Zivilgesellschaft, Bürgerbeteiligung und öffentlicher Stadtraum

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Zivilgesellschaft, Bürgerbeteiligung und öffentlicher Stadtraum
11. – 14. Oktober 2011 | Stuttgart
Deutsch-chinesischer Mediendialog
Stadtentwicklung und Bürgerbeteiligung. Neue Aufgaben für den Lokaljournalismus?
Zivilgesellschaft, Bürgerbeteiligung und öffentlicher Stadtraum –
Thesen zum Chinesisch-Deutschen Mediendialog
Keynote Speech von Dieter Hassenpflug
1.
In China haben die Weiterentwicklung der Marktwirtschaft und die Formierung
eines sozialen Interventionsstaates nach wie vor Priorität gegenüber der Unterstützung einer wie auch immer gearteten zivilgesellschaftlichen ‚dritten Kraft’.
Wir dürfen nicht vergessen, dass nach einer langen Periode der Staatswirtschaft
erst vor etwa 30 Jahren auf Initiative von Deng Xiaoping privat- bzw. marktwirtschaftliche Reformen eingeleitet wurden. Dass die Verwirklichung einer funktionierenden Marktwirtschaft – mit eigenverantwortlich agierenden Akteuren bzw.
Unternehmen – nach wie vor oben auf der Agenda steht, zeigt beispielhaft das
Wirken von Premierminister Wen Jiabao. Dieser hat sich seit seinem Amtsantritt in
2003 mit der Klärung des Verhältnisses von Markt- und Planökonomie und, damit
einhergehend, mit der Stärkung privatwirtschaftlicher Akteure befasst.
Die Stärkung des Marktes als allokative bzw. distributive Macht gilt der chinesischen Regierung aus nachvollziehbaren Gründen als vorrangig gegenüber der
Stärkung bürgerschaftlicher Partizipation. Denn nicht nur die von der chinesischen
Regierungverfolgte Politik der Entwicklung partnerschaftlicher Verhältnisse zwischen Staat undMarkt (Public Private Partnership – PPP), sondern auch die Bildung
der Zivilgesellschaft als ‛dritter Kraft“ setzt eine klare Rollenverteilung von Staat
und Markt voraus. Zivilgesellschaftliche Akteure organisieren sich nicht zufällig
vorzugsweise als ”Non- Governmental Organizations“ bzw. als ”Non-Profit Organizations“.
2. Die Topoi ”Bürgerbeteiligung“, ”Zivilgesellschaft“, ”Partizipation“ oder auch ”Öffentlichkeit“ sind in China seit vielen Jahren Diskurs-Gegenstand formaler Stadtentwicklungsplanung. Das chinesische Stadtplanungsgesetz von 1990 etwa
schreibt die Einholung von Bürger- und Expertenmeinungen bei der Zusammenstellung von planungsrelevanten Informationen und die Veröffentlichung der Ergebnisse der (strategischen) Entscheidungen vor.
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Auf einer nationalen Planungskonferenz im November 2000 in Peking sagte der
damalige Bauminister Yu Zhengsheng: ”Stadtplanung verweist auf öffentliche Interessen. Wenn Stadtplanung sich nur von Einzelnen ableitet, besteht die Gefahr,
vom Weg abzukommen und der Umwelt, der Natur und dem Kulturerbe Schaden
zuzufügen. Ohne Einbeziehung der Öffentlichkeit wird es schwer, den Interessen
derselben gerecht zu werden. Daher müssen die öffentliche Beteiligung bei der Informationsbeschaffung und -verwendung und die behördliche Kontrolle gestärkt
werden.“ (Übersetzung aus Chong Liu: ‛The Contemporary Development of Qingdao’s Urban Space - The Perspective of Civil Society Participation in Chinese Urban
Planning“, Diss. Bauhaus-Universität Weimar 2006, S. 120)
Yu’s Nachfolger Wang Guangtao konkretisiert diese Äußerung 5 Jahre später dahingehend, ”dass bei der Erstellung von Masterplänen alle betroffenen Behörden
und Bürger zu beteiligen seien. Auch sei der Planungsprozess transparenter zu gestalten.“ (Chong Liu, ebenda)
In 2006 veröffentlicht dasselbe Ministerium einen Erlass zum Planungsgesetz, in
dem in China zum ersten Mal auf gesetzlicher Ebene das Wort ”Partizipation“ auftaucht. Im gleichen Jahr veröffentlicht die SEPAC (State Environment Protection
Administration of China) einen Maßnahmenkatalog zur Bewertung der Umwelt,
in dem die für umweltrelevante Projekte verantwortlichen staatlichen Behörden
aufgefordert werden, die Öffentlichkeit zu beteiligen und zu informieren. In diesem Zusammenhang werden Ausführungsbestimmungen erlassen, die drei Ebenen der Bürgerbeteiligung unterscheiden - Projektankündigung, Projektentwurf
und Projektgenehmigung. Auf der letzten Stufe sei von behördlicher Seite darzulegen, warum bestimmte Informationen und Anliegen berücksichtigt wurden und andere nicht. Verantwortlich: Der Vizepräsident von SEPAC, Pan Yue. (Liu
2006, 122)
3. In China gibt (bzw. gab) es bereits zahlreiche Projekte, die eine ”Bürgerbeteiligung“
vorsehen: Erwähnen möchte ich beispielhaft ein Projekt, mit dem ich selbst im
Rahmen eines vom BMBF finanzierten Forschungsvorhabens Berührung hatte: Das
Shenyang Ressource Recovery Project (Recycling-Projekt), eine Kooperation von Liaoning Science & Research Programme, GIZ (GTZ, vertreten durch Shenyang Aeronautical University), Bauhaus-Universität Weimar, zwei deutschen Ingenieurbüros
und ca. 600 Bürgern eines SY Stadtquartiers. Ziel war die Trennung von Müll mit
der Maßgabe, die dafür geeigneten organischen Müllfraktionen (in China ungleich
höher als hierzulande) der Kompostierung zuzuführen.
Mir wurde von dem Projektleiter (Prof. Raninger) berichtet, dass die kollektive
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Mülltrennungsinitiative die beteiligten Bürger zur Ausrichtung eines jährlich stattfindenden Nachbarschaftsfestes motiviert hat. Es entstand keine Organisation.
Vielmehr wurde das Modellprojekt zum Ausgangspunkt einer wiederkehrenden
Gemeinschaftsaktion. Diese Beobachtung gibt Anlass, über die Verwendung des
Begriffs ”Zivilgemeinschaft“ - statt ”Zivilgesellschaft“ im chinesischen Kontext
nachzudenken.
4. Fakt ist allerdings auch, dass die formalen Randbedingungen für zivilgesellschaftliche Partizipation in China noch keineswegs optimal sind: NGO’s, die in China bereits in bescheidenem Umfang existieren, bedürfen einer behördlichen Registrierung bzw. Genehmigung.
Das Hongkonger ”China Media Project“ vermeldet kürzlich, die Regierung habe zu
Jahresbeginn die öffentliche Verwendung des Begriffs ”Zivilgesellschaft‛ angeblich untersagt - weshalb gegenwärtig vorzugsweise der Term ”öffentliche Gesellschaft‛ verwendet werde. (http://cmp.hku.hk/2011/01/11/9523/)
Dieser Meldung steht allerdings gegenüber, dass es in Peking das staatliche Beijing Civil Society Development Research Center (BCSDRC) gibt, dessen Aufgabe die
unabhängige und objektive Berichterstattung über die Entwicklung der Zivilgesellschaft in China und deren Beförderung ist. Dies soll durch die Initiierung von
Diskussionen über wichtige Angelegenheiten im Zusammenhang mit Zivilgesellschaft geschehen, durch das Angebot von Plattformen für den Austausch zivilgesellschaftlicher Gruppen und durch Bereitstellung von Orten für die öffentlichen
Bekundungen von NGO’s.
Wie dem auch sei: Es gibt bilaterale, interkulturelle Bemühungen, den zivilgesellschaftlichen Dialog zu fördern: Beispielsweise verantwortet die Essener Asienstiftung, zusammen mit der Werkstatt Ökonomie, INKOTA, der Südwind-Agentur (Österreich) und insgesamt weiteren 14 europäischen Organisationen seit Januar
2008 das Projekt ”EU-China: zivilgesellschaftliche Partnerschaft für soziale und
ökologische Gerechtigkeit", das von der Europäischen Union gefördert wird. Dazu
mehr auf dem EUChina Civil Society Forum (Asienstiftung Essen - DeutschChinesisches Kulturnetz).
5. In China steckt die formale Partizipation nach wie vor in den Anfängen. Weder
gibt es Raumordnungs- noch gibt es Planfeststellungsverfahren, wie wir sie in
Deutschland bei öffentlichen bzw. die Öffentlichkeit tangierenden Großprojekten
kennen. Insofern existiert auch weder eine geordnete, die behördliche Querkommunikation fördernde Mitsprache der Fachverwaltungen, wie sie das Raumord3
nungsverfahren vorsieht, noch eine formalisierte bürgerschaftliche Mitwirkung,
wie sie das Einwendungsrecht des Planfeststellungsverfahrens vorsieht. Allerdings
gibt es die Möglichkeit der Zivilklage, wenn Eigentumsrechte verletzt werden (seit
etlichen Jahren ist der Schutz des Privateigentums in der chinesischen Verfassung
verankert). Voraussetzung dafür ist natürlich die Existenz einer unabhängigen Justiz.
In China ist die Struktur der Stadtplanung streng hierarchisch. Daraus leitet sich
eine sehr starke Position der jeweiligen politischen und administrativen Oberhäupter der Gebietskörperschaften ab. Der berufliche Erfolg der administrativen
(Ober-)Bürgermeister wird immer noch hauptsächlich am Wachstum des lokalen
BIP gemessen. Da die Oberbürgermeister der großen Städte in vergleichbar kurzen
Abständen in andere Städte versetzt werden (dem Rotationsverfahren unterliegen
i. d. Regel Städte mit deutlich mehr als 1 Mio. Einwohnern), neigen diese einerseits
zu direkter Einflussnahme und andererseits zu einer Priorisierung kurzfristig wirksamer wirtschaftlicher Investitionen gegenüber unwirtschaftlichen öffentlichen
Gütern bzw. erst langfristig bzw. indirekt wirksamen Investitionen. Verzögerungen durch Einwendungen oder Bürgerproteste sind vor diesem Hintergrund alles
andere als willkommen. Hinzu kommt, dass die Spitzenstellung im hierarchischen
System dem Geltungsbedürfnis der Bürgermeister schmeichelt und diese daher
dazu tendieren, während ihrer kurzen Regierungszeit vor Ort einen starken baulichen ‛Fußabdruck“ zu hinterlassen.
6. In der Stadtplanung ist die Umsetzung der Vorgaben von strategischen Entwicklungsplänen (in denen die lokale Interpretation gesamtstaatlicher Zielvorgaben Stichwort: 5-Jahres-Pläne - eine große Rolle spielt) und von städtischen Masterplänen (sog.comprehensive plans) oft wichtiger als etwaige Anliegen der lokalen Bevölkerung. Man verlässt sich in der Regel auf das Urteil von Fachleuten und Wissenschaftlern und interpretiert deren Pläne im Sinne der Selbstbehauptung und
Selbstdarstellung der politischen Eliten. Dabei spielen, wie überall in der Stadtentwicklung Chinas, die Verwirklichung großartiger, erhabener Bilder eine enorme
Rolle. Von hierher erklärt sich die Wirkmacht von Elementen wie ”vertikaler Block‛,
”große Straße‛, ”erhabener Platz‛ oder CBD. Der Hang zur Vertikalität lässt sich
freilich auch als Gebot der Raumproduktion deuten - angesichts eines Urbanisierungsprozesses, der jährlich ca. 1,5% des fruchtbaren Ackerlandes verschlingt.
7. In der europäischen Öffentlichkeit ist sehr wenig über zivilgesellschaftliche Entwicklungen in China bekannt. Das kann nicht überraschen. Doch selbst dort, wo
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China-Beobachter sich mit dem großen Land befassen, besteht die Gefahr von
Fehldeutungen, will heißen: von Projektionen westlicher Begriffe auf chinesische
Verhältnisse. Begriffe, die wir in Europa verwenden, haben in China oft andere Bedeutungen bzw. Konnotationen. Was heißt beispielsweise ‛öffentlicher Raum“ in
einem zentralistischen Staatswesen, in dem Familie und Gemeinschaft (Kollektiv)
einen ungleich höheren Stellenwert besitzen, als ‛Individuum“ und ‛Gesellschaft“
(Gesellschaft verstanden als ein sozialer Nexus, der auf Vertraglichkeit, Institutionalisierung und Gewaltenteilung beruht)?
Wenn wir mit Blick auf chinesische Städte von ”öffentlichem Raum‛ sprechen,
dann sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass dieser Stadtraum mit dem ”öffentlichen Raum‛, den wir aus Europa kennen, wenig gemein hat. Im meinem
Buch ”Der urbane Code Chinas‛ habe ich daher vorgeschlagen, statt von einem
”öffentlichen‛ doch besser von einem ”offenen Stadtraum‛ zu sprechen. Diesem
steht der ”abgeschlossene Stadtraum‛ in Gestalt der Nachbarschaften gegenüber.
8. Ist Ihnen bekannt, dass deutlich über 90% chinesischer Stadtbewohner in geschlossenen Nachbarschaften wohnen, in sog. ”Compounds‛ oder ”gated neighborhoods‛? Bei diesen eingehegten, ummauerten, eingezäunten und bewachten
Nachbarschaften handelt es sich keineswegs um den Import eines amerikanischen
Lebensstils, sondern um eine uralte chinesische Konvention. In der Fachsprache
werden die geschlossenen Nachbarschaften auch ”Mikro-ResidentialDistricts‛ (MRD bzw. Mikro-Wohn-Quartiere) genannt; denn in der Regel bilden sie,
repräsentiert durch sog. Nachbarschafts-Komitees, die unterste Verwaltungsebene der Stadt. Hinsichtlich der Qualität des Wohnumfeldes bieten die Nachbarschaftskomitees den Bewohnern ihrer Nachbarschaft vielfache Partizipationsmöglichkeiten. Es gibt regelmäßige und anlassbezogene Anhörungen, die in strittigen
Fällen auch demokratisch abstimmen lassen.
Erneut drängt sich hier die bereits oben erwähnte Abwandlung des Begriffs ”Zivilgesellschaft‛ in ”Zivilgemeinschaft‛ auf. Vielleicht ist es möglich, eine Art von
”Homologie‛ (Übereinstimmung bzw. Gleichwertigkeit) von chinesischer Zivilgemeinschaft und westlicher Zivilgesellschaft zu unterstellen.
9. Kommen wir zum ”offenen Stadtraum‛: Dieser umfasst mehrere Bedeutungen,
die allesamt die Priorität von ‛Gemeinschaft“ gegenüber ‛Gesellschaft“ reflektieren:
Offener Stadtraum ist
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a. ‛große Straße‛ und ”erhabener Platz“. Vorbild des erhabenen Platzes ist der
Tiananmen in Peking, der für viele barock anmutende Plätze vor Rathäusern
und anderen wichtigen öffentlichen Gebäuden als Referenz dient. Der ”großen
Straße“ begegnen wir als sechs- bis achtspurige Erschließungsstraße, die mehr
der Befriedigung des Imagebedarfs als der Bewältigung des Verkehrsaufkommens dient.
b. ”Funktionsraum“, insbesondere für den Mobilitätsbedarf (Straßen), auf denen,
wie China-Besucher wissen, eine strenge Hierarchie zelebriert wird... (die so in
keiner Verkehrsordnung vorkommt)
c. ”kommerzieller Raum“. Der Einzelhandel ist in den chinesischen Städten der
wichtigste Garant und Träger von offenem, für alle zugänglichen Stadtraum d.
”Residualraum“, ein Raum ohne Widmung, der gern auf unterschiedliche Weise sozial ‚programmiert’ wird, etwa durch Intimisierungen aller Art, vom Wäscheaufhängen, Tanzen und Mahjong-Spielen bis hin zu diversen informellen
gewerblichen Tätigkeiten, vom Reparieren über Haareschneiden bis hin zum
temporären bzw. mobilen Verkauf von Nudelsuppe.
10. Keine Frage, der ”öffentliche Stadtraum“ gewinnt im neuen China ständig an Bedeutung. Es gibt einen lebendigen akademischen Diskurs über ”öffentlichen
Raum“. Es gibt Bemühungen der Stadtverwaltungen, bereits auf der Ebene der
Master- bzw. Quartiersplanung auf das Angebot von öffentlichen Parks und Plätzen und auf gepflasterte Bürgersteige zu achten. In manchen chinesischen Großstädten ist beispielsweise die Ausstattung mit Blinden-Leitstreifen besser als in
deutschen Großstädten!
Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang den Beitrag der großen
Shopping-Zentren, die sich bei der kommerziellen Raumgestaltung sehr gern an
den europäischen Vorbildern der Piazza, bzw. Plaza oder auch des Marktplatzes
orientieren. Der Übergang von öffentlichem und kommerziellem Stadtraum ist in
der Regel fließend.
11. Nicht vom Begriff des ”öffentlichen Raums“ zu trennen ist derjenige der ”Bürgerbeteiligung“. Diese setzt ein Bürgertum bzw. eine eigenverantwortlich agierende
Ober-und Mittelschicht voraus, und das bedeutet: eine individualisierte, institutionalisierte, demokratisch verfasste Gesellschaft.
In China hat sich in den vergangenen 30 Jahren im Zuge der ”Hyperurbanisierung“
(der Urbanisierungsgrad stieg in dieser Zeit von unter 20% auf ca. 50%) eine Mittelschicht herausgebildet, die mit fast 400 Mio Menschen im Staatenvergleich al6
les bislang Bekannte übertrifft. Diese unternehmerische, wirtschaftliche denkende
und handelnde Mittelschicht wird immer ”bürgerlicher“; denn wer unternehmerisch bzw. händlerisch agiert, finanzielle Risiken eingeht und Verantwortung für
Mitarbeiter übernimmt, entwickelt ein elementares Interesse an langfristig stabilen wirtschaftlichen, rechtlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen.
Das bedeutet, dass sich in dieser neuen Mittelschicht ein objektiver Bedarf für
Mitwirkung und Einflussnahme - und damit auch an einer Demokratisierung der
Gesellschaft herausbildet (Sie sehen, ich gehöre ohne Zweifel der Fraktion der
‘panda hugger’ an). In welchen Formen sich diese Demokratisierung vollziehen
wird, ist jedoch ebenso schwer zu sagen, wie die Frage zu beantworten, welche
Regierungsform sich in der Zukunft durchsetzen wird (eine Mischung aus den Systemen Taiwans, Hongkongs und der Volksrepublik?)
12. Bürgerlichkeit hat in der europäischen Stadtentwicklung ihren räumlichgestalterischen Ausdruck einst im Zusammenspiel von öffentlichem Raum und dekorativer
Fassade gefunden (dazu der ”Fassadenkult“ der alteuropäischen Stadt). Da es in
China keine Tradition des öffentlichen Raums gibt, finden wir hier auch keine urbane Kultur des dekorativen Fassadenbaus (die Fassadenornamentierungen am
Bund, in der Nanjing Rd., in zahlreichen Lilong etc. in Shanghai sind kolonialer
Herkunft). Im heutigen China nutzt der Handel die funktionalen Gebäudefassaden
kommerzieller Räume intensiv für Werbebotschaften aller Art und verwandelt sie
auf diese Weise in ‚Medienfassaden’. Es ist kein Zufall, dass sich gerade in China
die Verwendung von Wolkenkratzern als Videobildschirme herausgebildet hat (zu
Bewundern insbesondere in Hongkong und Shanghai.
13. Die Herausbildung von Bürgerlichkeit und öffentlichem Stadtraum sind von ”Aufklärung“ nicht zu trennen. Wo der ”Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit“ (Kant), wo Gewaltenteilung, Säkularisierung, Parlamentarisierung, Individualisierung und Vergesellschaftung (Vertraglichung, Institutionalisierung) nicht
stattfinden, da kann es weder das Eine (Bürgerlichkeit), noch das Andere (Öffentlichkeit) auf Dauer geben. Nun liegen die Dinge in China nicht so einfach.
Zum einen hat es hier bereits frühzeitig, konkret seit der Han-Dynastie (ca. 200
v.u.Z.) permanente und vielfach erfolgreiche kaiserliche Bemühungen gegeben,
den Einfluss adeliger Grundherrschaften zugunsten einer Elite von Literatenbeamten (die ihren gesellschaftlichen Aufstieg erfolgreichen Prüfungen verdankten) zurückzudrängen. Ein mit Europa vergleichbares Lehenswesen konnte sich daher in
China nicht entwickeln. Der Sinologe Schmidt-Glintzer spricht mit Blick auf diese
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Konstellation (Stärke des Literatenbeamtentums und Schwäche der erblichen
Grundherrschaften) von einem proto-aufgeklärten Kaiserreich (H. SchmidtGlintzer: China - Vielvölkerreich und Einheitsstaat, München 1997). Die Zurückdrängung des Einflusses des Adels gehörte im kaiserlichen China zur ‚Staatsraison’,
zu einer Säule des zentralistischen Staatsverständnisses. Dem steht gegenüber,
und davon Zeugen viele wunderbare chinesische Gärten, dass sich das Handelskapital zu hoher Blüte entwickeln konnte.
Zum anderen ist auf die Rolle der Lehre des Konfuzius hinzuweisen. Der zu keiner
Zeit vollständig erloschene, tief in das Alltagsleben der Chinesen reichende Einfluss seiner Lehren hat entscheidend dazu beigetragen, dass das chinesische
Staatswesen sozusagen von Haus aus laizistisch ist, d.h. das Aufklärungsproblem
einer Trennung von Staat und Kirche stellt sich im weitgehend agnostischen China
nicht.
14. In der sog. westlichen Welt ist die Antwort auf die Frage nach der Legitimität von
Herrschaft an Demokratie und Gewaltenteilung gebunden. Dies gilt so nicht im
heutigen China. Die Legitimität von Herrschaft beruht dort subjektiv auf der historischen Mission der kommunistischen Partei, objektiv auf den wirtschaftlichen
und politischen Erfolgen der Regierung. Solange das BIP steigt, solange die Mittelschicht wächst, solange die Menschen berechtigte Hoffnung haben, dass es ihren
Kindern in Zukunft besser gehen wird, als ihnen selbst, wird die Legitimität der
Herrschaft der kommunistischen Partei nicht in Frage gestellt werden.
15. Werfen wir einen kurzen vergleichenden Blick auf den sog. Westen. In den liberal
geprägten USA verfügen NGO’s bekanntermaßen über eine sehr starke Stellung.
Sie sind dort tatsächlich eine autonome ”dritte Kraft“. Die Gründe für diese Prägung liegen nicht nur in der republikanischen Geschichte des Landes, sondern
auch in der ausgeprägten Polarisierung von ”Staat“ und ”Markt“, den beiden anderen Kräften. Diese Polarisierung befördert die ”dritte Kraft“, die, wie Beispiele
der Nachbarschaftsplanung der Vereinigten Staaten zeigen, als informelle Kraft
stark in formale Planungsprozesse eingebunden wird.
Im etatistisch geprägten Deutschland beobachten wir demgegenüber eine starke
Tendenz zur Verrechtlichung von Bürgerinitiative. Dies belegt das Beispiel der
BID’s (Business Improvement District), die in den Vereinigten Staaten der Zivilgesellschaft zugerechnet werden. So gibt es nicht nur für BID’s, sondern auch für
PPP’s bereits gesetzliche Regelungen auf Landesebene. Es wäre auch keine Überraschung, wenn die anlässlich des Konflikts um den Bahnhofsneubau Stuttgart 21
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erstmals erprobte bürgerschaftliche Schlichtung dereinst - und sollte sich dieses
Verfahren bewähren – in ein Schlichtungsgesetz gegossen wird. Vergleichbares
wäre in den Staaten bestimmt nicht zu erwarten. In China gelten derzeit weder
das angelsächsische, noch das kontinentaleuropäische Partizipationsmodell. Ich
vermute jedoch, dass sich China diesbezüglich eher in Richtung Kontinentaleuropa
entwickeln wird.
16. Nicht überall, wo ”Zivilgesellschaft“ drauf steht, ist lupenreine Zivilgesellschaft
drin. Dies belegt einmal mehr die ”Göttinger Studie“ zu Stuttgart 21: ”Die umtriebigen Wortführer gegen Flughafenausbau, Windräder und Oberleitungen sind in
bemerkenswert großem Umfang (über 90 Prozent) Grundstückseigentümer und
Hausbesitzer", schreibt der Göttinger Professor Franz Walter auf ”Spiegel-Online".
Die protestierenden Bürger sorgen sich demnach nicht allein um den Fortbestand
rarer Biotope und uralter Bäume, sondern vor allem um den eigenen Wohlstand.
Große Infrastrukturprojekte, Stromleitungen und hohe Windräder gefährden
nämlich vorrangig Immobilienwerte. So klagten die große Mehrheit der befragten
Protestler über den Wertverlust ihres Besitzes. Es gehe, so die Göttinger Forscher,
”um Wohnsituationen, für die Betroffene häufig etliche Jahrzehnte gearbeitet und
einige Entbehrungen auf sich genommen haben, um Häuser und Grundstücke, die
einmal die Altersvorsorge sichern sollten oder die sie als Geldanlage an die Kinder
und Enkelkinder weitergeben wollten." (F. Walter: ”Alt, stur, egoistisch“, SpiegelOnline vom 08.09.2011)
Prof. Dr. Hassenpflug, Gastprofessor an der Universität Duisburg-Essen, Profilschwerpunkt 'Urbane Systeme'
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