„Herbert Grönemeyer „Ich ordne Dinge sehr gerne ein.“

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„Herbert Grönemeyer „Ich ordne Dinge sehr gerne ein.“
I N T E RV I E W : A N D R É B O S S E | F O T O S : O L I V E R M A R K ( 2 4 ) , J Ü R G E N T E L L E R ( 2 7 ) , A N T O N C O R B I J N ( 3 0 - 3 1 )
„Herbert Grönemeyer
„Ich ordne Dinge sehr gerne ein.“
04.02.2007, Heiligendamm. Das Kempinski an der Ostsee ist ein luxuriöser Hotelkomplex. Grönemeyer wartet in einer
kleinen Suite. Er trinkt Tee, später wird Brot gereicht. Vom ersten Wort an verkörpert er das Ruhrgebiet, er spricht schnell
und direkt. Sein Tipp gegen Heiserkeit: „Musst den ganzen Tag lutschen und leise reden, dann geht das auch wieder weg.“
Herr Grönemeyer, dieses Hotel ist ein skurriler Ort,
finden Sie nicht auch?
Herbert Grönemeyer: (lacht) Ja, kann man wohl sagen.
Ich bin auch zum ersten Mal hier.
Wenn Sie Leuten, die noch nie hier waren, diesen Platz
beschreiben müssten, wie würden Sie das tun?
Er liegt am Meer, das ist schon mal wichtig. Vom Wasser aus erscheint Heiligendamm eher als eine Ansammlung kleiner Villen, aber nach hinten heraus erstreckt sich dann dieser unglaubliche Koloss von
Hotelanlage. Das ist ziemlich monumental.
Was hat Sie hierhin gezogen?
Ich wollte einfach raus aus der Stadt, weil ich die
letzten zweieinhalb Monate in London komplett in
Studios verbracht habe. Allein die Vorstellung, dass ich
jetzt schon wieder in einem Hotelzimmer in der Stadt
mit Leuten Kaffee trinken und quatschen müsste –
da habe ich die Krise gekriegt. Darum das Meer. Und
weil wir außerdem gerade planen, zum G8-Gipfel Anfang Juni in Heiligendamm ➊ eine Kundgebung zu
organisieren, dachte ich, es wäre eine gute Idee,
hierhin zu fahren.
Was fasziniert Sie am Meer?
Das kommt noch von früher. Ich hatte als Kind Asthma; das Meer macht mich auf, lässt mich atmen. Ich
habe damals die Sommer in Holland verbracht, das ist
ja von Bochum aus ein Katzensprung. Ich habe es
immer geliebt, wenn das Meer weggeht und wiederkommt. An der See kann ich atmen, da kriege ich Luft.
Und da kann ich auch gut schlafen.
Hatten Sie zuletzt Probleme damit?
In den letzten Wochen, ja. Das habe ich immer,
wenn ein Album vor dem Abschluss steht. Ich hatte
mich so hochgeschraubt, dass ich mir schon Baldrian
und Beruhigungstee reingepfiffen habe, bis es mir aus
den Ohren wieder rauskam. Allein die Seeluft hat mir
aber schon geholfen, ich habe gut geschlafen in den
letzten Tagen.
Wohl auch, weil das neue Album jetzt fertig ist.
Ha, von wegen! Ich kann ja nicht loslassen. Ich schraube immer weiter rum, probiere neue Mixe aus, höre
mir diesen und jenen Versuch an. Aber morgen früh ist
es so weit, dann gebe ich die Platte ab. Sie haben die
zwölf Lieder ja gerade gehört. Da haben Sie mir übrigens was voraus, ich habe sie noch gar nicht in Gänze
gehört. Das mache ich morgen früh zum ersten Mal.
Was werden Sie dabei wohl empfinden? Selbstkritik?
Aufregung?
Entspannung wäre gut. Aber ich befürchte, ich entdecke wieder viele Baustellen.
Wie oft wird denn das Album im Hause Grönemeyer
danach noch laufen?
Von meiner Seite aus gar nicht mehr. Meine Kinder lassen die Platte sicher noch mal laufen, aber ich setze
mich nicht von alleine hin und höre bewusst zu.
Warum geben sich viele Künstler eigentlich so ungern
dem Genuss hin, ihr Werk nach Abschluss noch einmal
in aller Ruhe zu genießen?
Weil dann bei mir alles wieder hochkommt. Die
Nervosität, einen vernünftigen Text zu schreiben, alle
Zur Person
Herbert Grönemeyer
wurde zwar am 12.04.1956
in Göttingen geboren, lebte
aber von Kindheit an in
Bochum. Mit 18 schrieb er
erste Musiken für das Schauspielhaus, dort machte er
auch seine ersten Bühnenerfahrungen. Bis Ende der
80er arbeitete Grönemeyer
gleichberechtigt als Musiker
und Schauspieler, nach seinem
Film-Durchbruch in „Das
Boot“ konzentrierte er sich
auf die Musik. Mit „Bochum“
gelang ihm 1983 der erste
Bestseller. 1998 zog Grönemeyer nach London, im
November des Jahres verstarben innerhalb von drei
Tagen seine Frau Anna und
sein Bruder Wilhelm an
Krebs. Grönemeyer lebt mit
seinen Kindern Felix und
Marie sowie seiner Freundin
im Londoner Stadtteil Primrose Hill.
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„Die Welt dreht sich nicht mehr wie gehabt, sie rotiert
schräg. Und diese Schieflage können wir wirklich nur
noch gemeinsam wieder gerade biegen.“
➊ G8-Gipfeltreffen
Im Hotel Kempinski im
Ostseebad Heiligendamm
bei Rostock treffen sich vom
06.-08.06. die Staatschefs der
größten Industrienationen
(USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien,
Japan, Kanada und Russland). Kritische Gruppen
organisieren Protestveranstaltungen und Demonstrationen, unter anderem soll am
07.06. eine Kundgebung
namens „Music & Message“
stattfinden, bei der auch
Herbert Grönemeyer auftritt.
In den vergangenen Jahren
kam es während der G8-Gipfel regelmäßig zu gewalttätigen Ausschreitungen
zwischen Polizei und Demonstranten aus dem so genannten
Schwarzen Block – so auch
beim letzten Treffen 2006
in Edinburgh.
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qualitativen Zweifel, die ich habe. Das alles willst du
nicht empfinden, weil du es schon über Monate immer
wieder durchgekaut hast. (stöhnt) Das ist bei meinen
Filmen aber genauso. „Das Boot“ habe ich einmal im
Kino geguckt, bei der Premiere, wobei ich aber kaum
hingeschaut habe. Und dann lief vor zwei Jahren in
London der Director’s Cut. Ich dachte, dass ich nach
all den Jahren vielleicht genug Abstand hätte, das zu
genießen. Aber von wegen, alles kam wieder hoch.
(überlegt) Das klingt jetzt wahrscheinlich, als wäre es
eine Tortur – ganz so schlimm ist es aber nicht. Für
mich ist es eben wichtig, die Prozesse abzuschließen.
Sie richten den Blick also notwendigerweise nach
vorne?
Ja. Es ist wie bei einem Koch: Der kauft Sachen ein, bereitet die Produkte vor, rührt das Ganze zusammen,
schmeckt es ab und raus. Dann ist es für ihn gegessen.
Aber wird der Koch nicht verrückt, wenn er sieht, wie
die Leute sein Menü verschlingen: ohne Sinn für die
Nuancen und mit dem falschen Wein?
Um jetzt wieder auf die Musik zurückzukommen: Die
Leute, die meine Lieder normal hören, können nichts
falsch machen. Eher die Kritiker, die in den Texten
zwanghaft nach irgendwas suchen. Denen sage ich:
Entspannt euch. Ist ja gut, ist nur Musik. Macht euch
mal nicht strubbelig.
Zum G8-Gipfel werden hier in Heiligendamm die
mächtigsten Männer und Frauen der Welt sitzen. Was
glauben Sie, werden die Staatschefs das Meer überhaupt bemerken?
Den Gedanken habe ich auch schon gehabt. Wäre ja
schön, wenn sich durch die See ein etwas entspannteres
Denken einstellen würde. Aber es stellt sich natürlich
die Frage, wie limitiert die Wahrnehmung der Mächtigen ist. Ob die Damen und Herren wirklich in der Mittagspause raus auf den Steg gehen und im Wind stehen?
Und falls ja, ob der Wind tatsächlich deren Köpfe frei
bekommt?
Also eigentlich muss doch jeder Mensch, der hier auf
dem Pier steht, auf neue Gedanken kommen. Das ist
aber vielleicht viel zu idealistisch gedacht. Ist ja die
Frage, wie durchtrainiert die hier schon einlaufen, ob
überhaupt eine Möglichkeit für eine Veränderung des
Denkens besteht. Vielleicht sind ja alle Entscheidungen
schon vorher so fest in Beton gegossen, dass auch die
Meeresbrise nichts ausrichten kann.
Durchtrainiert im Kopf – das entspricht so gar nicht
Ihrer Idee von gedanklicher Flexibilität, einem Leitgedanken Ihrer neuen Platte.
Ich vermisse das, vor allem in den oberen Etagen.
Schauen Sie sich die Große Koalition an, da sehe ich
keinen, der sich von den Zwängen frei gemacht hat.
Alle sind völlig verhärmt, keiner macht das Beste aus
dem, was er kann.
Aber war das nicht zu erwarten?
Man hat ja immer die Hoffnung, dass auch mal genau
das Gegenteil eintrifft.
Was hat Sie zu dieser Hoffnung bewogen?
Vielleicht das Gefühl, dass Frau Merkel zu Beginn ihrer
Kanzlerschaft eigentlich nichts zu verlieren hatte. Jetzt
verliert sie doch – weil sie sich nichts traut und einfach
mittelmäßig ist.
Sie haben 2002 im Zuge des Albums „Mensch“ das
Jahrhundert der Menschlichkeit ausgerufen. Nun sind
fünf Jahre vergangen. Wie fällt Ihre erste Zwischenbilanz aus?
Na ja, die Idee entstand ja aus meiner leicht bescheuerten Sichtweise. Die letzten 50 Jahre waren stark
von Einzelkämpfern, der Ellenbogengesellschaft, IchAGs und solchen Sachen geprägt: Jeder für sich alleine.
Und irgendwann stellt sich bei den Menschen halt das
Gefühl ein, dass es das auch nicht sein kann. Dann
überprüfen sie: Habe ich noch einen Freundeskreis?
Habe ich jemanden, den ich anrufen kann, wenn ich
abends ein Pils trinken möchte? Statt die Stunden dafür
zu nutzen, meinen individuellen Erfolg weiter hoch zu
pumpen, investiere ich Zeit, um die Nähe zu anderen
zu suchen. Genau das passiert jetzt und zwar nicht nur
im privaten Kreis, sondern weltweit.
Wie meinen Sie das, weltweit?
Wir suchen Gemeinsamkeit auf globaler Ebene. Die
Welt dreht sich nicht mehr wie gehabt, sie rotiert
schräg. Das wissen wir nun – nicht erst nach diesem
warmen Winter. Und wir wissen mittlerweile auch,
dass wir die Schieflage wirklich nur noch gemeinsam
wieder gerade biegen können.
Die Menschen wissen es zwar – aber handeln sie auch?
„Die Leute, die meine Lieder normal hören, können
nichts falsch machen. Eher die Kritiker, die in den
Texten zwanghaft nach irgendwas suchen. Denen sage
ich: Entspannt euch. Macht euch mal nicht strubbelig.“
➋ GCAP
Im Januar 2005 formierte
sich am Rande des Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegre die Vereinigung „Global Call To
Action Against Poverty“.
Gruppen und Vereinigungen
aus über 80 Ländern bündeln
unter diesem Namen ihre
Aktivitäten, das Erkennungszeichen für Aktivisten und
Sympathisanten ist ein weißes
Armband („White Band“).
Deutscher Vertreter ist das
Projekt „Deine Stimme gegen
Armut“, das von Entwicklungshilfe-Organisationen sowie von Künstlern
(u.a. Herbert Grönemeyer,
Heike Makatsch, Franka
Potente, Günter Jauch) getragen und unterstützt wird.
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Es gibt zumindest Anzeichen. Zum Beispiel für die Einsicht, dass einem die ganze Kohle auch nichts nützt. Das
ist vielleicht ein Antrieb für Megareiche wie Richard
Branson oder Bill Gates, wirklich enorme Summen zu
spenden. Ich hoffe das zumindest – nicht, dass wir
denen auf den Leim gehen und die doch die Weltherrschaft anstreben. (lacht) Ich bin nun mal optimistisch
und glaube, dass es immer mehr Leuten darum geht,
Menschlichkeit zu erfahren. Zum Beispiel ein Lächeln.
Das ist ja auch der Grund, warum ich mich in einigen
Projekten engagiere. Das ist auch reiner Eigennutz.
Sehen Sie weniger Potenzial an Menschlichkeit bei den
Mächtigen dieser Welt?
Leider ja. Wir normalen Menschen sind ja eher wollsockig. Wir hören Geschichten über Schicksale, die uns
berühren, und das lässt uns im Idealfall handeln. Ich
möchte gar nicht abstreiten, dass die Mächtigen tief im
Inneren auch ein Herz für solche Geschichten haben,
aber sobald der Kopf ins Spiel kommt, ticken die einfach anders. Denen brauchst du dann nicht mehr mit
Geschichten kommen, die haben andere Interessen und
Sachzwänge. Wenn man sich nur überlegt, dass
Deutschland weiterhin der zweitgrößte Waffenexporteur weltweit ist, dann komme ich mit meiner
Menschlichkeit nicht weit. Kein Politiker wird aus dem
Gedanken der Menschlichkeit heraus den Markt für
Waffenexporte kaputtschlagen. Das ist einfach eine
ganz andere Ebene.
Aber auf dieser Ebene müssen jetzt dringend die wirklich wichtigen Maßnahmen gegen die Schieflage der
Erde eingeleitet werden, oder?
Ja, aber da kommen wir Künstler ins Spiel. Wir haben
die Aufgabe, vehement auf diese nötigen Maßnahmen
hinzuweisen. Wir können das, denn wir sind laut
genug. Das muss auch unser Ziel sein, wenn wir beim
G8-Gipfel hier sein werden. Natürlich kann man auf
der anderen Seite lange darüber debattieren, ob ein
Engagement seitens der Popkultur wirklich etwas
bringt oder ob es einem Kontinent wie Afrika sogar
Schaden zufügen kann.
Nennen Sie doch mal ein Erfolgsbeispiel.
Das Ziel von „Deine Stimme gegen Armut“ ist es, den
Kontinent wieder auf die Agenda zu bringen, und ich
würde sagen, dass uns das in den vergangenen drei Jahren auch gelungen ist. Wenn heute ein Zeitungsredakteur vorschlägt, eine Geschichte über Afrika zu
machen, dann wird er nicht mehr schief angeguckt. Es
muss solche Impulse von außen geben, denn von selber
kommen die Verantwortlichen nicht auf die not-
wendigen Dinge. Und das ist die Aufgabe von uns
Sangeskünstlern – weil wir uns als Trommler eben
schneller Gehör verschaffen können.
Das letzte große Treffen der engagierten Sangeskünstler war das Live 8-Konzert im Sommer 2005.
Sie gelten als Kritiker dieses Festivals.
Ja, wir haben uns damals intern eher gestritten. Ich
fand das Konzert ziemlich überflüssig. Wir haben vorher ein paar Monate lang kleine Anarcho-Briefe geschrieben und Anzeigen geschaltet, das war viel effizienter und spannender. Auch das erste Live Aid in den
Achtzigern war besser, denn es gab ein klares Ziel: konkrete Hilfe für die Hungerkatastrophe in Äthiopien.
Beim Live 8 ging es nur darum, die politische Arbeit
mit einem großen Knall zu krönen, aber diesen
Trommelschlag brauchte keiner mehr. Das Thema war
längst auf der Agenda, es gab keinen richtigen Anlass.
Die ganze Sache hat eher verwirrt, als dass sie irgendwen aufgeweckt hätte.
Sie haben damals aber auch in Berlin gespielt.
Ich konnte ja kaum anders. Eine Absage hätte ich keinem erklären können.
Millionäre spenden Geld, Popstars trommeln für den
guten Zweck. Aber stimmen Sie zu, dass es für einen
normalen Menschen heute schwierig ist, einen Ansatzpunkt für effektive Hilfe zu finden?
Die Probleme sind sehr komplex geworden, das
stimmt. Vor 20 Jahren ging es noch um das Atomkraftwerk um die Ecke. Es gab einen Ort, ein konkretes Ziel
und gut organisierte Initiativen. Heute ist das schon
komplizierter, es geht um Probleme, die wirklich nur
zusammen lösbar sind. Alle Alleingänge sind hilflose
Reaktionen. Wir könnten Europa einzäunen, es würde
nichts nutzen. Und es ist auch Schwachsinn, die Menschen in Religionen zu unterteilen.
Aber genau das passiert doch derzeit – und die Fronten
verhärten sich offensichtlich immer weiter.
Das ist ein purer Anachronismus. Ein letzter, verzweifelter Versuch. Wer sich aus religiösen oder finanziellen Gründen für etwas Besseres hält, steigt in ein
totes Rennen ein.
Und wann geht es Ihrer Meinung nach so richtig los
mit der Suche nach gemeinsamen Lösungen?
Ich bin nun mal ein sehr geduldiger Mensch – und
die Anfänge des gemeinsamen Denkens und Handelns
gibt es ja schon. Die Vereinigung GCAP, also „Global
Call To Action Against Poverty“ ➋, beispielsweise
versucht wirklich etwas auf die Beine zu stellen. In
Deutschland haben wir uns in diesem Winter zum
ersten Mal gefragt, ob es wirklich sein muss, dass wir
frisches Gemüse einfliegen. Warum müssen wir im
Januar Erdbeeren essen? Dass solche Fragen gestellt
werden, ist ein erster Schritt. Irgendwann müssen dann
auch die letzten Kleingeister von ihrem hilflosen Projekt abrücken, auf den letzten Metern doch noch die
Weltherrschaft erreichen zu wollen.
Sie denken an Bush und Blair?
Die beiden letzten Imperialisten, ja. Für mich sind
das zwei Halbstarke, die mit ihren Pistolen im Gurt
meinen, das Dorf terrorisieren zu können – dabei ist
das Dorf längst eine Stadt. Blair hat vor kurzem in
einer Talkshow gesagt, er müsse sein Handeln alleine
vor Gott verantworten. Die gesamte Presse zog anschließend über ihn her. (lacht)
Aber Tony Blair galt lange als Inbegriff eines neuen,
coolen Großbritanniens.
In seinen ersten Jahren als Premierminister war er noch
ganz der schmale Eton-Schüler, typisch britisch halt.
Vor kurzem habe ich ihn aber zusammen mit der African Commission in einer Runde gesehen. Um ihn
herum waren alle perfekt gekleidet, aber Blair kam
breitbeinig mit offener Jacke und den Händen auf den
Knien. Er lief, als hätte er zu Hause wochenlang eine
George W. Bush-Imitation geübt: Tony, der Leichtgewichts-Texaner. Wenn er mit seinem Pfarrerston auf
der Kanzel erscheint, stellen sich bei mir die Nackenhaare hoch. Aber sein Stellenwert in Großbritannien ist
gar nicht so schlecht, die Briten schätzen kluge Menschen. Nein, halt, er ist nicht klug, er ist gebildet.
Worin genau liegt der Unterschied?
Wer gebildet ist, muss nicht klug sein, schafft es aber
manchmal, sich als klug zu verkaufen. Wirkliche Klugheit ist menschliche Intelligenz, keine angelernte.
Würden Sie sich als klug bezeichnen?
Nee. (lacht) Ich hoffe, dass ich das irgendwann mal
werde, denn mich faszinieren kluge Menschen ungemein. Sie besitzen eine große Emotionalität, eine
emotionale Intelligenz, die man auch als Weisheit bezeichnen könnte.
Wo Sie gerade von Emotionalität sprechen: Dieser
Begriff fällt auch häufig, wenn man über Ihre Musik
spricht. Eine Bekannte meinte, Ihre Lieder lösten
bei ihr den Wunsch aus, jemanden anzurufen oder
einzuladen.
Dieses Kompliment nehme ich gerne an. Habe ich auch
noch nie gehört, schön. (überlegt) Aber es stimmt
schon, das ist ja auch die Idee des Videos von „Lied 1 –
Stück vom Himmel“. Das Leben besteht nun einmal
„Irgendwann merkst du, wie sich
die Trauer langsam aber sicher in
das Farbenspektrum deines Lebens
einreiht. Ganz wegbekommen
wirst du sie aber nie.“
nur aus Aufstehen und Nebeneinandersitzen. Mehr ist
da nicht, aber das ist auch schön genug. Immer zu denken, das Glück komme noch und das Leben werde
irgendwann später mal gigantisch, das bringt nichts.
Glück findet zwischen zwei Menschen statt.
Ist das ein Plädoyer gegen die Single-Gesellschaft?
Nicht unbedingt. Es muss nicht immer eine Liebesbeziehung sein, das habe ich besonders in meiner
persönlichen Krise gespürt. Nicht mein starkes Ich hat
mir geholfen, sondern die Menschen, die da waren.
Sie sind während Ihrer Krise, nach dem Tod Ihrer Frau
und Ihres Bruders, in London geblieben, in einer im
Grunde für Sie fremden Stadt. Warum?
Ich arbeite ja schon seit Ende der Achtzigerjahre in
London, dort leben wollten wir mit den Kindern aber
eigentlich nur ein halbes Jahr. Geplant war ein Kurzaufenthalt. Nach den schlimmen Dingen, die dann passierten, habe ich mir aber überlegt, dass es einfacher
wäre, in London zu bleiben. Für die Kinder, aber sicher
auch für mich. Ich wollte nicht, dass die Medien mich
in Deutschland betrachten und öffentlich die Frage
stellen: Wie ist der Grönemeyer gerade drauf?
Ist London ein guter Ort, um mit Schicksalsschlägen
fertig zu werden?
Was sicher hilft, ist der schwarze Humor. (überlegt) Die
Engländer sind wahnsinnig loyal, aber du kannst dich
mit denen nicht in deinen Problemen suhlen. Das ertragen die nicht, so sind die nicht erzogen. Die machen
lieber einen Witz. Wenn du jemanden verlierst, dann
fällst du ins Bodenlose. Für mich war es gut, dass ich in
dieser Phase viele Menschen hatte, die halfen, einen
neuen Boden zu schaffen. London ist eine Stadt der
Durchgereisten, vielleicht sogar der Durchgereichten.
Du musst dir selber Gesellschaft suchen, sonst bist du
verloren. Und dazu gehört eben auch, dass du dir ein
Notnetz schaffst.
Welche Rolle spielte dabei der Umgang mit dem Verlust auf künstlerischer Ebene? Und wie sehen Sie das
Album „Mensch“ heute?
Damals war es einfach mein Versuch, nach den Geschehnissen wieder Musik zu machen. Jetzt, mit dem
Abstand von viereinhalb Jahren, ordne ich die Platte
einfach als mein elftes Album in die Reihe ein. Ich
ordne Dinge sehr gerne ein.
Viele Fans messen Ihrem, wie Sie sagen, Versuch aber
eine viel größere Bedeutung bei.
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„Beim Live 8 ging es nur darum, die politische Arbeit mit
einem großen Knall zu krönen, aber diesen Trommelschlag
brauchte keiner mehr. Die ganze Sache hat eher verwirrt,
als dass sie irgendwen aufgeweckt hätte.“
Discografie (Auszug)
Total egal (1982)
Gemischte Gefühle (1983)
Bochum (1984)
Sprünge (1986)
Ö (1988)
Luxus (1990)
Chaos (1993)
Bleibt alles anders (1998)
Mensch (2002)
Zwölf (2007)
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Das kann sein, aber das kann ich nicht beurteilen.
Sicherlich ist das Thema der Platte, der persönliche
Umgang mit Trauer, ungewöhnlich. Wobei der Blues
im Grunde auch von Trauer durchzogen ist, aber für
den deutschen Pop war das sicher etwas Besonderes.
Die ganze Sache hat irgendwann eine solche Dimension
angenommen, dass ich das zwar noch wahrgenommen
habe, es aber eben nicht mehr einordnen konnte. Das
war jenseits von Gut und Böse, und irgendwann kam
der Punkt, an dem ich mich fragen musste: So, was ist
hier eigentlich los? (lacht) Das war aber auch keine
neue Erfahrung für mich. Nach dem Erfolg von
„Bochum“, der aus dem Nichts kam, habe ich auch
irgendwann nicht mehr geschnallt, was passiert. Das
Gehirn setzt dann aus. Wobei ich das das Ganze ja
noch auf recht dörflichem Niveau mache – wenn du
das wie Robbie Williams auf einer Welttournee durch
verschiedene Zeitzonen und Kulturen erlebst, geht’s
irgendwann nicht mehr.
Können Sie sich noch an den Moment erinnern, als Sie
nach dem letzten Konzert der „Mensch“-Tour wieder
im Alltag landeten?
(überlegt) Da fingen die Routinen wieder an. Ich
genieße das, ich bin ein sehr häuslicher Mensch.
Außerdem ist meine Alltagsroutine in London sehr
neutral, da kümmert sich keiner um meinen Erfolg in
Deutschland. (überlegt) Ich weiß noch, dass es nach
„Das Boot“ und den musikalischen Erfolgen in
Deutschland sehr schwer war, der Aufmerksamkeit
zu entkommen. Und für meine Frau sowieso – die
musste ja immer auf den hochgedrehten Typen an
ihrer Seite reagieren.
Wie ergeht es Ihnen heute als allein erziehender Vater?
Natürlich sind wir drei durch das Schicksal zusammengeschweißt worden. Sicher nehmen die Kinder auch
mehr Rücksicht auf ihren Vater, normal würden sie
sicher öfter den Angriff suchen. Seit drei Jahren lebt
meine neue Freundin bei uns, es gibt also wieder
jemanden, der mir ab und zu sagt: Das hättest du entspannter sehen können.
Eines Ihrer neuen Lieder beschreibt den Beginn einer
neuen Liebe. Wie schwer oder einfach war es für Sie,
sich neu zu verlieben?
Es war für beide Seiten nicht ganz einfach. Man weiß
um das Schicksal und um die Lieder, die ich meiner ver-
storbenen Frau gewidmet habe. Auf der anderen Seite
ist es aber zum Glück so: Wenn man sich verliebt, dann
verliebt man sich. Ganz einfach und egal, was vorher
geschehen ist. Wunderbarerweise ist das Leben so gestrickt, dass das mit der Liebe plötzlich einfach passiert. Das hat sich der liebe Gott gut ausgedacht. Was
solltest du sonst auch einem Teenager erzählen, der
denkt, nach der ersten großen Trennung bräche die
Welt zusammen? Die Chance einer neuen Liebe kommt
immer wieder.
Eine sehr generelle Aussage – sind Sie ein Generalist?
Na ja, so ist halt das Wesen des Menschen: eigentlich
ganz simpel. Meiner Erfahrung nach geht es den Leuten eher auf den Nerv, wenn man diese generellen
Sachen in so buddhistisch-philosophische Weisheiten
verpackt. Braucht man gar nicht. „Man kann sich
immer wieder neu verlieben“ – so einfach, so schön.
Da kannst du dich noch so oft fragen, ob das gut oder
schlecht ist: Das Verliebtsein kriegst du nicht mehr aus
der Birne. Da ist der Mensch hilflos. Zum Glück.
Wie ist das mit der Trauer – bekommt man die irgendwann aus dem Kopf?
Trauer kannst du nicht beenden oder abschließen.
Wenn Trauer eine neue Farbe im Spektrum deines
Lebens ist, dann überschattet sie zunächst einmal alles.
Aber irgendwann merkst du, wie sie sich langsam aber
sicher in die anderen Farben einreiht und sich dort
ihren Platz sucht. Ganz wegbekommen wirst du sie
aber nie. Wer sich mit 19 unter dramatischen Umständen von seiner großen Liebe getrennt hat, wird
auch mit 52 noch manchmal denken: Hach! Oder: Uff!
Dann stellt sich für Sekundenbruchteile der Zustand
von damals wieder ein, und das ist ja nichts anderes als
Trauer. Psychologen sagen, dass das emotionale Gerüst
der Menschen intakt ist, die sich diese Trauermomente
zurückholen können, ohne dass es sie gleich wieder aus
der Bahn wirft.
Haben Sie sich in Ihrer Krise mit Psychologie beschäftigt?
Ich habe eine Art Briefing von einer Londoner Psychologin bekommen, einer Freudianerin. Und das war
auch hilfreich. Grundsätzlich würde ich sagen: Nicht
jeder muss zum Psychologen. Aber wer denkt, er müsse
mal wieder die Bude da oben ein bisschen aufräumen,
für den sollte es keine Schwellenangst geben. :::