Einführung in die Ethik

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Einführung in die Ethik
Annemarie Pieper
Einführung in die Ethik
Fünfte, überarbeitete und aktualisierte Auflage
A. Francke Verlag Tübingen und Basel
Annemarie Pieper ist emeritierte o. Professorin für Philosophie
an der Universität Basel.
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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <http://dnb.dd b.de> a brufbar.
5., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2003 4. , überarbeitete und aktualisierte Auflage 2000 3., überarbeitete Auflage 1994 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage 1991 1. Auflage 1985 (Beck Verlag, München)
Die erste Auflage dieses Buches erschien 1985 unter dem Titel
»Ethik und Moral. Eine Einführung in die praktische Phi­
losophie « im Beck Verlag (München). Der Text basiert auf dem
dreiteiligen Kurs »Einführung in die philosophische Ethik«, den
ich 1979/80 im Auftrag der Fernuniversität Hagen für Studie­
rende der Erziehungswissenschaften erarbeitet hatte. Die zweite,
gründlich überarbeitete und erweiterte Auflage, die der Entwick­
lung der Ethik seit 1985 Rechnung trug, erschien 1991 im
Francke Verlag (Tübingen und Basel) unter dem Titel »Ein­
führung in die Ethik«. Die dritte Auflage, in welcher das
Literaturverzeichnis auf den neuesten Stand gebracht wurde,
kam 1994 heraus. Die vierte Auflage (1999) wurde wiederum
durchgehend aktualisiert und vor allem in den Kapiteln 2.5,
3.2.1, 3.3.2 und 8. ergänzt. Die nun vorliegende 5. Auflage
wurde erneut durchgesehen. Kapitel 7 wurde ergänzt und das
Literaturverzeichnis aktualisiert.
© 2003 . A. Francke Verlag Tübingen und Basel Dischingerweg 5 . D-72070 Tübingen ISBN 3-7720 - 1698-7 Das Werk ei nschließlich aller seiner Teile ist urheberrechdich geschützt. Jede
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~b+ (t.f.1.00b (OJ.I.\: 6
Basel, im April 2003
Annemarie Pieper
Inhaltsverzeichnis
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einleitung . ..... .. ............... . ......... .. . ,
5
11 1
Die Aufgabe der Ethik .. . ....... . . .. ... . .. .
17 1.1
1.2
1.3
1.4
Herkunft und Bedeutung des Wortes »Ethik « ..
Die Rolle der Moral in der Alltagserfahrung ...
Der Ansatz ethischen Fragens ..............
Der Vorwurf des Relativismus ..............
.
.
.
.
24 2
Ethik als praktische Wissenschaft ........... .
60 2.1
2.1.1
2.1.2
2.1.3
Disziplinen der praktischen Philosophie ......
Politik .................................
Rechtsphilosophie .. ..... ... ......... .. ..
Öko.nomik ... .. ........ . .. .... .........
.
.
.
.
61 61 63 2.2
2.2.1
.
.
.
.
72 72 2.2.3
Disziplinen der theoretischen Philosophie .....
Anthropologie ..........................
Metaphysik ............................
Logik .................................
2.3
2.3.1
2.3.2
Teildisziplinen der Ethik ... . .... . ...... ... .
Pragmatik .............................. .
Metaethik .... ...... ........ .. . .. ....... .
84 84 86 2.4
Die Autonomie der Ethik ......... ... .... .. .
92 2.5
2.5.1
Angewandte Ethik ............. ... .......
Medizinische Ethik .......................
Bioethik ...............................
Sozialethik .... . . . ......................
92 2.2.2
2.5.2
2.5.3
.
.
.
.
30 42 49 66 76 81 93 95 97 8
Inhaltsverzeichnis
2.5.4
2.5.5
2.5.6
2.5.7
2.5 .8
Wirtschaftsethik ..._..................... . . 98 Wissenschaftsethik ....................... . 99
Ökologische Ethik ................... . .. . . 100 Friedensethik ... . ... . .................. . . 103
Weitere Spezialethiken; Ethikkommissionen .. . . 106
2.6
Die Bedeutung der Ethik für die menschliche Praxis ... . . . ............... . .. . .... . ... . 114
3
Ethik als praktische Wissenschaft unter anderen praxis bezogenen Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . 119 3.1
3.1.1
3.1.2
3.2
Ethik im Verhältnis zu empirischen Einzel­
wissenschaften ........................... 120 Psychologie .. . . . .. . ............... . .... " 120 Soziologie . . ....... . ................... " 124 3.2 .1
3.2.2
Ethik im Verhältnis zu normativen Wissenschaften ......................... " 128 Theologie ............................. . . 128 Jurisprudenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.3
3.3.1
3.3.2
Ethik und Pädagogik ...................... 139 Die ethische Dimension der Pädagogik ... .. ... 140 Pädagogisch vermittelte Ethik ...... . . . .. .... 150 Inhaltsverzeichnis
9
6.
Grundformen moralischer und ethischer Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 185 6.1
6.1.1
6.1.2
6.1.3
6.1.4
6.1.5
6.1.6
Moralische Begründungen .. . ...............
Bezugnahme auf ein Faktum . ...............
Bezugnahme auf Gefühle ... . ...............
Bezugnahme auf mögliche Folgen ............
Bezugnahme auf einen Moralkodex ...........
Bezugnahme auf moralische Kompetenz .......
Bezugnahme auf das Gewissen ...............
185 185 189 191 195 196 197 6.2
6.2.1
6.2.2
6.2.3
6.2.4
6.2.5
6.2.6
6.2.7
Ethische Begründungen ....................
Logische Methode ... . ... . ................
Diskursive Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Dialektische Methode .................. .. .
Analogische Methode. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Transzendentale Methode ................ . .
Analytische Methode . . .......... . .........
Hermeneutische Methode ................. .
200
200
205
212
220
223
226
229
7.
Grundtypen ethischer Theorie ............... 234 7.1
7.1.1
7.1.2
7. 1.3
Neutralität oder Engagement? Zur Haltung des Moralphilosophen
234 Das theoretische Erkenntnisinteresse
236 Das praktische Erkenntnisinteresse ....... . .. . 23 7 Die Rolle der Kritik in der Ethik ............ . 23 7 7. 2
7.2.1
7.2.2
7.2.3
Modelle einer deskriptiven Ethik . . . . . . . . . . . ..
Der phänomenologische Ansatz (Wertethik) ....
Der sprachanalytische Ansatz (Metaethik) .....
Der evolutionäre Ansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Modelle einer normativen Ethik ..... . . ... ... 255 Der transzendentalphilosophische Ansatz (Willensethik, konstruktive, sprachpragmatische und generative Ethik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 255 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik) . . .. 262 4.
Grundfragen der Ethik ... .. .............. . . 160
4.1
4.2
4.3
Glückseligkeit ........................ . .. . 161 Freiheit und Determina tion .......... . . . ... . 164
Gut und Böse ........................ . .. . 171
5.
Ziele und Grenzen der Ethik ........... . .... 178 7.3
7.3.1
5.1
5.2
Ziele ....... .. ........ . ......... . ... . . . . 178
Grenzen .. . . ... . ...... . ..... . ......... . 181
7.3.2
238 238 244 251 10
7.3.3
7.3.4
7.3 .5
7.3.6
8.
Inhaltsverzeichnis
Der eudämonis.tische Ansatz
(Hedonistische und utilitaristische Ethik)
Der vertragstheoretische Ansatz
(Gerechtigkeitsethik ) .. . ...... ... ... . .. . .. .
Der traditionale Ansatz (Tugendethik und
kommunitaristische Ethik) . . .... .. ... . ..... .
Der materialistische Ansatz
(Physiologische und marxistische Ethik) .... . ..
266
Einleitung
273
275
Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen drei Fragenbereiche:
278
Feministische Ethik .. .. . . ....... . . . .... . .. 289 Anmerkungen . ... .. ....... . . . . . ...... .. . .. ... . . 302
Zitierte Autoren und ergänzende Literaturhinweise .... 311
Bibliographie .... . .. . . ... ..... ....... .. . . ... .. . 329
Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Sachen .... . . . ........ . ... . ............. 336
1. Womit hat es die Ethik als philosophische Disziplin zu tun?
Was ist ihr Gegenstand?
2. In welcher Weise beschäftigt sie sich mit diesem Gegenstand?
Bildet sie methodische Verfahren aus, die dazu berechtigen,
von der Ethik als einer Wissenschaft zu sprechen? Oder steht
sie auf einer Stufe mit Weltanschauungen und Ideologien, die
keine allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen können?
3. Worum geht es der Ethik letztendlich? Was ist ihr Ziel?
Vorab lassen sich noch ohne nähere Begründung folgende
Antworten auf diese Fragen skizzieren:
Zu 1. Die Ethik hat es mit menschlichen Handlungen zu tun.
Dennoch ist sie keine Handlungstheorie schlechthin, denn ihr
geht es vorrangig um solche Handlungen, die Anspruch auf
Moralität erheben, um moralische Handlungen also. Sie fragt
nach diesem qualitativen Moment, das eine Handlung zu einer
moralisch guten Handlung macht, und befaßt sich in diesem
Zusammenhang mit Begriffen wie Moral, das Gute, Pflicht,
Sollen, Erlaubnis, Glück u.a .
Zu 2. Die Ethik beschäftigt sich auf methodische Weise mit
ihrem Gegenstand - mit moralischen Handlungen -, da sie zu
argumentativ begründeten Ergebnissen gelangen will und somit
weder moralisieren noch ideologisieren oder weltanschauliche
Überzeugungen als allgemein verbindliche Handlungsgrundlage
verkünden darf. Ihr ist es demnach um Aussagen zu tun, die
nicht bloß subjektiv gültig, sondern als intersubjektiv verbind­
lich ausweis bar sind.
Man unterscheidet in der Ethik grob zwei Kategorien von
ethischen Methoden: deskriptive und normative Methode. Die
262
Grundtypen ethischer Theorie
sucht aber - der Intention nach wie FICHTE - über den Kanti­
sehen Ansatz hinausgehend nach einem letzten höchsten Prinzip,
das nicht nur reduktiv ermittelt, sondern auch aus sich selbst
entfaltet und immanent expliziert wird. Diese in den Bildern des
Ursprungs oder des Entschlusses vorgenommene Selbstexplika­
tion von Freiheit als oberste geltungsbegründende Instanz ist
letzter Grund für Moralität und damit unverzichtbarer Sinn­
grund menschlicher Praxis schlechthin.
7.3.2 Der existentialistische Ansatz (Daseinsethik)
Der existentialistische Ansatz stellt den Begriff der menschlichen
Existenz in den Mittelpunkt ethischer Überlegungen und
versucht, menschliches Handeln aus der Gesamtheit mensch­
lichen Selbstseins, das als Einheit von Denken, Wollen, Fühlen
und Handeln begriffen wird, zu begründen. Diese Einheit im
konkreten Vollzug seines Daseins je und je geschichtlich neu
herzustellen, ist die bleibende moralische Aufgabe jedes ein­
zelnen.
Als erster hat Sören KIERKEGAARD den Versuch unternom­
men, die Ethik existentialistisch zu begründen. KIERKEGAARD
setzt sich mit seinem Ausgangspunkt beim menschlichen
Existieren zur Wehr gegen jede Wesensphilosophie (Gegensatz
von essentia - Wesen und existentia - Dasein). Die traditionelle
Philosophie, als deren Repräsentanten er vor allem HEGEL sah,
war für ihn ausschließlich Wesensmetaphysik, indem sie nicht
nach dem Sein, sondern nach dem Wesen der Dinge fragte und
dieses Wesen abstrakt, vermittels allgemeiner Begriffe formulier­
te. Was für die Dinge noch angehen mag, ist im Hinblick auf
den Menschen jedoch nach KIERKEGAARD nicht mehr zulässig,
denn der Mensch interessiert als Individuum und hinsichtlich
seiner Individualität, so daß man die abstrakte Frage nach dem
Wesen des Menschen nicßt unabhängig von der Frage nach der
Seinsweise des einzelnen als Individuum stellen kann. Wenn man
aber danach fragt, wodurch denn ein Individuum dieses
bestimmte Individuum ist, kann man diese Frage nicht mehr auf
herkömmliche Weise in Form eines philosophischen Systems
Modelle einer normativen Ethik
263
beantworten, weil dieses System ja wieder nur ein abstrakter
Begriffsapparat ist, aus dem der einzelne als einzelner heraus­
fällt. Wodurch der einzelne zu dem bestimmten Individuum
wird, das er ist, läßt sich nur gewissermaßen biographisch an
fiktiven Figuren zeigen. Daher hat KIERKEGAARD so viele
verschiedene Pseudonyme erfunden, von denen jedes aus einem
anderen Aspekt deutlich machen soll, was Existieren für es
heißt. Selbstverständlich kommen auch hier abstrakte Erörterun­
gen vor, aber sie stehen immer in irgendeinem Zusammenhang
mit jenem ursprünglichen Seinsvollzug, der als Existenz bezeich­
net wird. Hier ist für KIERKEGAARD SOKRATES das Vorbild, der
seine Schüler auch kein begriffliches Wissen, keine Formeln von
Tugend, keine Definitionen des Gerechten und Guten gelehrt,
sondern ihnen exemplarisch vorgelebt hat, was es heißt, ein
tugendhafter, gerechter, guter Mensch zu sein.
Für KIERKEGAARD ist Menschsein als Existenz nicht stati­
sches, ontisches Sein, sondern wesentlich Bewegung, Prozeß,
Selbstwerden. Existieren heißt: unter einem Unbedingtheits­
anspruch handeln und sich durch solches Handeln als ein trotz
seiner Gebundenheit an sein jeweiliges Sosein freies Individuum
zu erweisen . Um moralisch handeln zu können, muß sich der
einzelne in einem Akt autonomer Selbstbestimmung unbedingt
entschlossen haben, er selbst zu sein und Freiheit als Moral­
prinzip anzuerkennen,
»denn allein indern man unbedingt wählt, kann man das Ethische
wählen . Durch die absolute Wahl ist somit das Ethische gesetzt.«
(Entweder-Oder II, 189)
Dabei versteht KIERKEGAARD unter dem "Setzen des Ethischen«
das Hervorbringen von Moralität aus dem unbedingten Streben
nach dem Guten, d.h. die Wahl der Freiheit.
»Durch diese Wahl wähle ich eigentlich nicht zwischen Gut und
Böse, sondern ich wähle das Gute; indern ich aber das Gute wähle,
wähle ich eben damit die Wahl zwischen Gut und Böse. Die ursprüng­
liche Wahl ist ständig zugegen in einer jeden folgenden Wahl.« (Ebd.,
232f.)
Modelle einer normativen Ethik
264
265
Grundtypen ethischer Theorie
Mit der ursprünglichen Wahl bringt der einzelne in freier
Selbstbejahung sich selbst als moralische Person hervor, die
bereit ist, ihr künftiges Wollen und Handeln den Normen des
Guten und Bösen zu unterstellen. Nur wer sich ethisch wählt,
wird er selbst als der, der er sein soll: er wird ein "Selbst«.
»Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was
aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich
selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnis, daß das Verhältnis sich
zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß
das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.« (Die Krankheit zum Tode,
31)
Menschsein realisiert sich nach KIERKEGAARD als doppeltes, in
sich reflexes Verhältnissein, als Tätigkeit eines Sichverhaltens,
das sich im Verhältnis zu anderem (Welt, Mitmenschen, Gott)
zugleich wesentlich auf sich selbst und im Zusichselbstverhalten
zugleich wesentlich auf anderes bezieht. Diese Verhältnis­
struktur menschlichen Existierens als geistigen Selbstseins gilt es
stets von neuem in Akten freier Selbstbestimmung geschichtlich
zu vollziehen. Die ethische Aufgabe des einzelnen besteht darin,
zu existieren, sich zu verhalten und in diesem Sichverhalten als
der offenbar zu werden, der er ist.
Was KIERKEGAARD in ,Entweder-Oder<durch den Akt des
Wählens als der Grundweise individuellen Existierens signali­
siert hat, das präzisiert er in ,Die Krankheit zum Tode <weiter
unter dem Begriff des Selbst als Sichverhalten. Nur wer sich
verhält und in diesem Sichverhalten offenbar macht, wie er sich
entschieden hat, gibt sich als der zu erkennen, der er durch freie
Selbstbestimmung geworden ist. Er existiert im ursprünglichen
Wortsinn von· ex-sistere - herausstehen, sich zeigen und han­
delnd eröffnen als der, der man wirklich ist.
Einen existenzphilosophischen Ansatz, der aber nicht
eigentlich zu einer Ethik ausgearbeitet wurde, findet man in
diesem Jahrhundert bei Martin HEIDEGGER und deutlicher
ausgeprägt bei Karl JASPERS. HEIDEGGER versteht sich zwar
weniger als einen Existenzphilosophen und bezeichnet sich
lieber, zum mindesten in der Periode um ,Sein und Zeit<, als
Fundamentalontologen , aber insofern die Frage nach dem Sinn
von Sein eine Analytik des Daseins miteinschließt, dessen
Seinscharaktere er als Existenzialien begreift - wie z.B. Angst,
Sorge, Sein zum Tode -, kann man auch HEIDEGGER zur
Existenzphilosophie rechnen, ebenso wie JASPERS, der sich auch
selbst dazu bekannte. Entsprechend betreibt er die Daseins­
analyse als Existenzerhellung, indem er vor allem jene Grundsi­
tuationen _ wie Kampf, Leid, Schuld, Tod - thematisiert, in
denen der einzelne im Sichzusichselbstverhalten über sich
hinausgetrieben wird auf das Transzendente hin.
Auch bei den französischen Existentialisten finden sich
Ansätze zu einer existentiellen Moral, so bei Jean-Paul SARTRE,
der davon ausgeht, daß die Existenz der Essenz, das Dasein dem
Wesen vorausgeht. Der Mensch ist eine Nullpunktexistenz, d.h.
er beginnt als radikal Freier, dem nichts vorgegeben ist, der sein
Wesen selbst hervorbringt und somit sich selbst erst als der
erschafft, der er dann ist. Der Mensch als Existierender wählt
sich selbst seinem Wesen nach, indem er im Bewußtsein seiner
Verantwortung zugleich alle Menschen wählt. (Vgl. Ist der
Existentialismus ein Humanismus?, Frankfurt 1983, 12 f.)
Wieder anders reflektiert Albert CAMUS auf die Existentiali­
tät des Menschen . Bestand für KIERKEGAARD der ethische Sinn
menschlichen Handelns in der unbedingten Selbstwahl, durch
die der einzelne zu dem wird, der er sein soll, so findet Albert
CAMUS im Protest gegen die Absurdität des Lebens jenes
Moment der Unbedingtheit, aufgrund dessen sich die Menschen
in der gemeinsamen Empörung über die Sinnlosigkeit der Welt
solidarisch miteinander verbinden:
"Weit entfernt, eine allgemeine Unabhängigkeit zu fordern, will die
Revolte die Anerkennung der Tatsache, daß die Freiheit überall da
eine Grenze habe, wo sich ein menschliches Wesen befindet, denn die
Grenze ist eben die Macht der Revolte dieses Wesens. « (Der Mensch
in der Revolte, 230)
Die einzige dem Menschen nach CAMUS mögliche Freiheit, zu
der er moralisch aufgerufen ist, realisiert sich im Protest und als
Protest gegen die Unmenschlichkeit des Daseins. Der Mensch
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266
Grundtypen ethischer Theorie
Modelle einer normativen Ethik
existiert nur als Protestierender; so hält er seinen Anspruch auf
Humanität und ein menschenwürdiges Leben hoch, ohne daß
damit freilich die Sinnlosigkeit der Welt aufgehoben würde.
Eine existentielle Ethik akzentuiert also das Dasein des
Menschen als eines Individuums unter anderen Individuen. Sie
denkt das Moralische in seiner geschichtlichen Struktur und
Einmaligkeit als etwas, das nicht in zeitloser Präsenz »west", .
sondern sich in der Zeit ereignet, den Augenblick zu einem
sinnerfüIJten je Jetzt des Lebens macht. Indem ein Individuum
moralisch handelt, existiert es als Mensch, und indem es so
existiert, wird es einerseits es selbst als diese bestimmte Person
offenbar, andererseits als jemand, der sich frei mit anderen
verbunden hat, um Freiheit zu realisieren. Die menschliche
Existenz erweist sich daher als der originäre Ort, an dem
Moralität als geschichtlicher Sinn des Lebens hervorgebracht
wird, wobei das Moment des Geschichtlichen, Natürlichen, des
Werdens, das aIJe Existenzphilosophen betonen, zugleich die
Endlichkeit menschlichen HandeIns in den Blick rückt. Die
Handlung selber als bestimmtes empirisches Geschehen vergeht,
ebenso wie der Mensch, der diese Handlung ausgeführt hat,
eines Tages nicht mehr sein wird. Was bleibt und die einzelne
Handlung als moralische überdauert, ist ihre Gültigkeit, ihr
Sinn.
7.3.3 Der eudämonistische Ansatz
(Hedonistische und utilitaristische Ethik)
Der eudämonistische Ansatz (von griech. eudaimonia _ Glück) in der Ethik, der teleologisch das Glück als höchstes Ziel, an dem aIJes menschliche Handeln interessiert ist, bestimmt, geht auf ARISTOTELES zurück, wird aber insbesondere von - der hedonistischen Ethik einerseits, - der utilitaristischen Ethik andererseits ausdrücklich vertreten.
Für ARISTOTELES ist das Glück Inbegriff eines schlechthin
gelungenen, sinnerfüllten Lebens:
267
»Das oberste Gut ist zweifellos ein Endziel. .. , Als vollkommen
schlechthin bezeichnen wir das, was stets rein für sich gewählt wird
und niemals zu einem anderen Zweck. Als solches Gut aber gilt in
hervorragendem Sinne das Glück. Denn das Glück erwählen wir uns
stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinaus­
liegenden Zweck.« (Eth. Nie. I, 5; 1097a 25-b1)
Man erstrebt das Glück also nicht um irgend etwas willen;
vielmehr erstrebt man alles, was man erstrebt, um des Glücks
willen. Zwar streben nach ARISTOTELES alle Menschen nach
Glück, aber wirklich glücklich ist jedoch nur der zu nennen, der
moralisch handelt, zugleich aber aller äußeren und leiblichen
Güter (günstige Umstände, Gesundheit etc.) teilhaftig ist, deren
er ebenfalls bedarf, um ein vollkommenes Leben zu führen.
»Das Glück setzt moralische Vollkommenheit voraus und ein
Vollrnaß des Lebens. « (Ebd ., 1,10; 1100a 4-5)
Die hedonistische Ethik (von griech. hedone - Lust) geht ebenfalls
davon aus, daß das Glück höchstes Ziel menschlichen Strebens ist,
versteht unter Glück jedoch Lust, Freude. Daraus leitet sie den
Grundsatz ab, jeder solle tun, was ihm Freude macht. Bezüglich
dessen, was die meiste Freude macht, gehen die hedonistischen
Ansichten allerdings auseinander. Während ARISTIPPOS von
Kyrene (435-355 v.Chr.) den sinnlichen Genuß zum Maßstab
menschlichen Handelns erklärt, wobei es Kennzeichen des Weisen
ist, daß er die Lust genießt, ohne sich von ihr beherrschen zu
lassen, erkennt EPIKUR (342-271) den geistigen und seelischen
Freuden den Vorrang zu, da sie dauerhafter und unabhängiger
von äußeren Umständen und Störungen seien. Glückselig ist
letztlich nur derjenige, dem es gelingt, seine Triebe und Be­
gehrungen so zu harmonisieren, daß keine überschießende
Leidenschaft mehr dominiert. Eine solche Harmonisierung ist die
Ataraxie (= Unerschütterlichkeit), eine gewisse Seelenruhe, die es
z.B. dem Philosophen erlaubt, in heiterer Gelassenheit über den
Dingen zu stehen, und das ist das eigentliche, wahre Glück, die
Lust am Gleichmaß, an der Ausgewogenheit der Interessen.
Der Hedonismus kann egoistisch oder altruistisch fundiert
sein, je nachdem ob er vorrangig die Befriedigung der eigenen
I
,I