Gesetzliche Krankenkassen unter Druck - IG Bauen-Agrar
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Gesetzliche Krankenkassen unter Druck - IG Bauen-Agrar
8 Titel Operation Kra Gesetzliche Krankenkassen unter Druck Die große Angstmache geht um. Fast täglich berichten die Zeitungen von Krankenkassen, die vor der Insolvenz stehen, fusionieren müssen oder bald Zusatzbeiträge erheben. Gesetzlich krankenversichert scheint altmodisch geworden zu sein. Die Finanzierung ist schwieriger geworden, das Prinzip der solidarischen Sozialversicherung – immerhin seit Bismarck, also seit über 100 Jahren ein Prinzip – ist gefährdet. „Der Grundstein/Der Säemann“ hat hinter die Kulissen dieser Polit-Show geschaut: Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Und es gibt eine Alternative: die Bürgerversicherung. D ie gesetzlichen Krankenkassen sind dabei, die Buhmänner der Nation zu werden. Als jetzt die Berliner City BKK insolvent wurde und andere Krankenkassen einspringen mussten, kam es zu schlimmen Pannen. Etliche Versicherte wurden erst einmal abgewiesen. Das hat viele verunsichert und den Gegnern des Solidargedankens im Gesundheits- und Sozialsystem in die Hände gespielt – die FDP, die den Weg in ein anderes Gesundheitssystem mit willfährigen Medien inszeniert, reibt sich die Hände. In Wirklichkeit wird nicht ein einziger gesetzlich Krankenversicherter seinen Schutz verlieren, auch wenn noch nicht alle City BKKVersicherte eine neue Krankenkasse gefunden haben. Die ganze Aufregung ist aufgebauscht, die wirklich fetten Beitragserhöhungen gibt es (ungebremst) bei der Privaten Krankenversicherung (PKV). Statt sachlich aufzuklären, spielen viele Medien den Marktradikalen und Privatisierungsjüngern (wieder einmal) in die Hände. Das Spiel ist bekannt und hat bereits beim systematischen Schlechtreden und | Der Grundstein | Juli/August 2011 Schlechtmachen der gesetzlichen Rente bestens funktioniert. Profitiert hat hiervon auf gigantische Weise die private Versicherungswirtschaft: Milliardeneinnahmen an „Bearbeitungsgebühren“ für die über 13 Millionen Riester-Renten lassen grüßen. Jetzt soll das Gleiche auf dem Milliardenfeld der Kranken-, Zusatz- und Pflegeversicherungen passieren. Dazu muss das System der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) ordentlich geschwächt und der „Wettbewerb als Heilmittel“ durchgesetzt werden. Irreführung der Öffentlichkeit Die aktuelle Schließung der Berliner City BKK war hier leider Öl ins Feuer dieser Stimmungsmache. Robert Feiger, Stellvertretender Bundesvorsitzende der IG BauenAgrar-Umwelt (IG BAU), kann über die Medien nur den Kopf schütteln und spricht von „Irreführung der Öffentlichkeit“ (siehe das Interview auf Seite 11). Die Regierung aus CDU/CSU und FDP mag zwar in vielen Punkten eine Luftnummer sein und nichts zustande bringen, in der Gesundheitspolitik aber zieht die FDP (die den Gesundheitsminister stellt) ihre Vorhaben durch: ✸ Schwarz-Gelb hat mit der solidarischen Finanzierung des Gesundheitssystems gebrochen. ✸ Der Wechsel in das Private Krankenversicherungs-System wurde erleichtert. ✸ Der Arbeitgeberanteil an den Krankenversicherungsbeiträgen ist seit 1. Januar 2011 auf 7,3 Prozent festgeschrieben (maximal rund 270 Euro im Monat). ✸ Der Arbeitnehmeranteil beträgt zurzeit 8,2 Prozent. ✸ Die Arbeitnehmer sollen alle Mehrkosten des Gesundheitssystems in der Zukunft alleine tragen. ✸ Die Bundesregierung übt politischen Druck aus, dass die Kassen darüber hinaus Zusatzbeiträge verlangen – und so einen Preiswettbewerb in Gang setzen, der (außer den Privatversicherungen) nur Verlierer kennt. ✸ Dieser Zusatzbeitrag belastet Geringverdiener weit mehr als Gutverdiener, die steuerlich mehr Möglichkeiten zum Absetzen haben. ✸ Ein dubioser „Sozialausgleich“ gleicht die Mehrbelastung der Versicherten nicht aus. ✸ Dazu kommt: Die Zusatzbeiträge sollen in unbegrenzte Kopfpauschalen umgewandelt werden – die Einführung dieser unsolidarischen Finanzierung durch die Hintertür. Dabei handelt es sich nicht um einen prozentualen Beitrag, der sich gleichermaßen auf hohe wie niedrige Einkommen bezie- Titel 9 nkenkasse Fotos: Fotolia Wo bleiben wir? Juli/August 2011 | Der Grundstein | 10 Titel Für den Wechsel genügt eine Postkarte Viele gesetzlich Krankenversicherte sind verunsichert, wie sie sich verhalten sollen, wenn ihre Krankenkasse insolvent wird. Die Mitglieder der IG BAU können sich mit ihren Fragen an die Juristinnen und Juristen der DGB Rechtsschutz GmbH wenden. Auskünfte und Beratung sind mit dem Gewerkschaftsbeitrag abgegolten. Hier ein Auszug aus dort häufig gestellten Fragen: Bleibt mein Versicherungsschutz bei einer drohenden Insolvenz meiner Krankenkasse erhalten? Der Versicherungsschutz bleibt voll erhalten. Alle Leistungen der Ärzte, der Krankenhäuser oder anderer Leistungserbringer werden bezahlt, auch Therapien. Bei Schließung einer Krankenkasse haftet ihr Dachverband. Was muss ich tun, wenn meine Krankenkasse schließt? Sollte die Krankenkasse schließen, kann und muss man anstandslos in eine andere Kasse wechseln. „Für den Kassenwechsel reicht eine Postkarte mit Name, Adresse und Eintrittszeitpunkt“, betont Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes. Die gewählte Krankenkasse muss sich dann mit dem neuen Mitglied in Verbindung setzen und alle weiteren Formalitäten erledigen. Muss mich eine Krankenkasse aufnehmen, auch wenn ich bereits älter und chronisch krank bin? Ja. Die Sorge vor einer etwaigen Ablehnung ist unbegründet, denn alle – auch ältere oder sehr kranke Mitglieder – können frei in eine andere Krankenkasse wechseln. Worauf muss ich vor dem Wechsel der Krankenkasse achten? Prüfen Sie als gesetzlich versichertes Mitglied vor einem Kassenwechsel genau, ob die von Ihnen gewünschten Mehrleistungen (Leistungen außerhalb des gesetzlichen Leistungskatalogs) der bisherigen Krankenkasse auch bei Ihrer neuen Kasse angeboten werden, denn diese Leistungen müssen nicht zwingend von der neuen Kasse übernommen werden. Weitere Infos unter: www.dgbrechtsschutz.de | Der Grundstein | Juli/August 2011 Wenn die Krankenkasse insolvent wird: Juristinnen und Juristen der DGB Rechtschutz GmbH helfen Mitgliedern der IG BAU hen würde, sondern um Festbeträge, die „Arme" genauso stark belasten wie „Reiche", mithin blind sind für die Leistungskraft der Menschen. ✸ Nach Modellrechnungen können diese monatlichen Zusatzbeiträge bald 70 oder 100 Euro, möglicherweise sogar 300 Euro erreichen. ✸ Ein Solidarsystem, um das viele Länder Deutschland beneiden, wird kaputtgeredet und von der Bundesregierung systematisch abgedrosselt. Augenwischerei Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind gesetzlich geregelt, Erhöhungen um 0,5 Prozent sind schon ein Politikum. In Wirklichkeit sind es die Beiträge der privaten Versicherer, die, so Doris Pfeiffer, Vorsitzende des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen, „schon seit Jahren nahezu ungebremst steigen – und das, obwohl sie auf Gutverdiener und Gesunde setzen und versuchen, Alten und chronisch Kranken aus dem Weg zu gehen“. Um satte 45 Pro- zent sind die Beiträge in der PKV zwischen 1996 und 2005 gestiegen. Gab es hier einen medialen Aufschrei? Jetzt gibt es Schlagzeilen wegen acht Euro Zusatzbeitrag, das sind Zehntelprozentpunkte an Steigerung. Bei der GKV übrigens sind die Ausgaben von 1997 bis 2006 um 21,3 Prozent, bei den Privaten dagegen um 43,6 Prozent gestiegen. Sogar die wirtschaftsfreundliche „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) warnte dieser Tage ausführlich: „Vorsicht vor Einsteigertarifen! Private Krankenversicherer werben aggressiv mit Billigangeboten. Was der Kunde nicht ahnt: Die Policen kommen für viele Leistungen nicht auf.“ Die Werbung der Privatkassen, die den Eindruck erwecken, schon mit weniger als 100 Euro einen womöglich besseren Versicherungsschutz als die „blöden Gesetzlichen“ bieten zu können, nennt die „FAZ“ eine „verlogene Augenwischerei, denn die Billigangebote bieten einen schwächeren Schutz als die ge- Titel Foto: Kalle Meyer „Eine Irreführung der Öffentlichkeit“ setzlichen Krankenversicherer“. Was viele nicht wissen: Die Neuwerbung für eine private Krankenversicherung bringt dem Vermittler (der sich oft als „unabhängig“ ausgibt) an die 14 bis 18 Monatsbeiträge als Provision. Inzwischen haben hier die Aufsichtsbehörden Alarm geschlagen, und Politiker fordern eine Begrenzung. Ungleichheiten An die 90 Prozent der Bundesbürger sind (noch) gesetzlich krankenversichert. Sage und schreibe 94 Prozent von ihnen, so eine aktuelle Umfrage der Marktforschungsgruppe GfK, sind mit ihrer Wahl zufrieden. Und ein weiterer Umfragewert: Ganze sieben Prozent überlegen sich einen Wechsel in die private Krankenversicherung. Weil das den Privatisierern zu wenig ist, wird derzeit kräftig nachgeheizt, die Selbstverwaltung der Kassen eingeschränkt und politischer Druck zu Schließung oder Fusion gemacht. Das verschärft die ohnehin vorhandene, ungerechte Struktur: ✸ Die Mehrzahl der Selbstständigen, Gutverdiener, Beamten und Politiker zahlt nicht in die GKV ein. Insgesamt fehlen so Die Achterbahnfahrt des Krankenkassensystems in den vergangenen Jahren hat der Stellvertretende IG BAU-Bundesvorsitzende Robert Feiger hautnah mitbekommen. Er ist Verwaltungsratsvorsitzender (für die Arbeitnehmerseite) bei der Vereinigten IKK. Diese wird voraussichtlich zum 1. August mit der IKK classic zur dann größten deutschen Innungskrankenkasse fusionieren. Die neue Kasse wird etwa 3,6 Millionen Mitglieder haben, rund 80 Prozent im Innungsbereich abdecken und bundesweit tätig sein. Betriebliche Prävention ist eines ihrer Markenzeichen. Grundstein: Was ist eigentlich los mit den gesetzlichen Krankenkassen? Robert Feiger: Die Medien beleuchten das, was da gerade passiert, nicht wirklich. Es ist haarsträubend, wie die Öffentlichkeit irregeführt wird. Es ist nämlich nicht unbedingt so, dass Kassen, die jetzt in wirtschaftliche Not geraten, auch schlecht wirtschaften. Es geht um eine Problematik des Systems. Grundstein: Was heißt das? Robert Feiger: Die Selbstverwaltung wird eingeschränkt, gleichzeitig wird der Marktdruck erhöht. Durch den Gesundheitsfonds ist die Beitragsautonomie der Krankenkasse entfallen. Die KasRobert Feiger, sen erhalten pro Versichertem feste Zuwendungen aus dem GeStellvertretender sundheitsfonds. Diese decken nicht immer die tatsächlichen Bundesvorsitzender der Ausgaben, weil sie nur zum Teil Risiken und bestimmte KrankIG Bauen-Agrar-Umwelt heiten berücksichtigen. Die Kassen können zwar selbst etwa mit Krankenhaus-, Pharma- oder Ärzteverbänden verhandeln. Sie haben aber keinen Einfluss auf die Versorgungsdichte – aber genau die macht den Unterschied bei den anfallenden Kosten pro Versichertem aus. Krankenkassen mit vielen Versicherten in den neuen Bundesländern sind da zum Beispiel im Vorteil, weil in den westlichen Ballungsräumen die Ärzte-, Krankenhaus- und Versorgungsdichte weit größer und damit teurer ist. Grundstein: Der Zusatzbeitrag, den die Kassen bei Bedarf erheben können, ist da keine Hilfe? Robert Feiger: Der Zusatzbeitrag, zu dem die Politik die Kassen förmlich zwingt und verstärkt zwingen will, hat mit einer paritätischen Krankenversicherung nichts mehr zu tun. Weil er alleine von den Arbeitnehmern bestritten werden muss. Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen läuft fast ungebremst, und die Versicherten alleine müssen dafür geradestehen. Außerdem sind die strukturellen Unterschiede mit einem wettbewerbsfähigen Zusatzbeitrag nicht auszugleichen. Das ist hochgradig ungerecht. Das ist der Abschied vom Solidarsystem. Grundstein: Was ist denn an diesem Solidarsystem so gut und besonders? Robert Feiger: Nehmen wir nur zum Beispiel die Vereinigte IKK, eine der großen Handwerkskassen: Wir haben ein vorbildliches Präventionssystem mit Bonussystem, wo Beschäftigte und Unternehmen von der Gesundheitsvorsorge profitieren. Das ist Vorsorge, bei der alle Seiten gewinnen – auch die IKK, weil sie für Krankenbehandlungen weniger Aufwand hat, wenn die Versicherten im Vorfeld etwas für ihre Gesundheit tun. Solche Angebote stehen unter Druck, die gelten als überflüssig. Die Politik hat es jetzt geschafft, dass die Verantwortlichen in den gesetzlichen Krankenkassen sich nicht mehr vordringlich um Prävention und Gesundheit ihrer Versicherten kümmern, sondern sich an den Konkurrenzgesetzen des Marktes abarbeiten. Das kann doch nicht sein. Eine Krankenkasse muss für die Menschen und auch sozialpolitisch tätig sein. almay Juli/August 2011 | Der Grundstein | 11 Titel Immer weniger Gesetzliche Krankenkassen 1970 1980 1990 1995 1997 2000 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 1. Juli 2011 1815 1319 1147 960 554 420 323 287 267 254 241 221 202 154 die Beiträge von etwa 15 Prozent vollzahlender Mitglieder. ✸ Gutverdiener und „gute Risiken“ (jung, reich, gesund) entziehen sich dem Solidarsystem und sind privat versichert. ✸ Geringverdiener, Arbeitslose und „schlechte Risiken“ (alt, arm, krank) müssen vom Solidarsystem getragen werden, die Privaten entledigen sich solcher Belastungen. ✸ Die PKV ist bis heute nicht ausreichend in einen Solidarausgleich einbezogen. ✸ Die gesetzlichen Krankenkassen erhalten einen Einheitsbeitrag, egal, wie die Struktur ihrer Versicherten und die regionalen Bedingungen sind. Sie dürfen keine Altersrückstellungen bilden, etwa für das absehbare Problem, dass die Zahl der Erwerbstätigen sinkt und die Zahl der Rentner (die weniger Beitrag zahlen) weiter steigen wird. Auch Rücklagen für Mehrausgaben durch medizinischen Fortschritt dürfen nicht gemacht werden. Steigende Beitragssätze sind daher vorprogrammiert, und die Bundesregierung hat dafür gesorgt, dass das alleine auf Kosten der Arbeitnehmer gehen wird. | Der Grundstein | Juli/August 2011 Verschwunden oder fusioniert: 92 Prozent der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) von 1970 gibt es heute nicht mehr. Derzeit sind es noch 154 von ehemals 1815 im Jahr 1970. Das ist politisch gewollt, bis 2015 wird sogar mit nur noch 50 GKVs gerechnet. An die 90 Prozent der Deutschen sind (noch) gesetzlich krankenversichert. Im Vergleich zu den Gesundheitsausgaben übrigens sind die Verwaltungskosten der GKVs von 1992 bis 2008 um 0,2 Prozentpunkte gestiegen. Die Verwaltungskosten der Gesetzlichen Krankenkassen machen etwa 5,3 Prozent ihrer Ausgaben aus, bei den Privaten Krankenversicherungen sind es über 14 Prozent. ✸ Gleichzeitig werden die Möglichkeiten der Selbstverwaltung der Kassen immer mehr beschnitten. Unter Druck Laut Bundesversicherungsamt verfügen derzeit 20 Krankenkassen nicht über die vorgeschriebene Finanzlage. Solche Kassen müssen sparen, Personal und Leistungen beschneiden und – wie die FDP-Politik es will – einen Zusatzbeitrag erheben. Der trifft ausschließlich die Versicherten, nicht die Arbeitgeber. Und er trifft, wie die Erfahrungen zeigen, die Krankenkassen selbst: Der Zusatzbeitrag wird zum Sargnagel. Denn es entsteht ein Sonderkündigungsrecht, das vor allem jüngere Versicherte nutzen. Die Krankenkasse verliert Mitglieder – und gerät noch mehr in Schieflage, muss fusionieren oder schließen. „Wenn eine Kasse Zusatzbeiträge erhebt, verliert sie 20 bis 30 Prozent der Mitglieder. Dabei kündigen vor allem die jüngeren, gesünderen Versicherten, die nur geringe Kosten verursachen“, bestätigte Gesundheitsökonom Jürgen Wasem (Uni DuisburgEssen) kürzlich in einem Interview der „Zeit“. Dazu kommt: Die Kassen müssen füreinander haften. Geht eine in Insolvenz, müssen die anderen die Kosten für Schlie- ßung und Abwicklung übernehmen – so, als hätten Bilfinger Berger, Züblin, Bögl und HOCHTIEF für das Ende der Holzmann AG bezahlen müssen. Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) kann sich deshalb sicher sein: „Es wird weitere Kassenfusionen geben, und die Zahl der Krankenkassen wird sich weiter reduzieren.“ Experten der Deutschen Bank erwarten, dass 2012 die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen von derzeit rund 150 auf unter 100 sinkt. Der (arbeitgebergesteuerten) „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ geht das alles zu langsam. „Zusatzbeiträge haben bisher kaum zu Wettbewerb zwischen den Krankenkassen geführt“, tönte sie Mitte Juni. Viel zu wenige Versicherte seien bisher zum Wechsel bereit, deshalb müssten die Zusatzbeiträge deutlich höher ausfallen. Dabei hortet der Gesundheitsminister Milliarden aus dem Gesundheitsfonds und weigert sich, die Krankenkassen finanziell besser auszustatten oder die Beiträge zu senken. Verdrängungswettbewerb, Fusionen und Kannibalismus, Verunsicherung der Versicherten und schlechtes Image der Kassen sind politisch gewollt – das muss man wissen. Es lohnt sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Sonst heißt es bald in Sachen Solidarsystem: Operation gelungen, Patient tot! almay (Quelle: GKV-Spitzenverband) 12 Titel Zwei Drittel der Bürger plädieren für eine Bürgerversicherung, meldete die ÄrzteZeitung im Oktober 2010. Das wissenschaftliche Institut der Allgemeinen Ortskrankenkassen, das die Umfrage erstellte, meint dazu: „Die Befragten finden ihre Gerechtigkeitsvorstellungen eher in einer Bürgerversicherung wieder, die alle Personenkreise einbezieht, von Vermögenden zu Geringverdienern umverteilt und die Trennung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufhebt.“ Die IG BAU trat übrigens schon 2003 mit der Forderung nach einer Bürgerversicherung an die Öffentlichkeit und plädierte für einen radikalen Umbau der Sozialversicherungssysteme, um sie für die Zukunft zu sichern. Die Idee leuchtete und leuchtet vielen Bürgern ein, die Zustimmung bleibt unverändert hoch. Auch der DGB hat die Bürgerversicherung auf seine Fahnen geschrieben, und bei einem Wahlsieg 2013 wollen SPD und Grüne eine Bürgerversicherung angehen. Bürgerversicherung heißt für die IG BAU: ◆ Der Beitrag ist einkommensbemessen. ◆ Die Finanzierung ist paritätisch. Die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge sind gleich hoch. ◆ Einbezogen werden Beamte und Spitzenverdiener. ◆ Einbezogen werden Mieten und Pachten von Mehrfamilienhauseigentümern. ◆ Einbezogen werden Zinseinkünfte von Millionären. Kopfpauschale ist der falsche Weg Die Situation in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) scheint im Moment widersprüchlich. Während die GKV Milliardenüberschüsse vermeldet, musste die City BKK Insolvenz anmelden. Für viele ihrer 167 000 Versicherten ein wahrer Spießrutenlauf. Der von Politikern hochgelobte und politisch auch gewollte Kassenwettbewerb zeigt hier sein hässliches Gesicht. Rund 20 Kassen werden inzwischen als Pleitekassen gehandelt – und das, obwohl der Gesundheitsfonds überquillt. Was wie ein Widerspruch aussieht, erklärt sich schnell bei näherem Hinsehen. Die positive Wirtschaftsentwicklung erhöht das allgemeine Beitragsaufkommen. Zusätzlich spült die kräftige Beitragserhöhung zu Beginn des Jahres sechs Milliarden Euro in den Fonds. Gleichzeitig funktioniert aber der Finanzausgleich zwischen den Kassen immer noch nicht richtig. Kassen in teuren Versorgungsgebieten und mit Annelie Buntenbach, vielen kranken und einkommensschwachen MitglieMitglied des Geschäftsdern rutschen zwangsläufig ins Defizit, weil die besonführenden Vorstandes des deren Risiken nicht ausgeglichen werden. Als einziges Deutschen GewerkschaftsVentil bietet die Politik den Kassen an, pauschale Zubundes (DGB) satzbeiträge einzutreiben. Die Versicherten müssen unabhängig vom Einkommen eine zusätzliche Kopfpauschale zahlen – und verlassen diese Kassen in Scharen. Die Folge: Deren Finanzsituation verschlechtert sich weiter dramatisch, Pleite und Schließung drohen. Foto: DGB Das will die IG BAU: Bürgerversicherung Zwischenruf Die Politik hat diese Verunsicherung ganz bewusst angestiftet. Und mit der Einführung der Kopfpauschale wird das Chaos perfekt. Spätestens dann, wenn der Aufschwung vorbei ist und die Einnahmen der Kassen wegbrechen, wird es Kopfpauschalen auf breiter Front geben. Die Belastungen der Versicherten steigen weiter, und die Kassen haben die Wahl zwischen Pest und Cholera. Erheben sie Kopfpauschalen, laufen ihnen die Versicherten weg, tun sie es nicht, stehen sie schnell vor der Pleite. Kopfpauschalen sind das Ende der Solidarität im Gesundheitswesen, sie laden die gesamten Kostensteigerungen der Zukunft allein bei den Versicherten ab. Deshalb setzt der DGB seine Kampagne gegen die Kopfpauschale und für eine Bürgerversicherung fort. Mit paritätischen Beiträgen der Arbeitgeber, einem Finanzausgleich, an dem auch die Privaten Krankenversicherungskonzerne beteiligt werden, und Beiträgen von allen Bürgerinnen und Bürgern – auch für hohe Kapitaleinkünfte – können die Belastungen der Versicherten sogar gesenkt werden. Und die Kassen können sich auf Verbesserung der Versorgung konzentrieren. Dabei gewinnen alle. Weitere Informationen unter: www.stoppauschale.de im Internet. Juli/August 2011 | Der Grundstein | 13