„Herbert Grönemeyer „Ich ordne Dinge sehr gerne ein.“
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„Herbert Grönemeyer „Ich ordne Dinge sehr gerne ein.“
I N T E RV I E W : A N D R É B O S S E | F O T O S : O L I V E R M A R K ( 2 4 ) , J Ü R G E N T E L L E R ( 2 7 ) , A N T O N C O R B I J N ( 3 0 - 3 1 ) „Herbert Grönemeyer „Ich ordne Dinge sehr gerne ein.“ 04.02.2007, Heiligendamm. Das Kempinski an der Ostsee ist ein luxuriöser Hotelkomplex. Grönemeyer wartet in einer kleinen Suite. Er trinkt Tee, später wird Brot gereicht. Vom ersten Wort an verkörpert er das Ruhrgebiet, er spricht schnell und direkt. Sein Tipp gegen Heiserkeit: „Musst den ganzen Tag lutschen und leise reden, dann geht das auch wieder weg.“ Herr Grönemeyer, dieses Hotel ist ein skurriler Ort, finden Sie nicht auch? Herbert Grönemeyer: (lacht) Ja, kann man wohl sagen. Ich bin auch zum ersten Mal hier. Wenn Sie Leuten, die noch nie hier waren, diesen Platz beschreiben müssten, wie würden Sie das tun? Er liegt am Meer, das ist schon mal wichtig. Vom Wasser aus erscheint Heiligendamm eher als eine Ansammlung kleiner Villen, aber nach hinten heraus erstreckt sich dann dieser unglaubliche Koloss von Hotelanlage. Das ist ziemlich monumental. Was hat Sie hierhin gezogen? Ich wollte einfach raus aus der Stadt, weil ich die letzten zweieinhalb Monate in London komplett in Studios verbracht habe. Allein die Vorstellung, dass ich jetzt schon wieder in einem Hotelzimmer in der Stadt mit Leuten Kaffee trinken und quatschen müsste – da habe ich die Krise gekriegt. Darum das Meer. Und weil wir außerdem gerade planen, zum G8-Gipfel Anfang Juni in Heiligendamm ➊ eine Kundgebung zu organisieren, dachte ich, es wäre eine gute Idee, hierhin zu fahren. Was fasziniert Sie am Meer? Das kommt noch von früher. Ich hatte als Kind Asthma; das Meer macht mich auf, lässt mich atmen. Ich habe damals die Sommer in Holland verbracht, das ist ja von Bochum aus ein Katzensprung. Ich habe es immer geliebt, wenn das Meer weggeht und wiederkommt. An der See kann ich atmen, da kriege ich Luft. Und da kann ich auch gut schlafen. Hatten Sie zuletzt Probleme damit? In den letzten Wochen, ja. Das habe ich immer, wenn ein Album vor dem Abschluss steht. Ich hatte mich so hochgeschraubt, dass ich mir schon Baldrian und Beruhigungstee reingepfiffen habe, bis es mir aus den Ohren wieder rauskam. Allein die Seeluft hat mir aber schon geholfen, ich habe gut geschlafen in den letzten Tagen. Wohl auch, weil das neue Album jetzt fertig ist. Ha, von wegen! Ich kann ja nicht loslassen. Ich schraube immer weiter rum, probiere neue Mixe aus, höre mir diesen und jenen Versuch an. Aber morgen früh ist es so weit, dann gebe ich die Platte ab. Sie haben die zwölf Lieder ja gerade gehört. Da haben Sie mir übrigens was voraus, ich habe sie noch gar nicht in Gänze gehört. Das mache ich morgen früh zum ersten Mal. Was werden Sie dabei wohl empfinden? Selbstkritik? Aufregung? Entspannung wäre gut. Aber ich befürchte, ich entdecke wieder viele Baustellen. Wie oft wird denn das Album im Hause Grönemeyer danach noch laufen? Von meiner Seite aus gar nicht mehr. Meine Kinder lassen die Platte sicher noch mal laufen, aber ich setze mich nicht von alleine hin und höre bewusst zu. Warum geben sich viele Künstler eigentlich so ungern dem Genuss hin, ihr Werk nach Abschluss noch einmal in aller Ruhe zu genießen? Weil dann bei mir alles wieder hochkommt. Die Nervosität, einen vernünftigen Text zu schreiben, alle Zur Person Herbert Grönemeyer wurde zwar am 12.04.1956 in Göttingen geboren, lebte aber von Kindheit an in Bochum. Mit 18 schrieb er erste Musiken für das Schauspielhaus, dort machte er auch seine ersten Bühnenerfahrungen. Bis Ende der 80er arbeitete Grönemeyer gleichberechtigt als Musiker und Schauspieler, nach seinem Film-Durchbruch in „Das Boot“ konzentrierte er sich auf die Musik. Mit „Bochum“ gelang ihm 1983 der erste Bestseller. 1998 zog Grönemeyer nach London, im November des Jahres verstarben innerhalb von drei Tagen seine Frau Anna und sein Bruder Wilhelm an Krebs. Grönemeyer lebt mit seinen Kindern Felix und Marie sowie seiner Freundin im Londoner Stadtteil Primrose Hill. GALORE 27 | 25 „Die Welt dreht sich nicht mehr wie gehabt, sie rotiert schräg. Und diese Schieflage können wir wirklich nur noch gemeinsam wieder gerade biegen.“ ➊ G8-Gipfeltreffen Im Hotel Kempinski im Ostseebad Heiligendamm bei Rostock treffen sich vom 06.-08.06. die Staatschefs der größten Industrienationen (USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und Russland). Kritische Gruppen organisieren Protestveranstaltungen und Demonstrationen, unter anderem soll am 07.06. eine Kundgebung namens „Music & Message“ stattfinden, bei der auch Herbert Grönemeyer auftritt. In den vergangenen Jahren kam es während der G8-Gipfel regelmäßig zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten aus dem so genannten Schwarzen Block – so auch beim letzten Treffen 2006 in Edinburgh. 26 | GALORE 27 qualitativen Zweifel, die ich habe. Das alles willst du nicht empfinden, weil du es schon über Monate immer wieder durchgekaut hast. (stöhnt) Das ist bei meinen Filmen aber genauso. „Das Boot“ habe ich einmal im Kino geguckt, bei der Premiere, wobei ich aber kaum hingeschaut habe. Und dann lief vor zwei Jahren in London der Director’s Cut. Ich dachte, dass ich nach all den Jahren vielleicht genug Abstand hätte, das zu genießen. Aber von wegen, alles kam wieder hoch. (überlegt) Das klingt jetzt wahrscheinlich, als wäre es eine Tortur – ganz so schlimm ist es aber nicht. Für mich ist es eben wichtig, die Prozesse abzuschließen. Sie richten den Blick also notwendigerweise nach vorne? Ja. Es ist wie bei einem Koch: Der kauft Sachen ein, bereitet die Produkte vor, rührt das Ganze zusammen, schmeckt es ab und raus. Dann ist es für ihn gegessen. Aber wird der Koch nicht verrückt, wenn er sieht, wie die Leute sein Menü verschlingen: ohne Sinn für die Nuancen und mit dem falschen Wein? Um jetzt wieder auf die Musik zurückzukommen: Die Leute, die meine Lieder normal hören, können nichts falsch machen. Eher die Kritiker, die in den Texten zwanghaft nach irgendwas suchen. Denen sage ich: Entspannt euch. Ist ja gut, ist nur Musik. Macht euch mal nicht strubbelig. Zum G8-Gipfel werden hier in Heiligendamm die mächtigsten Männer und Frauen der Welt sitzen. Was glauben Sie, werden die Staatschefs das Meer überhaupt bemerken? Den Gedanken habe ich auch schon gehabt. Wäre ja schön, wenn sich durch die See ein etwas entspannteres Denken einstellen würde. Aber es stellt sich natürlich die Frage, wie limitiert die Wahrnehmung der Mächtigen ist. Ob die Damen und Herren wirklich in der Mittagspause raus auf den Steg gehen und im Wind stehen? Und falls ja, ob der Wind tatsächlich deren Köpfe frei bekommt? Also eigentlich muss doch jeder Mensch, der hier auf dem Pier steht, auf neue Gedanken kommen. Das ist aber vielleicht viel zu idealistisch gedacht. Ist ja die Frage, wie durchtrainiert die hier schon einlaufen, ob überhaupt eine Möglichkeit für eine Veränderung des Denkens besteht. Vielleicht sind ja alle Entscheidungen schon vorher so fest in Beton gegossen, dass auch die Meeresbrise nichts ausrichten kann. Durchtrainiert im Kopf – das entspricht so gar nicht Ihrer Idee von gedanklicher Flexibilität, einem Leitgedanken Ihrer neuen Platte. Ich vermisse das, vor allem in den oberen Etagen. Schauen Sie sich die Große Koalition an, da sehe ich keinen, der sich von den Zwängen frei gemacht hat. Alle sind völlig verhärmt, keiner macht das Beste aus dem, was er kann. Aber war das nicht zu erwarten? Man hat ja immer die Hoffnung, dass auch mal genau das Gegenteil eintrifft. Was hat Sie zu dieser Hoffnung bewogen? Vielleicht das Gefühl, dass Frau Merkel zu Beginn ihrer Kanzlerschaft eigentlich nichts zu verlieren hatte. Jetzt verliert sie doch – weil sie sich nichts traut und einfach mittelmäßig ist. Sie haben 2002 im Zuge des Albums „Mensch“ das Jahrhundert der Menschlichkeit ausgerufen. Nun sind fünf Jahre vergangen. Wie fällt Ihre erste Zwischenbilanz aus? Na ja, die Idee entstand ja aus meiner leicht bescheuerten Sichtweise. Die letzten 50 Jahre waren stark von Einzelkämpfern, der Ellenbogengesellschaft, IchAGs und solchen Sachen geprägt: Jeder für sich alleine. Und irgendwann stellt sich bei den Menschen halt das Gefühl ein, dass es das auch nicht sein kann. Dann überprüfen sie: Habe ich noch einen Freundeskreis? Habe ich jemanden, den ich anrufen kann, wenn ich abends ein Pils trinken möchte? Statt die Stunden dafür zu nutzen, meinen individuellen Erfolg weiter hoch zu pumpen, investiere ich Zeit, um die Nähe zu anderen zu suchen. Genau das passiert jetzt und zwar nicht nur im privaten Kreis, sondern weltweit. Wie meinen Sie das, weltweit? Wir suchen Gemeinsamkeit auf globaler Ebene. Die Welt dreht sich nicht mehr wie gehabt, sie rotiert schräg. Das wissen wir nun – nicht erst nach diesem warmen Winter. Und wir wissen mittlerweile auch, dass wir die Schieflage wirklich nur noch gemeinsam wieder gerade biegen können. Die Menschen wissen es zwar – aber handeln sie auch? „Die Leute, die meine Lieder normal hören, können nichts falsch machen. Eher die Kritiker, die in den Texten zwanghaft nach irgendwas suchen. Denen sage ich: Entspannt euch. Macht euch mal nicht strubbelig.“ ➋ GCAP Im Januar 2005 formierte sich am Rande des Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre die Vereinigung „Global Call To Action Against Poverty“. Gruppen und Vereinigungen aus über 80 Ländern bündeln unter diesem Namen ihre Aktivitäten, das Erkennungszeichen für Aktivisten und Sympathisanten ist ein weißes Armband („White Band“). Deutscher Vertreter ist das Projekt „Deine Stimme gegen Armut“, das von Entwicklungshilfe-Organisationen sowie von Künstlern (u.a. Herbert Grönemeyer, Heike Makatsch, Franka Potente, Günter Jauch) getragen und unterstützt wird. 28 | GALORE 27 Es gibt zumindest Anzeichen. Zum Beispiel für die Einsicht, dass einem die ganze Kohle auch nichts nützt. Das ist vielleicht ein Antrieb für Megareiche wie Richard Branson oder Bill Gates, wirklich enorme Summen zu spenden. Ich hoffe das zumindest – nicht, dass wir denen auf den Leim gehen und die doch die Weltherrschaft anstreben. (lacht) Ich bin nun mal optimistisch und glaube, dass es immer mehr Leuten darum geht, Menschlichkeit zu erfahren. Zum Beispiel ein Lächeln. Das ist ja auch der Grund, warum ich mich in einigen Projekten engagiere. Das ist auch reiner Eigennutz. Sehen Sie weniger Potenzial an Menschlichkeit bei den Mächtigen dieser Welt? Leider ja. Wir normalen Menschen sind ja eher wollsockig. Wir hören Geschichten über Schicksale, die uns berühren, und das lässt uns im Idealfall handeln. Ich möchte gar nicht abstreiten, dass die Mächtigen tief im Inneren auch ein Herz für solche Geschichten haben, aber sobald der Kopf ins Spiel kommt, ticken die einfach anders. Denen brauchst du dann nicht mehr mit Geschichten kommen, die haben andere Interessen und Sachzwänge. Wenn man sich nur überlegt, dass Deutschland weiterhin der zweitgrößte Waffenexporteur weltweit ist, dann komme ich mit meiner Menschlichkeit nicht weit. Kein Politiker wird aus dem Gedanken der Menschlichkeit heraus den Markt für Waffenexporte kaputtschlagen. Das ist einfach eine ganz andere Ebene. Aber auf dieser Ebene müssen jetzt dringend die wirklich wichtigen Maßnahmen gegen die Schieflage der Erde eingeleitet werden, oder? Ja, aber da kommen wir Künstler ins Spiel. Wir haben die Aufgabe, vehement auf diese nötigen Maßnahmen hinzuweisen. Wir können das, denn wir sind laut genug. Das muss auch unser Ziel sein, wenn wir beim G8-Gipfel hier sein werden. Natürlich kann man auf der anderen Seite lange darüber debattieren, ob ein Engagement seitens der Popkultur wirklich etwas bringt oder ob es einem Kontinent wie Afrika sogar Schaden zufügen kann. Nennen Sie doch mal ein Erfolgsbeispiel. Das Ziel von „Deine Stimme gegen Armut“ ist es, den Kontinent wieder auf die Agenda zu bringen, und ich würde sagen, dass uns das in den vergangenen drei Jahren auch gelungen ist. Wenn heute ein Zeitungsredakteur vorschlägt, eine Geschichte über Afrika zu machen, dann wird er nicht mehr schief angeguckt. Es muss solche Impulse von außen geben, denn von selber kommen die Verantwortlichen nicht auf die not- wendigen Dinge. Und das ist die Aufgabe von uns Sangeskünstlern – weil wir uns als Trommler eben schneller Gehör verschaffen können. Das letzte große Treffen der engagierten Sangeskünstler war das Live 8-Konzert im Sommer 2005. Sie gelten als Kritiker dieses Festivals. Ja, wir haben uns damals intern eher gestritten. Ich fand das Konzert ziemlich überflüssig. Wir haben vorher ein paar Monate lang kleine Anarcho-Briefe geschrieben und Anzeigen geschaltet, das war viel effizienter und spannender. Auch das erste Live Aid in den Achtzigern war besser, denn es gab ein klares Ziel: konkrete Hilfe für die Hungerkatastrophe in Äthiopien. Beim Live 8 ging es nur darum, die politische Arbeit mit einem großen Knall zu krönen, aber diesen Trommelschlag brauchte keiner mehr. Das Thema war längst auf der Agenda, es gab keinen richtigen Anlass. Die ganze Sache hat eher verwirrt, als dass sie irgendwen aufgeweckt hätte. Sie haben damals aber auch in Berlin gespielt. Ich konnte ja kaum anders. Eine Absage hätte ich keinem erklären können. Millionäre spenden Geld, Popstars trommeln für den guten Zweck. Aber stimmen Sie zu, dass es für einen normalen Menschen heute schwierig ist, einen Ansatzpunkt für effektive Hilfe zu finden? Die Probleme sind sehr komplex geworden, das stimmt. Vor 20 Jahren ging es noch um das Atomkraftwerk um die Ecke. Es gab einen Ort, ein konkretes Ziel und gut organisierte Initiativen. Heute ist das schon komplizierter, es geht um Probleme, die wirklich nur zusammen lösbar sind. Alle Alleingänge sind hilflose Reaktionen. Wir könnten Europa einzäunen, es würde nichts nutzen. Und es ist auch Schwachsinn, die Menschen in Religionen zu unterteilen. Aber genau das passiert doch derzeit – und die Fronten verhärten sich offensichtlich immer weiter. Das ist ein purer Anachronismus. Ein letzter, verzweifelter Versuch. Wer sich aus religiösen oder finanziellen Gründen für etwas Besseres hält, steigt in ein totes Rennen ein. Und wann geht es Ihrer Meinung nach so richtig los mit der Suche nach gemeinsamen Lösungen? Ich bin nun mal ein sehr geduldiger Mensch – und die Anfänge des gemeinsamen Denkens und Handelns gibt es ja schon. Die Vereinigung GCAP, also „Global Call To Action Against Poverty“ ➋, beispielsweise versucht wirklich etwas auf die Beine zu stellen. In Deutschland haben wir uns in diesem Winter zum ersten Mal gefragt, ob es wirklich sein muss, dass wir frisches Gemüse einfliegen. Warum müssen wir im Januar Erdbeeren essen? Dass solche Fragen gestellt werden, ist ein erster Schritt. Irgendwann müssen dann auch die letzten Kleingeister von ihrem hilflosen Projekt abrücken, auf den letzten Metern doch noch die Weltherrschaft erreichen zu wollen. Sie denken an Bush und Blair? Die beiden letzten Imperialisten, ja. Für mich sind das zwei Halbstarke, die mit ihren Pistolen im Gurt meinen, das Dorf terrorisieren zu können – dabei ist das Dorf längst eine Stadt. Blair hat vor kurzem in einer Talkshow gesagt, er müsse sein Handeln alleine vor Gott verantworten. Die gesamte Presse zog anschließend über ihn her. (lacht) Aber Tony Blair galt lange als Inbegriff eines neuen, coolen Großbritanniens. In seinen ersten Jahren als Premierminister war er noch ganz der schmale Eton-Schüler, typisch britisch halt. Vor kurzem habe ich ihn aber zusammen mit der African Commission in einer Runde gesehen. Um ihn herum waren alle perfekt gekleidet, aber Blair kam breitbeinig mit offener Jacke und den Händen auf den Knien. Er lief, als hätte er zu Hause wochenlang eine George W. Bush-Imitation geübt: Tony, der Leichtgewichts-Texaner. Wenn er mit seinem Pfarrerston auf der Kanzel erscheint, stellen sich bei mir die Nackenhaare hoch. Aber sein Stellenwert in Großbritannien ist gar nicht so schlecht, die Briten schätzen kluge Menschen. Nein, halt, er ist nicht klug, er ist gebildet. Worin genau liegt der Unterschied? Wer gebildet ist, muss nicht klug sein, schafft es aber manchmal, sich als klug zu verkaufen. Wirkliche Klugheit ist menschliche Intelligenz, keine angelernte. Würden Sie sich als klug bezeichnen? Nee. (lacht) Ich hoffe, dass ich das irgendwann mal werde, denn mich faszinieren kluge Menschen ungemein. Sie besitzen eine große Emotionalität, eine emotionale Intelligenz, die man auch als Weisheit bezeichnen könnte. Wo Sie gerade von Emotionalität sprechen: Dieser Begriff fällt auch häufig, wenn man über Ihre Musik spricht. Eine Bekannte meinte, Ihre Lieder lösten bei ihr den Wunsch aus, jemanden anzurufen oder einzuladen. Dieses Kompliment nehme ich gerne an. Habe ich auch noch nie gehört, schön. (überlegt) Aber es stimmt schon, das ist ja auch die Idee des Videos von „Lied 1 – Stück vom Himmel“. Das Leben besteht nun einmal „Irgendwann merkst du, wie sich die Trauer langsam aber sicher in das Farbenspektrum deines Lebens einreiht. Ganz wegbekommen wirst du sie aber nie.“ nur aus Aufstehen und Nebeneinandersitzen. Mehr ist da nicht, aber das ist auch schön genug. Immer zu denken, das Glück komme noch und das Leben werde irgendwann später mal gigantisch, das bringt nichts. Glück findet zwischen zwei Menschen statt. Ist das ein Plädoyer gegen die Single-Gesellschaft? Nicht unbedingt. Es muss nicht immer eine Liebesbeziehung sein, das habe ich besonders in meiner persönlichen Krise gespürt. Nicht mein starkes Ich hat mir geholfen, sondern die Menschen, die da waren. Sie sind während Ihrer Krise, nach dem Tod Ihrer Frau und Ihres Bruders, in London geblieben, in einer im Grunde für Sie fremden Stadt. Warum? Ich arbeite ja schon seit Ende der Achtzigerjahre in London, dort leben wollten wir mit den Kindern aber eigentlich nur ein halbes Jahr. Geplant war ein Kurzaufenthalt. Nach den schlimmen Dingen, die dann passierten, habe ich mir aber überlegt, dass es einfacher wäre, in London zu bleiben. Für die Kinder, aber sicher auch für mich. Ich wollte nicht, dass die Medien mich in Deutschland betrachten und öffentlich die Frage stellen: Wie ist der Grönemeyer gerade drauf? Ist London ein guter Ort, um mit Schicksalsschlägen fertig zu werden? Was sicher hilft, ist der schwarze Humor. (überlegt) Die Engländer sind wahnsinnig loyal, aber du kannst dich mit denen nicht in deinen Problemen suhlen. Das ertragen die nicht, so sind die nicht erzogen. Die machen lieber einen Witz. Wenn du jemanden verlierst, dann fällst du ins Bodenlose. Für mich war es gut, dass ich in dieser Phase viele Menschen hatte, die halfen, einen neuen Boden zu schaffen. London ist eine Stadt der Durchgereisten, vielleicht sogar der Durchgereichten. Du musst dir selber Gesellschaft suchen, sonst bist du verloren. Und dazu gehört eben auch, dass du dir ein Notnetz schaffst. Welche Rolle spielte dabei der Umgang mit dem Verlust auf künstlerischer Ebene? Und wie sehen Sie das Album „Mensch“ heute? Damals war es einfach mein Versuch, nach den Geschehnissen wieder Musik zu machen. Jetzt, mit dem Abstand von viereinhalb Jahren, ordne ich die Platte einfach als mein elftes Album in die Reihe ein. Ich ordne Dinge sehr gerne ein. Viele Fans messen Ihrem, wie Sie sagen, Versuch aber eine viel größere Bedeutung bei. GALORE 27 | 31 „Beim Live 8 ging es nur darum, die politische Arbeit mit einem großen Knall zu krönen, aber diesen Trommelschlag brauchte keiner mehr. Die ganze Sache hat eher verwirrt, als dass sie irgendwen aufgeweckt hätte.“ Discografie (Auszug) Total egal (1982) Gemischte Gefühle (1983) Bochum (1984) Sprünge (1986) Ö (1988) Luxus (1990) Chaos (1993) Bleibt alles anders (1998) Mensch (2002) Zwölf (2007) 32 | GALORE 27 Das kann sein, aber das kann ich nicht beurteilen. Sicherlich ist das Thema der Platte, der persönliche Umgang mit Trauer, ungewöhnlich. Wobei der Blues im Grunde auch von Trauer durchzogen ist, aber für den deutschen Pop war das sicher etwas Besonderes. Die ganze Sache hat irgendwann eine solche Dimension angenommen, dass ich das zwar noch wahrgenommen habe, es aber eben nicht mehr einordnen konnte. Das war jenseits von Gut und Böse, und irgendwann kam der Punkt, an dem ich mich fragen musste: So, was ist hier eigentlich los? (lacht) Das war aber auch keine neue Erfahrung für mich. Nach dem Erfolg von „Bochum“, der aus dem Nichts kam, habe ich auch irgendwann nicht mehr geschnallt, was passiert. Das Gehirn setzt dann aus. Wobei ich das das Ganze ja noch auf recht dörflichem Niveau mache – wenn du das wie Robbie Williams auf einer Welttournee durch verschiedene Zeitzonen und Kulturen erlebst, geht’s irgendwann nicht mehr. Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Sie nach dem letzten Konzert der „Mensch“-Tour wieder im Alltag landeten? (überlegt) Da fingen die Routinen wieder an. Ich genieße das, ich bin ein sehr häuslicher Mensch. Außerdem ist meine Alltagsroutine in London sehr neutral, da kümmert sich keiner um meinen Erfolg in Deutschland. (überlegt) Ich weiß noch, dass es nach „Das Boot“ und den musikalischen Erfolgen in Deutschland sehr schwer war, der Aufmerksamkeit zu entkommen. Und für meine Frau sowieso – die musste ja immer auf den hochgedrehten Typen an ihrer Seite reagieren. Wie ergeht es Ihnen heute als allein erziehender Vater? Natürlich sind wir drei durch das Schicksal zusammengeschweißt worden. Sicher nehmen die Kinder auch mehr Rücksicht auf ihren Vater, normal würden sie sicher öfter den Angriff suchen. Seit drei Jahren lebt meine neue Freundin bei uns, es gibt also wieder jemanden, der mir ab und zu sagt: Das hättest du entspannter sehen können. Eines Ihrer neuen Lieder beschreibt den Beginn einer neuen Liebe. Wie schwer oder einfach war es für Sie, sich neu zu verlieben? Es war für beide Seiten nicht ganz einfach. Man weiß um das Schicksal und um die Lieder, die ich meiner ver- storbenen Frau gewidmet habe. Auf der anderen Seite ist es aber zum Glück so: Wenn man sich verliebt, dann verliebt man sich. Ganz einfach und egal, was vorher geschehen ist. Wunderbarerweise ist das Leben so gestrickt, dass das mit der Liebe plötzlich einfach passiert. Das hat sich der liebe Gott gut ausgedacht. Was solltest du sonst auch einem Teenager erzählen, der denkt, nach der ersten großen Trennung bräche die Welt zusammen? Die Chance einer neuen Liebe kommt immer wieder. Eine sehr generelle Aussage – sind Sie ein Generalist? Na ja, so ist halt das Wesen des Menschen: eigentlich ganz simpel. Meiner Erfahrung nach geht es den Leuten eher auf den Nerv, wenn man diese generellen Sachen in so buddhistisch-philosophische Weisheiten verpackt. Braucht man gar nicht. „Man kann sich immer wieder neu verlieben“ – so einfach, so schön. Da kannst du dich noch so oft fragen, ob das gut oder schlecht ist: Das Verliebtsein kriegst du nicht mehr aus der Birne. Da ist der Mensch hilflos. Zum Glück. Wie ist das mit der Trauer – bekommt man die irgendwann aus dem Kopf? Trauer kannst du nicht beenden oder abschließen. Wenn Trauer eine neue Farbe im Spektrum deines Lebens ist, dann überschattet sie zunächst einmal alles. Aber irgendwann merkst du, wie sie sich langsam aber sicher in die anderen Farben einreiht und sich dort ihren Platz sucht. Ganz wegbekommen wirst du sie aber nie. Wer sich mit 19 unter dramatischen Umständen von seiner großen Liebe getrennt hat, wird auch mit 52 noch manchmal denken: Hach! Oder: Uff! Dann stellt sich für Sekundenbruchteile der Zustand von damals wieder ein, und das ist ja nichts anderes als Trauer. Psychologen sagen, dass das emotionale Gerüst der Menschen intakt ist, die sich diese Trauermomente zurückholen können, ohne dass es sie gleich wieder aus der Bahn wirft. Haben Sie sich in Ihrer Krise mit Psychologie beschäftigt? Ich habe eine Art Briefing von einer Londoner Psychologin bekommen, einer Freudianerin. Und das war auch hilfreich. Grundsätzlich würde ich sagen: Nicht jeder muss zum Psychologen. Aber wer denkt, er müsse mal wieder die Bude da oben ein bisschen aufräumen, für den sollte es keine Schwellenangst geben. :::