Gewalt – Aggressivität - Gewalttätigkeit

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Gewalt – Aggressivität - Gewalttätigkeit
Gewalt – Aggressivität - Gewalttätigkeit
Das Kämpferische
Das Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen, ist die Gewalttätigkeit. Immer wieder sind
wir mit gewalttätigen Episoden konfrontiert: Direkt oder indirekt, in der Realität oder virtuell.
Das Thema Gewalt ist sehr aktuell. Und dies seit langem! Nämlich seit dem Beginn der
Zivilisation. Die Mythen erzählen es uns. Am Anfang jeder Kultur steht ein Mord: Kain und
Abel, Romulus und Remus, Wilhelm Tell usw. Man spricht von einer dünnen Decke der
Zivilisation, unter der Grausamkeit und Brutalität jederzeit geweckt werden können. Der
Mensch habe sich diesbezüglich seit Jahrtausenden nicht verändert. Jugendgewalt ist ebenso
alt.
Im Gleichsetzen von „Gewalt–Gewalttätigkeit-Gewaltbereitschaft“ und in der Art, wie darüber gesprochen und geschrieben wird besteht aber ein grosses Missverständnis.
Gewalt ist nicht gleich Gewalttätigkeit. Auch beschreibt Gewalttätigkeit nicht nur Destruktives. Wir kennen gewaltige Taten des Menschen und gewaltige Erscheinungen der Natur.
Destruktiv sind z.B. Überschwemmungen, Erdbeben, Vulkanausbrüche; aber es gibt auch
Ergreifendes wie Wasserfälle, Herrlichkeiten einer Landschaft etc., die man als gewaltig
bezeichnet. Hier sind es unsere Emotionen, die durch diese Naturerscheinungen geweckt
werden, Naturerscheinungen, die uns überwältigen. Wir müssen also den tieferen und
umfassenderen Sinn des Wortes „Gewalt“ und des damit beschriebenen Phänomens angehen.
I - Die vielen Gesichter der Gewalt
Es gibt im alltäglichen Gebrauch verschiedene Ausdrücke:
Kontrolle über jemanden oder etwas haben: positiv oder negativ möglich
Mit aller Gewalt: deutet auf die Intensität hin
Mit aller Gewalt schreien, lachen: Heute, wo Kinder oft nicht laut reden und nicht laut
schreien dürfen, haben wir Psychologen eine besondere Therapieform entdeckt: die
Schreitherapie. Wäre es nicht besser, wenn Kinder (und auch Erwachsene) schreien dürften
statt in die Therapie gehen zu müssen?
Seinen Gefühlen Gewalt antun: bremsen, blockieren, verdrängen
Gewalt anwenden
Auf Grund höherer Gewalt: deutet darauf hin, dass wir Gewalt (Macht) erleben und erfahren
In seiner Gewalt haben: andere Leute, aber auch die eigenen Emotionen
Seine eigenen Nerven nicht mehr in der Gewalt haben
Sanfte Gewalt: z.B. im erotischen Bereich
Gewalttätigkeit: Gewalttat, Verbrechen
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Zusätzlich kennen wir verschiedene Formen der Gewalt:
Elterliche Gewalt - Geistige Gewalt - Gesetzgebende Gewalt - Göttliche Gewalt Herrschende Gewalt - Öffentliche Gewalt.
Dies sind vielfältige Formen, wie „Gewalt“ verstanden werden kann. Offensichtlich nicht
unbedingt im negativen Sinn, im Gegenteil!
Das Wort „Gewalt“ bedeutet etymologisch „zu walten“ und dies heisst: wirken, herrschen,
gebieten, ausüben. Oder auch: Kraft, Macht, Heftigkeit (z.B. die Gewalt eines Sturmes)
Es ist nun klar geworden, dass „Gewalt“ nicht nur einfach eine negative, destruktive Bedeutung in sich trägt, sondern ein umfassenderer Begriff ist, in den sogar das Schöpferische hineingehört.
So gesehen können wir sagen, dass wir alltäglich mit „Gewalt“ zu tun haben, in der Gewalt
drin sind. Gewalt verweist auf eine Urkraft. Schade, dass wir das Wort Gewalt heute nur noch
im negativen Sinn gebrauchen. Was ein grosses Missverständnis ist, denn es suggeriert die
Idee, dass Gewalt nur noch „böse“ sei und zu vermeiden wäre. Aber auf diese Art und Weise
deuten wir das Bildnis eines Menschen ohne élan vital! Immer wieder erlebt der Mensch
„Gewaltiges” von aussen, aber auch von innen: „Gewaltige Emotionen”!
Das ist Leben!
Wenn wir uns fragen, woher diese „Gewalt“ kommt oder wo diese gewaltigen Emotionen
entstehen, so entdecken wir, dass sie aus einer Polaritätsstruktur der Natur und der Seele
entstehen: Höhe und Tiefe, warm und kalt, Licht und Dunkelheit, Feuer und Wasser, trocken
und feucht usw. Alles ist in einer Polarität, alles ist in Bewegung, in Wandlung, nichts ist im
Stillstand. Wir leben in der Wandlung, wir sind Wandlung.
Wir entdecken und erleben Gewalt als wandelbare Kraft jedes Mal wenn wir auf ein neues
Hindernis stossen.
Jedes Mal, wenn wir an Grenzen stossen, Widerstand erleben, auf Macht von aussen
oder innen stossen, die uns fremd ist und wir damit konfrontiert sind, wenn also das
Leben nicht ungestört fliessen kann oder darf: Dann immer erleben wir, subjektiv,
Gewalt.
Gewalt ist die Form, wie das Leben in Erscheinung tritt - Lebensenergie und die Energie
überhaupt erscheint dort, wo eine Polarität existiert und wahrgenommen wird.
Wäre es anders, würde Stillstand herrschen! Der Stillstand, den wir Erwachsene meinen,
wenn wir den Kindern sagen: „Sei still“!
„Gewalt“ ist die Art und Weise subjektiv wahrzunehmen und zu erleben, was uns Widerstand gibt, was wir als Hindernis, als mühsam, als schwierig, als unangenehm erleben.
II - Gewalt und Aggressivität
Bis zu diesem Punkt ist alles naturgemäss; ist alles ein Lebensgesetz. Nun kommt die
Reaktion der menschlichen Natur. Alles, was von unseren Sinnen wahrgenommen wird, wirkt
(waltet) auf die Seele und weckt Emotionen.
Und so erzeugt die zum Leben gehörige Dimension der Gewalt bei Menschen wieder eine
natürliche Reaktion (sonnst wäre man tot, reell tot oder psychisch tot), d.h. Aggressivität.
Jedes Mal, wenn der normale Lauf der Dinge und das Geschehen der Energie blockiert wird,
entsteht eine emotionale Reaktion: Entweder Angst oder Wut - die zwei Uremotionen.
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Wenn die Lebensenergie (Libido) nicht direkt das Ziel der Befriedigung erreichen kann/darf,
dann entsteht dementsprechend eine Frustration, eine Unzufriedenheit, auf der Resignation
keimt (Schüchternheit/Zaghaftigkeit, depressive Formen) oder Wut und Ärger oder Angst,
welche die Bereitschaft zu feindseligen Reaktionen erhöhen.
Was heisst Aggressivität?
Auch Aggressivität wird meistens als etwas Destruktives erachtet: Sinnlose Körperverletzung,
Brutalität, Vandalismus oder im kleinen Rahmen der Familie: Etwas kaputt machen aus Wut,
schreien, schlagen unter den Geschwistern usw. Im Allgemeinen wird Aggression als eine
verwerfliche Handlung etikettiert, welche es zu bekämpfen gilt, da sie gleichgesetzt wird mit
„böse“.
Aber auch hier muss man die positive Seite des lateinischen Verbs für Aggression berücksichtigen, um den gesamten Sinn des Wortes zu verstehen: Aggressivität kommt von dem
lateinischen Verb: aggredi.
Aggredi bedeutet auch: heran schreiten, sich nähern, sich freundlich an jemanden wenden,
sich zu etwas anschicken, unternehmen, beginnen, versuchen, was in der deutschen Wendung
zum Ausdruck kommt: Etwas in Angriff nehmen.
„Aggressiv“ übernimmt also zwei Aspekte: neben dem Aspekt des Überfallens, und
Angreifens in feindlicher Absicht finden wir auch den Aspekt versuchen, beginnen, etwas
unternehmen. Damit werden Tätigkeiten beschrieben, denen eine herausfordernde, eben eine
aggressive Komponente zugrunde liegt. Das kann sowohl zu einer schöpferischen Leistung
führen als auch zu einem Akt der Zerstörung.
Aggressivität ist eine Urkraft, in der Vitalität und Produktivität wurzeln und entstehen. Diese
aggressiven Energien sind zu erziehen, d.h. herauszuholen und in Kreatives umzuwandeln.
Weder offenes Ausleben noch Verbieten sind daher der Schlüssel zum Umgang mit Aggressivität. Unterdrückte Gewalt entfesselt um so schlimmere Kräfte.
Furcht vor Strafe reduziert zwar aggressives Verhalten und schafft Angriffshemmungen.
Verdrängte Aggressionen können aber als Ersatzhandlung an Schwächeren ausgelebt werden.
So gesehen ist Aggressivität auch der Impuls zur Selbstbehauptung: Das Angehen von
Hindernissen und Schwierigkeiten, das sich selbst behaupten den anderen gegenüber: Eine
positive Kraft. Ohne Auseinandersetzung mit der Umwelt hätte die Menschheit nicht überlebt, es gäbe keine Entwicklung, keine Kultur.
Das ist der Instinkt des Lebens, welcher im Menschen ist, um sich durchzusetzen, sich zu
entfalten.
Paradoxerweise wird dieser Instinkt durch das „Grenzen erleben“ erweckt. Egal um welche
Grenzen es geht: Soziale, innere, physische, psychische, geistige, materielle. Was als Grenze
erlebt wird, weckt das Bedürfnis nach Entfaltung und bewirkt die Entfaltung.
III - Aggressivität: was damit tun?
Demzufolge ist die richtige und wichtige Frage: Was machen mit der Aggressivität? Wie mit
dieser Urkraft, Quelle des Destruktiven aber auch gleichzeitig des Schöpferischen, umgehen?
1. Weil die Aggressivität ein enormes Potential darstellt, dem wir oft nicht gewachsen
sind (weder der eigenen Aggressivität noch der unserer Kinder) versuchen wir oft, sie
zu kontrollieren oder einfach zu verdrängen.
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Als Eltern oder Erzieher sind wir bei einer „Gewaltsituation/ Aggressivität“ überfordert, da sie unsere eigene Aggressivität berührt und weckt. Es gibt wenig Möglichkeiten in der Familie, in der Gesellschaft, in der Schule Aggressivität als positive oder
einfach als erlaubte Kraft zu erleben.
Je mehr wir diese bei uns und unseren Kindern verdrängen, desto heftiger werden uns
die dunklen Kräfte in anderer Form zusetzen. Verdrängte Aggressivität wird bei Kindern zur Ursache von unerklärlicher Traurigkeit bis hin zu depressiven Zügen, ständiger Bewegung, Schlafstörungen, Unzufriedenheit und Sucht nach übermässigem Essen von Süssigkeiten.
2. Der andere Aspekt der Aggressivität: Statt Aggressivität erlebt man bei „Gewalt“
Angst. Wut und Angst sind die zwei Uremotionen, die die Menschen erleben, wenn
sie sich an einer Grenze befinden. Menschen überhaupt und Kinder im Besonderen,
die, statt die eigene Aggressivität anzunehmen diese verdrängen (oder verhindert werden die Aggressivität zu erleben), werden von Angst erfasst. Angst inadäquat zu sein,
ohnmächtig, unfähig die Situation zu bewältigen und/oder Hilfe zu holen (Mangel an
Selbstwertgefühl); oder Angst, die eigene Wut zum Ausdruck zu bringen, weil es verboten ist (Angst vor den Konsequenzen) oder weil sie überwältigend werden könnte.
Das zeigt sich in: Verlust der Freude, Konzentrationsstörungen, Ängstlichkeit und Zurückhaltung, Süchten, unmotiviert sein, dem Gefühl ausgeschlossen zu sein, schlechtem Schlaf, bösen Träumen etc. Man wird von einer Menge innerer Monster geplagt.
IV - Ursache der Destruktivität
Es geht hier nicht darum über die sozio-geschichtliche Ursache der Destruktivität zu sprechen: Jede Epoche musste mit destruktiver Gewalt und mit destruktiv-aggressivem Verhalten
rechnen. Was hingegen unsere Zeit charakterisiert ist, dass die Erwachsenen Überraschung
zeigen!
Es scheint heute eine naive Vision zu herrschen: “Das Kind sei von Natur aus oder gezwungenermassen gut! Weil das Kind Quelle der Zärtlichkeit sein muss, herrscht das Bild des unschuldigen Kindes, dem alles Böse fremd ist... und demzufolge fremd bleiben muss.
Das menschliche Herz – neben dem guten positiven - ist nun mal auch eine „Mördergrube“!
Statt Überraschung oder sogar Empörung zu mimen, sollten die Erwachsenen die vielen und
vielfältigen Keime der Destruktivität bewusst wahrnehmen, die sie mit der heutigen
Gesellschaft den Kindern übergeben:
Leistungs- und Konsumgesellschaft, Intoleranz, die Art und Weise wie politisiert wird,Verschlossenheit gegenüber jeglicher Veränderung, kinderunfreundliche Umwelt: Lärm, Luftverschmutzung, Krieg, usw.
Ursachen der destruktiven Gewalt sind:
1. Auf der einen Seite die Krise des kollektiven Wertesystems und
2. Auf der anderen Seite die Unfähigkeit der Erwachsenen, neue kollektive Wertesysteme durch authentische, echte, glaubwürdige menschliche Beziehungen zu vermitteln wie:
 Autorität
 Regeln, Gesetze, Strukturen
 Beruf, Geld, materielle Güter
 Erfolg erzielen,
 Soziale Beziehungen, usw.
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3. Und drittens, persönliche Übergangskrisen in der Pubertät und bei Kindern, die zu
schnell “erwachsen” werden müssen, indem die Kinder mit zu viel und zu schwerer
Verantwortung belastet werden.
Was macht destruktiv-aggressiv?
1. Haltlosigkeit.
Eines ist klar: ohne Wurzeln, kein Halt und keine daraus resultierende Haltung. Haltung entwickelt sich aus einem Gehaltenwerden im sicheren Aufgehobensein eines sozialen Gefüges. Das Gefühl dazu zu gehören, feste sichere Beziehungen und ein soziales Netz, aber auch das Gefühl verstanden zu werden in den eigenen kindlichen Gefühlen und dass Trauer nicht missachtet wird: Das gibt Halt.
Haltlosigkeit hingegen verursacht: Hilflosigkeit, Unsicherheit, Gleichgültigkeit:
Faktoren, die zu Depressionen, Abhängigkeit, Drogen, Ideologien führen.
2. Mangel an Strukturen in der Kindheit begünstigt destruktive Aggressivität. Das Einhalten eines festen Rahmens ist hilfreich und Ich-stärkend für die gesunde Entwicklung. Es ist die Voraussetzung für das Lernen und Entwickeln eines autonomen Verhaltens.
Kinder verlangen nach einem Rahmen, der sukzessiv ausgeweitet werden soll: Nur in
einer strukturierenden Umwelt kann sich ein Heranwachsender orientieren, festhalten
und ein soziales Wertsystem entwickeln. Die daraus entwickelte Sicherheit ist Boden
für echtes Selbstvertrauen, ein sich-wohlfühlen in der eigenen Haut zum Aufbau einer
positiven Identität.
Ohne Grenzen fühlen sich die Kinder ungeborgen. In einer für sie unstrukturierten
Welt zu leben ist die Ursache der Ich-Schwäche. Diese führt zur Unfähigkeit,
persönliche und fremde Grenzen wahrzunehmen, zum Suchen von Grenz-Erfahrungen
jeglicher Art.
Dieser Reifungsprozess durch das Setzen der Grenzen und durch das Geben von Strukturen durchläuft verschiedene Erfahrungen:
 Durch Grenzen erleben Kinder Aufmerksamkeit und als wichtig wahrgenommen zu werden. Hier erleben sie Geborgenheit.
 Ohne Grenzen zu spüren bleiben sie in der Leere, ihren Impulsen ausgeliefert
und folglich von einer tiefen Frustration überwältigt: Das Kind, dem alles erlaubt ist und das alles bekommen kann ohne Gegenleistung bleibt, schliesslich
frustriert, unzufrieden, gelangweilt.
 Nur durch das Fühlen und sich auseinandersetzen mit den Grenzen kann das
Kind sich selber als Individuum wahrnehmen.
 Aus dem Konflikt Impuls↔Grenze entsteht die Kreativität. Das kreative Vorstellungsvermögen wird geweckt, so dass Ziele auf einer höheren Ebene erreicht werden können.
 Im Konflikt können die Kinder in Form der Aggressivität die Urkraft erleben
und folglich die kämpferische Haltung erlernen und dem Leben mit einer aktiven, kreativen Haltung entgegentreten.
 Durch die Strukturen und die Grenzen, die von den Eltern gegeben werden,
lernen die Kinder die Grenzen zu akzeptieren, die aus der Gesellschaft und
durch das Leben entstehen.
 Denn die Grenzen, falls sie adäquat sind, die von den Eltern gegeben werden, sind für die Kinder annehmbar, weil sie innerhalb einer
positiven Beziehung erlebt werden.
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
Schliesslich, weil die Eltern den Wandlungsweg aus der Frustration/
Aggressivität zu positiven Werten zeigen, lernen die Kinder selber,
sich kreative Ziele zu setzten, die nicht unmittelbar sind, aber reizender und erfüllender
3. Inkonsequenz fördert Haltlosigkeit und Desorientierung.
 Strukturieren und nachgeben, Aggressionen zeigen nach Laune, desorientiert
im Tiefsten.
 Mangelnde Konsequenz verstärkt das Gefühl/Verhalten der Kinder, sich auffällig machen zu müssen, um Grenzen zu bekommen.
 Inkonsequenz ist Beweis für Ich-Schwäche der Eltern, die die Tendenz zeigen,
die Konfrontation aus Scheu und Angst vor Liebesverlust, zu vermeiden.
Diese Eltern schwanken dann zwischen Nachgiebigkeit, unangebrachter Belohnung, unhaltbarer Versprechen oder leerem Drohen.
V - Annehmen und verarbeiten der Aggressivität.
Der Weg zu Selbstbewusstsein.
Das Ziel des menschlichen Entwicklungsprozesses ist: Selbstwertgefühl – Bewusstsein einer
Eigengestalt - das Selbstbild.
Von Geburt an sucht das Kind bewusst zu werden über eine Eigengestalt, das Selbstbild, das
von innen determiniert ist, das es aber im Kontakt und in Auseinandersetzung mit der Mitwelt
finden und zum Ausdruck bringen kann. Dadurch erlebt und entwickelt es sein angeborenes
Potential. Ein wesentlicher Aspekt dieses Bildes ist das Selbstbewusstsein, das sich zwar ein
Leben lang entwickelt, sich auch verändern kann, das aber doch auf dem in der Kindheit erworbenen Vertrauen basiert. Das wird nur möglich, wie oben gesagt, wenn dem Kind die
Möglichkeit gewährleistet wird, seine Urkraft zu erleben und wenn geholfen wird, diese in
einer schöpferischen Entwicklung zu wandeln.
 Es ist bekannt, dass Menschen mit einem tiefen Selbstwertgefühl zu destruktivem gewalttätigem Handeln neigen. Gewalt und Brutalität verleihen diesen
Menschen Machtgefühl und dadurch – es ist ihre Überzeugung – Ansehen in
unserer Gesellschaft. Mit Gewalt und Brutalität kompensieren sie ihren Mangel an Selbstwertgefühl.
 Die Pflege des Selbstwertgefühls ist Aufgabe und Ziel des menschlichen psychisch-geistigen Wachstums. Dies ist aber nur möglich im Rahmen einer Beziehungskultur, an der sich jeder Mensch beteiligen müsste.
Nun ist die Frage:
Wie können Kinder und Erwachsene zum positiven Umgang mit ihrem aggressiven Potential
und zur konstruktiven Entfaltung der sozialen und familiären Beziehungen angeleitet werden?
Zwei allgemeine Hinweise auf dem Weg der Wandlung der Urkraft:
1. Ein Moment der Besinnung. Es hat keinen Sinn überrascht zu tun; es ist viel konstruktiver uns zu fragen: Was heisst Gewalt für mich? Kann ich meine dunklen
Sehnsüchte und Triebe (meine eigenen Schatten) soweit akzeptieren, dass ich sie weder direkt ausleben noch verdrängen noch auf andere projizieren muss?
Es ist klar geworden, dass Kreativität und Aggressivität als Tag- und Nachtseite zur
Persönlichkeit jedes Menschen gehören. „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“
(Goethe). „Erst wer von den eigenen Grössen- und Machtfantasien Abschied genommen hat und sich auf die damit verbundene Trauer eingelassen hat, ist erwachsen und
weiss, dass sich hinter Gewalt oft Angst versteckt, hinter Macht Ohnmacht, hinter dem
Täter ein Opfer.“ (Eva Zeltner: Kinder schlagen zurück.)
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2. Kreativität ist die beste Antwort auf destruktive Gewalt.
a. Spielen: Im Spielen bekommt man Spass an der Auseinandersetzung, bei dem
es nicht um Sieger/in oder Besiegte, wohl aber um originellste Kompromisse
geht. Im Spielen wird Streit zu einer kreativen, sinnvollen Tätigkeit – verbunden mit Lust und Lachen (Humor).
b. Kreativität als freie Beschäftigung, malen, tanzen, Theater usw., aber nur,
wenn es freiwillig und spontan bleibt, nicht von oben diktiert.
c. Körperarbeit in seiner Funktion der Sinneswahrnehmungen und Bewegung.
Das wäre die Kompensation zur falschen Körperpflege, zu Passivität und zum
“virtuellen” sich bewegen ( PC-Spiele).
VI - Karate als Kampfkunst gibt ein Modell, wie man mit Gewalt-Aggressivität sinnvoll und schöpferisch umgehen kann.
1. Das Kämpferische
Das Thema Gewalt-Aggressivität-Gewalttätigkeit dreht sich um einen wesentlichen dem
Leben innewohnenden Aspekt: Das Kämpferische.
Unzweifelhaft zeigt das Leben ständig seine Kampfseite: Eine Gegenseitige spielt immer in
den Polaritäten der Dinge. Tag und Nacht ist ein anschauliches, prägnantes und faszinierendes
Symbol dafür. Die Polarität der äusseren und der inneren Dinge setzt alles in Bewegung, in
Auseinandersetzung und in Wandlung.
Hinter dem Wunsch nach “Normalität”, als „normal“ bewertet zu werden oder „ein normales
Leben führen wollen“, verbirgt sich oft Passivität und Stillstand. Dabei wird die Aufgabe, sich
selber zu entwickeln und zu entfalten, nicht wahrgenommen: D.h., das eigene Leben als Prozess wird nicht wahrgenommen. Sich selber werden und entfalten, die eigenen Fähigkeiten
und das eigene Potential zu entwickeln verlangt, sich selber auf die Probe zu stellen, Schwierigkeiten anzugehen, Grenzen zu suchen und sich damit auseinanderzusetzen.
Hier entsteht das Kämpferische in positivem Sinn. Ist diese Haltung nicht präsent, fällt man in
Resignation, Frustration, Unzufriedenheit, was zu destruktiver Wut- und Zornexplosion führt.
2. Karate als Modell
In dieser Vision lebt Karate als Kampfkunst. Es geht darum, die Regeln, die das Leben setzt,
bewusst zu akzeptieren und zu leben:
- Aggressivität annehmen: Die Aggressivität wird nicht nur akzeptiert, sondern durch
die ganze Struktur des Karates, und auf Grund der Philosophie wird sie nie in krasser
Manifestation toleriert. Hingegen wird sie verarbeitet und in einen Wandlungsprozess
geleitet. Im Karate wird, statt die gehemmte unterschwellige Aggressivität und Wut
weiter zu verdrängen, durch die gezielte Körpertätigkeit – vor allem durch die Kombination von Bewegung und Atmung – die Aggressivität zur ursprünglichen Quelle
der Energie zurückgeführt, wo sie als Urkraft erlebt werden kann und durch den
Wandlungsprozess zur Selbstentfaltung führt und zum Aufbau eines stabilen
Selbstwertgefühls.
- Aggressivität wird in ihrer umfänglichen Bedeutung erlebt: Begegnen – sich wahrnehmen in der Begegnung – dem anderen begegnen – das eigene Durchsetzungsvermögen
wahrnehmen und entwickeln – Selbstbehauptung; ohne den anderen annullieren zu
wollen, weil sonst die Möglichkeit der Auseinandersetzung verloren geht und damit
die Möglichkeit der Selbstentwicklung. Dadurch wird das Integrieren des eigenen
Schattens erzielt, denn man lernt, den „inneren Feind“ zu bekämpfen.
Denn wird Karate:
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a. zum Ort des Erlebens des kämpferischen Aspekts als Uraspekt des Lebens, und
dabei wird das Kämpferische in Schöpferisches umgewandelt.
b. zum Ort des Kampfes gegen die inneren Monster: Angst, Zorn, Trägheit, Bequemlichkeit, destruktive Impulse, der „alles sofort“ - und der „alles oder
nichts“ – Einstellung.
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Diese Ziele werden dadurch erreicht:
o Indem man die Regeln und die zum Teil als „zu rigide“ empfundenen Strukturen akzeptiert, werden auch die Grenzen für die „wilde unkoordinierte Beweglichkeit“ akzeptiert.
 Die äussere Regel: Es gilt, ganz präzise Regeln und Strukturen zu beachten, die zum Ritual werden.
 Regeln, die Karate innewohnen: Die festgelegten Bewegungen sind das
Ergebnis langer Beobachtung und des Studiums der Bewegungen in der
Natur und der Struktur des Körpers. Die Bewegungen im Karate dienen
dazu, die alten oft ungesunden Bewegungsmuster zu zerstören und
nach dem Naturmuster neu aufzubauen. Rechte und linke Seite des
Körpers trainieren, hoch und tief, lang und kurz, schnell und langsam,
kräftig und sanft – das ist der Weg, auf dem sich das Körperbewusstsein entwickelt.
o Eine ganzheitliche Selbsterfahrung:
 Nicht nur das Körperliche wird trainiert sondern auch Seele und Geist.
 Das Seelische: Durch die Wiederholung der Bewegung wird erreicht,
„die Bewegung zu spüren“; das Geheimnis, die körperliche Energie zu
erleben, eine sich selber gehörende Energie, die eigene Energie, als Vitalität und Potential.
 Tiefere Konzentration entwickeln, d.h.: Nicht nur die Fähigkeit, dabei
bleiben zu können, sondern auch zu lernen, die eigene Energie zu spüren, zu beherrschen und zum Ziel zu bringen.
 Aufmerksam werden ist ein weiterer wichtiger Aspekt, d.h.: Aufmerksam wahrnehmen, was die Sinne unabhängig vom Bewusstsein aufnehmen. Statt sich ablenken zu lassen, die Wahrnehmung am trainierenden
Ich anbinden und in konzentrierter Kraft zum Ausdruck bringen.
o Mit geistigem Inhalt:
 Man entwickelt eine naturnahe und ganzheitliche Lebensauffassung.
 Das Leben wird in seinem Wesen erlebt und man stellt sich einer positiven Auseinandersetzung. Es ist simuliert, und so erlebt man den Lebenskampf, wo es nicht das Ziel ist, den/das Andere zu zerstören oder
zu eliminieren, sondern es ist der Kampf gegen die inneren Monster
(Angst, zerstörerische Wut, Passivität, Bequemlichkeit usw.)
 Das Ziel ist es nicht, über die anderen zu siegen, sondern über sich selber, über die eigenen Schatten zu siegen.
 Das Ziel also ist die eigene Entfaltung. Der Weg ist das Ziel.
Dadurch wird ein gesundes und ganzheitliches Selbstwertgefühl entwickelt.
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