehrbelastung der Versicherten nicht
aus.
✸ Dazu kommt: Die Zusatzbeiträge sollen
in unbegrenzte Kopfpauschalen umgewandelt werden – die Einführung dieser unsolidarischen Finanzierung durch die Hintertür.
Dabei handelt es sich nicht um einen prozentualen Beitrag, der sich gleichermaßen
auf hohe wie niedrige Einkommen bezie-
Titel
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nkenkasse
Fotos: Fotolia
Wo bleiben wir?
Juli/August 2011 | Der Grundstein |
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Titel
Für den Wechsel
genügt eine Postkarte
Viele gesetzlich Krankenversicherte sind verunsichert, wie sie sich verhalten sollen, wenn ihre
Krankenkasse insolvent wird. Die Mitglieder der
IG BAU können sich mit ihren Fragen an die
Juristinnen und Juristen der DGB Rechtsschutz
GmbH wenden.
Auskünfte und Beratung sind mit dem Gewerkschaftsbeitrag abgegolten. Hier ein Auszug aus
dort häufig gestellten Fragen:
Bleibt mein Versicherungsschutz bei einer drohenden Insolvenz meiner Krankenkasse erhalten?
Der Versicherungsschutz bleibt voll erhalten.
Alle Leistungen der Ärzte, der Krankenhäuser oder
anderer Leistungserbringer werden bezahlt, auch
Therapien. Bei Schließung einer Krankenkasse
haftet ihr Dachverband.
Was muss ich tun, wenn meine Krankenkasse
schließt?
Sollte die Krankenkasse schließen, kann und muss
man anstandslos in eine andere Kasse wechseln.
„Für den Kassenwechsel reicht eine Postkarte mit
Name, Adresse und Eintrittszeitpunkt“, betont
Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes. Die gewählte Krankenkasse muss
sich dann mit dem neuen Mitglied in Verbindung
setzen und alle weiteren Formalitäten erledigen.
Muss mich eine Krankenkasse aufnehmen, auch
wenn ich bereits älter und chronisch krank bin?
Ja. Die Sorge vor einer etwaigen Ablehnung ist
unbegründet, denn alle – auch ältere oder
sehr kranke Mitglieder – können frei in eine andere
Krankenkasse wechseln.
Worauf muss ich vor dem Wechsel der Krankenkasse achten?
Prüfen Sie als gesetzlich versichertes Mitglied vor
einem Kassenwechsel genau, ob die von Ihnen gewünschten Mehrleistungen (Leistungen außerhalb
des gesetzlichen Leistungskatalogs) der bisherigen
Krankenkasse auch bei Ihrer neuen Kasse angeboten werden, denn diese Leistungen müssen nicht
zwingend von der neuen Kasse übernommen werden.
Weitere Infos unter: www.dgbrechtsschutz.de
| Der Grundstein | Juli/August 2011
Wenn die Krankenkasse insolvent wird:
Juristinnen
und Juristen der
DGB Rechtschutz GmbH
helfen Mitgliedern
der IG BAU
hen würde, sondern um Festbeträge,
die „Arme" genauso stark belasten wie
„Reiche", mithin blind sind für die Leistungskraft der Menschen.
✸ Nach Modellrechnungen können
diese monatlichen Zusatzbeiträge bald
70 oder 100 Euro, möglicherweise sogar 300 Euro erreichen.
✸ Ein Solidarsystem, um das viele Länder Deutschland beneiden, wird kaputtgeredet und von der Bundesregierung systematisch abgedrosselt.
Augenwischerei
Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind gesetzlich geregelt, Erhöhungen um 0,5 Prozent sind
schon ein Politikum. In Wirklichkeit sind
es die Beiträge der privaten Versicherer, die, so Doris Pfeiffer, Vorsitzende
des Spitzenverbandes der Gesetzlichen
Kranken- und Pflegekassen, „schon
seit Jahren nahezu ungebremst steigen – und das, obwohl sie auf Gutverdiener und Gesunde setzen und versuchen, Alten und chronisch Kranken aus
dem Weg zu gehen“. Um satte 45 Pro-
zent sind die Beiträge in der PKV zwischen 1996 und 2005 gestiegen. Gab
es hier einen medialen Aufschrei?
Jetzt gibt es Schlagzeilen wegen acht
Euro Zusatzbeitrag, das sind Zehntelprozentpunkte an Steigerung. Bei der
GKV übrigens sind die Ausgaben von
1997 bis 2006 um 21,3 Prozent, bei
den Privaten dagegen um 43,6 Prozent gestiegen.
Sogar die wirtschaftsfreundliche
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“
(FAZ) warnte dieser Tage ausführlich: „Vorsicht vor Einsteigertarifen!
Private Krankenversicherer werben
aggressiv mit Billigangeboten. Was
der Kunde nicht ahnt: Die Policen
kommen für viele Leistungen nicht
auf.“ Die Werbung der Privatkassen,
die den Eindruck erwecken, schon
mit weniger als 100 Euro einen womöglich besseren Versicherungsschutz als die „blöden Gesetzlichen“
bieten zu können, nennt die „FAZ“
eine „verlogene Augenwischerei,
denn die Billigangebote bieten einen schwächeren Schutz als die ge-
Titel
Foto: Kalle Meyer
„Eine Irreführung der Öffentlichkeit“
setzlichen Krankenversicherer“. Was viele nicht wissen: Die Neuwerbung für eine
private Krankenversicherung bringt dem
Vermittler (der sich oft als „unabhängig“
ausgibt) an die 14 bis 18 Monatsbeiträge
als Provision. Inzwischen haben hier die
Aufsichtsbehörden Alarm geschlagen,
und Politiker fordern eine Begrenzung.
Ungleichheiten
An die 90 Prozent der Bundesbürger sind
(noch) gesetzlich krankenversichert. Sage
und schreibe 94 Prozent von ihnen, so eine
aktuelle Umfrage der Marktforschungsgruppe GfK, sind mit ihrer Wahl zufrieden.
Und ein weiterer Umfragewert: Ganze sieben Prozent überlegen sich einen Wechsel
in die private Krankenversicherung.
Weil das den Privatisierern zu wenig ist,
wird derzeit kräftig nachgeheizt, die Selbstverwaltung der Kassen eingeschränkt und
politischer Druck zu Schließung oder Fusion
gemacht. Das verschärft die ohnehin vorhandene, ungerechte Struktur:
✸ Die Mehrzahl der Selbstständigen, Gutverdiener, Beamten und Politiker zahlt
nicht in die GKV ein. Insgesamt fehlen so
Die Achterbahnfahrt des Krankenkassensystems in den vergangenen Jahren hat der
Stellvertretende IG BAU-Bundesvorsitzende Robert Feiger hautnah mitbekommen.
Er ist Verwaltungsratsvorsitzender (für die Arbeitnehmerseite) bei der Vereinigten IKK.
Diese wird voraussichtlich zum 1. August mit der IKK classic zur dann größten deutschen
Innungskrankenkasse fusionieren. Die neue Kasse wird etwa 3,6 Millionen Mitglieder
haben, rund 80 Prozent im Innungsbereich abdecken und bundesweit tätig sein. Betriebliche Prävention ist eines ihrer Markenzeichen.
Grundstein: Was ist eigentlich los mit den gesetzlichen Krankenkassen?
Robert Feiger: Die Medien beleuchten das, was da gerade passiert, nicht wirklich. Es ist haarsträubend, wie die Öffentlichkeit
irregeführt wird. Es ist nämlich nicht unbedingt so, dass Kassen,
die jetzt in wirtschaftliche Not geraten, auch schlecht wirtschaften. Es geht um eine Problematik des Systems.
Grundstein: Was heißt das?
Robert Feiger: Die Selbstverwaltung wird eingeschränkt, gleichzeitig wird der Marktdruck erhöht. Durch den Gesundheitsfonds
ist die Beitragsautonomie der Krankenkasse entfallen. Die KasRobert Feiger,
sen erhalten pro Versichertem feste Zuwendungen aus dem GeStellvertretender
sundheitsfonds. Diese decken nicht immer die tatsächlichen
Bundesvorsitzender der
Ausgaben, weil sie nur zum Teil Risiken und bestimmte KrankIG Bauen-Agrar-Umwelt
heiten berücksichtigen. Die Kassen können zwar selbst etwa mit
Krankenhaus-, Pharma- oder Ärzteverbänden verhandeln. Sie
haben aber keinen Einfluss auf die Versorgungsdichte – aber genau die macht den Unterschied bei den anfallenden Kosten pro Versichertem aus. Krankenkassen mit vielen Versicherten in den neuen Bundesländern sind da zum Beispiel im Vorteil, weil in den westlichen Ballungsräumen die Ärzte-, Krankenhaus- und Versorgungsdichte weit größer
und damit teurer ist.
Grundstein: Der Zusatzbeitrag, den die Kassen bei Bedarf erheben können,
ist da keine Hilfe?
Robert Feiger: Der Zusatzbeitrag, zu dem die Politik die Kassen förmlich zwingt und
verstärkt zwingen will, hat mit einer paritätischen Krankenversicherung nichts mehr zu
tun. Weil er alleine von den Arbeitnehmern bestritten werden muss. Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen läuft fast ungebremst, und die Versicherten alleine müssen
dafür geradestehen. Außerdem sind die strukturellen Unterschiede mit einem wettbewerbsfähigen Zusatzbeitrag nicht auszugleichen. Das ist hochgradig ungerecht. Das ist
der Abschied vom Solidarsystem.
Grundstein: Was ist denn an diesem Solidarsystem so gut und besonders?
Robert Feiger: Nehmen wir nur zum Beispiel die Vereinigte IKK, eine der großen Handwerkskassen: Wir haben ein vorbildliches Präventionssystem mit Bonussystem, wo Beschäftigte und Unternehmen von der Gesundheitsvorsorge profitieren. Das ist Vorsorge,
bei der alle Seiten gewinnen – auch die IKK, weil sie für Krankenbehandlungen weniger
Aufwand hat, wenn die Versicherten im Vorfeld etwas für ihre Gesundheit tun. Solche
Angebote stehen unter Druck, die gelten als überflüssig. Die Politik hat es jetzt geschafft, dass die Verantwortlichen in den gesetzlichen Krankenkassen sich nicht mehr
vordringlich um Prävention und Gesundheit ihrer Versicherten kümmern, sondern sich
an den Konkurrenzgesetzen des Marktes abarbeiten. Das kann doch nicht sein. Eine
Krankenkasse muss für die Menschen und auch sozialpolitisch tätig sein.
almay
Juli/August 2011 | Der Grundstein |
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Titel
Immer weniger Gesetzliche Krankenkassen
1970
1980
1990
1995
1997
2000
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
1. Juli 2011
1815
1319
1147
960
554
420
323
287
267
254
241
221
202
154
die Beiträge von etwa 15
Prozent vollzahlender
Mitglieder.
✸ Gutverdiener und „gute Risiken“ (jung, reich,
gesund) entziehen sich
dem Solidarsystem und
sind privat versichert.
✸ Geringverdiener, Arbeitslose und
„schlechte Risiken“ (alt, arm, krank) müssen vom Solidarsystem getragen werden,
die Privaten entledigen sich solcher Belastungen.
✸ Die PKV ist bis heute nicht ausreichend
in einen Solidarausgleich einbezogen.
✸ Die gesetzlichen Krankenkassen erhalten einen Einheitsbeitrag, egal, wie die
Struktur ihrer Versicherten und die regionalen Bedingungen sind. Sie dürfen keine Altersrückstellungen bilden, etwa für das absehbare Problem, dass die Zahl der Erwerbstätigen sinkt und die Zahl der Rentner (die weniger Beitrag zahlen) weiter
steigen wird. Auch Rücklagen für Mehrausgaben durch medizinischen Fortschritt dürfen nicht gemacht werden. Steigende Beitragssätze sind daher vorprogrammiert,
und die Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass das alleine auf Kosten der Arbeitnehmer gehen wird.
| Der Grundstein | Juli/August 2011
Verschwunden oder fusioniert: 92 Prozent der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV)
von 1970 gibt es heute nicht mehr. Derzeit sind es noch 154 von ehemals 1815 im
Jahr 1970. Das ist politisch gewollt, bis 2015 wird sogar mit nur noch 50 GKVs
gerechnet. An die 90 Prozent der Deutschen sind (noch) gesetzlich krankenversichert.
Im Vergleich zu den Gesundheitsausgaben übrigens sind die Verwaltungskosten der
GKVs von 1992 bis 2008 um 0,2 Prozentpunkte gestiegen. Die Verwaltungskosten der
Gesetzlichen Krankenkassen machen etwa 5,3 Prozent ihrer Ausgaben aus, bei den
Privaten Krankenversicherungen sind es über 14 Prozent.
✸ Gleichzeitig werden die Möglichkeiten
der Selbstverwaltung der Kassen immer
mehr beschnitten.
Unter Druck
Laut Bundesversicherungsamt verfügen
derzeit 20 Krankenkassen nicht über die
vorgeschriebene Finanzlage. Solche Kassen müssen sparen, Personal und Leistungen beschneiden und – wie die FDP-Politik
es will – einen Zusatzbeitrag erheben. Der
trifft ausschließlich die Versicherten, nicht
die Arbeitgeber. Und er trifft, wie die Erfahrungen zeigen, die Krankenkassen selbst:
Der Zusatzbeitrag wird zum Sargnagel.
Denn es entsteht ein Sonderkündigungsrecht, das vor allem jüngere Versicherte
nutzen. Die Krankenkasse verliert Mitglieder – und gerät noch mehr in Schieflage,
muss fusionieren oder schließen.
„Wenn eine Kasse Zusatzbeiträge erhebt,
verliert sie 20 bis 30 Prozent der Mitglieder.
Dabei kündigen vor allem die jüngeren, gesünderen Versicherten, die nur geringe
Kosten verursachen“, bestätigte Gesundheitsökonom Jürgen Wasem (Uni DuisburgEssen) kürzlich in einem Interview der
„Zeit“. Dazu kommt: Die Kassen müssen
füreinander haften. Geht eine in Insolvenz,
müssen die anderen die Kosten für Schlie-
ßung und Abwicklung übernehmen – so, als
hätten Bilfinger Berger, Züblin, Bögl und
HOCHTIEF für das Ende der Holzmann AG
bezahlen müssen. Gesundheitsminister
Daniel Bahr (FDP) kann sich deshalb sicher
sein: „Es wird weitere Kassenfusionen geben, und die Zahl der Krankenkassen wird
sich weiter reduzieren.“ Experten der Deutschen Bank erwarten, dass 2012 die Zahl
der gesetzlichen Krankenkassen von derzeit rund 150 auf unter 100 sinkt.
Der (arbeitgebergesteuerten) „Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft“ geht das alles
zu langsam. „Zusatzbeiträge haben bisher
kaum zu Wettbewerb zwischen den Krankenkassen geführt“, tönte sie Mitte Juni. Viel
zu wenige Versicherte seien bisher zum
Wechsel bereit, deshalb müssten die Zusatzbeiträge deutlich höher ausfallen. Dabei hortet der Gesundheitsminister Milliarden aus
dem Gesundheitsfonds und weigert sich, die
Krankenkassen finanziell besser auszustatten oder die Beiträge zu senken. Verdrängungswettbewerb, Fusionen und Kannibalismus, Verunsicherung der Versicherten und
schlechtes Image der Kassen sind politisch
gewollt – das muss man wissen. Es lohnt sich,
einen kühlen Kopf zu bewahren. Sonst heißt
es bald in Sachen Solidarsystem: Operation
gelungen, Patient tot!
almay
(Quelle: GKV-Spitzenverband)
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Zwei Drittel der Bürger plädieren für eine
Bürgerversicherung, meldete die ÄrzteZeitung im Oktober 2010. Das wissenschaftliche Institut der Allgemeinen
Ortskrankenkassen, das die Umfrage
erstellte, meint dazu: „Die Befragten
finden ihre Gerechtigkeitsvorstellungen
eher in einer Bürgerversicherung wieder,
die alle Personenkreise einbezieht, von
Vermögenden zu Geringverdienern
umverteilt und die Trennung zwischen
gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufhebt.“
Die IG BAU trat übrigens schon 2003
mit der Forderung nach einer Bürgerversicherung an die Öffentlichkeit und
plädierte für einen radikalen Umbau
der Sozialversicherungssysteme, um sie
für die Zukunft zu sichern.
Die Idee leuchtete und leuchtet vielen
Bürgern ein, die Zustimmung bleibt
unverändert hoch. Auch der DGB hat die
Bürgerversicherung auf seine Fahnen
geschrieben, und bei einem Wahlsieg
2013 wollen SPD und Grüne eine Bürgerversicherung angehen.
Bürgerversicherung heißt
für die IG BAU:
◆ Der Beitrag ist einkommensbemessen.
◆ Die Finanzierung ist paritätisch.
Die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge sind gleich hoch.
◆ Einbezogen werden Beamte
und Spitzenverdiener.
◆ Einbezogen werden Mieten und
Pachten von Mehrfamilienhauseigentümern.
◆ Einbezogen werden Zinseinkünfte
von Millionären.
Kopfpauschale ist der falsche Weg
Die Situation in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) scheint im
Moment widersprüchlich. Während die GKV Milliardenüberschüsse vermeldet, musste die City BKK Insolvenz anmelden. Für viele ihrer 167 000 Versicherten ein wahrer Spießrutenlauf. Der von Politikern hochgelobte und politisch auch gewollte Kassenwettbewerb zeigt hier sein hässliches Gesicht. Rund
20 Kassen werden inzwischen als Pleitekassen gehandelt – und das, obwohl
der Gesundheitsfonds überquillt.
Was wie ein Widerspruch aussieht, erklärt sich
schnell bei näherem Hinsehen. Die positive Wirtschaftsentwicklung erhöht das allgemeine Beitragsaufkommen. Zusätzlich spült die kräftige Beitragserhöhung zu Beginn des Jahres sechs Milliarden Euro in
den Fonds. Gleichzeitig funktioniert aber der Finanzausgleich zwischen den Kassen immer noch nicht richtig. Kassen in teuren Versorgungsgebieten und mit
Annelie Buntenbach, vielen kranken und einkommensschwachen MitglieMitglied des Geschäftsdern rutschen zwangsläufig ins Defizit, weil die besonführenden Vorstandes des
deren Risiken nicht ausgeglichen werden. Als einziges
Deutschen GewerkschaftsVentil bietet die Politik den Kassen an, pauschale Zubundes (DGB)
satzbeiträge einzutreiben. Die Versicherten müssen
unabhängig vom Einkommen eine zusätzliche Kopfpauschale zahlen – und verlassen diese Kassen in Scharen. Die Folge: Deren
Finanzsituation verschlechtert sich weiter dramatisch, Pleite und Schließung
drohen.
Foto: DGB
Das will die IG BAU:
Bürgerversicherung
Zwischenruf
Die Politik hat diese Verunsicherung ganz bewusst angestiftet. Und mit
der Einführung der Kopfpauschale wird das Chaos perfekt. Spätestens dann,
wenn der Aufschwung vorbei ist und die Einnahmen der Kassen wegbrechen,
wird es Kopfpauschalen auf breiter Front geben. Die Belastungen der Versicherten steigen weiter, und die Kassen haben die Wahl zwischen Pest und
Cholera. Erheben sie Kopfpauschalen, laufen ihnen die Versicherten weg, tun
sie es nicht, stehen sie schnell vor der Pleite.
Kopfpauschalen sind das Ende der Solidarität im Gesundheitswesen, sie
laden die gesamten Kostensteigerungen der Zukunft allein bei den Versicherten ab. Deshalb setzt der DGB seine Kampagne gegen die Kopfpauschale
und für eine Bürgerversicherung fort. Mit paritätischen Beiträgen der Arbeitgeber, einem Finanzausgleich, an dem auch die Privaten Krankenversicherungskonzerne beteiligt werden, und Beiträgen von allen Bürgerinnen und
Bürgern – auch für hohe Kapitaleinkünfte – können die Belastungen der Versicherten sogar gesenkt werden. Und die Kassen können sich auf Verbesserung
der Versorgung konzentrieren. Dabei gewinnen alle.
Weitere Informationen unter: www.stoppauschale.de im Internet.
Juli/August 2011 | Der Grundstein |
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