Prägende Entwicklungen Europas in der frühen Neuzeit
Transcription
Prägende Entwicklungen Europas in der frühen Neuzeit
LPM –Veranstaltung am 21.09.2009 „Der G-Kurs Geschichte und das neue Geschichtsabitur“ THEMA: GESCHICHTE GOS 1. HALBJAHR DER HAUPTPHASE (G-KURS JG. 11) PRÄGENDE ENTWICKLUNGEN EUROPAS IN DER FRÜHEN NEUZEIT Materialien ausgewählt von Torsten Mergen Peter-Wust-Gymnasium Merzig Unterrichtseinheit I: „Renaissance und Humanismus – Wandel des Menschen- und Weltbildes“ Zeit des Aufbruchs und der Widersprüche (3 Stunden) • Orientierung am Vorbild der römisch-griechischen Antike • • humanistisches Menschenbild und Bildungsideale neue Betrachtungsweisen und Gestaltungsformen in Kunst und Architektur • wissenschaftliche und technische Entdeckungen und Erfindungen neue politische Theorien • • andererseits: Lebensangst und Aberglaube Leitpunkte und Begriffe: Renaissance, Humanismus, „ad fontes“, Zentralperspektive, heliozentrisches Weltbild, Buchdruck, Zensur, Machiavellismus, Hexenhammer Daten: 1350 – 1550 Renaissance; 1452 – 1519 Leonardo da Vinci Exkurs: Europäische Expansion (3 Stunden) • • Entdeckungsfahrten Eroberung und Vernichtung der amerikanischen Hochkulturen am Beispiel der Azteken oder Inkas • Auswirkungen des Kolonialismus Leitpunkte und Begriffe: Azteken, Inkas, Kolonialreiche Datum: 1492 „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus 2 Material 1: Eine kurze wissenschaftliche Einführung Heinz Schilling: „Beginn der Neuzeit? - Schlüsselprozesse in Europa“ Die neue Zeit Europas, das haben die Forschungen zum späten Mittelalter und zum 16./17. Jahrhundert in den letzten Jahrzehnten überzeugend herausgearbeitet, brach sich nicht erst mit Kolumbus oder Luther Bahn. Vielmehr lassen sich viele der Veränderungen, die das hervorbrachten, was wir traditionell die „europäische Neuzeit“ nennen, bereits seit dem 5 13. Jahrhundert ausmachen, zunächst allerdings erst in den fortgeschrittensten Regionen des Kontinents, voran in Italien, aber auch in Flandern-Braband oder Burgund. (...) Will man in der Zeitperspektive von etwa 1250 bis 1750 Dynamik und Entwicklungsrichtung der europäischen Gesellschaften beziehungsweise des europäisch-lateinischen Zivilisationstypus bestimmen, so lässt sich eine Hand voll Schlüsselprozesse benennen: 10 • Wirtschaftssystem Erstens bildete sich ein nach rationalen Erfolgskriterien operierendes und auf Veränderungen in den Rahmenbedingungen rasch und flexibel reagierendes Wirtschaftssystem heraus. (...) Im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelte das frühkapitalistische Wirtschaftssystem dann aber eine so große Eigendynamik, dass es die 15 vormodernen Wachstumsfesseln sprengte. (...) • Politische Ordnung Zweitens bahnte sich eine politische Ordnung an, die einerseits bestimmt wurde durch die im Zuge der frühmodernen Staatsbildung entstandenen Partikularstaaten1 mit frühmoderner Administration, Souveränitätsanspruch und Identität auf nationaler, 20 territorialer oder dynastischer Grundlage. (...) Gleichzeitig mit dieser inneren Konsolidierung der Partikularstaaten und der transkontinentalen Sicherung ihres Zusammenlebens setzte die frühneuzeitliche Ordnung Europas jene bis ins 19. und 20. Jahrhundert wirksame Dynamik frei, die dazu führte, dass einzelne Staaten in innereuropäischer Konkurrenz auf die anderen Kontinente ausgriffen und die 25 Beherrschung der Weltmeere anstrebten. (...) • Konfessionalisierung Drittens wandelte sich in enger Verzahnung mit der politischen Neuorganisation Europas, speziell der frühmodernen Staatsbildung, die Gestalt des Christentums grundlegend. Der 1 Partikularstaaten - Kleinstaaten 3 spätmittelalterliche 30 Aufbruch in Spiritualität, Frömmigkeitsformen und Sozialkonfigurationen2 der Christenheit verdichtete sich zur Reformation und zur anschließenden Konfessionalisierung. (...) Durch die großen Reformen des Spätmittelalters und der Reformationszeit und vor allem durch die tief in das gesellschaftliche und staatliche Geschehen hineinwirkende Konfessionalisierung der westlichen Christenheit, wurden Tatsachen geschaffen die über Jahrhunderte bis in die Gegenwart 35 hinein einen grundlegenden Gegensatz in den gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten (...) Europas hervorbrachten. (...) • Frühmoderne Säkularisation3 Viertens entstanden das frühneuzeitliche Wissen und die frühneuzeitliche Kunst, die sich zwischen der neuen Autonomie des schöpferischen Individuums und der noch nicht 40 gesprengten Bindung an allgemein verpflichtende Normen bewegten. Kunst und Wissenschaft, die eine bereits seit der italienischen Renaissance des 14. und 15. Jahrhunderts, die andere beschleunigt seit dem 17. Jahrhundert, schlugen den Weg zu eigenen, autonomen Systemen ein, die der Gesellschaft und dem Staat bei aller Verflochtenheit und allen Konflikten und Reibungspunkten gegenüberstanden und als 45 deren Korrektiv gelten konnten. (...) Voraussetzung war der Prozess frühmoderner Säkularisation, der die Welt für neue Interpretationen freigab, mochten diese auch noch lange von den ehemals religiösen Impulsen mitgeprägt sein und von deren Dynamik profitieren. Der 50 Aufstieg des frühmodernen Wissenschaftssystems ging einher mit der Professionalisierung der Wissenschaftler, zuerst, und zwar bereits seit dem 13. Jahrhundert, der Juristen, dann der Theologen, der Humanisten und Geisteswissenschaftler, schließlich auch der Naturwissenschaftler. In zeitlicher Verzögerung zu dieser Professionalisierung erfolgte eine in Konkurrenz vollzogene Ablösung in der Führungswissenschaft, die erklären wollte, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ – 55 von der bis ins 17. Jahrhundert führenden Theologie über die Jurisprudenz hin zu den Naturwissenschaften. All dem entsprach im Bereich der Künste der Aufstieg der neuzeitlichen Künstlerexistenz, die nicht mehr handwerklich gebunden war, sondern sich als autonomes Originalgenie begriff und schließlich auch von der Gesellschaft als solches gesehen wurde. 2 Sozialkonfigurationen – Gesellschaftsordnung bzw. -strukturen Säkularisation – (hier) Entkirchlichung 4 transregionale – regionenüberschreitende 5 Dissenters – Mitglieder einer Religionsgemeinschaft, die sich von der Amtskirche getrennt haben 6 Reich – gemeint ist das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ 3 4 60 • Mobilität der Gesellschaft Fünftens entstand ein Typus von Gesellschaft, der einerseits Möglichkeiten der Offenheit und Veränderung gewährte, andererseits aber im Zentrum von den Kräften des Beharrens bestimmt blieb. (...) Geographisch mobil war vor allem die Spitze der Gesellschaft: Könige und Fürsten zogen von Residenz zu Residenz oder gar von Land zu Land und Adel 65 oder Prälaten taten es ihnen gleich. In der Mittelschicht reisten die jüngeren Handwerker, aber auch Studenten, Gelehrte und Künstler weit durch Europa. Vor allem aber waren Unterschichten und Randgruppen unterwegs als Vaganten und fahrendes Volk. In den neueren Jahrhunderten kamen dann große transregionale4, häufig sogar transkontinentale Migrationswellen hinzu, ausgelöst von Wirtschafts- oder Versorgungskrisen, vor allem 70 aber von der Konfessionalisierung seit Mitte des 16. Jahrhunderts, die Zigtausende von religiösen Dissenters5 aus ihrer Heimat vertrieb und in glaubensverwandten, teilweise Tausende von Kilometern entfernt liegenden Ländern Exil suchen ließ. (...) Denn trotz des Buchdruckes fanden bis ins 19. Jahrhundert hinein technische Neuerungen und andere Erfindungen nahezu ausschließlich durch Migration Verbreitung. Auch die soziale 75 Mobilität war ein Strukturmerkmal der alteuropäischen Gesellschaft, so erstaunlich sich das für eine Ständegesellschaft, in der Klerus, Adel und Bürgertum ihre feste Position hatten und in der die unterständischen Schichten als nicht dazugehörig galten, auch anhören mag. (...) Im europäischen Vergleich ist für den deutschen Weg in die Neuzeit vor allem eines bezeichnend: das Schwergewicht des mittelalterlichen Erbes und die daraus 80 resultierende Langwierigkeit der Anpassung an die politischen, religiösen, sozialen und selbst ökonomischen Rahmenbedingungen im frühneuzeitlichen Europa. (...) In der (...) europäisch-komparatistischen Perspektive müssen somit alle Überlegungen zum spezifischen Charakter und der Bedeutung der frühneuzeitlichen Geschichte Deutschlands von drei Grundtatsachen ausgehen: Erstens, dass die Deutschen im Unterschied zu den 85 meisten ihrer Nachbarn bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht in einem Staat, sondern in einem Reich6 lebten, und zwar in einem Reich, das in Konkurrenz zu einer Vielzahl von frühmodernen Staaten in den Territorien stand, dass Deutschland somit zweitens politisch multiterritorial organisiert war, und drittens, dass es multikonfessionell war, das heißt nicht eine, sondern drei religiös-kulturelle Identitäten entwickelte. (aus: Heinz Schilling: Den Wandel begreifen. Die frühe Neuzeit (1250-1750) in makrohistorischer Sicht. In: Praxis Geschichte 13 (2000), Heft 1, S. 8-14) 5 Material 2: Die Aktualität der (Frühen) Neuzeit 51/2003 1/2003 25/2004 52/2005 Titelbildgalerie „Der Spiegel“. Online verfügbar unter http://service.spiegel.de, zuletzt geprüft am 05.10.2009. 6 Material 3 : Die Epoche im Überblick 5 10 15 20 25 30 35 40 Die Einteilung der Geschichte in scharf voneinander abgrenzbare und überschaubare Epochen gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Geschichtswissenschaft. Wer sich auf die Erforschung politischer Entwicklungen spezialisiert hat, wird sicherlich andere Einschnitte (Herrscherwechsel, Kriege, Aufstände oder Revolutionen) betonen als der Sozial- und Wirtschaftshistoriker (Hungerkatastrophen, konjunkturelle Einbrüche, Entstehung neuer Klassen oder Schichten). Und doch ist die Gliederung der Geschichte nicht nur eine künstliche, sondern eine notwendige Maßnahme zur Erkenntnis von Vorgängen, Handlungen und Prozessen, die grundlegend neue Entwicklungen einleiteten. Seit der Einteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit durch die Humanisten im 15. Jahrhundert beschäftigen sich die Historiker mit der Frage, wann das Mittelalter endete bzw. die Neuzeit begann. Unter den Forschern besteht mittlerweile breite Übereinstimmung darin, dass die neuzeitliche Geschichte um 1500 einsetzte. Im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert zeichneten sich tatsächlich viele Neuerungen ab, die das Leben der Menschen von Grund auf veränderten: Die Erfindung des Buchdruckes mit beweglichen Lettern um 1450 bewirkte einen Schub der Verschriftlichung, der nur vergleichbar ist mit der modernen Medienrevolution; die Zahl der Texte und darüber hinaus das Wissen stiegen sprunghaft an. Mit dem Durchbruch der Renaissance und des Humanismus im 15./16. Jahrhundert löste sich allmählich das mittelalterliche Weltbild auf, das von Kirche und Glaube beherrscht wurde. An ihre Stelle sollten nun Wissenschaft, Kunst und Literatur treten. Das Ideal war der umfassend gebildete Mensch, der sein Leben selbstbewusst und vernünftig gestaltete. Zur Erweiterung des geistigen Horizonts trug auch die Eroberung von Kolonialreichen besonders seit dem 16. Jahrhundert bei. Die Europäer entdeckten neue Kontinente und Kulturen und öffneten sich so fremden Welten. Auf wirtschaftlichem Gebiet beschleunigte die Herausbildung frühkapitalistischer Produktions- und Vertriebsformen, die zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert von einzelnen Unternehmern, Unternehmerfamilien und Handelsgesellschaften vorangetrieben wurden, die Auflösung der feudal-ständischen Gesellschaft und der Agrarwirtschaft. Im Bereich von Kirche und Staat bedeutete die Reformation Martin Luthers zu Beginn des 16. Jahrhunderts einen tief greifenden Umbruch, weil mit ihr die kirchliche und religiöse Einheit des Mittelalters zerbrach. Die konfessionelle Spaltung Europas seit der Reformation führte zu erbitterten Glaubenskämpfen, die die Suche nach neuen friedlichen Formen des Zusammenlebens förderte. Zahlreiche Gelehrte begründeten in ihren Staatstheorien die Notwendigkeit eines starken und mit allen Herrschaftsrechten ausgestatteten Monarchen, der das Land einen und damit retten könne. In der Praxis setzten sich derartige absolutistische Staaten im 17. und 18. Jahrhundert durch. Das bekannteste Beispiel dafür war die Regierung des Sonnenkönigs, Ludwig XIV. (16381715), in Frankreich. Aber auch in den deutschen Ländern gab es absolutistische Monarchen, die allerdings wie Friedrich II. von Preußen (1740-1786) Ideen der Aufklärung übernahmen. Seine Herrschaft war insofern vom Denken der Aufklärung beeinflusst, als er 7 sein Handeln nach Prinzipien der Vernunft gestalten wollte, die der rationalen Kritik standhielten. In Europa beschritt allein England einen anderen Weg der politischen Organisation: Hier konnte das Parlament seine politische Macht seit dem 17. Jahrhundert ausbauen und die Herrschaftsgewalt des Monarchen begrenzen. 45 Die feudal-ständische Gesellschaftsordnung und der absolutistische Staat wurden endgültig mit der Amerikanischen Revolution, die 1776 zur Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten führte, und der Französischen Revolution von 1789 beseitigt. Die bürgerliche Gesellschaft und der demokratische Staat traten seitdem ihren Siegeszug an. Weil diese Ereignisse eine neue Epoche innerhalb der Neuzeit markieren, werden die Jahrhunderte vorher als „frühe 50 Neuzeit“ bezeichnet. aus: Kursbuch Geschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin: Cornelsen 2000, S. 73 Aufgaben: 1. Erstellen Sie nach der Lektüre von M 3 eine Definition des Begriffs „Epoche“. 2. Nennen und erläutern Sie wichtige Unterschiede zwischen Mittelalter und Neuzeit. 3. Die Neuzeit wird häufig noch weiter untergegliedert in die „Frühe Neuzeit“ und die „Epoche des Bürgertums“ bzw. die „Moderne“. Überprüfen Sie, welche Gründe dafür im Text genannt werden und nennen Sie weitere geschichtliche Ereignisse, die für eine Unterteilung der Neuzeit sprechen. Ergebnissicherung: Vom Mittelalter zur Neuzeit (um 1500) Mittelalter Manuell, z. B. handschriftliche Buchherstellung (v. a. in Klöstern) Orientierung an Kirche und Glauben Vergleichsaspekte Technik Weltbild Ideal: Mensch als „viator mundi“ Kenntnis der Welt Europa, Nordafrika, Teile Asiens Feudalismus, Agrarwirtschaft (weitgehende) religiöse und kirchliche Einheit des Christentums Personenverbandsstaat Wirtschaft Kirche/Religion Staat Neuzeit Mechanisch, z. B. Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (Gutenberg, um 1450) Orientierung an Wissenschaft, Kunst und Literatur Ideal: Mensch als „uomo universale“ Entdeckung und Eroberung neuer Kontinente (z. B. Amerika, Asien, Australien) Frühkapitalismus, beginnende Güterwirtschaft Reformation/ Kirchenspaltung und Konfessionsbildung Anbahnung des Absolutismus 8 Material 4: Der Fachterminus „Frühe Neuzeit“ – ein Definitionsversuch „Die ‚Frühe Neuzeit’ (engl. Early Modern History, franz. Histoire moderne, ital. Storia moderna) ist die Epoche zwischen dem Ausgang des Mittelalters und der sog. Sattelzeit um 1800, aus der die europäische Moderne, geprägt vor allem durch die Industrialisierung, hervorgeht. (...) Unter dem Konfessionellen Zeitalter versteht man 5 neuerdings die Periode der europäischen Geschichte, in der es infolge der Reformation zur Spaltung der katholischen Kirche und im Anschluss daran zur Ausbildung von ‚Landeskirchen’ verschiedener Konfessionen kam. Da der Gegensatz zwischen der alten Kirche und den neuen Bekenntnissen der ‚Lutheraner’ und der ‚Calvinisten’ auch politische Auswirkungen bis hin zu Konfessionskriegen hatte, endet dieser Abschnitt 10 mit dem Westfälischen Frieden von 1648 (bzw. dem Pyrenäenfrieden zwischen Frankreich und Spanien 1659). Die folgende Epoche steht zunächst ganz im Bann der französischen Hegemonialbestrebungen unter Ludwig XIV. Dessen Herrschaftsorganisation im Innern (später als ‚Absolutismus’ bezeichnet) war Vorbild für fast ganz Europa. Im 18. Jh. wandelt sich die Herrschaftsauffassung in ver15 schiedenen Staaten unter dem Einfluss der Ideen der ‚Aufklärung’ hin zum despotisme éclairé, zum ‚aufgeklärten Absolutismus’. Diese Ideen, verbunden mit weiteren Herausforderungen auf demographischem, gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet, führen schließlich zu den Veränderungen des späten 18. Jhs., unter denen die durch die ‚Französische Revolution’ ab 1789 bewirkten Umbrüche besonders 20 hervorstechen.“ (Michael Erbe: Frühe Neuzeit. Grundkurs Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2007, S. 11) Aufgaben: 1. Erklären Sie die Begriffe „Konfessionelles Zeitalter“ und „aufgeklärter Absolutismus“! 2. Recherchieren Sie mit der Hilfe Ihres Geschichtsbuches, welche Aspekte der „Frühen Neuzeit“ in diesem Textauszug von Michael Erbe nicht angesprochen werden. 9 Material 5: Wissenschaftliche Neugierde und Entdeckungen Michael Erbe: Geistige Strömungen und Wissenschaften zwischen Humanismus und Aufklärung 5 10 15 20 25 30 35 Den Umbruch vom Mittelalter zur „Frühmoderne“ markiert vor allem die im frühen 14. Jh. von Italien ausgehende Rezeption der klassischen Antike. Initiiert wird diese geistige Bewegung durch den Florentiner Francesco Petrarca (* 1304, †1374), dem es noch um die Wiederbelebung der klassischen römischen Literatur aus der späten Republik und der augusteischen Zeit geht. Nach dem Fall von Konstantinopel kommt es, angeregt durch nach Italien eingewanderte griechische Gelehrte, zur Rezeption der antiken griechischen Literatur. (...) Das späte 15. Jh. ist die große Zeit der „Wiedergeburt“ („Renaissance“) der griechisch-römischen Klassik in den Bildenden Künsten und der Literatur. Man erschließt sich nach und nach die antike Philosophie (vor allem die Platons und seiner Nachfolger), ferner die Jurisprudenz sowie die Medizin, die Naturwissenschaften und die Technik des Altertums. Der „Humanismus“ (studia humanitatis) strahlt um 1500 von Italien nach West-, Mittel- und Nordeuropa aus und bewirkt eine geistige Revolution. Er ergreift – u. a. mit Erasmus von Rotterdam (* 1469, †1536) – die Theologie; bald wird die Bibel in der griechischen Fassung (das Alte Testament später auch im hebräischen Urtext) studiert. Luthers und Zwinglis „Schriftprinzip“ wären ohne diese Wende kaum denkbar. Der Humanismus (...) führt zu neuen Überlegungen in den Naturwissenschaften, nicht zuletzt in der Astronomie und der Physik, was am Ende zur Revision des bisher gültigen Bildes vom Kosmos und seinem inneren Zusammenhang führt, angefangen von der These eines heliozentrischen Systems bei Nikolaus Kopernikus (*1473, †1543) über die Planetengesetze Johannes Keplers (* 1571, †1630), die Entdeckung der Jupitermonde durch Galileo Galilei (*1562, †1642) und die Fixierung der Gravitationskonstante durch Isaac Newton (*1643, †1723) bis zur Theorie über die Planetenentstehung von Immanuel Kant (*1724, †1804) und Pierre Simon de Laplace (*1749, †1827). (...) Die Revolution in den Naturwissenschaften ist ein besonderes Kennzeichen der Frühen Neuzeit. Die im Wesentlichen seit etwa 1600 erzielten neuen Erkenntnisse ergeben sich letztlich aus dem kritischen Überdenken des neu entdeckten antiken Wissens. Sie beeinflussen aber auch die Weiterentwicklung der antiken Mathematik etwa durch Rene Descartes (* 1595, †1650), Pierre de Fermat (*1601, †1665), Gottfried Wilhelm Leibniz (*1646, †1716), Isaac Newton oder Leonhard Euler (* 1707, †1783). Die Trigonometrie erlaubt die genaue Vermessung von Gebieten, die man kartographisch erfassen will. Sie verbindet sich mit astronomischen Messmethoden, die erste Erkenntnisse über die Entfernung von Fixsternen liefern. Zugleich beherrscht man ab dem 18. Jh. die Vermessung von Längengraden: 1713 ergibt die Strecke zwischen Dünkirchen und Perpignan die annähernde Größe des Erdumfangs, 1792-1799 die zwischen Dünkirchen und Barcelona noch genauere Werte, so dass man als neues Längenmaß („Meter“ von griech.: mitron = Maß) den zehnmillionsten Teil des „Erdquadranten“ festlegen kann. Schwierigkeiten bereitet noch lange die exakte Längengradbestimmung, die für die 10 40 45 50 55 60 65 70 Navigation auf See erforderlich ist. Sie ist nur mit genau gehenden Uhren möglich, wie sie erst im späten 18. Jh. in England hergestellt werden können. Astronomische Beobachtungen mit technisch verbesserten Fernrohren erlauben Ende des 17. Jhs. zum ersten Mal auch die Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit. Die Natur des Lichts erklären der Niederländer Christiaan Huyghens (* 1629, †1695) durch seine Wellen- sowie Newton durch seine Korpuskulartheorie (Lichtverbreitung durch kleinste Teilchen). In der Medizin sind die anatomischen Studien eines Andreas Vesalius (* 1515, †1564), die Entdeckung des doppelten Blutkreislaufs durch Miguel Servet sowie nochmals durch William Harwey (* 1578, †1658) von Bedeutung; sie beeinflussen auch Betrachtungen über einen möglichen Kreislauf im Wirtschaftsleben, der 1758 in die „physiokratische“ Theorie François Quesnays (* 1694, †1774), dem Leibarzt König Ludwigs XV., mündet. (...) Teilweise parallel dazu gibt es grundlegende technische Neuerungen, angefangen vom Buchdruck mit beweglichen Lettern seit Johannes Gutenberg (* um 1400, †1468), der – vor allem nach der Einführung kleinerer Buchformate durch Aldo Manuzzio (* um 1450, †1515) in Venedig – eine massenweise Verbreitung von Druckschriften ermöglicht, über neue Entwicklungen in der Architektur (Kuppelbauten, Brückenbau, Festungsanlagen) wie im Schiffbau bis zur Entwicklung der Dampfmaschine seit dem späten 17. Jh. Sie hilft schließlich durch ihre Anwendung vor allem bei der Textilherstellung, zuerst in England, die „Industrielle Revolution“ herbeizuführen. Im Zusammenhang damit ist die Entwicklung der Stahlherstellung in Hochöfen durch den Einsatz von Koks von Bedeutung. Das Jahr 1783 erlebt zudem mit der Erfindung des Warmluftballons den Beginn der bemannten menschlichen Luftfahrt. Mit allen diesen Veränderungen und Neuerungen stellt sich immer dringender die Frage vom Wesen menschlicher Erkenntnis überhaupt. Von entscheidender Bedeutung ist nach Descartes die Gewissheit, dass bei allem Zweifel an echter Erkenntnismöglichkeit kein Weg an der Tatsache vorbeiführt, dass der Mensch „denkt“ (cogito, ergo sum). Darauf aufbauend kann der Mensch davon ausgehen, dass alles durch Vernunft erklärbar ist. Die Denkrichtung des „Rationalismus“ ist vor allem für die französische Geistesgeschichte wichtig. Daneben stellt sich die von England ausgehende Richtung des „Empirismus“, nach der jedwede Erkenntnis aus Erfahrungen bzw. Experimenten abgeleitet werden muss. Kant zeigt später die Grenzen beider Richtungen auf, indem er darlegt, dass der menschliche Verstand selbst bestimmten Grenzen unterworfen ist, z. B. die Dinge nur mit den „Kategorien“ von Raum und Zeit erfassen kann. (Michael Erbe: Frühe Neuzeit. Grundkurs Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer 2007, S. 31-33) Aufgaben: 1. Nennen und erläutern Sie wichtige wissenschaftliche Entdeckungen in der Neuzeit! 2. Welche Rolle hatte die Antike in diesem Zusammenhang? 3. Beschreiben Sie, welche gesellschaftlichen Veränderungsprozesse durch die Wissenschaft ausgelöst wurden. 11 Material 6: Die Ursachen der Hexenverfolgungen 12 13 14 15 16 Material 7: Die Entdeckung der „Neuen Welt“ Friedemann Berger: Den Osten im Westen suchen – die Europäer und die Neue Welt 5 10 15 20 25 30 Auch wenn die europäischen Eroberer, die mit ihrer modernen Waffentechnik, mit Hilfe neuer Schiffstypen, die die Kommunikation und den Nachschub wesentlich beschleunigten, und vor allem dank der in Amerika unbekannten Pferde den Eingeborenen militärisch weit überlegen waren, vorerst nur im karibischen Raum dauerhafte Kolonialisierungsbemühungen unternahmen, so waren dennoch die Eingriffe in die indianische Lebensordnung, die selbst von flüchtiger Bekanntschaft mit abendländischem Denken und abendländischer Kultur ausgelöst wurden, von nachhaltiger, gesamtkontinentaler Wirkung. Das Bewusstsein, Glieder der alleinseligmachenden christlichen Kirche zu sein, stattete die Europäer mit einem Überlegenheitsgefühl aus, das sich besonders bei den spanischen Eroberern in seiner grausamsten Konsequenz zeigte. Durch den jahrhundertelangen Kampf gegen den Islam im eigenen Land waren ihnen religiöse Vorwände als Motivation des Tötens derart in Fleisch und Blut eingegangen, dass Zwangsbekehrung und Massentaufen für die Indios zum einzigen Weg wurden, am Leben und in ihren angestammten Gebieten zu bleiben. (...) Nicht wenige der ersten Entdecker waren wie Columbus von einem unbändigen Glauben an eine religiöse Mission ihrer Fahrten erfüllt. In seinem unerschütterlichen Vertrauen auf biblische Weissagung war Columbus noch ganz ein Mensch des Mittelalters. Vor allem die Prophezeiungen im 60. Jesaja-Kapitel, die Zions künftige Herrlichkeit verkünden, bestärkten ihn in seiner Theorie, nach Westindien zu gelangen. Es heißt da: ‚Die Inseln harren auf mich und die Tarsisschiffe vor allem, dass sie deine Söhne von ferne herbringen samt ihrem Silber und Gold.’ (Da Tartessos der Name einer uralten Handelsstadt in der Nähe von Cadiz war, musste es sich bei Tarsisschiffen also um Schiffe von der Iberischen Halbinsel handeln.) Und bei Jesaja 65,17 las er: ‚Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen’, was er genauso als Bestätigung seiner Theorie empfand wie die Stelle im apokryphen 4. Esra-Buch, wo es heißt, dass Gott während der Schöpfung den Wassern befahl, sich im siebenten Teil der Erde zu sammeln, während er die anderen sechs Teile trockenlegte, damit sie von den Menschen bewohnt und bebaut würden. Gerade auf die biblische Aussage, dass die Erde nur zu einem Siebentel aus Wasser bestehe, gründete Columbus seine Gewissheit, auf dem Weg von Spanien nach Ostasien nur ein kleines Meer überwinden zu müssen. (aus: Friedemann Berger (Hg.): Christoph Columbus. Dokumente seines Lebens und seiner Reisen. Erster Band 1451-1493. Leipzig: Sammlung Dieterich 1991, S. 16f.) Aufgaben: 1. Welche Auswirkungen hatte das „Bewusstsein, Glieder der allein-seligmachenden christlichen Kirche zu sein“ auf den Umgang der Europäer mit den Ureinwohner in Amerika? 2. Beschreiben Sie die Motivation der Entdecker am Beispiel von Columbus! 17 Material 8: Europäische Expansion (entnommen aus: Materialheft für den katholischen Religionsunterricht, Gymnasiale Oberstufe Saar, Kurshalbjahr 12.1, Saarbrücken 2009, S. 14) b) „Europa trifft Amerika“: Waren, Produkte und Krankheiten, die vor der Entdeckung Amerikas im jeweiligen Kontinent unbekannt waren Von Amerika nach Europa Erdnüsse Kartoffeln Mais Tabak Tomaten Syphilis Von Europa nach Amerika Honigbiene Hühner Katzen Pferde Rinder Schafe und Ziegen Schweine Apfel Orange Pfirsich Zitrone Metallkessel Schusswaffen Wein Brennnesseln Kletten Löwenzahn Wegerich Masern Pocken (Zusammengestellt nach: Claudia Schnurmann: Europa trifft Amerika. Atlantische Wirtschaft in der frühen Neuzeit 1492-1783. Frankfurt a. M.: Fischer 1998, S. 119ff. und S. 187ff.) 18 c) Andreas Venzke: Einige Anmerkungen zur Kolonisationsgeschichte Amerikas 5 10 15 20 25 30 35 40 Im gesamten Raum der Karibik lebten vor der Ankunft der Europäer etwa 750.000 Menschen, wenigstens ein Drittel davon auf Hispaniola. Der größte Teil der Bevölkerung zählte zu den Aruak, einem friedlichen Indianervolk, das heutzutage als ausgerottet gilt. Einen geringen Teil machten die Kariben aus, die auf Grund ihrer isolierten Siedlungsgebiete und ihrer Bereitschaft zum Widerstand der Vernichtung um etliche Jahrzehnte entgingen. Der Kannibalismus, den sie praktizierten, lieferte jedoch bald eine äußerst willkommene Rechtfertigung für das grausame Vorgehen gegen die Indianer insgesamt. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts diente Hispaniola als Ausgangspunkt der Kolonialisierung Amerikas; von hier brachen Männer wie Hernán Cortés, Francisco Pizarro und Vasco Nunez de Balboa zu ihren Entdeckungsfahrten in der Neuen Welt auf. Jedoch rückte die Insel schon vor der Mitte des 16. Jahrhunderts aus dem Blickfeld der Kolonisatoren, die sich auf der Jagd nach Gold zuerst nach Kuba und schließlich nach Mittelamerika wandten. Die Goldvorkommen auf der ausgepowerten Insel waren bereits um das Jahr 1550 erschöpft; die weitere Zukunft Hispaniolas, wie nahezu des gesamten karibischen Raums, stand im Zeichen des Zuckerrohrs, zu dessen Anbau aber Tausende afrikanische Sklaven in die sich entvölkernden Gebiete Westindiens verschleppt wurden. Die Vernichtung der ursprünglichen Bevölkerung Hispaniolas drückt sich in erschreckenden Zahlen aus: Nach einer Zählung im Jahr 1508 lebten auf Hispaniola nur noch 60.000 Eingeborene; und wenn im Jahr 1548 Oviedo in seiner «Historia general de las Indias» anführte, dass dort nicht einmal mehr 500 Indianer am Leben seien, dann belegt diese Angabe, dass die Aruak auf Hispaniola bereits zu jener Zeit fast vollständig ausgerottet waren. (...) Von einer eigentlichen «Kolonisation» Amerikas konnte lange Zeit überhaupt nicht die Rede sein, da die Spanier einzig und allein darauf bedacht waren, die neuentdeckte Weltgegend auszubeuten. In den von Europa weit entfernten Gebieten brauchte man sich keine Rücksichten aufzuerlegen, wenn es darum ging, innerhalb kurzer Zeit enormen Reichtum zusammenzuraffen. Für die Ausrottung der Indianer war, abgesehen von deren direkter physischer Vernichtung, vor allem das System der «encomienda» verantwortlich, das symptomatisch für das menschenverachtende Ziel der Kolonialherren stand, sich mit geringstem finanziellem Einsatz auf dem schnellstmöglichen Weg zu bereichern: Danach wurden jedem Siedler für eine bestimmte Zeit des Jahres eine Anzahl Indianer «anvertraut», der über diese seine Schutzherrschaft ausüben durfte und ihnen christliche Fürsorge angedeihen lassen sollte. Als Gegenleistung mussten sich die Indianer in den Frondienst des «encomendero» begeben. (...) Bei der «encomienda» handelte es sich um ein kaschiertes, mörderisches Zwangssystem, das es den Spaniern im Namen der christlichen Zivilisation erlaubte, sich der Arbeitskraft der Eingeborenen nahezu kostenlos zu bedienen. Zu Tausenden starben die Indianer in den Goldminen; sie verhungerten oder entzogen sich der Zwangsarbeit, indem sie etwa mit Hilfe ihnen bekannter Pflanzengifte den Freitod 19 45 50 55 60 wählten. (Zudem wurde die eingeborene Bevölkerung durch in Amerika unbekannte Viruserkrankungen wie Grippe, Pocken oder Masern dahingerafft, die aus Europa eingeschleppt wurden.) (...) Auf dieser «Kolonisation» ruhte im übrigen von Beginn an der Segen einer christlichen Kirche, die in Spanien im Verlauf des 15. Jahrhunde weit stärker als in jedem anderen Teil Europas sittlich verfiel. Auch wenn die Völker, die missioniert werden sollten, in die Sklaverei geführt wurden, so stand dies nicht im Gegensatz zum christlichen Ideal der «Nächstenliebe». Denn die von der Kirche im gesamten Mittelalter gutgeheißene Versklavung von Menschen war von Papst Nikolaus V. im Jahr 1454 in der Bulle «Romanus Pontifex» sogar sanktioniert worden. Nach der geltenden Moraltheologie war den «Heiden» ohnehin die ewige Verdammnis gewiss. Darüber hinaus war die auf Missionierung bedachte christliche Kirche in entschiedener Weise an der Unterdrückung der eingeborenen Bevölkerung beteiligt. Dabei konnte sich die Kolonisation auf die von Papst Alexander Vl. im Jahr 1493 vollzogene Einteilung der Erde berufen, die in rechtlicher Hinsicht eine Übereignung der betreffenden Weltgebiete bedeutete. Die Methode der Missionierung wird durch die sogenannte «Konquistadorenproklamation» («requerimiento» ) überaus deutlich, die den Indianern als Legitimation für ihre Bekehrung und damit einhergehende Unterwerfung vorgetragen wurde. (...) Den Indianern wurde nämlich im Jenseits ein Paradies versprochen, auf Erden aber waren sie zu Demut und Gehorsam gegenüber ihren Herren verpflichtet. (gekürzt aus: Andreas Venzke: Christoph Kolumbus. Mit Selbstzeugnissen und Dokumenten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 32004, S. 101-109) d) Statistik: Die Bevölkerungsentwicklung in Mittel- und Südamerika Jahr Weiße Mischlinge* Indianer Afrikaner 1570 138.000 260.000* 9.827.000 1650 729.000 670.000 9.175.000 835.000 1825 4.349.000 6.252.000 8.211.000 4.188.000 *für 1570 inklusive Afrikaner (zusammengestellt nach: Richard Konetzke: Süd- und Mittelamerika I = Fischer Weltgeschichte Bd. 22: Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft, Frankfurt a. M. 18 2004, S. 102ff.) Arbeitsaufträge: 1. Analysieren und interpretieren Sie die Karte zu den Entdeckungsreisen. 2. Stellen Sie dar, welche Veränderungen die Entdeckungen sukzessive in der Kenntnis der Europäer über Größe und Gestalt der Erde bewirkten. 3. Stellen Sie anhand der Materialien zusammen, welche Prozesse durch die Entdeckung der sog. „Neuen Welt“ ausgelöst worden sind. 20 4. Andreas Venzke fasst in seiner Biographie von Christoph Kolumbus die Kolonisationsgeschichte (Süd-)Amerikas kritisch zusammen. Beschreiben Sie anhand des Auszuges aus dieser Biographie Verlauf und Auswirkungen des Kolonialismus am Beispiel des Karibik-Raumes (M 8c). Untersuchen Sie dabei auch die Rolle der katholischen Kirche. Ergebnissicherung Der Teufelskreis des „Kolonialismus“ Entdeckung und Eroberung neuer Gebiete z. B. 1492 Hispaniola (Karibik) Rolle der Katholischen Kirche: Ausrottung der Ureinwohner Einsatz von Sklaven aus Afrika Billigung der Versklavung von „Heiden“ Missionierung Südamerikas Legitimierung der Kolonial- Gewinnstreben durch hemmungslose Ausbeutung der Rohstoffe reiche durch Verträge (z. B. Tordesillas 1494) Entwicklung von Monokulturen z. B. Zuckerrohranbau 21 Unterrichtseinheit II: Die Aufklärung – „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ Aufklärerisches Denken (3 Stunden) • aufklärerisches Denken in Anthropologie, Wissenschaft, Religion, Politik und Gesellschaft Leitpunkte und Begriffe: Vernunft, Rationalismus, Natur- und Menschenrechte, religiöse Toleranz, Volkssouveränität, Verfassungsstaat, Gewaltenteilung, Gesellschaftsvertrag, Lesegesellschaften, Salons Datum: 17. / 18. Jahrhundert: Zeitalter der Aufklärung 22 Material 9: Was ist Aufklärung? 5 10 15 20 25 30 35 40 „Diese Frage beschäftigte die Aufklärer noch, als der Begriff längst zum Schlagwort geworden war, vor dem sich alles, was die aufgeklärten Zeitkritiker zur Finsternis zählten, zu rechtfertigen hatte. Den Anlass zu erneuter Beschäftigung mit diesem Problem lieferte der Theologe Johann Friedrich Zöllner, als er 1783 in der Berlinischen Monatsschrift, einem führenden Diskussionsforum der deutschen Aufklärung, schrieb. „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!“ (...) Die beiden berühmtesten Antworten gaben im Jahre 1784 der Königsberger Philosoph Immanuel Kant und der Berliner Kaufmann Moses Mendelssohn, Protagonist der jüdischen Aufklärung. [...] Mendelssohn bemerkte: „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unsrer Sprache noch nette Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum. Sollte dieses ein Beweis sein, dass auch die Sache bei uns noch neu ist? Ich glaube nicht.“ Mendelssohn sah in den drei erwähnten Worten „Modifikationen des geselligen Lebens“. Bildung zerfalle in Kultur und Aufklärung; während Kultur mehr auf das Praktische gehe, scheine sich Aufklärung mehr auf das Theoretische zu beziehen. (...) Und an diesen schon für sich genommen die Aufklärung charakterisierenden Satz schließt sich (...) der Schlüsselsatz aller Aufklärung an: „Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen.“ (...) Das Denken der Aufklärung ging in der Tat vom Menschen aus, war anthropozentrisch (...). Die Diesseitigkeit des Menschen wird gegen seine religiös verstandene Jenseitigkeit ausgespielt. Und auch Kants Definition der Aufklärung von 1783 implizierte diesen Zusammenhang, wenn er seine Reflexionen mit den berühmten Sätzen einleitete: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (...) Sapere aude! Dieser Imperativ der Aufklärung gilt für alle Lebensbereiche, gilt für Religion und Kirche, Staat und Gesellschaft, Philosophie und Wissenschaft, Geschichte und Gegenwart. Selbstdenken, ein anderes Schlüsselwort der Aufklärung, zielte auf die ebenso verstandene Mündigkeit des Menschen, und es war im Sinne dieses Grundsatzes nur konsequent, dass für Kant Freiheit die Voraussetzung der Aufklärung bildete – die Freiheit nämlich, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ (...) Freie und öffentliche Prüfung durch die selbstdenkende, nicht außengeleitete oder fremdbestimmte menschliche Vernunft bildeten die Richtschnur, ihrem Richtspruch sollten sich weder Traditionen noch Institutionen noch Individuen entziehen dürfen, Vernunft galt als letzte Instanz für alles Menschliche, ihr Mittel war die 23 45 50 55 60 65 70 75 80 Kritik. Wie Vernunft zählte Kritik zu den Schlüsselwörtern der Aufklärung. (...) Tatsächlich hatte sich das Wort, das zunächst die Kunst sachgemäßen Urteils in Kunst und Wissenschaft meinte (...), schnell verbreitet und bereits bei Goethe findet sich neben dem positiven Gebrauch – nämlich durch Kritik das Wahre vom Falschen zu scheiden – der Hinweis auf eine destruktive Form der Kritik. Aus Kritik wurde nur allzu leicht Krittelei (...) Der kritische Grundzug blieb (...) über weite Strecken ein Charakteristikum der Aufklärung, deren Verfechter oft mit einer Vehemenz kritisierten, als gelte es, das Falsche überhaupt aus der Welt zu schaffen. Kritik allein mag für eine Methode stehen, für ein Prinzip des Denkens, ist an sich aber formal, sagt über Inhalt nichts aus. Und auch das ist kennzeichnend: Selten ließen die Aufklärer einen Inhalt unkritisiert stehen. Darin äußerte sich ihr vorbehaltloser Wille zur Reflexion, zur Prüfung auch des scheinbar Selbstverständlichen und Feststehenden. An dem heute modischen Begriff des „Hinterfragens“ hätten sie ihre Freude gehabt. Aber eine solche Verselbstständigung der Kritik birgt auch die Tendenz zur Auflösung des Inhalts in die Methode und zur Überzeugung, der Weg sei allemal wichtiger als das Ziel. Daher verwundert es kaum, wenn der den Höhepunkt deutscher Aufklärung verkörpernde Lessing 1778 zu dem Schluss gelangte: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht." (...) Die den Menschen erkennbare Wahrheit ist allemal relativ, niemals absolut – so lautete die Botschaft der Ringparabel aus Lessings und der deutschen Aufklärung reifstem Werk Nathan der Weise. Und nur konsequent war es, von dieser Position aus, dass die Toleranz – und das bedeutete zunächst die Toleranz unter den verschiedenen Religionen, den christlichen und außerchristlichen – zu einem Hauptziel der Aufklärung wurde. Die Aufklärer begründeten die Forderung nach Toleranz aber keineswegs nur negativ mit der Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens, sondern ebenso als positives menschenrechtliches Postulat: „Der wahre Grund der Toleranz ist: dass ein jeder Mensch ein angeborenes Recht hat, in Glaubenssachen seiner Überzeugung zu folgen.“ (...) Aufklärung bezeichnete also zunächst keine feststehenden Inhalte, sondern ein prozessual verstandenes Denkprinzip. (...) Auf die Frage „Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter?“ antwortete Kant denn auch folgerichtig: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ (...) Aufklärung ist nicht, sondern wird. Indem die Aufklärer sowohl von der Bildungsfähigkeit des Menschen überzeugt waren als auch ihr eigenes Zeitalter als aufgeklärter beurteilten denn die Zeit ihrer Väter und Vorväter, gingen sie von der Möglichkeit des Fortschritts in der Geschichte aus. Bei nicht wenigen verdichtete sich diese Prämisse zur Deutung der Geschichte als Fortschritt. (aus: Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 11-16, gekürzt) 24 Material 10: Mehr Licht – das Bildprogramm der Aufklärung Daniel Chodowiecki: Aufklärung, 1791, Radierung, 5,5 x 9,8 cm, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Aufgaben: 1. Horst Möller spricht in seiner Darstellung über die Aufklärung die zentrale Leitfrage an: „Was ist Aufklärung?“. Stellen Sie zusammen, welche Grundsätze und Prinzipien die Epoche der Aufklärung kennzeichnen! 2. Kommentieren Sie die häufig zitierte Behauptung von Möller, Aufklärung sei nicht, sondern werde. Welche verschiedenen Deutungen lässt dieser Satz zu? 3. Beschreiben Sie die Radierungen von Daniel Chodowiecki und zeigen Sie, inwiefern in ihnen Ziele und Ideen der Aufklärung dargestellt werden! 25 Material 11: Aufklärungsphänomene Reinhart Koselleck: Über den Stellenwert der Aufklärung in der deutschen Geschichte (2005) »Si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer« – Wenn Gott nicht existierte, müsste man ihn erfinden. Dieser Satz von Voltaire wird gerne zitiert, um die Souveränität des Menschen zu apostrophieren, die im 18. Jahrhundert freigesetzt worden sei, in dem sich der Mensch von Religion und Metaphysik emanzipiert habe. Der Mensch verfüge auch über die 5 Position Gottes und könne sie, nach Bedarf, etwa aus Gründen sozialer Steuerung, argumentativ besetzen. Der Glaube an Gott ist kein theologisch begründetes Vorgebot mehr, er ist allenthalben nützlich (...) Wenn Gott nicht mehr Herr dieser Welt ist, der auf unvorhersehbare Weise in den Alltag eingreift, sondern höchstens eine Denkfigur, dann tritt der Mensch an seine Stelle. Er wird zum »Erdengott« und fähig, seine Geschichte ver- 10 nunftgemäß zu steuern. Wer sich früher auf Gott berief und dessen Vorsehung, der konnte sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf die Geschichte berufen, auf die Weltgeschichte der Menschen, die, vom Plan zur Wirklichkeit fortschreitend, zunehmend ihre Freiheit realisieren. Und wer sich auf den Boden dieser geistesgeschichtlichen Interpretation stellt, wird auch die Folgerung ziehen können, daß das 18. Jahrhundert so 15 etwas wie eine Epoche der Aufklärung gewesen sei. Eine Epoche, sei es im Sinne eines Wendepunktes oder einer Schwelle oder sei es im Sinne einer abgeschlossenen Periode, wonach die Moderne, unsere Geschichte begonnen habe, in der sich der Mensch ohne Rekurs auf außer- oder übermenschliche Gewalten in dieser seiner Welt einzurichten habe. (...) 20 Aufklärung meinte, einmal auf diesen Begriff gebracht, mehr als nur eine historische Periode selbstbewusst auszuzeichnen. Aufklärung erhebt immer auch einen systematischen, einen anthropologischen Daueranspruch, gar nicht überholt werden zu dürfen, überholt werden zu können. Sie beansprucht ein elementares Innovationspotential per se. Dazu einige sprachliche Hinweise. 25 Aufklärung war zunächst ein natürlicher Befund, dann eine Metapher, bevor sie zum Begriff geronnen war. Alltagssprachlich bezog sie sich zunächst auf »Serenitas«, auf die Heiterkeit jenes Wetterwechsels, der zur Aufklärung oder in die Strahlen der aufgehenden Sonne hinführt, die Wolken oder die dunkle Nacht vertreibend. Das aktive Verb, aufzuklären oder reflexiv sinnlich aufzuklären, war im 18. Jahrhundert lange gebräuchlich, 30 bevor es zum Kollektivsingular einer »Aufklärung überhaupt« verdichtet wurde (...). Erst durch diesen Überschritt vom handlungsbestimmenden Verb zum Substantiv gewann 26 auch »Aufklärung« einen theoriefähigen Status (...) Dieser Überschritt vollzog sich im Deutschen (später als im Französischen »eclaircissement«) in den 80er Jahren und er führte zu einer theoretisch neuen, innovativen Schubkraft, die anderen Begriffen nicht 35 eignete. Das Verstehen führte zum Verstand – einem Zustandsbegriff, das Vernehmen zur Vernunft, einem Dauerbegriff, das Begreifen zum Begriff, einem festschreibenden, festhaltenden Ausdruck, der das zu Begreifende eben auf den Begriff bringt. Anders die »Aufklärung«. Aufklärung ist nicht nur ein neuer Begriff der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts – er ist auch ein innovativer Begriff, der einen Prozess, einen Vorgang 40 einleitet, der repetitiv auf Wandel, mehr noch auf Verbesserung zielt. Kant hatte das 1784 exakt registriert, als er die Beobachtung, wir lebten in einem aufgeklärten Zeitalter, revidierte: Nein wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung. Nicht das Ziel oder das Ergebnis wird damit indiziert – sondern der Weg und der Auftrag. (...) Aufklärung – als moralisches Vorgebot, sich aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu 45 befreien – (was erst im 19. Jahrhundert als »Emanzipation« begriffen werden sollte) – dieses Gebot ist dynamisch, bringt das verbal umschriebene »Aufklären« auf einen dauernd wiederholbaren, auf einen reflexiven Handlungsbegriff. Der systematisch lesbare Begriff einer Aufklärung, die keine Autoritäten gelten lässt als die rational und selbst geleisteten Erkenntnisse, als die selbst kontrollierten Willensbildungen – dieser 50 anthropologisch begründete Begriff lässt sich nur einfordern und einlösen, wenn er sich auf eine geschichtliche Veränderung einlässt, die durch eben diese Aufklärung herbeigeführt werden soll. Aufklärung ist also ein systematischer Begriff, der ohne jenen geschichtlichen Wandel gar nicht denkbar ist, der durch Aufklärung erst herbeigeführt werden soll.“ (Reinhart Koselleck: Über den Stellenwert der Aufklärung in der deutschen Geschichte. In: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.): Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2 2005, S. 353-366; gekürzt) Aufgaben: 1. Nennen und erläutern Sie wichtige (geistesgeschichtliche) Veränderungsprozesse im Zeitalter der Aufklärung! 2. Diskutieren Sie, welche Unterschiede zwischen einer „Epoche der Aufklärung“ und einem „aufgeklärten Zeitalter“ bestehen. 3. Stellen Sie gegenüber, welche Bedeutungen der Begriff „Aufklärung“ nach den Ausführungen von Reinhart Koselleck hat. 27 Material 12: Die Ambivalenzen der „Aufklärungsepoche“ M 12a Die Aufklärung hat die Neuzeit entscheidend gestaltet. Sie führte in der Staatslehre zur Idee vom Staatsvertrag, zur Lehre von der Gewaltenteilung und vom Widerstandsrecht, in der Justiz zum Naturrecht und zum Ende von Folter und Hexenverfolgungen, in der Pädagogik zu modernem Schul- und Universitätsbetrieb. Der Einfluss der Religion auf Politik und Kultur wurde zurückgedrängt, und es gibt eigentlich kein Gebiet, auf dem die Aufklärung nicht die Welt verändert hätte. Der Wandel brachte aber nicht nur Gutes hervor. Der Glaube an die Allmacht der Vernunft führte zur Selbstüberschätzung. Auch meinte mancher, vernünftig sei vor allem, was ihm selber nützt. Wir fordern heute auch, dass der Mensch seine Vernunft gebrauchen soll und kann, begreifen aber immer mehr, dass der rationalen Erkenntnisfähigkeit Grenzen gesetzt sind, und dass auch andere Komponenten des Menschen zu ihrem Recht kommen müssen, wie zum Beispiel das Gefühl oder die Lebensqualität, die sich nur schwer rational begründen oder erklären lassen. (aus: Heinrich Pleticha (Hg.) (21992): Geschichts-Lexikon. Kompaktwissen für Schüler und junge Erwachsene. Frankfurt: Cornelsen a. M., S. 34f.) M 12b Die Aufklärung ist die Wiege der modernen wissenschaftlichen Weltsicht, sie popularisiert die Idee einer rationalen Lebensführung und entwickelt die Grundlagen der Demokratie. Zugleich wurzeln auch Theorie und Praxis des Sozialismus tief in der Aufklärung, wie der Slogan der Arbeiterbildungsvereine »Wissen ist Macht«, wie die Vorstellung von der Aufklärung über die eigene soziale Lage als notwendige Voraussetzung für politische Aktivierung, wie die Verknüpfung der sozialen Emanzipation mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt beweisen. Der aufklärerische Vernunftoptimismus ist durch zwei Weltkriege, durch Stalinismus und Faschismus und durch die seit dem Abwurf der ersten Atombombe manifeste Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit, aber auch durch die neuerdings verstärkt auftretenden sozialen und ökologischen Rückstoßeffekte des wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Fortschritts nachhaltig erschüttert worden. Von der Ambivalenz bzw. der »Dialektik der Aufklärung« (T. W. Adorno, M. Horkheimer) oder von »Grenzen der Aufklärung« (P. Sloterdijk) ist heute wieder häufiger die Rede. Den kritischen Einwänden gegen die Aufklärung wird man aber durch eine Abkehr von ihrem Grundanliegen nicht gerecht. Es geht vielmehr um die Wiedergewinnung eines umfassenden, nicht instrumentalistisch oder ökonomistisch verengten Vernunftbegriffs, wie er der Aufklärung ursprünglich eigen war. (aus: Johano Strasser (1986): Art. Aufklärung. In: Thomas Meyer/Heinz Timmermann u. a. (Hg.): Lexikon des Sozialismus. Köln: Bund, S. 69) 28 M 12c Grundgedanke der Aufklärung ist die Autonomie des Menschen, d. h. seine Fähigkeit, sich selbst Gesetze zu geben und seine eigene Lebenswelt nach den Grundsätzen eigener vernünftiger Einsicht zu gestalten und zu ordnen. Damit geht die Aufklärung als modernes Denken über die alteuropäisch-antike Tradition hinaus, in der die Selbsteinordnung des Menschen in die überkommenen Zusammenhänge von Natur, Herkunft und Überlieferung als Voraussetzung sinnvoller menschlicher Existenz galt. Im Extremfall konnte und kann das Denken der Aufklärung in einen übersteigerten Utopismus münden, der im Namen der Zukunft die Ordnung der Gegenwart radikal entwertet (...). Die damit einhergehende Aufwertung des Menschen findet ihren Ausdruck im weltanschaulichen Anthropozentrismus und einem weit ausgreifenden Individualismus. Gegen diesen umfassenden Anspruch der Aufklärung hat das konservative Denken in allen seinen Formen (wiewohl mit deutlichen Gradunterschieden) opponiert. (...) Gehlen7 konstatierte nicht zufällig im Jahre 1969: „Die Aufklärung ist, kurz gesagt, die Emanzipation des Geistes von den Institutionen. Sie löst die Treuepflicht zu außerrationalen Werten auf, hebt die Bindungen durch Kritik ins Bewusstsein, wo sie zerarbeitet und verdampft werden, und stellt Formeln bereit, die Angriffspotential, aber keine konstruktive Kraft haben, wie in der Rede vom neuen Menschen oder von der Unmenschlichkeit der Herrschaft.“ (aus: Hans-Christof Kraus (1996): Art. Aufklärung. In: Caspar von Schrenck-Notzing (Hg.): Lexikon des Konservatismus. Graz: Leopold Stocker, S. 41f.) M 12d Entspringend aus dem Gleichheitsdenken, hängen sie [die Aufklärungsideale] eng mit einem doktrinär-konstruierenden Zug zusammen. Dieser ungehemmte Doktrinarismus8, Ergebnis einer oft seichten Überschätzung der vordergründigen Vernunft, raubt der Aufklärung den Blick auf die Offenbarung und auf das Abgründig-Böse und verleitet sie dazu, die Welt optimistisch und untragisch zu sehen. In eben diesen Wesenseigenschaften liegen die Gefahren der Entgleisung und Entartung, denen die Aufklärung großenteils nicht entgangen ist. Zweifellos sind die tiefe Entsittlichung der Zeit, die Französische Revolution mit ihren weitreichenden Begleit- und Folgeerscheinungen (Napoleon), der Liberalismus, Positivismus (A. Comte) und Pragmatismus des 19. und 20. Jahrhundert mit auf ihr Konto zu buchen. Die Beförderung einer (...) Toleranz und der schließlich erfolgreiche Kampf gegen Hexenwahn, Folter und staatliche Willkür sind gleichwohl bedeutsame Ergebnisse ihres ehrlichen, freilich im Grunde nur auf verwässerte ältere christliche Ideale bezogenen Strebens nach Humanität. (aus: A. Schwarz: Art. Aufklärung. Geistesgeschichte. In: LThK2 (1957), Bd. 1, Sp. 1056-1058) 7 Gehlen, Arnold (1904-1976), deutscher Philosoph und Soziologe, gilt als Vordenker einer konservativen Gesellschaftsordnung und als Kritiker einer unreflektierten Moderne. 8 Doktrinarismus – starres Festhalten an bestimmten Meinungen und Theorien 29 Aufgaben: 1. Vergleichen Sie die Lexika-Auszüge zum Begriff „Aufklärung“ und zeigen Sie, welche Auswirkungen die „Aufklärung“ hatte. 2. Überprüfen Sie, welche Aspekte der Aufklärung der jeweilige Verfasser als positiv bzw. als negativ herausstellt. 3. Beurteilen Sie, inwiefern der weltanschauliche Standpunkt der Autoren deren Einschätzung der Aufklärung beeinflusst. 4. Häufig wird von der „Dialektik der Aufklärung“ gesprochen. Erläutern Sie, welche Bedeutung diese Formel haben könnte. 5. Diskutieren Sie, worin die bleibenden Leistungen der Aufklärung für das 21. Jahrhundert zu sehen sind. Mögliche Ergebnissicherung: Die Auswirkungen des „Projekts Aufklärung“ Perspektive Geschichtswissenschaft (Pleticha) Positive Auswirkungen Sozialismus (Strasser) Konservatismus (Kraus) Theologie (Schwarz) Negative Auswirkungen Staatslehre (z. B. Gewaltenteilung, Widerstandsrecht) Justiz (z. B. Naturrechtslehre, Beendigung von Folter und Hexenverfolgung) Pädagogik (Schul- und Universitätsgründungen) Verhältnis Staat-Religion Wissenschaftliche Weltsicht Rationale Lebensführung Demokratische Gesellschaftsordnung Fortschrittsorientierung Menschliche Autonomie Gestaltung der eigenen Lebenswelt Gleichheitsdenken Humanitätsstreben Toleranz Kampf gegen Hexenwahn, Folter, Willkür Selbstüberschätzung/Egoismus Glaube an die Allmacht der Vernunft Überschätzung der rationalen Erkenntnisfähigkeit Vernachlässigung von Gefühl und Lebensqualität Verengter Vernunftbegriff Gefahr der Selbstvernichtung der Menschheit durch naiven technisch-wissenschaftlichen Optimismus Utopismus und Entwertung der Gegenwart Anthropozentrismus und Individualismus Überschätzung der Vernunft Naiver Optimismus Entsittlichung der Gesellschaft „Ersatzreligion“ Rationalismus 30 M 13 Naturrecht und Aufklärung 5 10 15 20 25 30 35 Zur Erklärung des Spannungsverhältnisses von Staat, Gesellschaft und Individuum entwickelten Naturrechtslehrer zwei grundlegende Vertragstheorien: den Herrschafts- und den Gesellschaftsvertrag. Beide Theorien gehen von der Annahme aus, dass die Menschen im Urzustand gleichermaßen frei waren, dann aber bei der Gründung eines Gemeinwesens ihre Rechte ganz oder teilweise einem Herrscher oder der Gesellschaft übertrugen. Dabei lieferte freilich das pessimistische Menschenbild des Engländers Thomas Hobbes in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine klassische Rechtfertigung des Absolutismus. Hobbes verglich den Menschen in seinem Naturzustand mit einem Wolf; die Anwendung seiner Freiheiten müsse zwangsläufig zu einem „Krieg aller gegen alle“ führen. Daher sei die Übertragung aller Rechte an einen Herrscher zum Schutz des Menschen lebensnotwendig, ihre Rückgabe ausgeschlossen. Den entscheidenden Schritt von der Naturrechts- zur Menschenrechtslehre vollzog erst die Philosophie der Aufklärung, die den Menschen aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (Immanuel Kant) befreien wollte. Im festen Vertrauen auf die Kraft der menschlichen Vernunft wollte die Aufklärung die Menschheit aus den Ketten religiöser und staatlicher Bevormundung lösen. Deshalb setzten John Locke (Two Treatises of Government, 1690: Zwei Abhandlungen über die Regierung) und Jean Jacques Rousseau (Du contrat social ou principes du droit politique, 1762: Der gesellschaftliche Vertrag oder die Grundregeln des allgemeinen Staatsrechts) – um nur zwei maßgebliche Philosophen zu nennen – vor den Herrschaftsvertrag die freie Vereinbarung der Menschen zu einer Gemeinschaft: den Gesellschaftsvertrag. Er sollte die fundamentalen Rechte der Menschheit auch dann bewahren, wenn diese sich einer Herrschaft unterwarf. Mit ihren Gedanken verfochten Locke und Rousseau die Lehre von der „Volkssouveränität“. Wenn die Staatsmacht versuchen sollte, gewaltsam über Leben, Freiheit und Vermögen des Volkes zu verfügen, besitze demnach das Volk das Recht, den Herrschaftsvertrag aufzukündigen. Da von dieser Möglichkeit angesichts der historischen Realitäten nur im äußersten Notfall Gebrauch gemacht werden konnte, kreisten die Gedanken von Charles de Montesquieu hauptsächlich um die Frage, wie die Freiheit am besten zu sichern sei. Die Antwort, niedergelegt in seinem Hauptwerk De l'esprit des lois (Vom Geist der Gesetze, 1748) fand er im Prinzip der Gewaltenteilung. Exekutive, Legislative und Judikative sollten voneinander unabhängigen Staatsorganen übertragen werden, die gegenseitig ein Gleichgewicht behaupten müssten. Daraus entwickelte sich später das wichtigste Instrument zur Sicherung bürgerlicher Grundfreiheiten. Die historische Leistung der Aufklärung bei der Entwicklung der Menschenrechtsidee lässt sich in fünf Punkte fassen: • 40 Die Aufklärung legte wesentliche Merkmale für eine Definition von Menschenrechten fest: Sie sind unveräußerlich, nicht an bestimmte Räume und Zeiten gebunden und damit auch älter als alle Staaten. Menschenrechte dürfen nicht wie das positive Recht von einem Gesetzgeber abhängig und in ihrem 31 Geltungsbereich eingeschränkt sein. Die mit seinem Wesen untrennbar verbundenen Rechte können dem Menschen gar nicht abgesprochen werden, selbst wenn der Einzelne freiwillig darauf verzichten würde. • Erstmals in der Geistesgeschichte entschied sich die Aufklärung für die Vernunft als ausschließliches Kriterium zur Bestimmung des Naturrechts. Sie wandte sich damit gegen die Fremdbestimmung des Menschen durch religiöse und politische Lehrsätze. Nicht der Wille des Einzelnen oder die „Vernunft“ einer kleinen Elite sollten gelten, sondern der Wille der Allgemeinheit (gebildeter bzw. bildungswilliger Bürger). Daher ermunterten Aufklärer immer wieder die Menschheit, „sich ihres Verstandes zu bedienen“. • Erstmals in der Geschichte des Abendlandes bejahte die Aufklärung nicht nur Freiheit und Gleichheit aller Menschen als etwas Ursprüngliches, sondern forderte Glück und Wohlfahrt als Lebensziel des Menschen auf Erden. Vertröstungen auf ein besseres Leben nach dem Tode stellten die Aufklärer nicht mehr zufrieden. • Mit der Dreiheit von Leben, Freiheit und Eigentum bestimmte die Aufklärung einen Grundstock von fundamentalen Rechten, auf dem die Formulierung und Differenzierung von Menschenrechten erfolgen konnte. 45 50 55 Da der Gebrauch von Vernunft persönliche Freiheit, insbesondere Meinungsfreiheit erfordert, weckte die Aufklärung das Misstrauen gegen jede übermächtige Staatsgewalt. Mit den Lehren von der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung schuf die Aufklärung die tragenden Säulen zum Schutz bürgerlicher Grundfreiheiten. So hatte die Philosophie der Aufklärung den Boden für die ersten Menschenrechtserklärungen vorbereitet. • 60 Axel Herrmann (2007): Idee der Menschenrechte. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Menschenrechte. Informationen zur politischen Bildung 297, Heft 4, S. 6-9, hier S. 8f. Arbeitsaufträge: 1. Nennen und erläutern Sie wesentliche Merkmale der Konzeption des sog. Herrschaftsvertrags, wie sie Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert entwickelt hat. 2. Beschreiben Sie, welchen Beitrag zur Weiterentwicklung der Naturrechtslehre die Philosophen Locke, Rousseau und Montesquieu geleistet haben. 3. Bestimmen Sie, was man seit der Aufklärung unter dem Begriff „Menschenrechte“ versteht. 32 Zusammenfassendes Tafelbild Aufklärungsphilosophie und Menschenrechte Theorie vom Herrschaftsvertrag Theorie vom Gesellschaftsvertrag (z. B. Thomas Hobbes) (z. B. Locke, Rousseau, Montesquieu) Elemente der Theorie: Elemente der Theorie: • • • Lehre vom Ur(Natur)zustand: Menschen sind „frei“! pessimistisches Menschenbild: „Krieg aller gegen alle“! Schutz der Menschen durch Übertragung der individuellen (Freiheits-)Rechte an Herrscher Konsequenz Legitimation des Absolutismus steht im Gegensatz zu • • • Lehre vom Ur(Natur)zustand: Menschen sind „frei“! optimistisches Menschenbild: Glaube an die Vernunft Volkssouveränität: freier Zusammenschluss der Menschen zur Gemeinschaft Konsequenz Demokratische Gesellschaftsordnung ist die Grundlage von Menschenrechtskonzeption der Aufklärung • • • unveräußerliche, an Raum und Zeit ungebundene, uneingeschränkt gültige Rechte Leben, Freiheit, Eigentum sowie Glück und Wohlfahrt als wesentliche Rechte Schutz der Menschenrechte durch Volkssouveränität und Gewaltenteilung 33 Literatur- und Materialhinweise ALT, Peter-André (1996): Aufklärung. Stuttgart: Metzler BECK, Herbert/Peter C. BOL/Maraike BÜCKLING (Hg.): Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung. München: Klinkhardt & Biermann DÜLMEN, Richard van (Hg.) (1998): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000. Wien: Böhlau DÜLMEN, Richard van (21999): Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Band 3: Religion, Magie, Aufklärung. München: C. H. Beck DUCHHARDT, Heinz (2003): Europa am Vorabend der Moderne 1650-1800. Stuttgart: Ulmer (Handbuch der Geschichte Europas 6) ERBE, Michael (2007): Die frühe Neuzeit. Grundkurs Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer HALE, John R. (1973): Fürsten, Künstler, Humanisten. Renaissance, Anbruch der Neuzeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt KLUETING, Harm (2007): Das Konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne. Darmstadt: Primus MÖLLER, Horst (1986): Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp SCHNEIDERS, Werner (Hg.) (2001): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München: C. H. Beck STOLLBERG-RILINGER, Barbara (2000): Europa im Jahrhundert der Aufklärung. Stuttgart: Reclam VOGLER, Günter (2003): Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500-1650. Handbuch der Geschichte Europas, Bd. 5. Stuttgart: Eugen Ulmer ZUFFI, Stefano (2008): Die Renaissance. Kunst, Architektur, Geschichte, Meisterwerke. Köln: DuMont Unterrichtsmaterialien BRÜCKMANN, Asmut (22004): Die europäische Expansion. Kolonialismus und Imperialismus 1492-1918. Historisch-politische Weltkunde/Kursmaterialien Geschichte Sek. II. München: Klett PLETICHA, Heinrich (Hg.) (21992): Geschichts-Lexikon. Kompaktwissen für Schüler und junge Erwachsene. Frankfurt: Cornelsen a. M. WUNDERER, Hartmann /ECKHARDT, Hans-Wilhelm (2004): Europa bricht auf – Kultur, Staat und Wirtschaft in der Frühen Neuzeit. Thema Geschichte/Geschichtliche Reihe für die Sek. II. Braunschweig: Schroedel Hilfreiche Internetseiten zum Thema • http://www.ethbib.ethz.ch/exhibit/galilei • http://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/ 34