"dramaturgie" 01/92 - Dramaturgische Gesellschaft
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"dramaturgie" 01/92 - Dramaturgische Gesellschaft
dRAMATURg 10 JAHRE THEATER AN DER RUHR FESTIVAL -INFORMATION DASWIEDERVEREINIGTE THEATER IN EIGENER SACHE Nachrichten der Dramaturgischen Gesellschaft Nr. 1 I 1992 • INHALTSVERZEICHNIS Seite In eigener Sache 3 10 JAHRE THEATER AN DER RUHR: Die Provinz des Menschen Ulrike HaB 4 "MENSCH ALS SCHAUSPIELER" Anmerkungen zu Odipus Fritz Schediwy 8 BECKETI FESTIVAL IN DUBLIN Michael Erdmann 17 Information zum lnternationalen Samuel Beckett Symposion in Dusseldorf 1993 24 Einladung zur Begegnung mit Joel Jouanneau im lnstitut Franyais Patricia Lebouc;Kiaus Gronau 25 Information zur Bonner Biennale 1992 I Neue StUcke aus Europa 27 FiT (Frauen im Theater) Sprengsatze des lmaginaren I Symposium 1991 Vorankundigungen 1992 und1993 Barbara Scheel 29 FESTIVALKALENDER 32 Nachrichten der Dramaturgischen Gesellschaft: Protokoll der Mitgliederversammlung im November 1991 ~assenprUfungsbericht Uberlegungen aus der Debatte zum Selbstverstandnis der dg Bilanz 1991 Presseecho auf die Jahrestagung 1991 und auf den Theaterreport: "Die Situation der Buhnen in den neuen Bundesliindern" DAS WIEDERVEREINIGTE THEATER Anmerkungen zur aktuellen Situation Gunther Ruhle 34 43 45 50 52 62 RedaktionsschluB des Nachrichtenbriefes 111992: 31. Miirz 1992 Redaktion: Birgid Gysi I Karin Uecker Abbiidungen auf den Seiten: 9, Robert Longo, THE FLY, 1986; 12, Robert Longo, DEATH AND TAXES, 1986; 14, Robert Longo, ARENA BRAINS, 1985; 15, Paul Klee, Schauspieler, 1923 Den Artikel von Fritz Schediwy entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Programmheft 22 des Theaters an der Ruhr zu Sophokles K6nig Odipus. Berlin, im April 1992 Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, auf der letzten Jahrestagung in Potsdam gab es verschiedene Anregungen, die inhaltliche und organisatorische Arbeit der Oramaturgischen Gesellschaft Ober die Aktivitat des Vorstandes hinaus auf einer breiteren Basis zu realisieren. Es wurde vorgeschlagen, ahnlich der Gruppe Frauen im Theater (FiT) Arbeitsgruppen zu bilden, die sich eigenstandig um einzelne Problemkreise und Themen bemuhen. Oiese Anregungen wurden auf der ersten Vorstandssitzung dieses Jahres aufgegriffen und zu der Oberlegung gefuhrt, in der dg Arbeitsgruppen ins Leben zu rufen, deren Initiative jeweils auf einzelne Teilbereiche der Theater-und Medienlandschaft zielen sollte. Oarin lage die Chance zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit vielen Fragen und zum Ausgleichen der mehrfach kritisierten "Schauspiellastigkeit" der bisherigen Aktivitat des Vorstandes. Oer Vorstand schlagt Ihnen vor, Arbeitsgruppen fur folgende Bereiche zu initiieren: 1. Musiktheater; 2.H6rspiel; 3.Medien/Fernsehspiel; 4.Tanz. Alle Mitglieder, die Interesse an der Arbeit einer solchen Arbeitsgruppe haben, sind gebeten, im BOre der dg eine Nachricht zu hinterlassen - neuerdings auch per Fax ( die Fax-Nummer ist zur Zeit mit der TelefonNummer identisch). Es ware schon, wenn der eine oder andere van Ihnen sich auch bereit fande, Leitungs-oder Koordinierungsarbeit in einer solchen Gruppe zu Gbernehmen. In Erwartung Ihrer Vorschlage und mit den besten GrOBen Klaus PierwoB 3 10 JAHRE THEATER AN DER RUHR Die Dramaturgische Gesellschaft bereitet fUr Oktober 1992 eine Werkstatt zum Theater Roberto Ciullis vor. Ulrike HaB DIE PROVINZ DES MENSCHEN Das Mulheimer Theater an der Ruhr feiert, ohne die zur Show aufgeblasene Geste des unermudlichen Rebellen, se in zehnjahriges Bestehen. Schon zeigen sich die Zuge eines neuen Aufbruchs. Das Theater feiert, wie man Geburtstage eben feiert: Man ladt Leute ein und bekommt Ge' schenke. Der "lnitiativkreis Ruhrgebiet" schenkt dem Theater an der Ruhr beispielsweise ein FestivaiTheater fur Europa - Entdeckungen, an de m sich das slowenische Nationaltheater Maribor mit Faust /, 11 und Hamlet sowie das Satirikon-Theater Moskau mit Genets Zofen beteiligen. Das Roma-Theater Pralipe wartet mit Shakespeares Othello auf (die Premiere muBte kurzfristig wegen Erkrankung eines Schauspielers auf den 27. November verschoben werden). Dieses einzige Roma-Theater in Europa ist zugleich die einzige Institution, die die aus dem altindischen Sanskrit stammende Sprache der Roma, das Romanes, auf einer kunstlerischen Ebene weiterzugeben versucht. Es wird vom Theater an der Ruhr seit Beginn dieses Jahres "beherbergt", nachdem es durch die Streichung seiner Subventionen im jugoslawischen Pralipe vor dem sicheren Aus stand. Durch die Initiative des Theaters an der Ruhr ist jetz~ erreicht, daB das Kultusministerium Nordrhein-Westfalen die Arbeit des Theater Pralipe kontinuierlich f6rdert. Eine engere Zusammenarbeit der beiden Theater, zu denen noch ein drittes aus der Turkei kommen soli, ist beabsichtigt. Alle internationalen Kontakte des Theaters an der Ruhr (vor allem zu Jugoslawien, Polen, Griechenland, der Turkeil basieren auf langjahriger Kenntnis der jeweiligen "Theaterlander" und ihrer .innovativen Theater. Manchmal sind es alte kunstlerische Freundschaften oder auch asthetische Verwandtschaften, was jedoch niemals die Ebene des Augenscheinlichen bedeutet, sondern vielmehr eine Verwandtschaft in der Radikalitat und Aufrichtigkeit des Fragens. Man kann diese langjahrigen Verbindungen des Theaters an der Ruhr zu den Theatern, die alie (oder zumindest fast alle) sudosteuropaischer Provinienz sind und die de m Mulheimer Publikum alljahrlich in Form kleiner Festivals vorgestellt werden, keinesfalls mit dem multikulturellen Gehabe der Berliner Provinz vergleichen. Wahrend es hier eher um den Yuppie-Standpunkt in der Kultur geht (Thema: Horizont-erweiterung zur Show der eigenen Weitlaufigkeit), geht es dem Theater an der Ruhr um einen Umgang mit der Fremde, der dem Fremden die Wurde belaBt. Eine der elementarsten, vielleicht derzeit die wesentliche Herausforderung fur Theaterkunst uberhaupt. Warum? Das Theater als Behaltnis von Burgersinn, der sich tagsuber arbeitsteilig in FleiB ubt, wahrend er sich abends zur gleichwohl 6ffentlichen Pflege seiner geistigen ldeale im Forum des Theaters zusammenfindet, tut sich mit dem Fremden schwer. Dem Mechanismus der burgerlichen Produktivitat entsprechend kann er das Fremde nur im i\ussch!uB, a!s Stigmatisiertes, -.vahrneh~e..-~ cder in der Einverleibung, der Integration, die den Tod des Fremden voraussetzt. Diesen Mechamsmus hat zuletzt Foucat:it 3!s d1e Doppelstrategie burgerlicher Gesellschaftsformierung immer wieder, gedul- 4 dig, beschrieben: bezuglich des Wahnsinns, der Krankheit, der Sexualitat. der Frauen. Das Theater, so k6nnte man hinzusetzen, hat diesem globalen burgerlichen Mechanismus des Umgangs mit de m Fremden bislang als maBstabgerechte Projektionsflache gedient. Mit einem endlos sorgenvollen Blick aut seine Publikumswirkung hat es einen Mechanismus ausgebildet, den Heiner Muller einmal, sich an Brecht anlehnend, in de m Satz zusammengefaBt hat: Das Theater theatert alies ein. Diese Ordnung der Dinge endet fur uns heute in einer professionellen Uniformitat, einer sanierten Gleichf6rmigkeit des Alltags, die niederschmetternd ist. So lite ausgerechnet das Theater eine winzige Chance haben, den Ariadne-faden nach drauBen zu spinnen 1 Was ausgerechnet das Theater dazu zu priidestinieren scheint, das ist seine angestammte Rolle als 6ffentlichkeitswirksamer Spiegel eines Burgertums, das sich sein nationalsprachliches Ideal buchstablich einbilden muBte, urn es als nationalstaatliche Vereinbarung in die Realitat entlassen zu k6nnen. Wenn heute die nationalstaatliche Idee (im Gegensatz zur nationalen) europaweit ihre historische Niederlage hinnehmen muB, ist es nicht von alien m6glichen Kunsten gerade das Theater, das, aus seiner Spiegelfunktion und seiner Kristallisationswirkung entlassen, einen alteren Teil seiner medialen Vereinbarungen aufsuchen muB- oder es geht eben gar nicht mehr? lm Theater handelt es sich heute urn einen ProzeB doppelter Freisetzung: entlassen aus den alten Vereinbarungen, steht es mit leeren Handen da. In derartigen Prozessen geht ein groBer Teil vor die Hunde und ein kleinerer Teil uberlebt in transformierter Gestalt. Von dieser transformierten Gestalt laBt sich nicht sagen, ob sie besser oder schlechter ist als fruhere. Es laBt sich nur sagen, daB sie die einzige ist, die uns ubrig bleibt. Sic her ist fur diesen sehr schmalen Grat, der da ubrig bleibt, der Umgang mit dem Fremden Kennzeichen und Prufstein. lhn muB ein Theater gehen k6nnen, das in Zeiten des allgemeinen Verfalls burgerlicher Grenzbildungen aut der genauso grundsatzlichen wie einfachen Wahrnehmung beharrt, daB "das wichtigste Problem, namlich der Mensch, ungel6st geblieben" ist, wie es Rahim Burhan ausdruckt, der Theaterleiter von Pralipe. Es geht um einen Umgang mit dem Fremden, der nicht in der Sackgasse der Einverleibung von Kenntnissen, Wahrheiten, Denkmiilern seiner selbst endet. Es geht darum, die Einsicht in die grundsatzliche Verlassenheit eines jeden mit der Beruhrung zu paaren, die eben nur jenseits des ihr eigenen Anspruchs aut Verwirklichung eine wirkliche Beruhrung ist. Als Einsicht und als Schmerz halt sich dieser Zusammenhang in jeder beliebigen, einfach in alien Liebesgeschichten bereit. Von ihnen wird sich die Menschheit bis zu ihrem letzten Seufzer ernahren, sagt eine Kennerin dieses Zusammenhangs, Marguerite Duras. Das Theater ist dem sogenannten wirklichen Leben ganzlich uberlegen darin, daB es den Schmerz aus der EinbahnstraBe des Unglucks zuruckzuverwandeln vermag in das, was er einmal war: ein Fest. Es ist der Ort einer spielerischen Regression, gleichzeitig aber auch eine Enklave in einer Welt ohne Mythos. Und mit de m Be griff der Enklave beginnen die Fragen an das Theater von vorn. Jetzt aber auf einer verscharften Ebene, die den wahrscheinlichen AusmaBen der Katastrophe der Moderne angemessen ist: Eine Enklave ohne Verbindung zur Umwelt ist zu ihrer eigenen Mumifizierung verurteilt, wie weiter also 1 Zu diesen Uberlegungen verfuhrt ein Theater, das seinen Umgang mit dem Fremden nichr zu etnem Thema rnacht, das gegen andere Thernen austauschbar ware, sondern zum Beweggrund seiner selbst. Das dte Spannung, als Fremder in einer fremden Heimat zu se in, aus halt als Wissen 5 urn die Unm6glichkeit jeglicher Ruckkehr, fUr immer. Und daraus Funken schlagt gleich jener kleinen Schar von unpopularen und gleichwohl volkstumlichen Freigeistern, zu denen auch der Dichter Jakob Haringer geh6rte, der kurz vor seinem Tod 1948 notierte: "Die in der Sehnsucht leben, wachsen zu Riesen. (... ) Das Erlebnis ist der Grabstein der Phantasie, schon deshalb flieht der Traumer oft die Erfullung seiner Sehnsucht." Man mag bei de m Wort "Erlebnis" stocken. Denn mull dem Theater nicht gerade darum zu tun se in, das unwiederholbare Erlebnis herzustellen? Wenn das Theater auf das Erlebnis hinarbeitet, urn es als seinen unverwechselbaren Reichtum zu prasentieren, muB es das Erlebnis indes verfehlen. Die im Voraus als unvergeBiich annoncierten Abende sind ihr Gegenteil. Die absolut unsinnige Parole vom Theater, das "immer live" ist, gib! als Besitz aus, was sich definitiv dem Besitz entzieht: die unvermutete Begegnung. Wie aber soli ausgerechnet das Unerwartete, dessen Eintritt (das Erlebnis) sich nicht berechnen laB!, zum Bestand eines Theaters werden k6nnen? Und urn die Feier eines inzwischen schon zehnjahrigen Bestehens geht es hier doch wohl gerade? Die Antwort ist einfach, aber schwer zu machen: indem ich nicht auf den Theaterabend abziele, sondern ihn produziere in Form eines "Bundnisses, das ich unterwegs mit all dem schlieBe, was ich hinter mir lassen muB" (Kiaus Heinrich). Die lnszenierungen des Theaters an der Ruhr sind, im besten Sinn des Wortes, Abfalle solcher Bundnisse, die unterwegs geschlossen wurden. Abfalle, die im Gegensatz zu quasi erfUIIten oder sogenannten gelungenen Theaterabenden sich eingraben in das Gedachtnis mit den Widerhaken einer in ihnen inkarnierten lebendigen Begegnung. Diese, und eben nur diese, erm6glicht das Erlebnis im Wortsinne: daB ich etwas erfahre, daB mir- im realistischen Passiv des Zuschauers- eine neue, noch nicht bewuBte M6glichkeit der Wirklichkeit in Erfahrung gebracht wird, die meine Wahrnehmung, wie geringfugig auch immer, verandert. Geburtstag hat also vor all em das Repertoire des Theaters an der Ruhr, das vierzehn S!Ucke zahlt. Kommt eine neue lnszenierung hinzu, muB eines der Stucke aus de m Repertoire verschwinden, denn na!Urlich sind den Aufbewahrungsm6glichkeiten Grenzen gesetzt. Eine der altesten, noch im Repertoire befindlichen lnszenierungen, Got! von Woody Alien, wird im nachsten Fruhjahr zehn Jahre all. Aber auch Buchners Dantons Tod- mit der fast schon legendaren Danton-Figur von Hannes Hellmann- ist noch zu sehen, oder die lnszenierung von Sartres Tote ohne Begriibnis oder der Kroatische Faust von Slobodan Snajder oder Handkes Kaspar, der Maria Neumann ist, die spater das Kiithchen von Heifbronn sein wird ... In der Pflege eines Repertoires dieser Artist nichts von der Sehnsucht nach einem Marmorhintern des Theaters zu spuren. Vielmehr schlagt sich darin ein bestimmtes Verhaltnis zum Gedachtnis nieder, dessen spezifischer Arbeitsweise man eine Chance einraumen m6chte: namlich als Medium des Erfebten zu fungieren. Vieles zum Verhaltnis von Theater und Erinnerung lieBe sich von hier aus prazisieren, das in jedem einzelnen Fall beginnen muBte mit dem Gedachtnis des Schauspielers. Punktlich zum Geburtstag ist im kleinen K61ner Verlag Scherrer & Schmidt ein Buch mit dem sch6nen Titel Das Abendfand versuchen erschienen, in dem die Autorin Erinnya Wolf Erinnerungs-s!Ucke zusammentragt, die viele Jahre dieses Theaters betreffen. Betont subjektiv gefarbte Erinnerungen an cinzelne lnszenierungen, Gespiachsfetzen, "aufgehobene" Zitate von Roberto Ciulli und Heimut SchMer, ein Aufsatz von Ulric1 Greb zur Musik in den Mulheimer lnszenierungen, ein wundersch6ner Text von 6 Gordana Kosanovic uber das Spiel von Lulu als einer "Seiltanzerin ohne Netz" aus dem Jahr 1986, in de m sie starb, Fotos (diese hilflosen Relikte). Die Bitte urn Rezension dieses Buches gab eigentlich den AnstoB zu diesem Artikel. Darin hin- und herblatternd, wird man nicht aut die Autorin, sondern auf das Theater verwiesen- und das ist eigentlich das Beste, was man von einem derartigen Buch sagen kann. Daruber hinaus deutet sich im Radius der erreichten Erinnerungsstiicke jedoch auch eine bestimmte Beschrankung an, die einem weit verbreiteten MiBverstandnis entspricht. Es betrifft das Verha~nis zum Mythos, zum "mythischen RiB", den man fur ewig halt, weil er so grundlegend erscheint. Alles scheint sich darauf abbilden zu lassen: der Geschlechterkampf, die Leiden an der Natur des Menschen, die verdrangte Sterblichkeit und die abendlandische Dialektik, wie sie sich im Satz niederschlagt Gott ist Gottes Teufel. Eine Wahrnehmung, die diesen engen dualist~schen Rahmen nicht verlaBt- und das geschieht se~en, denn dieser selbe Rahmen suggeriert auf fatale Weise enzyklopadisches Allwissen -, versandet in beliebiger Poeterei (wie das die postmodernen Moden vorfuhren) oder wird ein ereignisloses Theater herstellen. Das ist der Norma~all fUr die belesenen, kunstfertigen "moder· nen" lnszenierungen heute. Demgegenuber muB von der Endlichkeit all dieser Farbe, Stoffe, Kampfe, Geschichten und Bilder ausgegangen werden. Dies ist zunachst ein gedanklicher ProzeB, denn er spie~ sich am Rand der Unvorstellbarkeit ab. Von den naturlichen Ressourcen weiB man inzwischen, daB sie keineswegs unerschopflich sind. Ahnliches gilt fur den naturmythischen RiB, dem unsere samtlichen gedanklichen Materialien und Vorstellungswelten abgetrotzt sind. Jetzt wird ihnen der Wind der Geschichte aus den Segeln genommen. Sie reichen angesichts der neuen, technisch dominierten Anonymitat der Verha~nisse nicht mehr hin. Das Theater an der Ruhr veranstaltet (m it Unterstlitzung des Kultusministeriums NordrheinWestfalens, womit die Liste der Geburtstagsgeschenke vollzahlig genannt ist) ein Europaisches Theaterseminar Das Theater nach dem Verfa/1 der Geschichte (nicht offentlich), in dem es urn diese Fragen gehen wird. Fragen, die weniger beantwortet als zuerst geoffnet werden mussen, soli es fur das Theater uberhaupt eine winzige Chance geben, den Ariadnefaden, den es in der Hand ha~. nicht vorzeitig zu verspielen. Roberto Ciulli sagt: "Es geht auch darum, den Standort zu finden. Wir wissen nicht mehr, wo wir stehen, wir treiben ... Die eigene Sprache des Theaters mussen wir suchen ... Und naturlich mussen wir erkennen, daB der abendlandische Humanismus, die abendlandische Kunst nur ein Kapitel der Gattungsgeschichte ist. Eine Wissenschaft, Gentechnologie etwa, die uns bald alien kulturellen Wurzeln entbindet, hat sich !angst verselbstandigt. Wir miissen wahrnehmen, daB wir eine aussterbende Gattung sin d. Mutanten. Und wir mussen erkennen, daB das 'europaische Haus' daran mitarbeitet, kulturelle ldentitat zu zerstoren. (... ) Theater ist der verzweifelte Versuch, das Verschwinden des Menschen aufzuhalten." Eine Ausstellung im Foyer der Stadthalle Miilheim versammelt bis zum Ende des Monats Dokumente der zehnjlihrigen Arbeit des Theaters an der Ruhr. Literatur: Erinnya Wolf (Hrsg.). Das Abendland versuchen. Das Theater an der Ruhr. Schmidt und Scherrer Vertag. KlSin 1991. 155 Seiten, broschiert mit Abbildungen, 32 Mark aus: die tageszeitung vom 12. November 1991, Seite 15/16 7 Sphinx: Welches Wesen, das nur eine Stimme hat, hat manchmal zwei Beine, manchmal drei, manchmal vier und ist am schwachsten, wenn es die meisten Beine hat? Odipus: Der Mensch. Fritz Schediwy »Mensch als Schauspieler« Anmerkungen zu Odipus Miilheimer Theatertagebuch (9. 6. 91) - Vielleicht tritt Odipus a us dem Schattenreich des Unbewu!lten ganz unbefleckt hervor, ganz Lichtgestalt einer neuen Zeitrechnung. Den Mund voll und wund van einem jubelnden Gesange: ,Mensch!" Und kreiert so ganz unbewu!lt den ersten Schauspieler. Wahrhaftig, die Sphinx mit diesem Ruf, halb Vor·, halb Entwurf, gestiirzt zu haben, ist ein Schopfungsakt ersten Ranges. Odipus rief sich in den Focus, ins Rampenlicht eines neuen BewuBtseins. Wer fragt schon den Kiinstler, welchem Drang er folgt. Er fragt es si eh nicht. Oder erst ganz zuletzt. Wenn es zu spat ist, oder gerade noch friih genug? Was treibt ihn, sich in Frage stellen zu lassen und si eh zudem der Rede, sogar der Antwort verdachtig zu machen? Was treibt ihn ins Kunstlicht und la!lt ihn bei Tageslicht erblinden? Gott, sagt man, erschuf den Menschen. Aber das Wart ,Mensch" schuf sich der Mensch allein. Und alle anderen Worte. Und das Wart ,Licht" gehort dazu. Und die bliitenwei!le Haut der Kunst wird sich alsbald bevolkern. Mit Leibern, die wissen. I! Wart ist Form und Gefall, obwohl es sich der Mensch formte und fal1te, und daJ1 sich urn Hait zu bewahren, in Abgriinde begibt, die kein Mensch ermi!lt. Kein Widerspruch, aber ein Problem der Kunst. Ein Odipus-Problem. Et was benennen und auch aussprechen, das blutet. Die Menschheit ist immer noch am Ende. Sie vermag das Ratselwort ,Mensch" nicht zu begreifen und muJJ jetzt a us 8 !auter Ohnmacht alle Worte abschaffen. Was tat sie denn urn ihrer Herr zu werden? Hin und wieder spuckte sie ein paar Kiinstler aus. Aber aus ihnen gelernt hat sie nichts. Sie ist gerade dabei das Wart ,Natur" abzuschaffen. Sie wird auch das Wart ,Mensch" abschaffen miissen, entweder weil es ihr platterdings nicht mehr pa!lt, wie der ausgetretene Schuh, oder weil sich das Wart ,Mensch" schon aus freien Stiicken abgeschafft hat, nachdem es gewahr wurde, daJJ es van Anbeginn das falsche Wart gewesen ist. So steht die ,Menschheit" vor der Sphinx ,Zukunft" und kann deren Ratsel nicht losen. Wie wird die Formellauten? Gleichwie. Die Menschheit wird, wenn die Sphinx Zukunft bezwungen, und die neue Gegenwart eingetreten sein wird, so vor sich dastehen, wie der schreckensbleiche Odipus sich einst gegeniiberstand. Ill (10. 6. 91)- Die Angst des Schauspielers, der ja sein eigenes Kunstwerk ist, und nur anlehnungsweise mit fremden Materialien arbeitet, vor dem Auftritt, vor der Endgiiltigkeit seiner Arbeit, ist Todesangst. Mit ihr ergeht an ihn der Auftrag, Tact zu iiberwinden. Der im Wesen seiner Kunst arbeitende Schauspieler kann nur dart anfangen zu ,spielen woes ihn nicht mehr gibt, als sei er bereirs gesrorben. (;;.,.ias er ais Privat.per~uu ohm::hin ist.) Es heillt zuweilen flapsig genug: ,Er spielt urn sein Leben~' Das stimmt, denn der Schauspieler spielt ja immer ein Leben nach dem Tode. Vielleicht ist die Angst zum Tode Triebkraft kiinstlerischer Arbeit iiberhaupt. Selbstschopfer sein und zugleich 11 • Selbstmorder. Odipus totet den eigenen Vater und verkriecht sich wieder in den MutterschoB. Tater zu sein und sein eigenes Opfer, das sind die Pole, wie Sonne und Mond, zwischen denen sich ein m6rderisches Kilnstlergltick vollzieht. IV Odipl1S zeugt und empfangt vom eigenen MutterschoB seine Kinder, Geschopfe und Werke. Als wolle er sich immer wieder selber neu erzeugen, als wolle und k6nne er nirgendwo aus seiner Ha ut. Es heiBt, er handle ahnungslos. Der Schauspieler schafft sich in seinen Rollen Zwillingsbrtider und -schwestern, schafft und variiert sich in Selbstbildnissen und -zeugnissen auf der Suche nach seiner eigenen Wirklichkeit, in der er die Welt vermutet. Vermuten muB, da er sich in seinem Kbrper, seinem Material Anfang ist und Ende. Es heiBt, er mache Kunst. So ahnungslos kann die Kunst nicht sein, daB sie den einen zum Stindenbock, Eke!, ja Verbrecher stempelt, wahrend sie den anderen durch si eh selbst legitimiert. Sie tut es auch nicht. Sie macht keinen Unterschied. Ftir sie sind beide, bdipus und der Schauspieler, Ktinstler und gehorchen ihrem Gesetz. Beide sind gleichermaBen Krtippel und Verbrecher. Oder auch nicht. Was aber ein wahrer Schauspieler ist, das freilich ist eine andere Frage: Eines hat Odipus begriffen, ahnungslos oder nicht, daB Menschenfleisch eine Maske ist, denn eine Frage ist die Maske der Antwort. Auf der Suche nach dem ,Blutschander" stellt Odipus die Fragen. Er, der Antwortgeber, der die Sphinx fallte, ist nun selber Sphinx, die die Stadt verpestet und fragt. Under weiB genau, daB wiederum nur er die Antwort geben kann, und weif3 vor allem, daB er die Antwort ist. Ahnungslos oder nicht, ist er auf dem besten Wege, selber Kunst zu werden. Der Schauspieler arbeitet vor, zwischen und auf inneren Spiegeln. Darum die besUindige Sorge, ja Furcht, inzestiC.lses Leben sei nicht lebensfahig. Der Spiegel an der \\'and tut ihm einen zwar wichtigen, aber erst vorlaufigen Dienst und Gefallen. Der Spiegel an der Wand ist ihm nur eine erste, wenn auch unumgangliche Tlir, und er mil3traut ihr stets. Nur das innerste Spiegelbild zahlt. In ihm spiegelt sich der Schatz, den es zu heben gilt. Hier lager! der Staff, der den Schauspieler erst rechtfenigt, und nur, wenn er fiindig wird. Der Schauspieler geht buchstablich den ,Untergang". Unten gehen und oben erscheinen. Nur die Geister der Toten vollbringen dieses Kunststtick. Und warum sehnt sich der Schauspieler, ftihllose Marionette zu sein? Weil er, in Fleisch und Blut, leibhaftig bereits die Marionette des Todes ist. Und warum liebt bdipus lokaste so liebesleidenschaftlich und unbedingt? Begegnen sich ihre Blicke, ergltihen ihre Leiber wie Erdinnereien. Sie lieben si eh im anderen selber. Also doch Liebesunfahigkeit? Dann ist diese Liebesunfahigkeit ein Gipfel der Liebeskunst. Odipus bringt sein Bestes, auch seine Lust dorthin, van wo er die Gaben empfing. Er bringt sie nach Hause, in die Schmiede, an die Scheidegrenze, der Prorte zwischen Tod und Leben, an den Spiegel, der das Leben als Spiegelbild des Todes ausweist. Nur dort wissen sich diese Gaben ihres vollen Wertes geschatzt, nur dort ist eine Vervollkommnung no eh mbglich. Nur Iokaste, die Mutter, karm seine erste und letzte Frau sein. Auch wenn Antigone, die Tochter, si eh spater dazu versteht dem greisen Vater beizuliegen, ist das kein Beweis ftir seine Untreue. !m Gegenteil, alles bleibt in der Familie. Odipus holt sich nur die gehobenen Schatze, die von ihm geschaffenen Geschopfe fur kurze Zeit ins eigene Fleisch zurtick, 9 urn ihnen den letzten Schliff zu geben. Der Schauspieler kann nirgendwo a us seiner Haut. Nur im ,AuOersichsein" des Spielens. Man sagt leichtfertig: Schauspieler spielen ja nur. Der Schauspieler spielt nie. Seine lebenslange Kindheit ist lebenslange Haft. Kein Ausbruch ist moglich. (U nd wenn Max Reinhardt meint, der Schauspieler sei jemand, der sich seine Kindheit in die Tasche gesteckt habe, so klingt das zwar recht htibsch und nach altvaterlichem Theaterprinzipal, aber eigentlich ist das, zudem aus dem Munde eines Theatermenschen, blanker Zynismus.) Das Wesen, das nicht erwachsen werden darf, das sich seine Kindheit jeden Augenblick erkampfen muO, provoziert den Bankroll nicht nur, sondern lebt ihn, lebt das Scheitern, geht einen Weg im Stillstand. Es ringt urn seine Unschuld, das heiOt offen, Offnung und Durchgang zu sein. Das Wesen des Schauspielers, das van Hautungen weiO und nicht nur damit beschaftigt ist, die Ha ut zu Markte zu tragen, bleibt lebensliinglich ungeboren. Es ist die schmerzlichste aller Kindheiten, die Kindheit als Vorgeschichte. Denn nur van da aus lassen sich Geschichten neu erzahlen. In diesem Sinne: ja, ,spiel en"! Odipus widerfahrt nichts anderes: nicht umsonst hat man ihm die Ftille durchbohrt. Er kann nicht gehen. Und wenn er das Riitsel der Sphinx lOst, indem er ,Mensch" sagt, spricht er die Figur, das Bild Mensch an. Da benennt einer eine Vision, eingefroren, eine Idee. Da meldet sich kein dynamisches Lebensprinzip zu Wart, sondern pure Erfindungsgabe und Einbildungskraft. Leidvoll errungene freilich (SchwellfuO). Odipus' Geniestreich ist gewissermallen ,kindisch", ja fast eine Pointe, ist auch tbricht, weil zufallig, ein ,dummer Zufall", ohne den fast kein Geniestreich auskommt. Nur dail er aus einem zum Plappern verdammten Kindermund kommt. Die Sphinx ist auf dem Sprunge. Er mull den Mund aufreillen, urn den drohenden Tod durch- und abziehen zu lassen. Und er tut, was das Kind tut, er benennt sich selbst. Gibt sich eine Rolle, der Hollenkreis der Kunst schliellt sich. Jetzt mull er Mensch sein, mull sich spielen und der Tragode trill auf. Und das Rollen spielen hort erst recht nicht auf. Weil er Theben van der Sphinx befreit, wird Odipus zum Konig bestellt. Er mull ihn spielen, ist bereits in der Spirale, denn die Holle durchmiOt nur, wer sich urn den innersten Kreis der Holle verdient macht. Der Tragode Mensch wird nicht eher aufhoren Mensch zu spielen, bis er des Ratsels LOsung entdeckt zu ha ben meint, auch wenn dabei die Welt in die Briiche geht. Das Komischste am Tragoden ist, dail nur er nicht bemerkt, wie ftirchterlich er dasteht, wie jammerlich er die Rolle Mensch und die RoUe Konig spielt. Der Konig Mensch weill immer noch am Schlechtesten iiber seine Untertanen, die Menschen, bescheid und wird sich iiber den Weltuntergang hinaus den fatalen Glauben an die eigene Unschuld bewahrt haben. V (13. 6. 91) - Odipus ist kein Wissenschaftler, oder nur soweit, als die Schauspielkunst ein Zweig der Archaologie ist. Seine Forschungsarbeit ist Rollenarbeit, wie die des Schauspielers der in seine Rollen einsteigt und am Ende selbst am meisten staunt, was aus ihm geworden ist. Und sich schuldig bekennen mull, falls er an seiner Rolle scheitert, wie etwa Dr. Jekyll als Mr. Hyde. 10 Leben heif3t nicht zuletzt die Haut werd~n, in der wir stecken. Wir alle sind dieser Odipus, dieser Schauspieler ohne Regisseur. Ausgesetzt, unbehaust, heif11atlos. Odipus nimmt sich wortlich als Mensch, indem er zugibt, nicht zu wissen, wer und was er ist. Er begibt sich auf Heimatsuche, steigt in sich ein und hinab. Er grabt sich aus und versucht die unentdeckten, weiOen Flecke seines Subkontinents mit sich zu besiedeln. So steigt der unbehauste Schauspieler durch eine Rolle in die nachste hinein, weil er das Wart Mensch nicht begreift und sich das im besten Fall auch eingesteht, sehr wohl ahnend, daO ohne ein solches EingesUindnis Schauspielkunst gar nicht erst stattfindet. Und warum kommt der Verbrecher immer wieder an den Ort seines Verbrechens zurilck? Dieser Ort ist er selber. Er sucht sich auf und heim, urn zu erforschen, was und wer in ihm das UnfaObare begeht. VI Wenn Odipus in Kolonos den eigenen Tod als Metamorphose am eigenen Leib erfahrt, als klinstlerischen ProzeO, als eine Offenbarung der Schauspielkunst, dann ist in Kolonos ein Immer geschaffen, ein Immer der Kunst. Wenn Sterben der Gipfel der Schauspielkunst ware, ware das fleischlose Skelett der gewaltigste Schauspieler, da es in seiner absoluten Nacktheit die wahre Maske des Menschen offenbart, hinter welcher der Mensch erst wirklich zu entdecken und zu erfinden bliebe. Schauspie!kunst also, als die Kunst der lebenden Wiederholung, als eine Kunst der Fleischwerdung und Wiedererweckung. Dann ware das Thc:uer immer ein heiliger Ort. Und die wirklichen LiebeserkHirungen an den Menschen fanden wieder start. VII (15. 6. 91) - Eine Adresse. Mitten im Ruhrpoll, zwischen Miilheim und Duisburg treibt, einer Oase gleich, ein Fetzen grtiner Lunge herum und schweiJ3t Hauserreihen zusammen, die immer noch nach Maloche duften. Und zu allem Oberflull, als wolle man sich ein Stuck vom Paradies unter die industrieverdreckten Fingernagel reiJ3en, ein Zoo. Eden im Ruhrpark, bewassert vom emsigen Rinnsal der Ruhr und den kloakigen Sommerregen, die in diesem Jahr den Juni verdunkeln. Platanenallee, Akazienallee heiOen da die Wege. Platanen, Akazien vermochte ich bislang nicht zu entdecken. Trotzdem ist einem hier, wie durch ein Wunder, urwaldlich zumute. Ein Rest An fang mitten im Ende, \vie vergessen. Ein groJ3es Auge hat hier eine Trane verloren, die Erinnerungen wuchern laBt. Und hier, tatsachlich, ein Theater. Wie die innerste Kammer des Labyrinths, hangt es, wie durch ein Wunder, an der Nabelschnur endloser Echos, am Klangfaden vom vormaligen Bocksgesang. VIII Man muJ3 sich das vorsteller:: da steht so ein GernegroJ3, so ein Winzling vor dem riesigen Drachen Sphinx und sinnt. Und ist noch ganz bedrohnt vom Ratsellaut aus der bestialischen Bauchtiefe. Da sagt das Mannlein plotzlich: Mensch. Schleudert dieser Urnatur so eine schmalbriistige, einsilbige Antwort zuriick, als war's das Selbstverstandlichste van der Welt. (17. 6. 91)- Das Echo dieser zittrigen Stimme beschallt und bevolkert immer noch unsere Erde. Also: lauschen wir, schiffen wir uns ein, schwingen wir uns in die Ohrmu- scheln und lassen wir uns auf Schallwellen heimtragen! Zurtick in den Kindermund der Menschheit, aus dem die selbstbewullte Stimme sprach. Hinein ins Labyrinth, in den Ur- und lrrgarten, in die Unterwelt unseres Bewulltseins. Wir werden staunen, wenn sich aus dem Rund eines sol- chen Mundes das steinerne Rund einer Orchestra formt, und hinter aufklappenden Zahnreihen, der zungenrote, zungensamtene, immer und ewig verheillungsvolle Thea- . tervorhang. IX Vermaledeites Fleisch, verdammtes! Hangst uns am Ske!ett und gaukelst uns so etwas van Ewigkeit vor: schabiges Kosttim. Also: kein Kosttim! X (18. 7. 91)- Und selbst wenn sie gestor ben sind, sie versam- meln sich noch heute in der Unterwelt: Laios, lokaste, Antigone, Ismene, Eteokles, Polyneikes, Kreon und Teiresias, Faktotum und Hausfreund. Sie sind sich treu geblieben und halten ewigen Familienrat. Die Familie Mensch, morderisches Geschlecht van Versagem, tafelt hier unten, als sallen sie noch an der Festtafel des Le bens. Was ha ben wir denn falsch gemacht, fragen sie verdutzt und spielen aus !auter Verzweiflung und urn sich die Zeit zu vertreiben, an der sie sich allesamt versiindigt haben, das altbewahne Morderspiel. Suchen den Schuldigen, der ihnen einc seiche Verdammnis bescherte. Riihren geniilllich in ihrer verwesenden Familienchronik. Und Odipus tanzt an. Da delektieren sie sich an der Ohnmacht des Menschenfleisches, wie sich der Pobel seit je an Gladiatorenkampfen verlustierte, oder die Christenheit an der Passion ihres Heilands. So lallt die Gesellschaft den Kiinstler als Blutegel antanzen, der ihr das verseuchte Blut abzapft, und der stellvertretend an ihrer Pest krepiert. XI (19. 7. 91)- Schlaf sei nicht nur dein Heilsbringer, dein ge- strenger Lehrmeister sei er. Er fiihrt dich deinem Doppelgtinger zu. Wer das sei? Nun, wer sonst, als dein traumen- des !eh. Eines deiner besten lchs, das bei bedingungsloser Hingabe und Ohnmacht, Denken und Fuhlen, Vision und Wirklichkeit zu der hellschauenden Kraft verschmilzt, fiir die deine sogenannte Realitat nur Folie und Handwerkzeug ist. Traum, das ist eine greifende, grabende Hand, Schatzgraber, Totengraberhand, die unermudlich den Brunnen der Zeit aushebt. Heimwehhand, langfingrig, die nach Ursprtingen tastet. Eine Hand wie ein Full. Unentwegt befragt, begeht sie das bodenlose Geheimnis, wer du seist, woher du kommst. Befragt, begeht es nicht nur, ist bereits Teil des Geheimnisses seibst, ist schon Antwort, aber eine zungenlose. ist schon ein Schritt, aber ein spurloser, !aut- loser Geisterschritt. Und nichts und niemand vermag, auch nicht das ausgetiifteltste Elektronenauge, seine Spur zu sichern. 1st das nicht urn so erstaunlicher, als doch unsere Erde selbst ein Traumbild par excellence ist? Die schwebende, lichte, urn die eigene Achse sich drehende, blaue Kugel. Und nicht nur sie, inmitten des herrlichen Planetensystems offenban uns ein Traumgesicht, sondern alle Erscheinungen, die sie kreativerweise hervorbringt. Die Wunder sind nicht zu zahlen, aber sehr wohl realiter zu bestaunen. Und gabe es den Menschen nicht, wie und womit ware er zu entwerfen? Wie, wenn nicht anhand des verwegensten Traumes? Damit eben alles so sichtbar sei und zu bestaunen. Konnte man da nicht behaupten, dall wir und alles nur hingetrtiumt sind? Hingetriiumt van einer Oberragenden, traumbegabten lnstanz? Was bedeuteten wir dann, Traumgebilde selbst, im Schlaf einer solchen Riesin? Welchen Leidenschaften mull so ein hochfliegendes Wesen unterliegen, wenn es uns so deutlich trtiumt, daf3 wir uns so- gar als Realitat begreifen dtirfen? lst es denn gar so unwahrscheinlich, dall wir nicht vie! mehr waren, als vori.ibergehend zu Leben erstarrte Visionen einer umgetriebenen, verzweifelten Phantasie, die an uns die namli- che Frage stellt, wer sie sei und woher sie denn kame? Wir also, unsere Welt und das gesamte Universum, waren dann niemand anders, als ihr traumendes !eh, ihre in ihrem Schlafe traumende Doppelgangerin. Traume sind verschwiegene Treffpunkte. Dart suchen sich al!e traumenden Doppelganger, gehen bisweilen aneinander vorbei, bisweilen finden sie sich, aber vor allem erfinden sie sich gegenseitig in ihrer Not und Einsamkeit. Und glauben wir ja nicht, dall wir in einem traumlosen Schlaf nicht auch trtiumten. Was wir r.raumlos nennen, ist nur die Begegnung mit dem Geheimnis selbst. Eine solche Begegnung hat sich dann aber so tief verschleiert, dall nicht einmal der Traum ihr ein Gesicht anhaben kann. So folge denn deinem Meister Schlaf hinunter zu deinem Doppelganger und in den traumenden Mund. Sorge nicht, er ist allzeit fUr dich da, halt allzeit fUr dich Traumwache, denn einer van euch beiden schlaft und traumt ja immer. Brich das Siege! der Verschwiegenheit und leihe ihm dei ne Stimme. Du brauchst dich dabei nicht einmal zu verstellen, es ist ja dein eigener Mund. Aber Vorsicht, die Sprache, die sich mit diesem Kulle in deine Stimme giellt, wird dich zerreillen, verbrennen und du wirst in Asche zerfallen. Scheue den Schmerz nicht! Dein Doppelganger wird es dir danken. Er schenkt dir, hingegeben, seinen Leib daftir. Es ist kein Leichnam, wie dir das, entfremdet der du bist, erscheinen mag. Es ist Zukunftsfleisch, Fleisch vom lebendigen Leib jenes immerwahrenden Monologes, m it dem dich dein Doppelganger bereits traumte, als du noch gar nicht geboren warst. Magst du dich, Schauspieler, zunachst auch noch gewehn haben, diesem Geschenk bist du endlich nicht entronnen. Geh, lalle dich schlafwandelnd van dir selbst zu jenen Treffpunkten entftihren, wo das Auge redet und der Mund schaut. Und melde dich uns Diesseitigen und berichte uns aus dem Jenseits heraus! XII (21. 7. 91)- Der Schauspieler erschaut sich im Spiegel nur als ein Material, als Fragment, als seine in Einzelteile zerstiickelten Moglichkeiten, die da noch nicht einmal ihm gehoren, sand ern dem Spiegel, in den er blickt. U nd der 11 ~..- r· ;"" .· ' ·/· b .; ""'" ··'!' wiederum riickt nur das heraus, was ihm abverlangt wird. Das ist fUr den Schauspieler ein heikles Unterfangen, der ja nicht alles zu sehen bekommt, was sich der Spiegel van ihm abschaut. Er ist auf sein beschranktes Auge angewiesen und das erfallt lediglich, was ein Blickwinkel ihm just erlaubt. Folglich mull der Schauspieler gewappnet sein, will, die er fiir seine jeweilige Verkorperung benotigt. Denn ein Spiegel ist ein zaher, ebenb;;rtiger Gegner. Auch Jawohl gezwungen, denn der Schauspieler mull sie dem Spiegel abluchsen, mull dieser Aufzeichnungen habhaft werden, bevor sie Spiegelfleisch werden, in der Obszonitat der spiegelnden Verschwiegenheit erstarren und somit die Produktivitat ihrer Unschuld verloren haben und fUr den Schauspieler nicht mehr zu gebrauchen sind. Und wie sonst sol! das geschehen, wenn nicht durch ein Betrachten. Freilich durch eine gezielteste, eine zu aller Kunstfertigkeit entschlossene, sich Durchblick verschaffende Betrach- er ist ein Schauspieler und ein exze. ·enter obendrein. Er tungsweise. lallt sich alles bieten, nimmt alle Gesichter, jeden Korper an und reproduziert mit einer Brillanz und Genauigkeit, die nichts auslallt. Er fiirchtet nur einen Konkurrenten, der ihm die Schau stehlen konnte: den Schauspieler umer den Spiegeln, der ein lnnenleben hat und dieses eigenmachtig widerzuspiegeln vermag. Er fiirchtet den Schauspieler Mensch. Nein: hier wird kein affischer Konkurrenzkampf ausgetragen, hier geht es auf Leben oder Tod. Urn allergeheimste Aufzeichnungen geht es, die sich der Spiegel ttickischerweise macht, wenn er ein Spiegelbild Der Schauspieler darf nicht Spiegelbild werden. Er mufl diese TOre aufstoBen. Er ist nicht Narzill (womit der Spiegel ja heimlich rechnet), der auf sich herein fie! und verendete. Er mull umgehend selber Spiegel sein. Das heillt, er wenn er die lebensnotwendigen Informationen ergattern aufnimmL Verzeichnet: und emziffen er doch das fiiigranste KOrperspie!! intimste Hautbekenntnisse, und er tut das so behende, das heillt sofort, im se! ben Augenblick nam- muB sein ohnehin schon fragmentarisches Anschauungsmaterial noch soweit zerbrechen, zerstreuen und zerbr6- seln, ins Skizzenhafte reduzieren, bis dem Blickfang seines Spiegelgegeniibers nichts mehr Ob rig bleibt, als das theoretische Schema, das nicht widerzuspiegelnde Stichwort, au f das der Schauspieler angewiesen ist. Die Aussage namlich, ob sich das jeweilig fUr seine Go5taliungsabsichten gefordene nackre Geriist, ob sich ein dafllr raugiicher Zusam- menhang, das blanke Skelett des zu belebenden Leibes sichtbar macht. Was bleibt dem Spiegel da anderes tibrig, lich, da sie ihm verrmen und zugeworfen werden. Und er als zu weichen. Angesichts eines nach innen gerichteten stiehlt die Lebenszeit, die der Betrachter ihm zu widmen Spiegels, vermag auch der hellste, trickreichste Meisterspiegel kein anderes Spiegelbild einzubehalten, als die ei- gezwungen ist. 12 ... ,., .. gene leere SpiegelfUi2he. . , .. Der Schauspieler vor dem Spiegel: Begegriung zweier SpieC gelbilder, wobei das eine, der Spiegel, scheinlebendig, das andere, der Schauspieler, scheintot ist. Nicll!s anderes wird da verhandelt, als daB sich eine Seele einen Kbrper erbettelt. Xlll (22. 7. 91)- Der Spiegel ist gewiB ein Werkzeug des Teufels. 1st Meisterdieb, ist ein perfekter Mbrder. Kein Gericht vermag ihn zu liberfiihren. Nicht einmal das Jlingste. Nur der Geblendete, der Blinde, Augenlose: der Hellsichtige. XIV (23. 7. 91)- Griechenland- Sommer. Diesmal, trotz Odi- pus, keine Besuchszeiten in den Freilichtmuseen der Antike. Oder gerade wegen Odipus. Denn diesmal HiBt man sich zu FUBen des Hl. Berges nieder: Athos. !m Grenzbereich zum geweihten Land der Mbnche, wo, wenn ich aus dem Hotelfenster schaue, ein paar Kilometer weiter und linker Hand, der Anfang vom Ende der Welt zum Greifen nahe scheint und somit ihr Neubeginn; wo das von der Sommerglut gepriesene Meer schon fast Weihwasser ist. Waschung und Hautung, zentimeterweise Abschied und Wiederkehr ware der Zweck dieses Aufenthaltes. Erholung als Er'Holung, denn vor 17 Jahren war ich zum ersten Male hier. Freilich lieWman sich schon damals von der Auserwahltheit dieses Bezirkes bestricken, aber man lehnte sich halt doch erstmal sehr scheu und mehr ahnungsvoll an die Wange seines auBerirdischen Zaubers. Inzwischen wein ich, daB ,Aullerirdisches" allerdings erderfahrener ist, als uns eine kleinhirnende Vorstellungskraft glauben machen mbchte. Es ist schon mehr als augenfallig, daB das Experiment Erde nicht ausschlielllich ihr eigenes Privileg ist. Sie macht ihre Erfahrung nicht an sich und mit sich selbst. Die AuBerirdischen sind mitten unter uns, nicht nur bier urn die Ecke. Und mitten unter uns Fleischanbetern beten sie das Fleisch der Erde an, aus dem mindestens eines der Gesichter geschnitzt ist, mit dem sie der uhrenlosen Zeit in die Augen schauen. Wozu die mUJlige Frage nach der Existenz eines hbchsten Wesens, wo doch schon unsere leidigen Geschmacksnerven begriffen haben, dall ein Tropfen Meerwasser zumindest so ahnlich schmeckt, wie eine unserer Tranen oder ein Tropfen unseres Schweilles. Wovon sollten solche Verwandtschaften, solche Schattenspiele denn sonst erzahlen, als von der Einsicht, dall der Mensch am Ende doch nicht fiir diese Erde geschaffen ist, oder die Erde fur ihn. Fur wen also dann? FUr wen bemliht si eh die stehende Zeit in dieses begabte, herrlich schbne und gleichzeitig so hallliche und bbse Gesicht? Vorausgesetzt sie tut es nicht sich selbst zu Gefallen und front dabei nur einer Laune. Aber selbst dann, fiir wen sonst als fUr die Aullerirdischen. Sind doch nur sie imstande, wenn liberhaupt, einen Sinn in dieser Verdichtung, in dieser splendiden Maske zu erblicken. nur in auBerirdischen, bizarren Physiognomien. Sie sind uns so zwillingshaft ahnlich, daB wir sie vor !auter Ichmenschherrlichkeit sogar libersehen, wenn wir ihnen begegnen. U nsere To ten sind es. Die To ten in uns, die si eh flir keinen Verwesungsprozell zu schade sind, die gerade in dieser Beweglichkeit sich ein Gllick der Vollendung abgewinnen kbnnen. Es sind die Menschen unter uns, die begriffen haben, daB diese Erde nur fiir solche geschaffen ist, die ihren Tod im Leben, und darum das Leben wirklich und lebendig leben. Solche ,Aullerirdische" mUssen nicht notgedrungen das monchische Gewand angelegt haben, das mir hier am Athos naturgemaB liberal! begegnet, urn zu erscheinen. MUssen nicht notgedrungen den Unmenschlichkeitsriten gehorchen, wie das einige grolle Heilige stellvertretend fur uns zu tun berufen sind. Solche Aullerirdische begnUgen sich damit, zu dienen. Und im Dienen erschliellt sich das tiefste Wesen der Kunst. XV (25. 7. 91)- Hier, zu FUJlen des Athos, vor 17 Jahren muB ich mich wohl in Europa verliebt haben, denn sie entfiihrte mich, von wenigen Sommern abgesehen, immer wieder in ihre Heimat. Hier tatsachlich, genauer gesagt auf dem winzigen Eiland Ammouliani, welches der Monchsrepublik vorgelagert ist, begann mein Griechenlandeifer, begann meine Affenliebe zu diesem Land aus Licht und Wasser. Und ich bilde mir ein, dall Prinzessin Europa's kuhverliebter Geist recht ungllicklich ware, wenn es ihm nicht gelange alle Jahre wieder, Narren wie mich zu entfiihren. Sie racht sich namlich, die liebliche Prinzessin von einst. Hatte ihr doch der stiernackige Zeus vormals ein Leides getan, sie ent- und verfUhrt. Und nun halt sie sich an uns Nachgekommene, indem sie uns nachgerade stumpfe Kuhaugigkeit anhangt, urn uns in dieser erdenklobigen Gestalt zu ent- und verflihren. Vor 17 Jahren also betrat ich griechischen Boden, betrat vielmehr griechische Erde (griechischen Boden betrat ich zum ersten Mal wohl schon, als ich ahnungslos Euripides' »Bakchen« aufschlug und auf der Stelle gezeichnet war), und seitdem frage ich mich alle Jahre wieder, wie und warurn es zwei Jahrtausende fertigbrachten diesen Gipfel einer Hochkultur vollig einzuebnen, so daJl, wenn man die Heutigen betrachtet, einem im Allgemeinen eine dumpfe, hoffnungslose, verschlagene Erdklobigkeit anfallt. Wenn man Griechenland als Wiege Europas liberhaupt noch erspliren will, halte man si eh an die Zikaden, die si eh ihr Blut aus dem Leibe singen, oder an den Olivenbaum, das Zwitterwesen, das je nach Windeinfall die Farbe seines Blattwerks wechselt. Nein·, besser noch begebe man sich ins Morgen- und Abendrot und unter die Sterngluten der Nacht. Dann allerdings schweben diese Landschaften, dann vermahlen sich Himmel und Wasser, und man weiB kaum noch, ob die losen Inseln nicht doch nur Wolken sind, die oben schwimmen. Dann ahnt man, warum dieses Land bevorzugt war, den trachtigen Stamm zu saugen, von VermOge von Augen, die nicht involviert sind in das Mie- dessen geistiger Frucht wir uns noch heute, weit tiber das nenspiel dieser irdischen Haut und gleichwohl a us ihr und durch sie atmen. Fur fremde Augen. Fur Geisteraugen? Welch ein TrugschluJl zu meinen, alles AuJlerirdische hau- blolle Staunen hinaus, zu sattigen vermbgen. Der Stamm ist morsch und faul. Als hatten ihn irgendwann Blitze geschalt und verbrannt. Ob si eh Zeus liber die 13 Folgen im Klaren war, als er sich in das Techtelmechtel mit der schOnen Europa einlieB? Und wenn, war ihm das vermutlich so gleichgii!tig wie nur irgendwas. Was ktimmert es einen Zeus, daB die Menschheit verblodet. Die Olympier wufiten die Grenzlinie zwischen sich und ihren UnterM tanen immer schon mit Akkuratesse zu ziehen und alle ihre Ausfliige ins Mensch- und Tiersein Jehrten sie sehr wohl, daB es sich bei solchen Eskapaden stundenweise zwar iiberaus irdischkostlich amtisieren lieB, daB aber aus Gottern Menschen, oder gar aus Menschen Gotter wurden, dieses LuftschloB fiel eigentlich ziemlich bald in sich zu· sammen. Die Gotter stiirzten nicht. Es stiirzte der Mensch. Abgrundtief. Unterdessen warten die Olympier, falls man sie noch so nennen darf, da sie verzogen sind und der Olymp verwaist ist, in unabsehbarer Ferne auf frische Nachkommenschaft, a us deren Reihen vielleicht einer berufen sein kbnnte, die Erde mit neuen Liedern zu besiedeln. Und aus Europa ist eine Hexe geworden. Verwandelt uns in Rindvieh und entfiihrt uns, nur urn des Entfiihrens will en, schadenfroh in ihre geschandete Heimat. Weidet sich an unserer kuhaugigen Bestilrzung, wenn wir entdecken, dafi dieser Kontinent, dem sie ihren Namen lieh, verOdet ist und abgegrast und lilBt uns bei Jebendigem Leibe verhungern. Europa ist europaleer, europastumm. Nur irgendwo zwischen Verbranntem, ein Klageruf: Oh, hatte ich nie das Ratsel der Sphinx ge!ost! Oh, ware ich nie Thebens Retter gewordenl Wessen Stimme war das? ddipus' Stimme? Oder eine von uns, a us rindslederner Haut, die sich erinnert, daJ3 sie einst v.'ie eine Menschenstimme geklungen hat? Nein, ich trage den Griechen von heute nichts nach, auch nichts den tibrigen ,Europaern" oder sonst einem Erdenbtirger, die sich so schnode an sich selbst verkauft haben. Und nicht darum besuche ich, kuhaugig oder nicht, dieses Griechenland, urn mich da wie in einem Freizeitpark zu ergehen, als war's das versunkene Atlantis, ich besuche es als Pilger. Wie einer, der al!jahrlich das Grab seiner Geliebten besucht. XVI (26. 7. 9!) Odipus, der Fremde? Fremd, wieso tiberhaupt? Warum heillt Theben ihn fremd, ihn, den SproB des Laios, ausgerechnet vom reinsten Blut der Labdakiden? Den am Blutsverwandtesten? Hat Korinth ihn so van Grund aufumgebildet, daB ihn nicht einmal die Nachsten, nicht einmal die Mutter ihn, wenn schon nicht erkennen, so doch wenigstens den eigenen Stallgeruch wittern? Aber nattirlich tun sie, tut sie es. Nattirlich ahnt die ganze thebanische Mischpoche mehr als sie zugibt. Und Odipus selbst? lst er nur so blauaugig? Freilich fur so ein ,Findelkind", das in fremden Handen aufwachst, sind solche Hande angestammte Heimat, sind Vater und Mutter. Aber begreift er sich nur darum als Fremden? Nein, Odipus ist sich fremd van Natur aus. Er ist ausgesetzt in den eigenen Leib. Nicht die Adoption, nicht das fremde Eiternhaus in Korinth hat ihn zum Fremden gemacht, sondern das grausame Urerlebnis, das Theben ihm bescherte, als es ihn in die Wildnis aussetzte, und eigentlich dem Tod. lhn somit als ein Totgeborenes verwarf. Darum ist Wanderschaft das ihm eingeborene Lebensprinzip. Er wandert 14 aus und hart in Theben nicht auf. Er wandert bis nach KoJonos und tiber Kolonos hinaus. Nur daB das eine Wanderschaft im Stillstand ist. Auf nackten Fiillen geht es durch den Wald seines eigenen Leibes, durch den eigenen Fremdkorper. (27. 7. 91)- Und fiir die Thebaner ist Odipus nicht darum der Fremde, weil er der Auslander ist. Vielmehr befremdet sie das blanke Auflenseitertum. Richtig, nur der Besondere vermag ja Ratsel van Sphingen zu ltisen. Der Besondere ist der Fremde. Die Gesellschaft apostrophiert Odipus als den Besonderen, weil sie sich den Auflenseiter nicht einzugestehen vermag, weil sie nichts so sehr fiirchtet wie die andere Seite, das Abartige, den Abgrund, das Jenseitige, alles, was sie besonders sorgfiiltig vergrabt, vermauert und tabuisiert. Und weil sie nicht begreifen kann, dafl jemand so nackt ist. Odipus ist nackt. Der Verstoflene, Ausgesetzte wird immer nackt bleiben. Noch im koniglichsten Gewand bleibt er es. Alles, was er tragt, ist provisorisch, bleibt Requisit und Kostiim. Ja, er ist so nackt, dafl sogar sein nacktes Menschenfleisch als ein Kostiim erscheint, welches er si eh vorlibergehend tibergeworfen hat. Nichts, worein er si eh kleidet, kein Gewand verleiht ihm die sogenannte ,MenschenwUrde". lhm haftet stets etwas Unglaubwiirdiges an, das Unverhaltnismaflige. Er ist eine Un-Personlichkeit. Das vermag eine Gesellschaft nicht zu integrieren. Das ist in hochstem Mafle verdachtig. Allenfalls benutzbar. Und Theben benutzt ihn. Wie man den Blitzableiter, den Narren benutzt. Theben bedient sich seiner beim Groflreinemachen, und nichts kann willkommener sein als so ein Idiot. Dafl es der Idiot der Familie ist, wird ihr spater noch machtig aufstoflen, aber vorlaufig wird sie si eh an ihm und mit ihm von Grund auf saubern und reinwaschen. Nur dafl sich die thebanische Familie bei aller Heilsbeflissenheit verkalkuliert. Odipus ist nicht ihr Mann. Dieser Fremde ist als Stindenbock denkbar ungeeignet. Odipus ist nicht der Schuldige. Wenn tiberhaupt, so ist es Theben selbst. Mehr noch, Odipus gibt es gar nicht. (28. 7. 91) Denn er handelt nur in effigie. Das Fremde in ihm, die Fremde in ihm, sie handeln. Der Jebendige Leichnam, das Auflerirdische, Verbannte, Ausgeschlossene, das NamenJose. Odipus heiflt er doch nur, weil ein Hirte ihn in Anbetracht von zerstochenen Ftif3en so nannte. Das ist kein Name, ein Klirzel vielmehr, ein Kennzeichen. Mit Identitat hat das nichts zu tun. Es ist ein Totenname. Und wirklich mull Odipus, dem Totgesagten, die Welt in die er ausgesetzt wurde, erschienen sein wie das Totenreich. Dieser Name ist also etwas Geliehenes, eine Rolle, die nicht er, sondern der Fremde, das dunkle, ratselhafte Unterbewufltsein fiir ihn spielt. Der Narr a us der Tiefe, versklavt und jederzeit gewtirtig, sich immer neue Leiber, neue Masken einzuverleiben, auf seiner Spurensuche, die nichts anderes ist, als eine unermtidliche Wanderschaft im Exil der Zeit. Der Schauspieler Tod, der Klinstler Tod, der rastlose Menschenforscher und -durchforster, der sich immer aufs Neue ausprobiert, sich in neuen Menschenskizzen versucht und sie verwirft, urn sich die eigene Unsterblichkeit 15 zu beweisen. stabieren, aber sie bewegen ihn nicht, sie geben keines Der Schauspieler ist dem Mond verwandt, der diese Erde mit fremden Augen, m it einem fremden, geborgten Licht ihrer Bilder ab, sie entfachen ihm kein Geftihl. Sie pinnen allnachtlich a us der Finsternis f6rdert und sie unter seinem und stecken an und in ihm, sperrig wie Kulissen. \V8.hrend der Text das sezierte Leichenfleisch nur mit \Vonen Kunstlicht bestaunt, verzauben und in Frage stellt. Der Mond, dieser Exilant, ist der Planet der Jungfraulichkeit, schminkt. und wenn man sich ihn mutigerweise genauer betrachtet, schlagen zu lassen, damit es Herz werde und Lebensspender? Und damit das Wort ,Atem" sich freimacht, urn Atem zu holen? Was der Schauspieler, urn sich aus dem Kerker der Wortkulissen zu befreieo, damit er endlich ins Leben hinaustrete? Auf das Nachstliegende kommen sie oicht. Aus Abscheu vor sich selbst. Aber sie werden sich nichts abpressen, solange ihr Beischlaf den anderen nur erpreGt. Denn heillt ,Beischlaf" in ihrem Fall nicht urn so mehr Schlaf, als sie, Schattenwesen beide, ihrer Natur gemall im Reich der Schatten fullen uod dem Tod zu Ftillen liegen? Genau donhin ftihn ihre Reise, so gleicht sein volles Gesicht dem Totenschadel. XVII (2. 8. 91)- Ein Rollentext ist auf den ersten Blick ein Gebilde von Buchstaben, Silben und Wonen. Er laGt sich lesen. Er lilGt sich sprechen. Er weist sich aus, ist verbindlich. lst auch Heimat. Er beschreibt, bezeichnet, bedeutet und verheif3t. Er ist wissend und unwissend. Er ist reich. Er hat Geist. Aber er ist ein Schatten. Er hat keinen Leib aus Fleisch und Blut, der ihn kleidet, kein Gedachtnis, das ihn memorien, kein Herz, in dem er schlagt. Er will entziffert, geauf3ert sein. Er will wahrgenommen und verkOrpert wer- den. Er will leben. Der Schauspieler ist auf den ersten Blick ein verbltiffend menschenahnliches Gebilde. Er ist a us Haut und Knochen und Fleisch. Er laGt sich anfassen, anftihlen. Er lallt sich wiegen. Er isr mef3bar. Er blutet sogar. Er ist so sch6n wie ein Mensch. Er isr begabt. Aber er ist nackt und hohl, blind und taub. Er ist unbehaust, heimat- und sprachlos. Er ist niemand. Er ist ein Schatten auf dem Zifferblatt der Sonnenuhr Zeit. Er ist nur als ob. Und tot. Er bedarf eines Gewandes, einer Textur, einer Biographie. Er bedarf der Rolle, Mensch zu sein, egal in welcher Gestalt. Er will leben. Leben wollen sie beidc, Text und Schauspieler. Eine Begegnung, die unausweichlich scheint. Aber Vorsicht, es ist die Begegnung zweier Schattenbilder. Jeder beansprucht flir sich sein eigenes, lebensttichtiges Fleisch. Jeder van ihnen wtirde es sich verbieten, abhangig oder Plagiat zu sein. Der Text brtistet sich, er sei unsterblich. Der Schauspieler brtistet sich, er verftige tiber das Geheimnis wiedergeboren zu werden. Sie bestehen beide auf ihrem Recht und ha ben unrecht zugleich. (3. 8. 91)- Sie wissen, dall es oh ne den anderen weder Auskommen noch Einkommen gibt. Aber bevor es zur unvermeidlichen Hochzeit kommt, werden sie verkommen mlissen, daf3 sie sich selber nicht mehr wiedererkennen. Schon hat sich der Schauspieler in guter Hoffnung das Hochzeitskleid des Textes tibergesttilpt, wahrend der Text sich Won ftir Wort in den putzstichtigen Leib des Schauspielers verbissen und ihn aufgefressen hat. Am fremden Federschmuck la ben sich beide und gleich verblendet, wissen sie nicht mehr, wer in wessen Gewebe eingegangen ist. Ob das Fleisch bereits schon Text oder der Text schon das Fleisch ist. Ein Leichnam vergewaltigt den anderen. Ein makabrer Geschlechtsakt, aber bei aller ungelenken Geschlechtslosigkeit nur ein urn so brllnstigerer. Leben schreien sie her- bei in ihrer Sprachlosigkeit und je brtinstiger der Schrei, desm bewu[ht:r wirU iilnc:n ihn:: Sprachlosigkeit. Sic sind noch im Entfermcsten nicht imstande, einer a us dem anderen Leben zu schlagen. Zwar hat der Text schon ein Maul, hat Augen und Ohren, aber im Maul sitzt eine tote Zunge, im Auge ein toter Blick und im Ohr kein La ut. Zwar besitzt der Schauspieler schon Wone, Si! ben und lallt sich buch- 16 Was mlif3te der Text Jeisten, urn das verdorrte Wort Herz so beschwerlich sie ihnen auch anmutet, weil sie in ihr nur Rtickzug und lahmende Verzogerung sehen. Donhin, wo alles aufh6rt oder vielmehr gerade noch nichts angefan- gen hat. In den Mutterscholl des Schweigens. lhm gehort alles Leben, Geist und Fleisch der Erde, ja die Erde selbst. Er empfangt ihr Erloschen und begltickt sie, gebarend mit seiner Musik. Und diese Musik des Schweigens macht die Musik des Lebens erst moglich. Hier im Untergrund, dem Sammelplatz aller verbleicheoden und sich wieder erinnernden Erfahrungen, traumt der Tod seinen Traum vom Leben. Hier, und nur hier gih es das Hochzeitslager der Kunst aufzuschlagen. In der Ohnmacht des Lauschens. Hi er vermahlt si eh das Geschlechtslose m it seinesgleichen. Es erkennen die Texte ihre Subtexte, greisenhafte \\'esen, die ihre Runzeln zu Gold spinnen. Zu Gold und Gltick ihres Wissens. In diesen Gesteinsadern fliellt das Blut des Schauspielers und speist seine wahre Natur. Subtext ist hinterlegtes Leben, das der Schauspieler nur leben kann, wenn ihm die Hebamme einer Panitur das Wort ftihrt. So wird der Text zur Biographic eines Fleisches, das sich. weil es noch nicht gelebt hat, leben !allt, und indem es den Schauspieler leben laGt, erwacht der Text zu oeuem Leben. Diese Liebesgeschichte ist die Geschichte einer Fleischwerdung, wie das jede Liebesgeschichte ware, auch wenn es den Anschein hat, daG es eine Fleischwerdung der unbefleckten Empfangnis ist. Es ist die Fleischwerdung als lebendige Wiederholung. Und so ein wiedergeholtes Lebeo ist eine Wiedergebun, eine Auferstehung a us dem Tode. In diesem Sinne ist die Schauspielkunst, wenn sie im Spiel des Schauspielers wirklich kulmioiert und es ihr gelingt, aus dem fleischgewordenen Won ein !eh zu sein, das heillt ein Leben, der fleischgewordene Mythos von der Auferstehung selbst. Es ist in seiner ereignishaften Erfiillung, wie jede tibernattirliche Erscheinung, ein fliichtiges Schauspiel, weil es just indem es sich offenbart, gezwungen ist, sein so mtihsam errungene~ StUck Seelenfleisch dem Tode prciszugeben. Denn nur der Tod ist dcr ~. .1dstcr, dcr dicsc zarten, zerbrechlichen Gebilde, weil sie dem Menschen nur ahneln, daftir aber seiner am Habhaftesten sind, am Getreuesten konserviert. Und somit hat auch die Kunst des Schauspielers teil an der Unsterblichkeit. Michael Erdmann SAMUEL BECKETT FESTIVAL IN DUBLIN 1991 'YES, PEACE, ONE ASSUMED, ALL OUT, ALL THE PAIN, ALL AS IF ... NEVER BEEN, IT WILL COME ·(HICCUP)- PARDON, NO SENSE IN THIS, OH I KNOW .. .' In Dublin gehen Uhren anders. Auf meinem Weg vom Hotel durch Stephens Green, die Grafton Street runter, am Trinity College vorbei, dann die O'Connel Street rauf bis zum Gate Theatre am oberen Ende, auf diesem taglichen Pilgerpfad, der eine gute halbe Stunde dauert, sah ich sechs groBe Uhren an 6ffentlichen Gebauden. Zwei davon standen, eine zeigte noch die Winterzeit vom vergangenen Jahr, die vierte zeigte eine imaginare Zeit, die fUnfte und sechste hatten - mit einer Differenz von einer Viertelstunde - sich darauf geeinigt, ungefahr mitzuteilen, wie spates sei. Es sind die Uhren aus dem vierten Akt von Leonce und Lena. Was feh~. sind die Warme spendenden Brennspiegel. Dublin im Oktober ist kalt, umstellt von Winden. Zuflucht bieten die Pubs. Hier gibt es keine Zeit, nur die zwei irischen Grundnahrungsmittel: Guinness und Gesprache oder, tagsuber, Stille. Im 'MULLIGANS', meiner writer-in-residence Zuflucht, hang en nicht einmal Lautsprecher. Bekanntlich war Dublin 1991 die Kulturhauptstadt Europas. Die Stadt, wie das ganze Land von chronischen wirtschaftlichen N6ten, Armut und sozialen Konflikten geplagt, trug nicht leicht an der teuren Burde dieses Ehrentitels. Zumal der kontinentale Kulturtourismus leichter den Weg in die angestammten Metropolen wie Paris, Berlin oder Rom findet, oder sich seit neuestem eher gen Osten orientiert. Als einen der letzten Kraftakte prasentierte Dublin nun im Oktober ein dreiw6chiges internatio· nales Theaterfestival. Neunzehn der rund zwei Dutzend Dubliner Theater beteiligten sich an die se m Kulturaufstand und prasentierten Tanz, Theater, Gesang und Anderes, unterhaltsam Undefinierbares: neben Produktionen aus Bolivien, Canada, Schottland, Frankreich, England und den Niederlanden z. B. eine spannend-mysteri6se Kabuki-Version des HAMLET und Katharina Thalbachs MACBETH vom Berliner Schiller-Theater, die hier vor vollem Haus und einem enthusiastischen Publikum im TIVOLI THEATRE spielten. Und selbstverstandlich jede Menge irisches Theater aller Sparten, mehrere Urauffuhrungen zeitgen6ssischer irischer Theaterautoren. Den gewichtigsten Block innerhalb dieses gesamten Unternehmens bildete vom l. bis 20. Oktober ein Samuei-Beckett-Festival. Sogar der irische Rundfunk und das Fernsehen beteiligten sich an dies em uber 40 Programmpunkte umfassenden Spektakel mit 11 Beckett-Stucken fur die se Medien und einer allabendlichen Fortsetzungslesung des Romans MALONE DIES, gelesen von Barry McGovern, dem Schauspieler, der in Dublin- spatestens seit seinen Erfolgen auf diesem Festivalvan vielen als legitimer Nachfolger des legendaren Jack McGowran angesehen wird. Die tragenden Saulen des Beckett-Marathon waren indes das TRINITY-COLLEGE und das Dubliner GATE THEATRE. StandesgemaB offerierte das TRINITY vor allem Gelehrtes, mehr oder weniger klug Belehrendes uber 'Becketts Ghosts', 'Who says what' oder, unvermeidlicherweise 'Women in Beckett· u. s. w. MuBig, die weltweiten professoralen Anstrengungen, deren Zahllang schon Legionen zahlt, aufzu-reihen. lhre Schlachtreihen sind schlieBiich in den Universitatsbibliotheken in aller Stille abschreitbar. Noch. 17 Es gab eher unangenehme Veranstaltungen, wie z. B. 'Remembering Sa m', ein- wie der umarmend-vertrauliche Tltel es zart andeutet- sentimentales M-Herren Treffen, bei dem Zeitgenossen, die nicht viel mehr miteinander verbindet, als daB sie IHN gekannt haben, das Leben Becketts zu pittoresken anekdotischen Standbildern einfrieren. Sehr en passant werden dabei intime Details ausgeplaudert, womit man dezent andeutet, wie nah man IHM stand, wobei sich selbst-redend alle derart in SEINEN Schatten stellen, daB dort ein merkwurd~ ges indezentes Gedrange entsteht; ein Verha~en, das naturgemaB auch am Rande des Festivals oft genug zu beobachten war. Aber, es gab eben auch h6chst erfreuliche Glucksfalle unter den TRINflY-Veranstaltungen, wie das Auftreten von Rosemary Pountney, einer englischen Schauspielerin, die viel Beckett gespielt hat und die am Jesus College in Oxford Literatur lehrt. Sie kann nicht nur mit behutsamer intellektueller Genauigkeit und Sensibilitat uber die Beckettschen Texte nachdenken und den Zuh6rer durch sie hindurch fuhren, sie vermag sie auch wunderbar suggestiv zu sprechen, und so denkendes, vergleichend- abstrahierendes und sinnliches Verstehen miteinander zu verschranken: "Es ist nicht allgemein bekannt, daB sich gerade in einer der lyrischsten Passagen von WARTEN AUF GODOT die Welt der spaten StUcke Becketts uberraschend w6rtlich ankundigt: Estragon All die toten Stimmen. Wladimir Die rauschen wie Flugel. Estragon Wte Blatter. Wladimir Wte Sand. Estragon Wie Blatter. Schweigen Wladimir Sie sprechen alle durcheinander. Estragon Jede fur sich. Schweigen Wladimir Sie flustern vielmehr. Estragon Sie murmeln. Wladimir Sie rauschen. Estragon Sie murmeln. Schweigen Wladimir Was sagen Sie? Estragon Sie sprechen uber ihr Leben. Wladimir Es geniigt ihnen nicht, gelebt zu haben. Estragon Sie miissen dariiber sprechen. Wladimir Es genugt ihnen nicht, tot zu sein. Estragon Das geniigt nicht. Schweigen Wladimir Es ist wie das Rauschen von Federn. Estragon Von Slattern. Wladimir Von Asche. Estragon Von Blattern. 18 Dies, so k6nnte man sag en, ist ein Vorschein jener posthumanen Welt der spaten Stlicke Becketts, in der, jenseits des Grabes, die Protagonisten zwar noch immer warten- indes nicht mehr auf Godot, sondern aut die Stille ihrer Ausl6schung. GLUCKUCHE TAGE zeigt noch eine Art 'lebenden Toten', die Erde umschlieBt Winnie im ersten Akt bis zu den Hiiften, steigt im zweiten Akt an, urn sie bis zum Hals einzuschlieBen. In den spateren Stlicken haben die Protagonisten offensichtlich einen Ort jenseits des Grabes erreicht: drei K6pfe rag en aus den Graburnen in SPIEL, in NIGHT ICH gibt es nurmehr einen im Raum schwebenden, stammelnden Mund, und mit TRITTE hat Beckett explizit ein 'Geister'-StUck geschrieben. Statt der Stille des Dunkels und der Vergessenheit erleiden diese Figuren einen Zustand verborgenen Lebens im Tod, in welchem das menschliche BewuBtsein dazu verurteilt ist, in endlosen Wiederholungen die Bedingungen eines kargen Lebens zu vergegenwartigen, in der offenbar fruchtlosen Suche nach dem erl6senden Ereignis oder nach dem Wort, das de m Ganzen irgendwie einen Sinn geben wurde." Wer das Gluck hatte, das von ihr gesprochen zu h6ren, dessen Sinne hatten etwas von Becketts 'spirits' erfaBt. Es ist ein fur Vortragsanlasse bearbeiteter Ausschnitt aus ihrem bislang nicht ins Deutsche ubersetzten Beckett-Buch 'Theatre of Shadows'. Der andere, fUr vie le der bedeutendere Austragungsort dieses Festivals, war das GATE THEATRE, am Rande des Stadtzentrums gelegen, dennoch nur zehn Minuten zu FuB vom River Liffey entfernt oder vom Neubau des Konkurrenzunternehmens, dem ABBEY, dem irischen Nationaltheater. Das GATE ist ein sympathisches Theater, mit einem sehr wachen, intelligenten und vor allem sehr gemischten Publikum. lm Gegensatz zum eher etwas konservativen Zuschnitt des ABBEY-Publikums, sind die Sitten hier etwas lockerer. Oftmals lagerten bereits eine Stunde vor Vorsteilungsbeginn Dutzende von jungen (und anderenl Menschen in den Foyers, urn fUr Karten anzustehen. Das Theater hat circa 300 Platze, nicht besonders komfortable, alte Kinositze, in denen man sehr tiel einsinkt, und fast alle Vorstellungen des Beckett-Festivals waren so ausverkauft, daB selbst bei Verwendung zusatzlicher NotstUhle vie le drauBen vor der Tur bleiben muBten. Das GATE prasentierte innerhalb von drei Wochen alle neunzehn Theaterstlicke Becketts, oft mit drei Vorstellungsbl6cken pro Tag; fUr ein Theater dieser Gr6Benordnung mit wenig technischem Personal, knapp besetzten Buros und relativ kleinem Budget eine organisatorische und logistische Meisterleistung, die es seine m derzeitigen Leiter verdankt, Michael Colgan. Er hatte die entscheidende Idee, lieB sie sich in Paris noch vom Meister pers6nlich absegnen und machte sich dann an seine Lieblingsbeschaftigung: Dinge zu realisieren, die eigentlich zu groB, zu teuer oder sonstwie zu unm6glich sind. Colgan, der selber nicht inszeniert, 'nur' leidenschaftlich gern Theater organisiert, uber Colgan: "Mein Verstand funktioniert sehr 'deutsch', mein Herz schlagt 'irisch', und mein Leben ist ein mit deutscher Prazision geplantes irisches Chaos." Bei 19 Produktionen, zumal in fur deutsche Verhaltnisse unglaublich kurzer Probenzeit hergestellt- 'full-length'-S!Ucke haben am GATE in der Regel eine Probenzeit von 4 Wochen- bleiben Qualitatsschwankungen nicht aus. Fangen wir mit den Flops an, den nennenswerten. HAPPY DAYS, inszeniert von Caroline FitzGerald war so einer. Obgleich eigentlich wed er wirklich schlecht inszeniert, noch etwa nur schlecht gespielt, fehlte der Winnie von Fionnula Flanagan der entscheidende esprit, dieses gerade bei diesem schwatzhaften StUck so schwer definierbare, noch schwerer realisierbare Geheimnis hinter de m lose dahinplappernden Wortschwall. Ein Grund fur diesen Mange! an Unaus- 19 sprechlichem lag im Alter der Schauspielerin, sie war fUr diese Rolle schlicht zu jung. Wer die Winnie zu fruh spielt, der hat in den Pausen statt beredten Schweigens, in welchem der Tod naherruckt, einfach nur nichts zu sagen. Ahnlich geheimnisfrei waren auch ROCKABY und KRAPP'S LAST TAPE. Maureen Potter, die • sich gelangweilt, des Lebens und ihres eigenen Textes uberdrussig, in ihrem Schaukelstuhl rakelte, verbreitete die Aura einer fetten, alternden Puffmutter. Und David Kelly, ein fernseh- und filmerfahrener Mann, der ein wunderbar zerkluftetes, zerknittertes Gesicht fUr den Krapp mitbringt, spielte ihn dann gnadenlos unmusikalisch, ohne Behutsamkeit und Aufmerksamkeit fUr die verschiedenen Tempi und die leisen hintersinnigen Pointen dieses Stuckes. Es ist bei diesen Stucken eigentlich immer die Unfahigkeit, im Schweigen - die englische Regie-anweisung heiBt 'silence'- mehr auszudrucken, darzustellen, in den Raum zu schicken als Textlosig-keit, die auch handwerklich gute und erfahrene Schauspieler an den Texten scheitern liiBt, oft ohne daB zu viele Zuschauer das uberhaupt genau merken; meist ist es doch so, daB schon die Gediichtnis-leistung einer Schauspielerin, die beispielsweise die Winnie spielt, hinreichend bewundert wird, urn einen zufriedenstellenden Applaus zu provozieren. Sport und Kunst k6nnen eben doch- und nicht nur hierzuland - viele Leute nicht mehr auseinanderhalten. Eines der StUcke, die solch mangelndem Differenzierungsverm6gen gleichfalls zum Opfer fallen k6nnten, ist NOT I. Die Buhnenanweisungen Becketts schreiben vor, daB von der Schauspielerin, die den Text spricht, nur der Mund zu sehen sein soli, zwanzig Zentimeter uber dem Buhnenboden im ansonsten v611ig verdunkelten Theaterraum. Der 1972 auf englisch geschriebene Monolog ist nicht gerade lang, knapp zehn Seiten in der deutschen Obersetzung, aber er ist trotzdem von der Hiirte und der gedanklichen Konsistenz eines Shakespeareschen Dramas. Under ist in der Tat mit seinen Wiederholungen, seiner Anfangs- und Endlosigkeit schwer zu behalten. Es gibt naturgemaB keine Geschichte, geschweige denn eine Hand lung oder Aktion, nur ein - so jedenfalls in Dublin atemlos schnell und aggressiv ausgestoBenes Lamento uber eine verlorene, ungluckliche Existenz, die so oft bei Beckett, mit dem Schrecken und dem schrecklichen Faktum der Geburt beginnt: "... winzig kleines Ding ... raus vor der Zeit ... gottverlassenes Loch ... keine Liebe ... davon verschont ... sprachlos ihr Le ben lang ... " Die Schauspielerin dies er Performance (inszeniert von Col m 0 Brian), die in ihrer radikalen Unsentimentalitat und Ruppigkeit groBen Eindruck auf das Publikum machte, war Adele King, die in lrland bekannter ist unter dem Namen 'Twink', eine Entertainerin und Musicai-Schauspielerin, die in Deutschland eher am Boulevard-Theater zu finden ware. Rosemary Pountney, die NOT 11976 und 1980 in Oxford gespielt hat und die auf dem Dublin Theatre Festival1978 auch die irische Urauffuhrung spielte, erzahlte mir, daB sie bei den Proben mehrmals fast in Ohnmacht gefallen ware, wegen des schnellen Sprechtempos, das zum Hyperventilieren zwingt. Von Pierre Chabert, dem franz6sischen Schauspieler und Regisseur, der auch unter Becketts eigener Regie in Frankreich gespielt hat und mit ihm befreundet war, gab es drei der 'kurzen· Stlicke zu sehen: OHIO IMPROMPTU, eine sehr ratselhafte, strenge und imaginativ beleuchtete Sze~.e; eine merkwurdig eitle, daher verschenkte lnszenierung von CATASTROPHE, die wegen der unglaubwurdigen Gespreiztheit der Figur des Regisseurs {Stephen Brennan, der bei Michael Bagdanov schon 20 einen Hamlet gespie~ hat) weder den t6dlichen Ernst, noch die nur aus diesem Ernst entstehende Komik fur diese Hinrichtungsszene aufbrachte. Chaberts dritte Arbeit, ROUGH FOR THEATRE 11, wie CATASTROPHE ein theaterasthetisch weniger heikles, weniger avantgardistisches StUck, in dem zwei Beamte einer imaginaren, van Kafka erfundenen Behorde die ldentitat und Lebensgeschichte eines stumm anwesenden Dritten erkunden rnussen, war, wenn auch kein Glanzstlick der lnszenierungskunst, so doch ein solide und zugig gespieltes Kabinettstlick, typisch fur die Beckettsche Verbindung van existentieller Ausweglosigkeit, lndolenz und Humor. Uberhaupt mull man diesem Festival unbedingt zugute ha~en, daB es die fUr einen KontinentaiEuropaer wahrscheinlich einmalige Gelegenheit bot, den aus dem Pariser Exil posthum heimgeholten lren Beckett in lrland, mit irischen Schauspielern und vor aliem zusammen mit einem irischen Publikum zu erleben. Denn es gibt zwei Dinge, die fUr das Verstandnis der Beckettschen Texte unabdingbar sind, und die man nur hier erfahrt: die ungeheure Musikalitat der irischen Sprache, ihren We~en und Existenzen erfindenden, tagtraumenden Duktus und Rhythmus, und den irischen Humor, rauh, direkt und die Vergeb· lichkeit menschlichen Lebens umarmend. Man stelle sich vor: BREATH, Becketts kurzestes, schwarzestes StUck, vorschriftmaflige 35 Sekunden lang in Dublin exekutiert, in denen der Theatervorhang aufgeht, um etwas dunkel umnebelten Unrat aut der Biihne zu zeigen, dieses in Deutschland · wenn uberhaupt gezeigt · nur 'Betroffenheit' ausl6sende Drama, brachte die Menschen in Dublin zum Lachen. Und zwar nicht etwa aus Scham oder Hame, es war ein intelligentes, verstehendes und sehr herzhaftes Lachen. Endlich hatte einer auf den Punkt gebracht, was das eine Theater und das andere, das Leben, wert sind: ein kurzes Gelachter und endenwollenden Beifall. Ein Marchen, erzahlt von einem irischen Narren, bedeutend nichts Nennenswertes, dennoch brauchte es ein langes Menschenleben, um auch das immer wieder beim Namen zu nennen. lm GATE verdankte man BREATH der Regisseurin Judy Friel, die u. a. David Mamets 'Edmond' in lrland urauffuhrte, und die fUr das Festival auch noch A PIECE OF MONOLOGUE und THAT TIME inszenierte, zwei sehr schone, stille, sehr konzentrierte Arbeiten, beide mit dem auch international im Filmgeschaft arbeitenden Schauspieler Stephen Rea, einer der vielen unglaublich begabten und beeindruckenden Schauspieler, an denen dieses kleine Land so reich ist. THAT TIME, das Beckett 1980 fUr David Warrilow geschrieben hat (wie ubrigens auch PIECE OF MONOLOGUE). gab es anderntags auch mit Warrilow selber im TRINI1Y zu sehen, sozusagen in der Originalversion, wenn auch nicht in der richtigen und fur die Wirkung des Stuckes absolut notwendigen sparsamen Beleuchtung. Es ist schier unglaublich und eine auflerst merkwurdige, paradoxe Erfahrung, wie viel von der Eigenheit, der Pers6nlichkeit eines Schauspielers sich in diesen so reduzierten, den Schauspieler auf ein Minimum seiner Ausdrucksm6glichkeiten reduzierenden Texten ausdrucken kann. AmEnde von THAT TIME schreibt Beckett: "... after 5 seconds smile, toothless for preference ... " Dieses letzte, nach M6glichkeit zahnlose Lacheln, ermudet und doch glucklich von den stumm erbitteten Erzahlungen der eigenen Stimmen, bei Stephen Rea war es ein handfestes proletarisches Grinsen. Ein Schlitzohr, kundig im Uberstehen eines katastrophalen Dauerzustands, an dem eh nichts mehr zu andern ist, lachte sich still ins Faustchen dariiber (armlos, rumpflos, nur noch vom Scheinwerfer fixiertes Antlitz), daB er die Tagesmaloche der Erinnerungsarbeit hinter sich gebracht hatte. Bei Warrilow hingegen, dessen ganzer Vortrag schon artifizieller, stimmlich-technische Virtuositat vorfuhrende Schauspielkunst gewesen war, zeigte das Lacheln am SchluB einen raffinierten, von seiner eigenen Raffinesse dezent und dennoch unverhohlen 21 entzuckten Entfesselungskunstler. Die weitaus meisten Theaterstucke, die in den letzten Jahren auf den Markt gekommen sind, hatten die gleiche Tendenz: Realismus. Es gibt diesen Realismus in der schlimmeren, deutschen Variante: Arbeitslosigkeitsproblematik, Alkoholismus, lmpotenz der Manner, Vergewaltigung der Frauen, Wiedervereinigung seit Neuestem; ubelster Naturalismus gepaart mit phantasielosem Gejammere uber das, was ist. Die anglo-amerikanische Variante ist nicht ganz so schwer zu verdauen, aber auf die Dauer und in der Masse auch langweilig. lmmerhin sind diese Stucke in der Regel besser und nach besseren Regeln geschrieben. Gegen alle diese Theaterstlicke, die sich dem realistischen Abbilden van gesellschaft· lichen Zustiinden am Beispiel van individuellen Schicksalen verschrieben haben, sind die spiiteren, die 'kurzeren' Stlicke Becketts eine iisthetische Revolution, die nicht eingeliist wurde;'wird und der ganze Realismus;Naturalismus ein reaktioniirer Ruckfall in literarische Produktionsweisen der Jahrhundertwende. Die spiiten Stlicke gehiiren in mehrfacher Hinsicht zu einem Theater der Visionen, zu einer Asthetik, die mit den fruhen Arbeiten van Robert Wilson mehr zu schaffen hat, als mit sonstigem deutschen 'Gegenwarts'-Theater. Bei Beckett werden mit den Mitteln des Theaters (Raum, Licht, Schauspieler; Erscheinen, Priisenz, Verschwinden) Bilder gema~. in iihnlicher Art und Weise, wie die Maler der Renaissance Bilder 'zu Ende' gema~ haben. Das bedeutete, die Bilder muBten eine ganz glatte Oberfliiche haben, nichts Pastos-Stoffliches durfte darauf noch zu sehen oder zu flihlen sein. Es war eine manieristische Technik, die das Materielle der Farben und der Leinwand transzendieren wollte, um ein reines, quasi immaterielles Bild zu zeigen. Nichts anderes ist auch der Sinn der oft so ausflihrlichen, langen und priizisen technischen Buhnenanweisungen bei Beckett, vor allem des spiirlichen Lichts: der Theaterrraum verwandelt sich in ein groBes, schutzendes, uraltes-uterales Dunkel, in dem, kaum wahrnehmbar, wie von Geisterhand e1n Bild vor unseren Augen erscheint. Die Auftritte und Abgiinge der Schauspieler · wenn es uberhaupt noch we le he gibt · sind lichttechnisch so raffiniert kaschiert, daB es sich mehr um ein Entsteherr und Verschwindenlassen von Bildern, denn um ein konventionelles Auftreten van Buhnenfiguren handelt. Nichts durfte mehr an die Materialitiit von Theater erinnern, nichts an die Konkretheit des Raumes, des Schau· spielers, seines Kiirpers und seiner Stimme. Auch die Ritualisierung und Verlangsamung von Bewegungsvorgangen dient diesem Zweck. So hebt sich z. B. in FOOTFALLS das qualende, langsame, abgezirkelte Gehen der Figur als ein reales Gehen bald auf und wird zur natlirlichen Existenzform einer metaphysischen Erscheinung, die auBerhalb der normalen Gesetze von Raum und Zeit lebt, eines Geistes eben. Noch extremer ist dieser Vorgang bei NOT I zu beobachten: der frei im Dunkel schwebende, wie rasend sprechende Mund entfaltet eine wahrhaft magische Wirkung. Das erste IMAGO, das 'reale' auf der Buhne, brennt sich sozusagen in die Netzhaut des Gehirns, der Seele ein, und lost beim Betrachter naturgemaB ein eignes in ne res Bild aus. Man kiinnte die Augen schlieBen, das Bild wurde bleiben. Nach einer Weile wird das eigene 'inner image' zum eigentlichen Urbild, was aut der Buhne zu sehen ist wird zum 'after-image' des inneren Vorgangs. Diese Kraft der Beckettschen Stucke, durch den rigorosen formalen Reduktionismus die subjektive Phantasie zu alarmieren und sie produktiv zu machen, scheint mir eine vorzugliche Waffe zu se1n 1m W1derstand gegen die allgegenwartige postmoderne Bilderflut und Beliebigkeitsasthetik. Diese Probieme hat allerdings das irische Publikum nicht. Hier hat man die Postmoderne noch 22 nicht entdeckt, das macht ja den Aufenthalt in diesem Land und Umgang ist seinen Menschen so ungeheuer angenehm. Dennoch wurden auch die 'shorter plays' mit grofler Spannung und Aufmerksamkeit verfolgt. Vor allem Lucy Bailey, die u. a. mit Peter Hall am National Theatre und an der Royal Shakespeare Company gearbeitet hat, brillierte mit zwei malizios-witzigen lnszenierungen von COME AND GO und PLAY. Aber die Renner des Festivals waren natlirlich die 'full length plays', also ENDGAME, inszeniert von de m Polen Antoni Libera, und vor allem der GODOT in einer fulminanten lnszenierung von Wa~er Asmus. Libera gilt in Polen als ausgesprochen orthodoxer Beckett-Kenner und Deuter. Er hat viele Texte ins Polnische ubersetzt, viel Beckett inszeniert und dabei mit prominenten Schauspielern gearbeitet, unter anderem auch mit David Warrilow in London. Aber seine Dubliner ENDGAME lnszenierung erschien mir doch zu orthodox, etwas zu rechthaberisch im Gestus. Barry McGovern spie~ einen proletarisch verbissenen Clov, die vom Korper abstehenden Hande fast immer zu einer arthritischen Faust verkrampft, die Stimme und Intonation durchgehend etwas zu la ut- wozu irische Schauspieler sowieso neigen - zu ruppig, eine insgesamt zu holzerne Figur, undurchlassig fUr weichere Momente von Trauer oder Melancholie. Nell und Nagg schienen aus einer giinzlich anderen lnszenierung zu stammen, oder besser aus gar keiner. Dart war einfach hemmungsloses Chargieren angesagt. Brillant allerdings und das Beste an diesem Abend warder Hamm von Alan Stanford, ein in lrland sehr bekannter und geschatzter Mann, der dem GATE schon seit rund funfzehn Jahren verbunden ist. Sein Hamm war eine leidenschaftliche bosartige, an ihrer eigenen Boshaftigkeit mit Genu[) zugrunde gehende, mithin also eine tragische Figur. Mit selbstbewuflter Prazision und Kalte beniitzte Stanford seine Neigung zu groflen opernhaften Gesten fUr seine Figur, verschaffte ihr so eine Aura gefahrlicher, brodelnder Unberechenbarkeit. Auch Asmus hatte diese Opernhaftigkeit zu nutzen gewuflt: In WAITING FOR GODOT, der Eroffnungspremiere und der uberranntesten Vorstellung des ganzen Festivals, spie~ Stanford mit Bravour, nur manchmal eben doch zu tenorhaft, den wahrscheinlich fiesesten Pozzo der Auffuhrungsgeschichte. Sadistisch, mafllos eitel, wiederum genuflvoll seine Herrschsucht und Uberheblichkeit zelebrierend. Barry McGovern als Wladimir und Johnny Murphy (der zur Zeit auch in Deutschland in dem Alan Parker Film THE COMMITMENTS zu sehen ist) als Estragon sind das beste Komikerpaar seit Stan und Ollie. Sie sind naturlich das Pfund, mit dem Asmus hervorragend gewuchert hat, er hat aus ihnen alles herausgeholt, was diese Schauspieler zu bieten haben: den schnellen Witz, den im Dubliner Dialekt grummelnden Humor, gott- und schicksalsergebene Hinterfotzigkeit und schliefllich die hier eben nicht zur Anmache verkommene Volkstumlichkeit. Man kann Asmus wahrlich nicht gerade nachsagen, dafl er, zumal im Umgang mit Beckett, ein experimenteller Regisseur sei. Daswill er auch nicht. Fur ihn ist das StUck eine Partitur, und wann und wo auch immer er Beckett inszeniert, er halt sich an die Partitur wie ein gestrenger, der Bedeutung seines Handwerks bewuflter Kapellmeister. Sein Dubliner GODOT, eine leichtfiiflige, zugleich musikalisch straffe Auffuhrung, in einem poetisch sparsamen Buhnenbild des irischen Malers Loui le Brocquy, beweist, dafl solche Zurucknahme des subjektiven Deutungs-willens mane he Stucke erst aufbluhen laflt. Das gilt nicht fur jedes Stuck und auch nicht fur jeden Autor, last not least auch nicht fUr jeden Regisseur. Es soil hier auch nicht einer neuen Asthetik der Aufrichtigkeit das Wart geredet werden. Aber mir ist nach dieser Auffuhrung nicht klar, warum Asmus 'seinen' GODOT nicht schon !angst an der Schaubuhne inszeniert hat. Aber auBer zwei jungen Schauspielern aus der Thalbachschen MACBETH-Truppe habe ich keine 23 deutschen Theaterleiter oder Dramaturgen in Dublin gesehen. Uberhaupt war das Interesse am BeckettFestival in anderen Liindern offenbar griiBer als bei uns. Es wird sich erweisen, ob das Festival geeignet war, den iisthetischen Sprengsatz Becketts, der eindeutig in der visioniiren Asthetik der 'shorter plays' liegt, zu zunden und ob diese Wirkung uber Dublin hinaus sich verbreiten kann. Gemessen an dem, was dem GATE, seinen Schauspielern und Regisseuren organisatorisch und finanziell miiglich war, haben sie schon mehr als das Miigliche getan. SAMUEL BECKffi SYMPOSION 1993 PROJEKTBESCHREIBUNG Vom 15. - 17. Januar wird am Dusseldorfer Schauspielhaus unter der Gesamtleitung von Michael Erdmann ein INTERNATIJNAL£5 SAMuEL BECKETT SYMPOSON stattfinden; in Lesungen, Theatervorstellungen, Vortriigen und Diskussionen werden sich geladene Giiste aus dem In- und Ausland und das Dusseldorfer Publ~ kum auf eine konzentrierte Auseinandersetzung mit den Werken und der Asthetik des 1989 verstorbenen Nobelpreistriigers einlassen kiinnen. Dieser eher theaterbezogene Teil des Symposions wird auf ein Wochenende, von Freitag bis Sonntag begrenzt sein - endend am Sonntagabend mit einer vom WDR aufzuzeichnenden Podiumsdiskussion zwischen prominenten Theatermachern, Schauspielern und anderen Kunstlern und Literaten im GroBen Haus des DGsseldorfer Schauspielhauses. Vom 15. Januar bis l. Miirz wird in den Foyers des GroBen Hauses eine Ausstellung mit Werken von Dusseldorfer Kunstler gezeigt werden, die sich gleichfalls- mit ihren Mitteln und in ihrer je individuellen kunstlerischen Sprache- mit dem Werk Becketts auseinandergesetzt haben. An dieser Ausstellung nehmen sowohl Maler, Video- und Lichtkunstler, wie auch Bildhauer teil. Die Kriterien fur die Auswahl der Kunstler ergaben sich aus den iisthetischen Kategorien des Beckettschen Oevres und/oder aus inhaltlichen-thematischen Beruhrungen. Die im Oktober auszustellenden Werke entstehen im Zuge einer einzigartigen Kampagne, einer direkten und kontinuierlichen Begegnung zwischen Theaterleuten einerseits und Bildenden Kunstlern andererseits: Schauspieler gehen zu den KOnstlern in die Ateliers und lesen dort ausgewiihlte Texte von Beckett fOr die Kunstler. Die aus diesen Begegnungen entstehenden Bilder, Videos, Skulpturen etc. bilden die Substanz der Ausstellung. Es ist ferner geplant, die Ausstellung im AnschluB zuniichst nach Dublin, in Becketts Geburtsort, und danach nach Paris zu bringen, an den Ort, wo er einen groBen Teil seines Le bens verbracht hat, und wo er heute begraben liegt. Diese Ausstellung ist weltweit die erste Ausstellung von Bildenden KOnstlern, die sich zertral mit dem Werk des Nobelpreistriigers auseinandersetzt. 24 INSTITUT FRAN<;:AIS DE MAYENCE DRAMATURGISCHE GESELLSCHAFT Tempelhofer Ufer 22 1000 BERLIN 61 Sehr geehrte Damen und Herren, hiermit m~chten wir Sie zu franz~sischen Dramatiker und einer Begegnung mit dem jungen Regisseur Joel Jouanneau einladen. Das Treffen findet am 8. Mai 1992 im Institut Fran9ais in Mainz statt. Eingeladen sind Dramaturgen und Regisseure aus dem deutschen Theater, die sich ftir die franzosische Gegenwartsdramatik interessieren. Die Gesprache und Diskussionen mit dem Autor werden in franzosischer Sprache geftihrt. ,;:: -, Sie alle wissen aus Erfahrung, wie schwer es zeitgenossische Autoren im deutschen (und nicht nur im deutschen) Theater zur Zeit haben. Das gilt ftir neue, noch unbekannte Autoren aus dem Ausland in besonderem MaBe Von Verlegern hart man oft, sie sahen ftir diesen oder jenen ( "gewiB interessanten" ! ) Text leider keine Chance bei den Btihnen, die Theater weisen (statistisch beglaubigt! ) daraufhin, daB die Zuschauer wegbleiben, wenn ein Autor gespielt wird, der "noch keinen Namen hat". GewiB gibt es Ausnahmen. Die Stticke von Bernard-Marie Koltes sind bekanntlich bei den deutschen Theatern auf greBes Interesse gestoBen, auch einzelne wir z. B. Enzo Cormann werden gespiel t. Doch von einer "europaischen Offnung" kann im Bereich der Gegenwartsdramatik, jedenfalls was die Theaterpraxis angeht, wohl hochstens in Ansatzen die Rede sein. Neue Initiativen zur Begegnung und Information, die Herstellung von direkten Kontakten zwischen den Leuten "vom Fach" konnen so hoffen wir wichtige Schritte auf diesem Wege sein. Mi t Joel Jouanneau stellen wir einen j ungen franzosischen Theaterpraktiker vor, der sich als Autor und als Regisseur im Inland bereits seit geraumer Zeit einen Namen gemacht hat. Erinnert sei hier nur an den Erfolg seines Sttickes "Le Bourrichon" (Festival d' Avignon 1989), und an seine hochgelobten Inszenierungen von "Les enfants Tanner" ( Robert Walzer) wiederum in Avignon ( 1991). In seiner Doppelrolle als Autor-Regisseur ist er zugleich eine typische Figur innerhalb des heutigen franzosischen Theaterbetriebs. Auch zu den Saarbri.icker "Perspectives" ist er im Frtihj ahr dieses Jahres eingeladen ( mi t seinem Stuck "Gauche Uppercut"). Eines seiner Stticke liegt bereits in deutscher 'Obersetzung vor ( "Kiki, der Indianer" ) , tibers. Ala in Jadot, Verlag Hartmann und Stauffacher, Kl:iln), ist aber bisher hierzulande noch nicht aufgeftihrt. SCHONBORNER HOF · SCH1LLERSTRASSE 1l · 6500 MA1NZ · TELEFON [0 6131) 2317 26 ·FAX [0 6131) 23 5194 25 INSTITUT FRAN<;:AIS DE MAYENCE FUr das Treffen gefaBt : 10.00- 12.00 14.00-18.00 20.00-22.00 ca.22.00 am 8. Mai ist folgende Tagesordnung ins Auge Gemeinsame Besichtigung des Staatstheaters Mainz (fUr alle Interessenten) Diskussion der Dramaturgen und Regisseure mit Joel Jouanneau Offentliche Lesung des Autors und Diskussion Abendessen Das Institut Fran9ais de Mayence und der Verlag Hartmann und Stauffacher haben sich bereit erklart, an die Interessenten je einen franzosischen und einen deutschen Text des Autors zu versenden, die Kenntnis dieser Texte wird also bei der Diskusssion vorausgesetzt. Mit freundlichen GrUBen dJ? /r; '-""/ Patricia LEBOUC Directrice Kontakte Herr Dr. Klaus GRONAU Tel. 07251/ 821 50 Patricia LEBOUC 06131/ 23 17 26 - 28 SCHONBORNER HOF · SCHILLERSTRASSE 11 · 6500 MA! NZ· TELEFON [0 6131) 231726 ·FAX [0 6131) 23 5194 26 Neue Stiicke aus Europa 18. bis 28. Juni 1992 • Schouspiei der Stodt Bonn, Am Michoeishof 9, 5300 Bonn 2 • Leitung Tonkred Dorsi Roiner Mennicken • • Ruf (0228) 8208·253 Fox (0228) 8208·129 Auf Anregung von Schauspiel-Intendant Manfred Beilharz findet zwischen dem 18. und 28. Juni 1992 die erste BONNER BIENNALE statt. Neue StUcke aus Europa stehen auf dem Programm des Festivals, das von Tankred Dorst und dem Dramaturgen Rainer Mennicken geleitet wird. Es soll alle zwei Jahre ein unterschiedlich akzentuiertes Panorama der europaischen Gegenwartsdramatik aufzeigen - anhand von beispielhaften Inszenierungen aus den teilnehmenden Landern. Die BONNER BIENNALE versteht sich zuvorderst als Autoren-Festival. Bisher haben zwanzig Dramatiker/innen "Patenschaften" fUr ihre Lander bzw. nationalen Literaturen Ubernommen. Unter ihnen sind so prominente Autoren wie Vaclav Havel in der Tschechoslowakei, Christopher Hampton in England, Peter Turrini in Osterreich, Viktor Slawkin in RuBland, Lina WertmUller in Italien und Judith Herzberg in Holland - aber auch in Deutschland noch wenig bekannte Namen tauchen auf: Memet Beydur aus der TUrkei, Yvette Centeno aus Portugal oder Olafur Haukur Simonarson aus Island. Jeder Pate schlagt die nach seiner Einschatzung interessantesten neuen StUcke der letzten Jahre aus seinem eigenen Land vor. Die Biennale-Leitung sichtet und prUft die Vorschlage nach kUnstlerischen, technischen, organisatorischen und finanziellen Gesichtspunkten und ladt moglichst ein oder zwei aktuelle Inszenierungen aus jedem Land ein. In Ausnahmefallen handelt es sich urn Produktionen deutschsprachiger BUhnen, die bereits Ubersetzte StUcke aus anderen europaischen Landern herausgebracht haben. In der Regel werden Originalinszenierungen in der jeweiligen Landessprache mit SimultanUbersetzungen gezeigt. Ein Festival van SCHAUSPIEL BONN Gesomtleitung: lntendonl Dr. Monfred Beilhorz. Verwoltungsdirektor: Rolf Oltmanns 27 In offentlichen Gesprachsrunden werden die Paten ihre Vorschlage begrUnden und diskutieren, gemeinsam mit den Autoren, die die eingeladenen StUcke verfaBt haben, Einblicke in ihre jeweilige Theaterlandschaft geben und eine aktuelle Einschatzung der neuen europaischen Dramatik versuchen. Dragan Klaic aus Jugoslawien (bisher Herausgeber der Theaterzeitschrift EuroMaske, jetzt Direktor des Hollandischen Theaterinstituts) wird ein Round-Table-Gesprach mit internationalen Fachleuten leiten. Besonderes Anliegen der ersten BDNNER BIENNALE ist, die Verbindungen zur osteuropai schen Theaterkul tur auszubauen, die Theater ·in den neuen Bundesl andern einzubinden und hierzulande weniger bekannte Theaternationen wie Finnland, Island oder Portugal vorzustellen. Bis zum Januar wurden bereits einige wichtige Gastspiele verabredet: Das Konigliche Dramatische Theater Stockholm wird ein neues StUck von Lars Noren zeigen. Das Nationaltheater Ankara gastiert mit einem tUrkischen Volkstheaterspektake 1 ("De li Dumrul" van GUngor Di 1men), das Studio-Theater Warschau mit "Die Stadt zahlt Hundenasen" (der ersten groBangelegten poetischen Verarbeitung der zehnjahrigen Geschichte des Militarrechts in Polen) van Jerzy Grzegorzewski, des Prager Theaters am Gelander mit dem grotesken Exil-Drama "Gram, Gram, Angst, Strick und Grube" van Karel Steigerwald in der Inszenierung van Jan Grossmann. Und die MUnchner Kammerspiele sind mit Christian StUckls Inszenierung "Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos" von dem jungen osterreichischen Auter Werner Schwab eingeladen. Als Ereignis herausragender Art ist ein Gastspiel des Moskauer StanislawskiTheaters in Aussicht genommen: das Dramatiker-Debut des dreiundzwanzigjahrigen Dani Gink ist in RuBland die Sensation der Spielzeit - sein StUck "BrUnett beglatzt" mit dem Moskauer Rock-Star Petr Mamonow ist mehr als zwei Monate im voraus ausverkauft. Veranstalter des Festivals ist SCHAUSPIEL BONN. Den 1,9 Millionen-Etat finanzieren die Kulturabteilung des Auswartigen Amts, das Bundesministerium des Innern, die Kulturstiftung des Landes und SCHAUSPIEL BONN. 28 Ncrdrhein-~·Jestfalen, die Stadt Berm SPRENGSATZE DES IMAGINAREN SYMPOSIUM 1991. VORANKUNDIGUNGEN 1992 UND 1993 Vom 26. bis 30. Juni 1991 fand in Berlin unter Leitung der Arbeitsgruppe 'Frauen im Theater' der dg in Zusammenarbeit m it dem ITI ein intemationaler Austausch zwischen Praktikerinnen und Wissenschaftlerinnen statt. Vortrllge und Gastspiele boten einen Rahmen fiir Diskussionen und Begegnungen. Der Senator fiir Kulturelle Angelegenheiten eroffnete die Veranstaltung im Maxim Gorki Theater. Er auBerte den Wunsch nach vermehrter Prlisenz von Frauen in leitenden Positionen der Theater und wilrde es begriiBen, in Berlin eine neue Intendantin berufen zu konnen. Die Schatzung, daB in den deutschprachigen Uindem der 80iger Jahre ea. 8% Frauen als Regisseurinnen an den Spielpliinen beteiligt waren, zeigt, daB entweder kein groBes Potential an 'weiblicher Produktivitat' im Theater vorhanden ist, oder nicht genutzt wird. Die Frage, warum so wenig Frauen im deutschsprachigen Theater beschaftigt werden, bedarf einer griindlichen Studie. Das Symposium bot einen ersten intemationalen Einblick in die unterschiedlichen Situationen von Frauen in verschiedenen Liindem. Den Lander-Referaten von Beatrize Seibel (Theaterkritikerin/ Argentinien), Sue-Ellen Case (Dozentin f. Theater- u. Literatur/U.S.A.), Gabriele Griffin (Dozentin fiir Literatur- u. Theater/England) Mieke Kolk (Dozentin f. Theaterwissenschaft/ Niederlande), Liv Schoyen (Dramaturgin/Oslo), Marina Dmitrewskaja (Dozentin f. Theaterwissenschaft/Leningrad) war eines gemeinsam, das auch fiir das deutschsprachige Theater gilt, Frauen a1s Autorinnen und Regisseurinnen sind erst im 20sten Jahrhundert im Kulturbetrieb erkennbar. Der Auftritt der Frau in Kultur und Offentlichkeit als maBgebende Kraft laBt weiterhin auf sich warten. Die Symposiumteilnehmerinnen fiihrten eine Kontroverse urn die Notwendigkeit der Betonung des Frauseins. Wiihrend Marina Dmitrewskaja fiir lhre Kolleginnen eine 'neutrale Position' eines "Kulturschaffenden" bevorzugte, schilderte Sue-Ellen Case das Bediirfnis verschiedener amerikanischer Autorinnen und Produzentinnen nach bewuBter Darstellung der Geschlechterdifferenz. Die Position, daB die besondere Geschichte von Frauen, die durch Gesellschaft und Biographie bedingt war und wird, auch zu einem 'anderen Blick', folglich auch zu anderen Sensibilitaten und Inszenierungen fiihrt, war allgemeiner Konsens. Der Versuch einer Aufbrechung von Form und Inhalt, das Aufzeigen eines in Vielheit gespaltenen Subjekts, das keines mehr sein will und kann, woraus si eh fiir Autorinnen und Regisseurinnen eine Moglichkeit der Neugestaltung ergibt, zeigte sich bei den Gastspielen und wurde kontrovers diskutiert. Die Auseinandersetzung urn die Notwendigkeit eines ldentitiitskonzeptes, das Frauen die Moglichkeit der Subjektwerdung im historischen wie aktuellen Umfeld als auch im theatralen ProzeB ermoglicht, spitzte sich in der Frage nach dem Verhlilmis von Biihneniisthetik und Politik zu. Die eingeladenen Gastspiele boten ein breites Spektrum des Zusammenspiels von Korper, Sprache und Historie. Die Meeting Ground Company eroffnete die Veranstaltung im Maxim Gorki Theater mit "The Sale of the Demonic Women"- inszeniert von Zofia Kalinska. Ihre Auseinandersetzung mit Kulturtradition (Witkiewicz, Wilde, Miiller) bei gleichzeitiger Suche nach eigenen Befreiungsriiumen wurde im Vortrag von Gabriele Griffin ("The Mirror Stage: Women and Herstory in British Theatre") als der Versuch einer Verweigerung von Historie und der Konstruktion von Zeitlosigkeit interpretiert. Das ewig Weibliche, das es nicht gibt. Denise Stoklos zeigte in "Maria Stuart" virtuos ein Zusammenspiel von Geschichte und Gegenwart. Mittels Text- und Bildcollagen fiigte sie Figuren an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten in einen Spielkontext. "Ladies' Voices und Akzente im Elsafi" boten einen gelungenen Einblick in die inszenatorischen Moglichkeiten von Gertrude-Stein-Texten. Sprache nicht mehr gebunden an Bedeutung, setzte Intuition und Spontanitat frei. Die Kombination von Musik, Gestik und Sprache dieser Arbeit produzierte 'Entsinnung ',kreierte Komik. Die lnszenierung "Die Englische Geliebte" 29 (Duras) wurde zum Ausgangspunkt der Frage nach dem Imaginaren in den Texten der Duras. Wallfriede Schmin:" Das Imaginare, der unbekannte Innenraum der Oaire Lannes, aus dessen Grund Claire Lannes stan zur Liebenden zur Morderin werden konnte ... " "Alkestis", eine Produktion des LLT-Theaters Warschau: j olanta Lathe und Peter Lachmann verwandelten den M ythenstoff der Selbstopferung einer Frau aus Lie be zu ihrem Mann parodistisch zu drei modemen Politmarchen, die die Frau im Wandel von gesellschaftlichen Objekt- und Subjektpositionen zeigen wollte. Der Rahmen bildete der gerade scheinbar iiberwundene Totalitarismus des Ostens. Eine Kritikerin auBerte vehemente Bedenken an der Aufarbeitung des Stoffes. Frauen wiirden sich ein Eigentor schieBen, wenn Inhalte die Position der Frau in den Dienst von Mannergeschichtsaufarbeitung stellten. Die Erkundung von Binnen- und lnnenriiumen (lntertextualitaten) der Texte von Gertrude Stein, Marguerite Duras und Gisela v. Wysocki bildete den theoretischen Teil des Symposiums. Die Referentinnen Ulrike HaB (Theaterwissenschaftlerin/Berlin "Reisen durch den Text. Das Spiel", dramaturgische Uberlegungen zu den Theatertexten von G. v. Wysocki), Helga Finter (Theaterwissenschaftlerin/GieBen "Their mistress' Voice? Der andere Schausplatz der Marguerite Duras"), und Renate Wolf (Dramaturgin/Berlin "Gertrude Stein") ergiinzten Ihre Vortrage durch anschlieBende Gesprache mit Regisseurinnen, Schauspielerinnen, Choreographinnen und Autorinnen. Wir m5chten an dieser Stelle alien dg-Mitgliedem, die uns bei der Durchfiihrung zur Seite standen, herzlich danken. lnsbesondere bedanken wir uns bei Manfred Beilharz, Klaus PierwoB und Birgid Gysi. Dariiber hinaus hat die Arbeitsgruppe Kulturelle Aktivitaten von Frauen des Senators fiir Wissenschaft und Forschung, die Stiftung Pro Helvetia und das Maxim Gorki Theater die Veranstaltung tatkraftig unterstiitzt. Herzlichen Dank an alle FiT-Frauen und -Sympatisanten, ohne die ·die Veranstaltung nicht durchgefiihrt hiine werden konnen. Die Dokumentation "Die Sprachen des Theaters und die Frauen • Berlin 1991" wird vorraussichtlich im Friihsommer diesen Jahres vorliegen. Niihere Informationen bitte bei der dgGeschaftsstelle erfragen. Bei Vorbestellungen bitten wir urn Zusendung einer Postkarte mit Adresse. !992 plant FiT 2 Veranstaltungen zum Thema "Das Fremde im theatralen Proze6". Barbara Mundel (freie Regisseurin und Dramaturgin) wird einen Vortrag "lch selber im Umgang mit einer anderen Kultur" halten. Diese Veranstaltung wird voraussichtlich Anfang September 1992 in Berlin stanfinden. Weitere Referentinnen stehen noch nicht fest, iiber Vorschlage wiirden wir uns freuen. Fiir 1993 wurde ein Projektantrag fiir ein weiteres Symposium gestellt, Arbeitstitel: MEIN LEBEN EINBRINGEN IN EIN KUNSTWERK, THEATERFRAUEN IN EUROPA. Das erste Symposium zeigte, daB der Bedarf nach Diskussion und Reflexion groB ist und daB man die unterschiedlichen Arbeitsbereiche im intemationalen Vergleich genauer betrachten muB. Fiir die Planung des zweiten Symposiums mochten wir uns aufEuropa beziehen und beispielhafte Theaterarbeiten und - konzepte vorstellen. Dabei geht es uns im besonderen urn die Frage, inwieweit Frauen, die im Theater arbeiten oder produzieren, ihre spezifischen Lebensweisen, ihre politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten in ihre Arbeitsweisen und asthetischen Konzepte einflieBen Iassen. Uns interessien, wie fremd bleibt uns das jeweils Andere und worin bestehen Unterschiede. Durch das Zusammenwachsen von Europa ist es wichtig, die Eigenheiten und regional en Besonderheiten hervorzuheben. !m europaischen Kulturbetrieb besteht insbesondere fiir Frauen die Gefahr, den iiberregionalen Konkurrenzen zu erliegen. Kultursysteme, weiterhin von Mannem betrieben, grenzen Frauen unter den verschiedensten Kriterien allzuoft aus. Ober weitere Mitarbeiterinnen und lnspiratorinnen an diesem Vort:taben wiirden wir uns freuen. Fiir Hinweise auf interessante Theaterprojekte und Inszeniemngen in der BRD und Europa waren wir dHnkbar, Barbara Scheel Die Kunst der Freiheit Ein Ost-West-Gesprach iiber Erfahrungen von Ungleichzeitigkeit in den historischen Umbriichen lm Spiegelzelt am 26. Mai 1991 29. Theatertreffen Berlin Mit Nadja Engel, Schauspielerin BE, Christine Harbort, Regisseurin, Walfriede Schmitt, Schauspielerin VOLKSBUHNE/Ost, Brigitte Soubeyran, Regisseurin, Renate Ullrich, Theaterwissenschaftlerin, lnstitut fOr Sozialdatenanalyse, Renate Wolf, Dramaturgin Veranstaltet von FiT (Frauen im Theater)/DG ,,. ' Wir se hen uns beteiligt an geschichtlichen Umbruchen, die weltweit Verwerfungen, Zerst6run· gen, Chaos, aber auch neue Chancen produzieren. In einem ProzeB der Beschleunigung stehen wir ohne Macht der Gewohnheit mitten in verwirrender Zeit. Die Kunst hat noch nicht Worte, Bilder, Geschichten zu sagen, was wirklich mit uns geschieht. Trag6die? Groteske? Beides? Um politische und pers6nliche Prozesse in ein neues, produktives Verhaltnis zu bringen, ist es n6tig, um mit Brecht zu sprechen, unsere Erfahrungen frisch zu erhalten, so daB sie sich nicht in vorschnelle Urteile verwandeln. Renate Ullrich ver6ffentlichte MEIN KAPITAL BIN ICH SELBER · Gesprache mit Theaterfrauen aus Berlin-0. Das war im ersten Jahr nach der Wende. Wir wollen die Diskussion fortsetzen. Renate Wolf 31 FESTIVALS 1992 UND VORSCHAU 1993 (Auswahl von Anktindigungen, die der Dramaturgischen Gesellschaft mit der Bitte um Veroffentlichung zugegangen sind) 8. Mai 1992 Dr. Klaus Gronau, Dramaturg in Bruchsal, und das Institut in Mainz laden Fran~ais zu einer Begegnung mit dem franzosischen Dramatiker und Regisseur Jo~l Jounanneau irn Institut Fran9ais in Mainz ein. Kontaktadresse: Dr. Klaus Gronau, Telefon: 07251 - 8 21 50 11. - 13. Mai 1992 Zweites Forum Kultunnanager: Der im April 1991 mit dem ersten Forum Kulturmanager begonnene Dialog zwischen den Mitarbeiterinnen der Kultur- und Jugendamter und den Kunstlerinnen des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland so11 mit dieser Veranstaltung fortgesetzt werden. Neben gemeinsamen Auffuhrungsbesuchen sollen Fragen nach den Stucken und Inszenierungen, die von Kultur- und Jugendamtern eingeladen werden, nach den Aufftihrungsbedingungen, die die Theatergruppen vorfinden, und nach den Sehgewohnheiten des Publikurns im Mittelpunkt des Forums stehen. Kontaktadresse: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, SchutzenstraBe 12, W - 6000 Frankfurt am Main 1, Telefon: 069 - 29 66 61 18. - 28. Juni 1992 Banner Biennale 1992 I Neue Stucke aus Europa: (s. Information in diesem Heft) Kontaktadresse: Schauspiel Bonn, Am Michaelshof 9, W - 5300 Bonn 2, Telefon: 0228 - 82 08 - 153 oder -129 (Festivalburo) 27. Juli - 6. September 1992 Arnsterdamer Sommer Universitat: In Zusammenarbeit mit der Amsterdamer Hoch- schule der Klinste, dem Institut fur Polytechnik und dern Institut fur Berufliche Weiter bildung veranstaltet die Universitat in Amsterdam eine Workshopreihe. WUnschenswertes Ziel dieser Zusammenkunft sollte das Kennenlernen und Zusammenbringen von Klinstlern und Wissenschaftlern sein. Die Reihe der Themen reicht von Theatermanagernent und Sponsoring in einern sich neu formierenden Europa Uber BUhnenbild- und Lichtdesign-Kurse bis hin zur Schauspielimprovisation. Ein weiterer Schwerpunkt wird die judische Tradition in der Musiklandschaft in Osteuropa sein. Kontaktadresse: Amsterdam Summer University - P.O.Box Telefon: 31 - 20 - 6 20 02 25 4. - 18. 32 Sep~ember 1992 53066, 1007 RB Amsterdam, Werkstatt-Theater-Festspiel: Diese Mischung aus Werkstatt und Festspiel soll freien Theatergruppen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum die M6glichkeit geben, ihre Stticke vorzustellen und mit profilierten Kursleitern an und mit den erlebten Stticken zu arbeiten. Kontaktadresse: Theater der Stadt Greiz, StavenhagenstraBe 3 - 4, (zu Hdn. Frau Voinopol), 0- 6600 Greiz 16. - 30. September 1992 Vom Prager Frtihling zur sanften Revolution: In Zusammenarbeit mit henschelSCHAUSPIEL, dem Kultur- und Informationszentrum der CSFR, Divadelni ustav (Theaterinstitut) Prag und der Tschechischen Theatergemeinde sind eine Ausstellung und Seminare vorgesehen, die in den Raumen des Kulturzentrums der CSFR stattfinden sollen. Ausstellung: "Das Theater des Prager Frtihlings". Seminare: Autorenportraits von Karel Steigerwald, Daniela Fischerowa, Arnost Gold-flam. Lesung: Karel Steigerwald: "Die Neapolitanische Kindheit" Kontaktadresse: Eurocultur Ost e. V., KlosterstraBe 68 - 70, 0 - 1020 Berlin 15. - 17. Januar 1993 Internationales Samuel Beckett Symposion: (siehe Information in diesem Heft) Kontaktadresse: M. W. Erdmann, Hamborner StraBe 69, W - 4000 Dtisseldorf 30, Telefon: 0211 - 42 57 22 Mai 1993 Festwochen 300 Jahre Oper Leipzig: Folgende Produktionen sind eine Vorschau auf die Festwochen:BORIS GODUNOW von Modest Mussorgski, HIPPOLYTE ET ARICIE von Jean-Philippe Rameau, TANTZSCHUL von Mauricio Kagel, Uraufftihrung: GEFAHRLICHE LIEBSCHAFTEN von Friedrich Schenker, Libretto von Karl Mickel (ein Auftragswerk der Oper Leipzig) Kontaktadresse: Oper Leipzig, Augustusplatz - PSF 35, 0 - 7010 Leipzig, Telefon: Vorwahl - 71680 29. Oktober - 7. November 1993 Politik im Freien Theater: Das Festival will besonders die Theaterarbeit derer e:rrnu- tigen, die in und mit dem Theater zu politischen Proble<ren der Gegenwart Stellung beziehen und dieses Modiurn als ein Forum 6ffentlicher Diskussion begreifen. Eine unabhiingige Jury wird einen ersten Preis in H6he von CM 15.000,- fUr die beste Ensembleleistung, zwei Darstellerpreise zu je CM 5.000,-- sowie einen Sonderpreis fUr eine hervorragende ktinstlerische Einzelleistung in H6he von CM 5. 000,- vergeben. Bewerb.mgen fUr die Teilnahme sind fonnlos bis zum 31. 12. 1992 einzureichen. Kontaktadresse: Bundeszentrale fur politische Bildung, zu. Hdn. Holger Ehmke, Berliner Feiheit 7, W- 5300 Bonn 1 33 Protokoll der ordentlichen Mitgliederversammlung vom 23.November 1991 Ort: Residence Hotel Potsdam, Dauer: 14.00 bis 15.00 Uhr Tagesordnung: 1. Genehmigung des Protokolls der letzten Mitgliederversammlung 2. Bericht des Vorstands Ober das abgelaufene Geschaftsjahr 3. Bericht der Kassenrevisoren 4. Entlastung des Vorstands 5. Wahl der Kassenrevisoren 6. Festlegung des Mitgliedsbeitrages fOr das kommende Kalenderjahr 7. Verschiedenes Der Vorsitzende Klaus PierwoB eroffnet die Mitgliederversammlung, die fristgemaB einberufen wurde. Gegen die Tagesordnung bestehen keine Einwande. Zu Beginn der Mitgliederversammlung gedenken die anwesenden Mitglieder der im letzten Jahr verstorbenen Mitglieder Dr. Falk Harnack, Uwe Pierstorff und Gerhard Wolfram. 1. Genehmigung des Protokolls der Mitgliederversammlung 1990 Das Protokoll der Mitgliederversammlung 1990 war im Nachrichtenbrief 2/1991 abgedruckt.Schriftliche Einwande dage- gen wurden nicht erhoben. Da auch von den anwesenden Mitgliedern kein Einwand erhoben wird, gilt das Protokoll als genehmigt. 2. Bericht des Vorstands Ober das abgelaufene Geschaftsjahr Die GeschaftsfOhrerin Birgid Gysi, die im Mai 1991 die GeschaftsfOhrung Obernommen hat, gibt im Auftrag des Vorstands den Bericht Ober das abgelaufene Geschaftsjahr: Finanzsituation: Die Finanzsituation der dg ist zufriedenstellend. Es gab zu keinem Zeitpunkt des abgelaufenen Geschaftsjahres ein Defizit, obgleich 80 Mitglieder bislang ihre Mitgliedsbeitrage noch nicht entrichtet haben und auch nur vereinzelt auf Mahnungen reagiert wurde. Dankenswerterweise wurden der dg vom Bundesminister des Innern aus dem Fonds "MaBnahmen zur Minderung der Folgen der Teilung Deutschlands auf kulturellem Gebiet" fur August bis Dezember 1991 71.930,- OM zur VerfOgung gestellt, urn den Aufbau der dg als gesamtdeutsche Organisation zu fordern. Im ersten Quartal des Jahres war der dg vom Berliner Senat ein einmaliger ZuschuB in Hohe van 10.000,- OM fur Renovierung und Verbesserung der technischen Ausstattung des BOros zugegangen. FOr die Jahrestagung 1991 in Potsdam hat das Ministerium fOr Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg der dg die groBzOgige Unterstutzung van 49.000,- OM gegeben. Die drei genannten finanziellen Zuwendungen ermoglichten der dg und ermoglichen es noch Ober den Zeitpunkt des Jahresendes hinaus, die van der dg bislang geplanten Aktivitaten auch zu realisieren. Schwieriger wird die Situation im nachsten Jahr, wenn die Jahrestagung wieder in Berlin stattfindet und die dg mit dem noch nicht abzusehenden Ende der KOrzungen im Finanzetat des Berliner Senats konfrontiert sein wird. Hier wird eine vielseitige Aktivitat zur Erlangung van ProjektzuschOssen notig sein. Mitglieder: Die Mitgliederzahl der dg betragt seit gestern 554 personliche Mitglieder und 35 korporative Mitglieder. Aus den neuen Bundeslandern hat die dg 35 personliche und 2 korpo-. 35 rative Mitglieder gewonnen. Seit dem 1.11.1990 gehoren der dg 75 n e u e personliche und 2 n e u e korporative Mit- glieder an. Dem stehen seit diesem Zeitpunkt 28 Austritte gegenuber, so daB die Tendenz der Mitgliederbewegung als leicht ansteigend zu bezeichnen ist. Zur inhaltlichen Arbeit: Die dg hatte im letzten Geschaftsjahr funf wesentliche inhaltliche Aufgaben zu leisten: 1. die Durchfuhrung der Tagung ''Ober die Veranderbarkeit und Unveranderbarkeit der Theaterstrukturen in Ost und West" am 2. und 3. Februar 1991 in der Akademie der Kunste Ost- berlin ) ; 2. die Realisierung der gemeinsam mit dem Theaterwissenschaftlichen Institut der Freien Universitat zu Berlin getragenen Vortragsreihe "Positionen heutiger Dramaturgie" - Moderation Ulrike HaB und Theresia Birkenhauer, Veranstaltungen, die im Literarischen Colloquium Berlin stattfanden; 3. das FiT-Symposium "Die Sprachen des Theaters und die Frauen", das als Symposium mit Gastspielen gemeinsam von der Arbeitsgruppe ''Frauen im Theater" und dem ITI vom 26. bis 30. Juni 1991 in Berlin stattfand ( daruber wird Barbara Scheel morgen in der FiT-Veranstaltung sprechen); 4. die Realisierung des Theaterreports "Zur Situation der Buhnen in den neuen Bundeslandern"; 5. die Vorbereitung der Jahrestagung 1991. Alle im letzten Jahr anvisierten Plane und Projekte konnten realisiert werden bis auf das Vorhaben zum monatlichen Besuch eines Theaterverlages - dieses Vorhaben wurde lediglich zweimal in die Tat umgesetzt. Die Verwirklichung der genannten funf wesentlichen inhaltlichen Aufgaben war im abgelaufenen Geschaftsjahr mit der nicht ganz einfachen Situation eines mehrmaligen Wechsels des Geschaftsfuhrers verbunden. Sie wurde moglich durch eine verstarkte Aktivitat des Vorstands der dg, der funfmal zu Vorstandssitzungen zusammentrat. Rainer Ruppert hat die GeschaftsfOhrung Anfang Februar 1991 niedergelegt. Bis zu diesem Zeitpunkt oblag ihm die Vorberei- tung der Strukturdebattentagung. Zudem leistete er die Abrechnung der Jahrestagung 1990 und gab den Nachrichtenbrief 1/1990 heraus.Oie neue Geschaftsfuhrerin Birgid Gysi stand erst ab Mai 1991 zur Verfugung. Fur die Interimszeit ubernahm das Vorstandsmitglied Ulrike HaB dankenswerterweise die Geschaftsfuhrung.In diesen Zeitraum fiel die Losung mehrerer umfangreicher Aufgaben, die fristgemaB realisiert werden konnten: 1. Oer ZuschuB des Berliner Senats fur die Renovierung des dg-Buros und die Verbesserung seiner technischen Ausstattung in Hohe van 10.000,- OM wurde ausgegeben und fristgemaB bis zum 31.Marz 1991 abgerechnet. Die dg ist nunmehr im Besitz eines Computers und einer elektronischen Schreibmaschine. 2. TermingemaB erfolgte die Erhebung der Mitgliedsbeitrage fur das Jahr 1991. 3. Die Dokumentation der Tagung "Dber die Veranderbarkeit und Unveranderbarkeit der Theaterstrukturen in Ost und West" wurde erstellt und in wesentlichen Teilen im Nachrichtenbrief 2/1991 veroffentlicht, der termingemaB im zweiten Quartal herausgegeben wurde. 4. Es wurde fur die Kontinuitat der Reihe "Positionen heutiger Oramaturgie" Sorge getragen - bislang konnten die geplanten Veranstaltungen mit Urs Troller, Helmut Schafer, Adolf Dresen, Dieter Gorne und Klaus Volker mit guter Resonanz verwirklicht werden. Anfang Mai wurde die Geschaftsfuhrung van Ulrike HaB an Birgid Gysi ubergeben. Die wesentlichen organisatorischen Aufgaben zur Verwirklichung der inhaltlichen Vorhaben des Vorstandes seit dieser Zeit waren: 1. Der Vorstand muBte eine neue Moglichkeit zur Durchfuhrung der Jahrestagung 1991 finden, nachdem die langfristig vorbereitete und zugesagte Tagungsmoglichkeit Oberhausen Ende April plotzlich abgesagt wurde. Die Oberlegung, die Tagung in einem der neuen Bundeslander durchzufuhren, konnte dank der produktiven Gesprache zwischen dem Vorsitzenden der dg Klaus PierwoB und dem Kultusminister van Brandenburg, Herrn Enderlein, verwirklicht werden. 37 2. Die Dokumentationen der Jahrestagungen 1989 und 1990, deren Herausgabe Bestandteil der Forderung durch die jeweiligen Stadte war, wurden nachgearbeitet. Sie sind jetzt in der Publikation "Schriftenreihe der dg" Band Nr.24 erschienen. 3. Der zu Jahresbeginn vom Vorstand schriftlich eingeleitete Antrag an den Bundesminister des Innern, der dg eine finanzielle Unterstutzung zu gewahren, wurde durch einen im Auftrag des Vorstands durchgefuhrten Besuch der Geschaftsfuhrerin in Bonn konkretisiert. Es wurde die Moglichkeit erschlossen, der dg aus dem genannten Fonds zur Minderung der Folgen der Teilung Deutschlands auf kulturellem Gebiet Gelder fur folgende Projekte zuzuleiten - 2000,- OM Neuauflage des Nachrichtenbriefes 2/1991 zu Zwecken der Mitgliederwerbung; 5000,- OM zur Erstellung eines Theaterreports uber die Situation der Buhnen in den neuen Bundeslandern; 17.400,- OM zur Realisierung und druckmaBigen Aufarbeitung der Vortragsreihe "Positionen heutiger Oramaturgie"; Drucklegung der Materialien des Theaterreports und Herstellung der Arbeitsfahigkeit einer Arbeitsgruppe "Theaterstrukturen" 14.100,- OM; 4800,- OM zur Honorierung von Buroarbeiten sowie Jahrestagungsmanagement fur eine zusatzliche Mitarbeiterin zur Unterstutzung der Geschaftsfuhrer-Halbtagskraft, begrenzt auf das vierte Quartal 1991; 1130,- OM fur zusatzliche Aufarbeitung van Materialien des FiT-Symposiums vom Juni 1991; 8000,- OM fur die Arbeitsgruppe ''Frauen im Theater", besonders zur Realisierung ihres Projekts "Kultursprung zwischen Okzident und Orient''; 3000,- OM fur Vorbereitungsarbeiten zu kunftigen Theaterwerkstatten. Oer Nachteil dieser groBzugigen Forderung liegt darin, daB alle Gelder im vierten Quartal dieses Jahres ausgegeben werden mussen, damit also nur bedingt perspektivische Arbeitsmoglichkeiten einschlieBen. Zu den genannten Positionen kommt noch eine Summe fur Sachmittel in Hohe von 16.500,- OM hinzu, die in vielerlei Art Buromaterial umzusetzen ist. 4. Im September und Oktober wurde der BeschluB des dg-Vorstandes vom Juni 1991 realisiert, einen Theaterreport zur Situation der Buhnen in den neuen Bundeslandern zu erstellen. An dieser Arbeit waren fast alle Vorstandsmitglieder aktiv be- teiligt, wobei umfangreiche berufliche Verpflichtungen eines jeden den fristgemaBen AbschluB der Arbeit nur unter groBen Schwierigkeiten und dank der Hilfe anderer Kollegen (Mitgliedern, aber auch Nichtmitgliedern der dg) ermdglicht haben. Die Ergebnisse dieser Arbeit liegen jetzt im Doppel-Nachrichtenbrief 3/4 1991 vor, der in der vorigen Woche auf einer Pressekonferenz vorgestellt werden konnte. 5. Die Vorbereitung der Jahrestagung 1991 konnte fristgemaB realisiert werden. Plane und Projekte fur die nachsten Monate: 1. Fortsetzung der Vortragsreihe "Positionen heutiger Dramaturgie" 1992 mit Gabriele Groenewold, Alexander Weigel und Dragan Klaic und Erarbeitung des Materials als Dokumentation sowie deren Verdffentlichung; 2. Vorbereitung einer Theater-Werkstatt, die vorsieht, zu einer bestimmten ausgewahlten Inszenierung an einem Wochenende ein Colloquium durchzufuhren. In der Uberlegung sind - eine Werkstatt zum Theater Mulheim an der Ruhr oder eine Kinderund Jugendtheater-Autoren-Werkstatt resp. eine Theaterpadagogik-Werkstatt; 3. Erarbeitung der Dokumentation der Jahrestagung 1991 und deren Herausgabe als "Schriften der dg'' Nr.25 sowie Abrechnung der Jahrestagung gegenuber dem Ministerium fur Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg; 4. Herausgabe des Nachrichtenbriefes 1/1992 im ersten Quartal 1992. Nachbemerkung zum Revisionsbericht: Die fehlenden Reisebelege wurden aufgefunden und ordnungsgemaB abgelegt. Die Differenz van 3,19 OM auf dem Postgirokonto konnte aufgeklart werden - es fand sich ein Beleg, der falsch abgelegt warden war. Dieser Beleg wies die Zinsgebuhren fur das Postgirokonto in Hdhe van 3,19 OM aus. Auf Grund der falschen Ablage war dieser Beleg nicht eingetragen warden und fehlte demnach in der Zahlenbilanz. Das versaumnis wurde unterdessen korrigiert. 3. Bericht der Kassenrevisoren Der Bericht der Kassenrevisoren Bernd Schmidt und Marianne Weno wird vom Vorsitzenden Klaus PierwoB verlesen. im AnschluB an dieses ~rotokoll Er ist abgedruckt. 4. Entlastung des Vorstands Die Mitgliederversammlung beschlieBt mit einer Stimmenthaltung die Entlastung des Vorstands. 5. Wahl der Kassenrevisoren Klaus P~rwoB dankt Bernd Schmidt und Marianne Weno fur ihre jahrelang geleistete Arbeit. Da beide auf eigenen Wunsch hin nicht mehr zur Verfugung stehen, werden in offener Abstimmung zwei neue Kassenrevisoren gewahlt. Dr.Christoph Kohler und Andreas Leusink erklaren sich bereit, fur das Amt zu kandidieren. Sie werden einstimmig gewahlt. 6. Festlegung des Mitgliedsbeitrages fur das kommende Kalenderjahr Die Mitgliedsbeitrage werden in gleicher Hohe wie bisher erhoben. 7. Verschiedenes Diskussion und Information werden hier summarisch notiert, da nicht alle Redner zum Mikrophon gegangen sind und daher die Tonbandprotokolle nur teilweise verstandlich waren. Das gilt auch fur die im AnschluB an das Protokoll der Kassenrevisoren abgedruckten Oberlegungen aus der Debatte zum Selbstverstandnis der Dramaturgischen Gesellschaft. Jurgen Hofmann forderte zu einer Verstarkung der Mitgliederwerbung auf. Hans Muncheberg kritisierte, daB die dg eine reine TheaterGesellschaft sei und bei der Abwicklung der Medien Rundfunk und Fernsehen sprachlos blieb.Dieser AbwicklungsprozeB sei van der Offentlichkeit sprachlos-widerspruchslos hingenommen warden, auch van der dg.Zudem forderte Hans Muncheberg zum Widerspruch gegen einen Plan der Staatskanzlei auf, die Aufarbeitung van Archivmaterialien der Medien durch fremde ABM-Krafte leisten zu lassen. Diese Arbeit sei durch gelernte Dramaturgen der Medien fachgerechter zu leisten. Jorg Liljeberg forderte einen inhaltlich fundierten Weg der Mitgliederwerbung. Er kritisierte, daB trotz rechtzeitiger Hinweise auf das Festival in Chemnitz niemand van der dg teilgenommen habe. Die Diskussionen auf den Jahrestagungen reichten nicht aus als Motivation, weshalb man Mitglied der dg sein sollte. Er verwies auf fruhere Leistungen des Theaterverbandes wie die Werkstatt-Tage in Leipzig als Arbeitsmoglichkeit. Das Festival in Chemnitz - eine Werkstatt zum ostlichen Theater - sei sehr erfolgreich gewesen. Die dg sollte sich auf dem fur 1992 geplanten Colloquium einbringen. Peter Ullrich konstatierte, daB die dg 1991 mehr Aktivitat entwickelt habe als im Jahr zuvor. Das Problem sei, daB der Vorstand zuviel allein mache. Er verwies auf die Moglichkeit der Arbeit mit Arbeitsgruppen - ahnlich der Gruppe ''Frauen im Theater" - und schlug vor, zu bestimmten Projekten auf der Basis van Arbeitsgruppen zu operieren. Manfred Beilharz schlagt unter Verweis auf den Zeitplan die Beendigung der Diskussion vor. Johannes Richter macht den Vorschlag, die Debatte zum Selbstverstandnis der Dramaturgischen Gesellschaft fortzusetzen, aber in einer neuen Runde im AnschluB an die Nachmittagsveranstaltungen. Dieser Vorschlag wurde nach kurzer Diskussion angenommen. Dietmar N.Schmidt informierte die dg-Mitglieder uber den Skandal eines Planes in Zusammenhang mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen (Heyme-Plan) und forderte auch die dg zum offentlichen Widerspruch auf. Klaus Gronau informierteuber den Plan zu einer Initiative im Rhein-Main-Gebiet, am B.Mai 1992 ein Treffen mit dem 41 franz6sischen Dramatiker und Regisseur Jo~l Jouanneau durchzufuhren, zu dem Dramaturgen und Regisseure aus dem deutschen Theater eingeladen sind, die sich fur die franzosische Gegenwartsdramatik interessieren und franz6sisch sprechen. Hedda Kage wies auf das Columbus-Jahr 1992 hin und schlug vor, im Rahmen der nachsten Jahrestagung ein Thema wie "Das Verhaltnis des deutschen Theaters zum lateinamerikanischen Theater" zu bedenken und einen Beitrag zum Problemkreis Entdeckung/Nichtentdeckung/Zerst6rung der Kulturen Lateinamerikas einzubringen.Dem Vorstand wird diesbezuglich noch ein detaillierter Programm-Vorschlag unterbreitet. Klaus PierwoB schlagt vor, Johannes Richter fur das verstorbene Mitglied Gerhard Wolfram zur Vorstandsarbeit hinzuzuziehen, zunachst fur 1 Jahr informell; auf der Jahrestagung 1992 stellt er sich dann zur Wahl.Das Einverstandnis von Johannes Richter liegt vor.Johannes Richter ist geschaftsfuhrender Dramaturg am Schauspielhaus Dresden, seine Mitarbeit bedeutet zugleich eine starkere Prasenz von Mitgliedern aus den neuen Bundeslandern im Vorstand. Der Vorschlag wird einstimmig angenommen. Klaus PierwoB dankt den Anwesenden und schlieBt die Mitgliederversammlung mit dem Hinweis auf die Fortsetzung der Diskussion in einer Debatte zum Selbstverstandnis der Dramaturgischen Gesellschaft am Spatnachmittag. Protokoll: Birgid Gysi - 19.12.1991 42 Bernd Schmidt :-iestorstr. 2 D-1000 Berlin 31 An die Dramaturgische Gesellschaft Tempelhofer Ufer 22 1000 Berlin 61 Berlin, den 9. November 1991 Sehr geehrte Damen und Herren, als gewahlte Kassenprufer haben Marianne Weno und ich am 5. November 1991 in der Geschaftsstelle der Dramaturgischen Gesellschaft fur die Zeitraume vom 16.11.1990- 31.12.1990 und vom 1.1.1991- 4.11.1991 die Bestande gepruft. Die Geschaftsfuhrerin, Frau Dr. Birgid Gysi, legte uns das Journalbuch sowie die Bank-, Postgiro- und Kassenbelege fur die genannten Zeitraume vor. Die Bestande waren: per 31.12.1990 Kasse Bank Post IBelegdatum: 27.12.901 DM DM DM 2.17-1.31 31.05-!,74 3.710.-19 DM 36.939,5-l os SF 6.324,69 21,90 DM DM DM 407,64 58.208,49 2.055,57 DM 60.671,70 os 6.324,69 594,85 ============== Osterreich Schweiz Bestande per 4.11.1991 Kasse Bank Post giro ============== Osterreich Schweiz SF 43 Durch Stichproben einzelner Einnahme- und Ausgabebelege tiberzett~ten wir uns van der Richtigkeit der Eintragungen und stellten dabei eine kleine Differenz in H6he von DH 3,19 auf dem Post~irokonto per ~.11.91 fest. Die Gesch~fts fUhrerin wird sich urn die Kl~rung dieser Differenz bemUhen. Fehlende Reisekostenbelege aus der ~esch~ftsfuhrerlosen Zei~ aer Dramaturgischen Gesellschaft wird die neue Ge- im nachhinein einfordern bzw. kommentieren. Ansonsten konnten wir feststellen, da~ die Ablage der Belege und die Eintragungen in das Journal Ubersichtlicn, sch~ftsfUhrerin sorgfiltig und genau vorgenommen wurden. Zur besseren Ori- entierung empfehlen wir der Gesch~ftsfUhrerin, einen monatlichen AbschluB vorzunehmen. jeweils Da den Hitglieder der Dramaturgischen Gesellschaft die Bilanz sowie die Einnahmen/Ausgaben-Rechnung vorgelegt wird, brauchen wir darauf hier nicht Wir best~tigen n~her einzugehen. nach bestem Wissen und Gewissen, daB die KassenprUfung eine ordnungsgemane Geschaftsflihrung ergeben hat und empfehlen daher der Hitgliederversammlung die Entlastung des Vorstands und der Gesch~ftsflihrerin. !larianne Weno 44 ~~"' fcic~ ~ Bernd Schm{d~ ( Oberlegungen aus der Debatte zum Selbstverstandnis der Dramaturgischen Gesellschaft Wenn es heute sehr viel urn die n e u e Halfte Deutschlands geht und vor allem Mitglieder aus den n e u e n Bundeslandern angesprochen werden sollen, mussen Themen gesucht werden, die die Veranstaltungen interessant machen fur Dramaturgen aus diesem Teil Deutschlands. Man muBte zum Beispiel sehr genau uber die Strukturform nachdenken. Die Starke einer solchen Gesellschaft besteht doch darin, daB viele Dramaturgen Mitglieder sind, die wiederum in ihrer Arbeit am Theater uber Apparate/Institutionen verfugen, so daB eine Multiplikation der Oberlegungen innerhalb dieser Gesellschaft einsetzen kann. Der Vorstand der dg sollte demnachst oder in naher Zukunft eine Sammlung van Themen machen, die wirklich brennend heiB sind. Ein solches Thema ware es zum Beispiel festzustellen, daB in Deutschland zwei Theaterkulturen existieren, die sich in vielen Punkten diametral unterscheiden, aus der Philosophie, der Herkunft, der Zielstellung und so weiter. Man kann also nicht allgemein uber e i n e deutsche Dramatik, e i n deutsches Theater, e i n e n Zusrihauer diskutieren. Eine Themensammlung durfte aber nicht allein durch eine ~erson oder den Vorstand vorgenommen werden, sondern hierzu sollte man die Kraft der Theater, deren Dramaturgen Mitglieder sind, nutzen. Es ware zum Beispiel denkbar, daB das Theater Dresden aus seinem Theateralltag heraus mit einem bestimmten Thema konfrontiert wird und dann zu diesem Thema eine Tagung ausrichtet. Das Bedurfnis geht schon dahin, daB die Dramaturgische Gesellschaft als Dachverband fur die Ausrichtung und Themenstellung einsteht, daB sie als Gremium, unter dem die einzelnen Aktivitaten stattfinden konnen, fungiert, aber auch als gemeinsames Sprachrohr. Ein Vorschlag ware, einmal genau nachzuschauen, wie der Theaterverband organisiert war, welche Aufgabenstellung die 45 Arbeit umfaBte, durch welche Strukturen er getragen wurde und was man davon eventuell produktiv Ubernehmen kann. Es geht wirklich urn grundsatzliche Fragen, wie Theater gemacht wurde. Und solange diese Fragen nicht auch in einer wissenschaftlich fundierten Art diskutiert werden, urn ein gegenseitiges Begreifen, eine Verstandigung herbeizufuhren und nicht bloBe Information, solange werden weiter grundsatzliche Irrtumer bestehen. Das betrifft die Dramatik, die Berufsvorstellung van Dramaturgen, die Schauspieltheorie, die Regietheorie. Wenn Frank Castorf Uber seine Regietheorie spricht, dann versteht ein ehemaliger DDR-Burger etwas ganz anderes darunter, weil er einen ganz anderen Hintergrund hat, als der Dramaturg aus der Bundesrepublik, der van Castorf nur die Regie sieht. Ein DDR-Burger hat mit der Muttermilch mitbekommen, in Metaphern zu denken, also nicht alles, was er pur sieht, als das Wahre zu nehmen, sondern aus jedem geschriebenen Satz einen anderen Sinn herauszukristallisieren. Das ist aber nicht nur als politischer Vorgang zu verstehen. Es hatte zum Beispiel in der Schauspielerausbildung und in der konkreten Arbeit des Schauspielers die Wirkung, daB die sogenannte zweite Sprache des Schauspielers, die Unterlegung eines anderen Sinns unter das Wart, zu einer grundsatzlichen Arbeitsweise wurde. Jetzt dagegen erlebt man zum Beispiel, daB ein Regisseur aus den alten Bundeslandern mit Schauspielern aus den neuen Bundeslandern arbeitet und die Schauspieler nicht verstehen, was der Regisseur van ihnen will, und der Regisseur nicht begreift, daB das gesprochene Wart fUr die Schauspieler sozusagen noch nichts ist. Das betrifft auch die Dramatik und das Verstandnis der Zuschauer. Sie sehen nur eine Oberflache, die noch dazu schablonisiert ist, aber was dahinter eigentlich kommt und was die Leute gewohnt sind nachzufragen, das kommt nicht. Und deswegen kann ich zum Beispiel mit dem StUck van Klaus Pohl auch nichts anfangen. Deshalb wird auch kaum ein Theater der ehemaligen OOR dj.eses StOck spielen. Diese Oramatik erinnert an Darstellungs- weisen der fUnfziger Jahre. Hier mOBten zunachst einmal ein paar grundsatzliche Fragen gestellt werden. Es ist ein alter Hut, daB an der Tagungsform immer zu recht Kritik geObt wird, daran, daB die Bewaltigung der Themen vom Auditorium und einem zu groBen Podium geschieht. Es werden immer die gleichen Fehler gemacht durch die GreBe des Podiums - sechs Leute auf dem Podium sind von vornherein ungeeignet, urn ein Thema auszutragen, aber man braucht diese Leute, damit die anderen kommen - man braucht die zugkraftigen Namen. Das ist eine Eigendynamik dieser Veranstaltungen: Die Zusagen erfolgen nur unter der Voraussetzung der Teilnahme bekannter Theaterleute. Abgesehen von dieser ungOnstigen Situation einer Podiumsdiskussion war das Thema von gestern viel zu global. Konkreter ware die Frage danach gewesen,wie die Autoren die sogenannte Wende bewerten und welche Erfahrungen sie als Privatmenschen, als Burger der BRD oder der DDR damals gemacht haben, wie sie das betroffen hat. Es ware wichtig, zunachst das gesellschaftliche Ereignis voranzustellen und dann zu fragen, ob das Oberhaupt in ihr Schreiben eingegangen ist. Eine Alternative ware die Debatte Ober StOcke dieser drei Autoren gewesen, die dann allerdings hatten bekannt sein mOssen. Eine Mischung aus beiden Vorgehensweisen und eine weitere Alternative ware auch die Fragestellung, wie zwei auf dem Podium sitzende Leute als eingefleischte Westleute dazu kommen, ihre StOcke im Osten Oeutschlands anzusiedeln- und mit welchen Folgen. Das ist eine AnmaBung. Man kann in beiden StOcken nachweisen, daB die Darstellung von OstbOrgern voller Klischees ist. Anstatt daB man sagt: Aha, der arbeitet so und so - besteht eine Feindschaft zwischen West-und Ostkollegen am Theater. Zuerst mOBten sie einmal ihre Probleme gegenseitig kennenlernen. Es ware auch gut, wenn wir versuchen wOrden, die unter- schiedlichen Arbeitsweisen und die dadurch auftretenden Probleme morgen zu diskutieren. Es ist ja auch erst ein Beginn. Es kann ja nicht darum gehen, eine Bestandsaufnahme von Emotionen 47 zu machen. Die Bestandsaufnahme verschiedener Theaterpraxis erfordert schon eine gewisse Analyse, eine abstrahierende Herangehensweise an diese Informationen - wobei mir jetzt kein Theaterwissenschaftler einfallt, der einen solchen ProzeB beschreiben und analysieren konnte. Die Grundlage ist doch, daB man zunachst einmal Erfahrungen sammeln muB. Aber es genugt nicht, nur Erfahrungen zu sammeln, man muB auch etwas daraus machen. Herr Everding schreibt ja in seiner Zeitung - pauschal auf den Punkt gebracht - eine Euphorie Ober den DDR-Staat, weil er auf den Proben praktisch nicht zugucken konnte. Ich mochte noch einmal auf die Frage nach dem groBen Auditorium zurOckkommen. Kann das wirklich d i e Form sein, Themen zu erortern? Das groBe Podium verfuhrt immer dazu, daB statements abgelassen werden. Es kommt keine wirkliche Diskussion zustande. Es ist wichtig, das gegenseitige Kennenlernen als ersten Schritt zu begreifen, um dann bestimmte Problemfelder konstatieren zu konnen. Dazu ist der Vorschlag sehr wichtig, zwischen den Jah- restagungen kleinere Veranstaltungen zu machen, um die Kommunikation und den Austausch nicht abreiBen zu lassen. Eine in diesem Sinne sehr positive Veranstaltung, die in die Theater hineingewirkt hat, war die Strukturdebattentagung, die Auswirkungen auf das Theater hatte, ohne daB sich das jetzt in konkreten Beitrittserklarungen niedergeschlagen hat. In den letzten Jahren gab es immer eine Veranstaltung - mit mehr oder weniger Erfolg -, in der Autoren vorgestellt wurden. In diesem Jahr fand sie nicht statt. PierwoB problematisierte diese Stuckvorstellungen, da sich die Erwartung, die Stucke dann im Detail gemeinsam zu besprechen, was die Lekture voraussetzt, nicht erfullt haben, da die Stucke nicht in genugendem MaBe gelesen warden waren.Sollten wir diese Vorstellung van neuen Stucken nicht doch weitermachen?Diese Veranstaltungen sollten wie ein Seminar gehandhabt werden - die Lekture ist Pflicht. Wir haben in der ehemaligen DDR auch diese Stuckvorstellungen gehabt, aber wir haben prinzipiell nur Stucke genommen, die noch nicht beim Verlag waren, so daB die Autoren die Moglichkeit hatten, sich vorzustellen. Dadurch war die Zielrichtung eine andere. Die Autoren waren sehr angewiesen auf irgendeine Form van Resonanz.Aber auch bei uns lag die Gewichtung auf den Autoren, denn sie hatten fast mehr Interesse, sich mit den Theaterleuten auseinanderzusetzen als die Dramaturgen mit den Autoren. Es ware denkbar, dieses Thema einmal genauer zu untersuchen auf der nachsten Jahrestagung. Aber nicht so, daB man den "Ossi" und den "Wessi" gegenOberstellt, sondern in der Weise, daB man Arbeitsaspekte beleuchtet und an Hand dieser Arbeitsaspekte sich dann die Unterschiede , wo sie vorhanden sind, zeigen. Auf diese Weise werden aber nicht die Unterschiede zum Thema gemacht, sondern das Thema ist die gemeinsame Arbeit. Wenn Dramaturgen angesprochen werden sollen, dann ware es doch fOr die Dramaturgische Gesellschaft ein Leichtes, eine solche Veranstaltung zu initiieren und vielleicht sogar in "Theater heute" und "Theater der Zeit" die Veranstaltungen fOr ein geringes Entgelt zu ver6ffentlichen.Oas hatte dann einen offiziellen Charakter und es fallt den Leuten dann leichter, sich in ihrer Weise zu organisieren. Aber das Festhalten an einem Vorstand ist auch wichtig, denn es gibt ja Ruckfragen. Jedes Theater, das aktiv werden mochte, kann Initiativen ergreifen, die dann in der Dramaturgischen Gesellschaft als einer Art Dachverband eingebunden waren ,vertreten durch den Vorstand. Der Vorstand der Dramaturgischen Gesellschaft ist jederzeit offen fur Initiativen und Anregungen, die van den Mitgliedern ausgehen, und wird sie unterstutzen. Protokoll: Karin Uecker - 19.12.1991 49 DRAMATURGISCHE GESELLSCHAFT BILANZ 1991 1. Bestand zum 1.1.1991 DM os SFr 2.174,31 Kasse Banl-: 31.05~,7~ PostGiro Ostereichische Banl-: Sch>;eizer Banl-: Best and gesamt: 3.710,49 6.32~,69 21 90 36.939,5" 6.324,69 21,90 33.917,10 ~.37~,-- 967,75 2. Einnahmen ~itgliedsbeitr~ge Zuwendungen .\nzeigen Biicherverl-:auf Die 132.930,-6.096,29 442,90 6stereichische und schweizer Konten werden in 1992 und erscheinen in der Bilanz 1992 989,65 Bestand und Einnahmen gesamt 210.325,83 10.698,69 ~mbuchungen get~tigt 3. Ausgaben 'li tgliedschaften Porti/Telefon/Kontogebiihren 11.060,05 Honorare: Gesch~ftsfiihrer 21.700' -- Hilfsl-:rafte 13.416,27 Referenten/~utoren 22.5U,77 82,50 Reisel-:osten/Hotell-:osten 48.978,36 B(iroma terial Anzeigen/Werbung 22.997,20 Biicher/Broschiiren 10,-- 276,-- 10,-- 846,29 783,78 Drucl-:l-:osten 44.999,59 ~ieten 18.347 26 A.usgaben gesamt 276,-- 205.726,07 4. Verhaltnis Ausqaben/Einnahmen DM os SFr Einnahmen/Bestand 210.325,83 10.698,69 989,65 !\.usgaben 205.726,07 276,-- 10,-- -1.599,76 10.-122,69 979,65 Bestand gesamt 5. Bestand zum 31.12.1991 1\asse BanK PostGiro Ostereichische BanK SchJo.·eizer BanK 16,75 971,3-l 3.611,67 10.422,69 979,65 6. Riick1agen Umbuchungen von der Ostereichischen BanK und der SchJo.eizer BanK 51 P R E S S E - E C H 0 zur Jahrestagung 1991 Die Tagesze1tung Husgabe Berlin VR W-1000 Berlin 61 STAMM 91: B 0. 0 10. O=ke1ne Ang.t G 84. 6} 26.11.91 ~ N Va t_D sich bisher kaum in den Inhalten der demschen ie deutsche Wiedervereinigung schHigt Theater nieder, stellten am Freitag in Potsdam mehrere Autorenaufder Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft fest, dieauch UDerdas., Theater in der Obergangsgese!Jschaft" diskutiene. Zu Beginn der 39. Jahrestagung beschiiftigten sieh die Autor(inn)en E1friede Muller. Lothar Trolle und Irina LiebmannsowiederPublizist Giinther Riihlemit der Frage .,Renaissance des biirgerlichen Theaters oder Reagieren auf eine neue Wirk.lichkeit?" . Nach Ansicht Riihles ist das Theater .,in ein Loch gefallen". Die iiltere Generation der Autoren sei bei ihren atten Themen geblieben. Die jungen Autoren wall ten die Gegenwart beobachten. Viele Theater in den neuen Bun- •arkisohe Allge1eine Potsda1er Tag~sze1tung 0-1561 Potsda1 ;TAI!Il 91: B 0. 0 iO. O=keine An g. I G 300. Ol 23.11.91 desliindem batten sich den ,biirgerlichen Spielpliinen" geOffnet. Ahnlich wieder Mauerbau 1961, finde die Wende im Theater nicht sum. Doch die Suche nach den Bertihrungspunkten mit der Gegenwart beginne. .,Die Zukunft wird eine spannende Zeit. ·• Meinte Rtihle. Elfriede Miiller und Irina Liebmann kritisieren die Arbeitsgewohoheiten der Dramaturgen. Vieles werde einfach nicht gelesen oder nicht verstanden. Frau Liebmann. die 1988 die DDR verlieJ3, stellte eine Erstarrung und ein autoritiires Denk:en in ihrer friiheren Heimat fest. Diese Haltung kritisiene sie auch an dem ostdeutschen Dramatiker He in er Mii 11 er. Nach Ansicht Trolles wurden die Autoren durch die Vereinigung nicht zu einer Veriinderung gezwungen. Er sieht im Theater eine ,Fixierung in den aheil' Verbiiltnissen". Die Dramarurgin Ulrike Hafi sprachvoneinerderzeitigen ,Explosion des Mittelmafies". Mit Unterstiitzung der brandenburgischen Landesregierung wares mOglich geworden, daB zum ersten Mal die Hauptstadt eines neuen Bundeslandes Tagungsort wur~ N VI Theaterschaffen im Streitgesprach 39. dg-Jahrestagung in Potsdam eroffnet Potsdam (MAZ). denburgischen• Kultusmini~ Die 39. Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellscliiift ( dg} wurde gestem im Potsdamer Residence-Hotel eroffllet. Bis Sonntag diskutieren Autoren, Regisseure, Dramaturgen und Theater· wissenschaftler den aktuellen Stand des Theaters in Ost und West im Gefolge der deutschen Vereinigung. Nach der kurzfristigen Absage des ursprungiichen Veranstaltungsortes Oberhausen verdankt die Gesellschaft dem Bran- 52 sterium raumliche und finanzielle Hilfe, was dg-Vorsitzender Klaus Pierwo6 <lankbar wlirdigte. Ein Autorenforum mit.den Dramatikem Elfriede Muller, Lothar Trolle, Irina Liebmann und Dr. Giinther Rtih1e zeigte am Vormittag rasch das, wie es hieS, .,gesammelte Elend", in dem sich das west.ostliche Theater gegenwartig befindet. (MAZ wird noch ausfiihrlich berichten.) Gerold Paul Neue Ztireher Zeitung CH-8008 ZUrich STAll! 91: 153.0 CH 2'3.11. 91 Kulturnotizen Die Dram:aturgische GeseUschaft Deutschl•ods hat . an ihrer 39. Jahresmgung (bis 24. November) in Pots1 dam unter anderem die Frage zu beantworten versucht, · wie das deutsche Theater der Obergangsgesellschaft auf die neue Situation in Deutschland, Europa und der Welt reagiert. Trotz den Unterschieden gn:ifen Theater im Ost- und Westteil des Landes kaum das Thema der deutschen Wiedervereinigung auf, stellten die Regi.s- seure, Autoren, Dramaturgen und Intendanten fest. t.-l .. nJ Thedter Rundschdu 1/1992 39. Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft 1n Potscam Driiben bestimmte das ZK, hier das Feuilleton er Be~uch eine: so!Chen Tagung lohnt unmer. Hter treffen Dramaturgen und andere Theaterleute :zusammen, urn sich Anregungen und lnformationen zu holen. Die Diskus.sionspodien sind meist hoch besetzt, die Themen breit gefii.chert. D .>F,26 ?.erlin ·::AMM 31: ~ ~t5t:,,:; C5.11.'31 Warum ist das Theater 73 j),J.p ein Loch gefallen? Von Detlef Friedrich Die Theaterleute tagten im Residence Hotel Potsdam. Das Signet, aut westdeutsch: das Logo der GroBplatten-Herberge zeigt eine KO~ nigskrone, obenauf, wen wundert es, ein Kreuz. Man beriet in der ehe· maligen Bezirksparteischule der SED. So vie! zur Welt als wirkliches Theater. Und zum Theater als wirkliche Welt: Die 39. Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft war die zweite gesamtdeutsche. Als Ober~ greifendes Thema hatte man sich die Veriinderungen in Deutschland, Europa, der Welt und ihre RUckwir~ kungen auf das Theater vorgenom~ men. Man kam bis Deutschland und blieb ziemtich hoffnungslos drin stecken. An der niederdrOckenden Architektur der Honecker~Schu~ lungsstiitte, an den streng und devet auf Kanzel und Priisidium ausge~ richteten Reihen aUein kann es nicht gelegen haben. daB die Diskussion so langweilig und wehleidig ausfiel. Die Dramaturgen haben gar nicht erst versucht, den hiiBlichen Saat im Streite van ldeen ertrS.glich zu machen. tm Theater geht die Krise um, se it es Theater gibt, nur jetzt scheint sie manchem sogar zu gefaUen. Die Diskussionsrunden verliipperten sich, die Teilnehmer schienen erleichtert. wenn die Zeit verstrichen. Die Konsterniertheit der Theater~ schaffenden in Ost und West hS.It seit der Wende an. Fast wie Hohn wirkte der letzte Satz im gedruckt vorgelegten Referat von GUnther RUhle, des ehemaliger Schauspielin~ tendanten in Frankfurt am Main: ~Die Zukunft wird eine spannende Zeit." Diesen geistigen Ansatz _haben die Teilnehmer schlicht verweigert. MerkwUrdig: Theaterleute haben in den zwei Jahren seit November '89 mit dem Aufrilumen alter lrrtUmer eigentllch kaum angefangen. lrgendwie will oder kann man dem gro8en Publikum nicht verzeihen, daB es den im Theater erfundenen Satz ~ Wir sind das Volk" in Wir sind ein Volk" wendete, und will es dafi.ir wohl ein biBchen bestrafen. Man wird sich klarwerden mUssen, daB Volk sich selbst bestimmen dart. Es dominierten in Potsdam die DDR-Theatermacher das Gespra.ch, und ihre westdeutschen Kollegen fragten wenig nach. Der Dramatiker Lothar Trolle beklagte .das Verschwinden der Metapher DDRN, der Regisseur Frank Castorf hiilt Bayern fUr Ausland, die Autorin lrina Liebmann dagegen sieht im Osten die zerstbrerische Kraft und in Deutschlands interessantestem Dramatiker Heiner MUller den Ober-Stalinisten. An die Gurgel ist man sich wegen solcher Meinungsverschiedenheit keineswegs gegangen. Denn in einem schien man sich denn einig: Schuld ist das Publikum. ftEs verweigert die Auseinandersetzung", sagte ein Redner. Der Satz blieb unwidersprochen. Eine andere Teilnehmerin tat die spontane AuBerung: ftDas . MittelmaB explodiert." Darin steckt Selbsterkenntnis. Es kann doch nicht sein, daB es Deutschland nun gibt. und die Theaterleute gehen nicht hin? Die bedenkenswerte Tatsache, daB das Stuck .Karate-Billy" des westdeutschen Klaus Pohl Uber die DDR an zahlreichen BOhnen der alten Bundesliinder, aber an keiner der neuen Bundesl8nder aufgefUhrt wird, nahmen die Dramaturgen hin wie das Wetter. Sie fragten nicht nach GrUnden. Diese Dramaturgenversammlung ist · nicht typisch fUr Deutschlands BUhnenvielfalt, aber die Situation scheint signifikant: lm Osten trauert man dem gutfinanzierten, aber gescheiterten Weltverbesserungstheater nach, und im Westen hat man sich damit abgefunden, daB Theater Teil der prachvouen KonsumgUterin· dustrie ist. lndessen leeren sich die Zuschau· ersaJe. Diesmal reichtensie van der Medien- · landschaft bis hm zum zeltgenoss 1schen Musiktheater. In der Hauptveranstaltung ging es urn die Frage, ob der politische Umbruch semen N 1e, derschlag in der Theaterarbeit gefun. den ha be. Die Ost-Theater holen die Sti.i.cke der SOer Jahre nach. A us Exi· stenznot bieten sie vie! Unterhaltung. Eine Aufarbeitung der JUngsten Vergangenheit gibt es bier mcht. Auch im Westen werden aktuelle StU:cke kaum geschrieben und aufgefi.i.hrt. Man mti.sse die Zeit schre1bend registrieren und verarbeiten. Einschneidende Zeitere1grusse wurden in der Darstellung ms Klischee abglel· ten, wet! sie typtsche Verhaltenswet· sen hervornefen. Oberdies kbnne man schreibcn was man wall e. die Theater lesen nicht oder ober!Hi.chiich und in· terpretieren dann falsch. So die JUO gen Autorinnen Elfriede !v1i.i.ller und lrina Liebmann. ft 1 Wie stark die Arbeit im Theater vom Zeitgeschehen gepragt sein kann. machte Frank Castorf deuthch. Sewe Rauber-Inszemerung m der Volks· bi.i.hne Berlin/Ost (Premiere September 1990} hatte er im konUnUlerlichen Handlungsablauf geplant. Ab er 1n der Probenarbeit se1 alles kaputt yegangen, die Deformation habe s1ch verselbstii.ndigt. - Fri.i.her habe lhm dte progressive Arbeit SpaJj gemdcht. denn die GeUi.hrdung sei Stunulan~ gewesen. - Der Erfolg se1ner ersten West-lnszemerung habe lilll nJchl sehr beeindruckt. In der DDR hatte das ZK bestimmt. wo es la.ngzugehen babe, 1m Westen taten das etmge ton· angebende Feuilletons. Ober die Arbe1t im unbekannten Land benchteten anschliefiend \·V~nderer zwischen Osl und West. Schau~pteler und Theaterleiter. Wenn auch letztere meinten, daB es keine Probleme m der Zusammenarbeit gabe, so ze1gte SJch. doch un Verlauf der Diskus:::.IOn. oab innerhalb der Ensembles Spannungen aufkommen. Unterschwelilg wuren es Existenzci.ngste. die dazu tUhnen. Ab er es war auch die Recie vom unile· xiblen Reagieren der Ostkoilege1~ und van schlechterer handwerklJCher A us· bildung der Westler.- Es w1rd ouch 111 den Theatern noch seme z.,:Jt hrau· chen, bis man sich zusammenyl:!rdu!l hat. Elk 53 ..o-l·)(H) ~et•llf, .:.'-' :-:-).3 ::AMM 91: .: -t. : ~. iso: ~;J.,OI ?~ Die Zukunft wird eine spannende Zeit Vernunf,t und streitbare Toleranz I Die 39. Jahrestagung der Dramaturgischen Gesel/schaft in Potsdam --, r • ;;- n , __ , 1/J;:'I' StOBseufzer des iheaterdichters, Prinzipals und Liebhaberdarstellers Johann Wolfgang van Goethe: ..... und amEnde ist do eh das schlechteste Theater besser als die beste Langweil." 1st auch die 39. Tagung einer mit klugen K5pfen gutbesttickten Dramaturgischen Gesellschaft besser als solche gute Langweil? Man weiB doch, Probleme k5nnen nicht durch Vortri:ige, Podiumsdiskussionen oder Debatten gelost werden. Oder doch? In dieser aufgeregten Zeit ist auch Zuh5ren zu einer Kunst geworden. Sie braucht das Miteinander der mit einer Sache Beschattigten, fordert die einzige sinnvolle Aufrtistung, die der Vemunft, der Klugheit. der streitbaren Toleranz. Dafur trat die Drarnaturgische Gesellschaft ein, mit Ehrgeiz und Soliditi:it. Dem Theater in der Obergangsgesellschaft war der erste Tag gewidmet, auf der Grundlage eines Aufsatzes van Gtinther Rtihle, .. Das zerrissene Theater", einem ~Rtickblick auf die Szene des Jahrhunderts". Zwei Gesprachsrunden, moderiert von KLaus PierwoB, sollten Kldrung bringen, wie das Theater den politischen Einschnitt des Herbstes 1989 verarbeitet hat oder verarbeiten wird, welche Moglichkeiten sich das Theater heute sucht, ob·es in ein ..Lochw gefallen ist und seine Utopie verloren hat, wie es sich in der neu gewonnenen deutschen Einheit verhalt. Keiner wohl hat erwartet. daB im Potsdamer Residenz-Hotel fertige Antworten, saubere Aufklarungen geliefert werden konnen. Aber der Versuch. die Sache komplex anzugehen, mit Regisseuren, Dramaturgen, Theaterleitem und Kritikem verdient schon Achtung. Denn gerade die Autorinnen Irina Liebmann und Elfriede Mtiller sowie der Auter Lothar Trolle vermochten das Verstiegene oder Ausgettiftelte mancher Frage wieder auf den nackten BUhnenboden zu holen. Sie wollen, zuerst. gespielt werden. Sie beobachten, wie sich Menschen verandem, begleiten schreibend einen ProzeB (Elfrie· de MUller), notieren, was sie erleben, was sie bedriickt (Irina Liebmann) oder sind jetzt einfach fleiBiger als vorher (Lothar Trolle). Mit dem Begriff Revolution gingen alle drei sehr vorsichtig urn. Auch die Sorge, das Theater sei in Gefahr, an die Unter- haltungsindustrie ausgeliefert zu werden, war ihnen gemeinsam. Und: .Der RiB ist das drarnatische Thema, nicht die Vereinigung", sagte Lothar Trolle. Grund genug also, Gtinther Rtihles Postulat nachzugehen, ~die Zukunft wird eine spannende Zeit". Im Bekenntnis zu In der zweiten Gesprachsrunde, besonders bestimmt van Frank Castorf und Gi.inther RUble, kam der Utopieverlust des Theaters zur Sprache ...Wir werden alle van der Gesellschaft ausgehalten·', sagte Castorf - die Ideologieproduzenten van friiher liefem jetzt Ware auf dem Markt ab. Der Regisseur bekannte sich zur Funktion Anzeige des ~Pausenclowns", freilich verstanden als explosive Mischung von·Phantasie, Vitalitat, SpaB. Neue Geschichten will Castor! erzahlen, die Wahrheit hinter den Dingen aufdecken, ein Theater machen, das mit der Zeit und den Leuten zu tun hat. Utopieverlust? Ja, wenn die Gesellschaft nur noch mit Spielereien unterhalten wird. Nein, wenn sich das Theater auf seine eigene Utopie besinnt: Die Einmaligkeit, Sch5nheit auch des haBiichen Menschen zu zeigen, Uberkommene Bilder mit neuer Asthetik aufzulOsen. Besinnung des Theaters auf sich selbst war Rtihles Forderung, nach dem Wegfall der Motivation van ® aufien, Behau:Ptung des Politischen nicht zuletzt durch den Angriff auf iisthetische Konventionen. Eine Forderung, die auch NATURMATRATZEN den Debatten tiber mikrokosmische Tendenzen im Film, liber die darstellenden FUTON · Kindermatratzen Ktinste in der neuen Medienlandschaft, Bettw8.sche und Gastebetten das drohende Ende der Konzepte im MuWinterfeldtstraBe 37 • 1/30 siktheater und die Theaterarbeit in frem2157672 (11-18. Sa. 10-14 Uhr) der Welt ihren Stempel aufdriicken wirdam heutigen Sonntag beendet die DrarnaFr!edelstra6e 27 • 1/44 turgische Gesellschaft ihre Beratungen. Fabrikgebaude 1. Hot, 1. Stock Noch einmal Goethe: _oas deutsche TheaFundgrube: Futons + Stoffe ter stellt Jeidenschaftliche Gegenstande 6236083/4 (Mo.-Fr. B-15 Uhr) mit seiner Ruhe dar." Das tat die Dramaturgen-Vereinigung auch. MOge die Ruhe wirken aufs Alltagliche - als Produzent diesem Satz beschrieb Riihle das Theater von Unruhe, VitalWit, SelbstbewuBtsein, als einen Vorli:iufer, Vordenker, das in ge- im Sinne Frank Castorfs. sellschaftliche Prozesse hineinwirkt und CHRISTOPH FUNKE gewissermaBen aufier Tritt gerat, wenn / das Vorgedachte, Vorbereitete sich ereignet hat. Gerade deshalb mufi das Theater wieder die Beriihrung mit der Gegenwart suchen, sich um neue Stoffe bemiihen, den AnschluB zum Heute herstellen. Es gibt kein Leben ohne das Fragen, und nur unruhiges, kritisches Fragen kann verhindem, daB Theater zum Ausstattungsinstrument der Wohlstandsgesellschaft Deutschland , verkommt. SCHLAFEN 1ST KITS uNE I ~~--------------------~/ 54 ~eutscnes Hllge1e1nes ;unntagsolatt ,R .1-.:000 haaourg Sein oder Nichtsein ! ~' nfiJJ-~.1 rr- Die Finimzen der Ost-Theater ie Zukunf't hat noch nicht begonnen, zuviel Vergangenheit ist noch abzuwickeln. Wenn das Geld reicht, wird die Gegenwart etwas verlilngert. Die Situation der Stadt- und Staatstheater in den neuen BundesHindem ist zum Gleichnis fiir die ganze Region geworden D ,,,__ _ Die 39. Jahrestagung der 1953 ln Westberlin gegriindeten ..Dramaturgischen Gesellschaft" konnte am-vergangenen Wochenende allerlei zum Theater in einer .. Ubergangsgesellschaft" beitragen, die sich noch langst nicht als eine gesamtdeutsche verstehen kann. Van der Zukunf't war die Rede kaum. Das Nachstliegende dominierte, zeichenhaft. Die Tagung konnte nicht, wie geplant, in Oberhausen stattfinden, sondem mu.Bte kurzfristig nach Potsdam verlegt werden. Ort der Handlung: ,Residence Hotel Potsdam", das vor zwei Jahren noch Bezirksschule der SED hieB. Problem: Bis 1992 sichern Bundesmittel die Existenz fast aller Stadt- und Staatstheater ln der ehemaligen DDR, die bis zum 31. Oktober dieses Jahres noch nicht geschlossen waren. Die' Theaterlandschaft muB neu strukturiert werden. Welche Theater ab 1993 weiterarbeiten kiinnen, ist noch ungewiB. Stadte mit weniger als 100 000 Elnwohnern werden sich keln Mehrspartentheater leisten kOnnen. Mehr Premieren und kiirzere Laufzeit der StO.cke, kUrzere Probenzeit und mehr Kinder- und Jugendtheater, das zeigt schon heute, wohin die Reise geht. Mehr Kooperation ist vonn6ten bei gr6J3erem Risiko. Zumal das bloBe Nachspielen jener Stiicke, die in den alten Bundeslandem erfolgreich waren, auf Dauer nichts niitzt. ,Dall Kleists Lustspiel ,Der zerbrochene Krug' urn die Jahreswende 1990/91 in Ost und West das Stuck der Stundewurde, war angesichts der historischen Briiche eher ein paradigmatischer Scher2", so Giinther Ruhle, der ehemalige Intendant des Schauspiels ln Frankfurt am Main. !m ,Ruckblick auf die Szene des Jahrhunderts" vermittelte Riihle der Tagung den dringend niitigen Geschichtsbezug. !m Blick nach vorn jedoch konnte auch er nur Fragezeichen setzen: ,Renaissance des biirgerlichen Theaters oder Reagieren auf neue W'll'klichkeit?" !m Erfahrungsaustausch unter dem Motto ,Ostler im WP.sten, Westler im Osten" haben Theaterleute aus Osterreich, der Schweiz und aus Bayern die besseren Karten, sie werden nicht als Ossis oder Wessis, sondem .,als Wesen der dritten Art" taxiert, so Michael Muhr ln Parchirn. Und wo die Ensembles schon gemischt arbeiten" hat es nur Anfangsschwierigkeiten gege. ben ... Die Beispiel·Funktion des Theaters•· (Berndt Renne, Rostock) verwandelt Unsicherheiten in Kreativitat. Wo die .,Veranderbarkeit der Wirklichkeit" erfahren wird, kann Theater in die Gesellschaft hineinwirken. ,Noch ist Polen nicht verloren!" So der Titel der KomOdle van Jiirgen Hofmann nach dem amerikanischen Ernst-Lubitsch-Fllm .. Sein oder Nichtsein" van 1942. Die Dramaturgische Gesellschaft sah sie im Hans-Otto·Theater. Es wird am 30. November seine Pforten schlieBen. SchlieBen mussen. Aus baupolizeilichen Griinden. Ab Mai wird Theater im Zelt gespielt. In einem neuen mit 600 Platzen. An dem zur Zeit noch genaht wird. ARNIM JUHRE Nurnberger Hachrichten VR W-8500 Nurnberg STA"" 91: G 361.4 lsa: 396.31 28.11. 91 N IV Allgemeine Verunsicherung , ~aturgen- Tagung in Potsdam • '~n der Halle der Bezirkspaneischule der SED, pardon, des Res1dence Hotels in Potsdam, wartete ein Filmteam des Goethe-Instituts auf prommente Dramaturgen. Sie aber lieBen sich auf der Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft nicht blicken. Vielleicht weil es nicht urn spezielle dramaturgische Fragen ging, sondern fast nur urn .. den Ril3", der das vereinte Deutschland noch immer - oder schon wieder? - teilt. Auch die Theaterwelt? Gefragt war nach den Erfahrungen der Westler und Ostler miteinander und den Reaktionen derTheaterleute auf die neue Wirklichkeit., beispielsweise im Spielplan. Aber wer mit einem neuen Aufbruch gerechnet hatte, verbunden mit einem enormen Nachholbediirfnis. sieht sich enttauscht. Die allgemeine Verunsicherung und der LOerlebenskampf der Theater scheinen den Blick auf die neuen Perspektiven und MOglichkeiten verstellt zu haben. Wie gel8.hmt wirken auch die Dramatiker in den neuen BundeslSndern. Die Wende, das groBe deutsche Thema, inspirierte offenbar nur westd.eutsche Autoren wie Klaus Pohl. Elfriede MUller und Botho StrauB deren Sti.icke aber in Ostd.eutschlanci nicht gespielt werden. Das Theater das in der DDR einen sehr hohen Steilenw~~ hatte al~. einziges Forum halbwegs kntischer offentlicher Oiskussion begegnet jetzt Aggressionen. Mit Hilf~ des Bundes gelang es zwar, all die vielen Theater zu erhalten, aber das trifft bei den Biirgern auf wenig Verstandnis. Nicht nur die neuen befristeten Vertr8ge begriinden die Situation der Biihnenmitglieder neu. Zum erstenmal wird auch nach Eff.izienz gefragt. Die neuen Intendanten, die aus dem Westen kamen. sehen sich vor die Aufgabe gestellt., .,ein Fahrrad in ein Auto umzubauen wBhrend der Fahrt", und ftihlen sieh manchmal, wie si eh Missionare im Mittelalter geftihlt haben mOgen". Sie vor allem beklagendie neuen riiden Verkehrsformen, daB Menschen so m.iteinander umgehen. nur weil sie zufiillig in anderen Gesellschaften aufwuchsen. WERNER SCHULZE-REIMPELL 55 u) Konflikt der Generationen. Jahrestagung der Dr~maturgischen Gesellschaft in Potsdam Den bizarren Tagungsort hatte Brandenburgs Kultusministerium spendiert. nachdem eine Einladung nach Oberhausen von der Stadtverwaltung wieder zuri.ickgezogen worden war. Und so traf es sich gut. da13 die Dramaturgische Gesellschaft 1m Kongref3saal einer ehemaligen Parteischule i.iber das _Theater in der Obergangsgesellschaft - Renaissance des bi.irgerlichen Theaters oder Reagieren auf neue Wirklichkeit?" diskutieren konnte. Der diskrete Channe der Potsdamer Kaderschmiede illustrierte immerhin den historischen Einschnitt, i.iber den die Protagonisten auf dem Podium nachgrii- beln sollten. Da schwieg der Ostberliner Dramatiker Lothar Trolle erst einmal bi.ihnenreif. SchlieBlich fiel Trolle zum 9. November 1989 ein, daB ihn an jenem Tag der MauerOffnung die Heizungsmonteure in seiner Wohnung versetzten. Oberdies babe sich, so Trolle, so viel gar nicht geandert, "auch wenn ich fri.iher fauler war und mir das heute nicht mehr leisten kann~. Es gebe reichlich alten Staff zum schreiben. die Vereinigung selbst ist fiir Trolle - und B.hnlich hat sich ja auch schon Heiner MUller geaufiert - kein drarnatisches Thema. Ein RiB scheint durch die Generationen zu gehen. Die Autorinnen Elfriede Mtiller und Irina · Liebmann. beide jUnger als Trolle und Heiner MUller und auch l8.ngst nicht so erfolgreich auf den BUhnen. suchen nach den allta.glichen Geschichten. nach der menschlichen Dimension irn Umbruch; auf dem Podium war flugs das Schlagwort van der "neuen Einfachheit" gepr8.gt. Da sprach auch Entta.uschung aus den Redebeitr8.gen, zaghafter Protest gegen die vielgespielten Kollegen. Irina Liebmann kann Heiner MUller nicht mehr hOren, .,der klingt wie Josef Stalin selbst". der schreibe im Grunde die ~alten autoritaren Strukturen" fort. Elfriede Mtillers Frust richtet sich gegen Klaus Pohl. Sein im Westen, aber nicht im Osten iiberall gespieltes Stasi-StUck .. Karate-Billy kehrt zurlick" sei eine 8.rgerliche Kolportage, wa.hrend ihr eigener, ::.0 ')Kl'l t.4f.. hochsensibler Berlin-Text "Goldener Okin den Dramaturgenstuben nicht einmal gelesen wtirde. ~o,-6~:uJO MUncnen ·.:iAMI'I ·~!: G -.63.1 ..:.&.11.31 Muller (Elfriede) oder Muller (Heiner), Pohl und Liebmann - das ist nattirlich eine fatale Alternative. Fri.iher hiefi es immer, die Theater spielten keine neuen deutschsprachigen Texte. Jetzt spielen sie offenbar die falschen. Nicht weniger unsinnig war die Aufteilung der Debatte in zwei BlOcke. Am Vormittag befragte Klaus PierwoB, Chefdramaturg am Maxim-Gorki-Theater Berlin und Vorsitzender der Dramaturgischen Gesellschaft. die Autoren. am Nachmittag, im zweiten Durchgang, wurden die Theatermacher examiniert. Noch einmal: W1e war das mit dem Einschnitt? Regisseur Frank Castorf (er wird demniichst am Deutschen Theater Lothar Trolles "Hermes in den St8.dten" uraufflihren) unterhielt das Publikum mit seiner wie immer wunderbar einstudierten schlechten Laune. Castorf spielt seinen Clown so eitel. daB ihm selbst das grOBte Kompliment nichts anhaben kann. Sein Kollege Wolf Bunge, Regisseur und Intendant der Freien Kammerspiele Magdeburg, blieb gleichfalls beim bewEihrten DDR-Pragmatismus: Selbstverstiindlich sei das alles ein gewaltiger Einschnitt gewesen, aber wir machen weiter mit unserem Theater, wenn nicht in Magdeburg, dann eben woanders. Allein Giinther Riihle, inzwischen federfi.ihrend im Feuilleton des Berliner Tagesspiegel, wagte den Kahlschlag. Und die Utopie. Ob Ost oder West, das Theater ist in ·ein Loch gestiirzt. Doch mit dem momentanen Verschwinden der gesellschaftlichen Utopie, dem Gegenentwurf. sei das Theater nicht zum Siechtum verurteilt. Das Theater kOnne nur a us eigener Kraft eine Utopie haben - oder keine. Am Abend ging es dann nach Potsdam ins Hans-Otto-Theater, zu einer der letzten Vorstellungen vOr der SchlieBung des Hauses und dem Umzug in Ausweichquartiere. Das StUck hieB sinnigerweise .,Noch ist Polen nicht verloren." ROOIGER SCHAPER • Ratlos1gkeit bei den Theaterautoren Bei der 39. jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft ste!lte der Vorsitzende Klaus Pienvofi in Potsdam fest: ,.Wenn nach so einer Diskussion nur Stichworte fallen wie Ratlosigkeit und MittelmaJl, dann haben wir die Subver1ticnen nicht verdient." Dabei sollte die Ratlosigkeit eines ., Theaters in der Ubergangsge- sellschaft", so das Motto des Auftaktgespriichs, nichts Negatives sein. Gunther R\lhle definierte das 56 :sa: 02?. ;:,1 tober~ Theater als ,Vorliiuferinstitution". So sei es verstiindlich, wenn der Mauerfall und die Wiedervereinlgung in neuen Stiicken nicht direkt vorkiimen. Vergleichbares sei 1961 beim Mauerbau passiert. Die Konsequenzen des 9. No- vember 1989 beschrieben die Autoren unterschiedlich. Elfriede Miiller sieht Aggressivitiit und MiJlgunst wachsen und pUidiert fiir eine genaue Beobachtung des knpitalistischen Systema. lrina Liebmann meinte zur Wende: ,Diese Revolution hat nicht stattgefunden." Sie krltisierte die Haltung ehemaliger DDR-Schriftsteller wie Heiner Milller: ,Da spricht doch josef Stalin selbst." Lothar Trolle registrierte den 9. November deshalb, weil die angekiindigten Heizungsmonteure nicht kronen. Die bewegenden Stficke zur Zeltgeschlchte werden wohl noch ein wenig auf slch warten lassen. Christian Schindler "' ~ ;:; i "" " .:!! ~ ~ 0 M c ::D ..; !"' -=-;:: Q. ~ Ci "'._ ~ ~ - "" "' ·= § I"'>-;:: "' '"' "' ~ ~ .;:; ..; J-1080 Berlln oi~ 91: s 30.(• <7.11.91 •j-Qst Hat das Theater e1ne spannende Zukunft? , . ,,Restimee einer Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Potsdam x:'J f/r ·< •11U .. Die Zukunft wird eine spannende lustes" in ostdeutschen Landen sowie dem vielzitierten Allgemeinplatz eines Theaters der Beliebigkeit. der modischen Attitiiden im Westen Deutschlands. Nun wird ja die Krise des Theaters herbeigeredet. solange es das biirgerliche Theater gibt. In Potsdam jedenfalls kam niemand auf den Gedanken, die Krisen-These ad absurdum zu fiihren und vielmehr die Krise des Intellekts. der Yernunft. des europiiischen Wertesystems zu fonnulieren als ein Resultat der Entwicklung in diesem Jahrhundert. Solch ein Ansatz wurde erst gar nicht gesucht, hii.tte er doch womOglich bedeutet, tiefer zu forschen. nachzudenken iiber die dem Theater eigene Utopie- niimlich ,.die Ein liibliches Vorhaben Einmaligkeit und SchOnheit auch des scheiterte kliiglich hiil31ichen Menschen" vorzufiihren, .. iiberkommene Asthetiken in neuen Die Dramaturgische Gesellschaft Formen aufzulOsen" {Riihle) und auf unternahm den lOblichen. aber zum diese Weise zornig zu werden iiber Scheitern verurteilten, weil vielleicht destruktive Lebensform. Erst am Ende zu friih gestarteten und zu iiberdimender Tagung bekannte ein Teilnehmer, sioniert konzipierten Versuch. herauser fiirchte nicht den RiB zwischen Ost zufinden. welche F olgen der Herbst und West. vielmehr verstarke sich in '89 und die Yereinigung Deutschlands den niichsten Jahrzehnten das AuseinfUr die Theater haben, welche ArbeitsanderklatTen zwischen Erster und veriinderungen die neue Situation in Dritter Welt als wesentliches Problem, Deutschland. in Europa und der Welt und dem babe sich Theater gef:illigst rnit sich bringt. An drei Tagen saBen zu stellen. Ein einsamer Rufer. Denn vornehmlich Dramaturgen, auch Regisseure. Schauspieler. Intendanten, man verblieb brav in deutsch-deutscher Selbstgef:illigkeit. Die einen konDramatiker zusammen und scheiterten statierten. seit zwei Jahren wie eine kliiglich bei dem Vorhaben. sich der aufgezogene Spieluhr. den Wegfall des Tagungsthematik zu niihern geschwei,Feindbildes". Die verkrusteten stalige denn einen Meinungsstreit in Gang nistischen Verhiiltnisse seien gezu setzen. sprengt, wo solle das Theater nun Auch wenn der Konferenzort kaum seine Kritk ansetzen? Die anderen eine fruchtbare Atmosphii.re inspirierte. ist nicht zu verhehlen, daB sich die beklagten die ach so iibenniichtigen Versammelten wenig zu sagen batten Medien. welche auf die Theaterpolitik auf der zweiten gesamtdeutschen Jahder Liinder und Kommunen einen unmittelbaren. fUr die Blihnen nicht restagung der Dramaturgischen Gesellschaft. veranstaltet im Potsdamer selten schiidlichen EinfluB ausiiben Residence Hotel. So namlich heiBt wiirden. Regisseur Frank Castorf stOrte die heute die ehemalige SED-Bezirksparteischule. Und die Veranstalter gestatSchliifrigkeit des Auditoriums nicht teten sich tatsiichlich den Fehler, eine mit der Feststellung: .,Friiher haben wir ldeologie produziert, heute produTrennung zwischen oben und unten zu manifestieren. Die Gaste jeder Gezieren wir Marktwert." Ihm antwortespriichsrunde wurden auf der Biihne te Schweigen. Nein. die Dramaturgen auf dem Podium- plaziert. Im riesigen lieBen sich auf Castorf rticht ein und hielten ein Gespriich iiber die KonzepSaal dagegen verloren sich die ZuhOrer. Man plauderte heftig auf dieser tion der einzelnen Hiiuser beim HanKonferenz. Als sei die Sprachlosigkeit geln um einen hohen Marktwert fiir unwichtig. Spii.testens jetzt ware die iiber das Abenteuer Theater und die lnteressenlosigkeit daran durch GeMOglichkeit gewesen, tiber die Suche schwiitzigkeit zu vertuschen. Die der Theater nach ihrer Identitiit zu Kunst des ZuhOrens und der-Gegenre-·· disktttieren. ~Manche-·Biihnen behaupten ihr Profit durch ausgekltigelte de, die Kunst des Fragenstellens schien verlorengegangen irgendwo Spielplanlirtien oder Stiickkomplexe. zwischen dem immer wieder heraufandere versuchen bestimmte Publibescbworenen .. Theaterloch" und dem kumsschichten anzusprechen, dritte strapazierten Begriff des .,Utopieverwiederum definieren sich Uber avant- Zeit". verhieB Gilnther Riihle. friiberer Schauspielintendant in Frankfurt am Main. in seinem ErOffnungsvortrag iiber den Weg des deutschen Theaters in diesem Jahrhundert auf der 39. Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Potsdam. Doch wenn diese Zukunft, die Zukunft der Theaterkunst, ausschlieBiich von den Konferenzteilnehmem abhiingig ware, miiBte der Betrachter Riihles aufmunternden. von deutscher Theatergeschichte stimulierten Satz deprimiert abwandeln in: .. Die Zukunft wird eine nichtssagende Zeit" - jedenfalls auf der Biihne. ' ' gardistisches. kunstgattungsi.ibergreifendes Theater. Doch darilber fie\ kein Wort. Michael Muhr. Intendant am Mecklenburgischen Landestheater Parchim. verstand es als einziger. genau auszudriicken. wie das winschaftliche Umfeld der Region das Theater beeinfluBt. was fUr ein Publikum er mit welchen Stiicken in sein Haus locken will. Ebensowenig gelang es den Dramaturgen, iiber ihr Berufsverstiindnis miteinander ins Gespriich zu kommen. Alle wissen. in der DDR wurde die Produktionsdramaturgie gepflegt. an den Theatern arbeiteten stii.ckfiihrende Dramaturgen. die auch fUr eine Spie!plangestaltung verantwortlich waren. In der Bundesrepublik beschriinkte sich Dramaturgic an den meisten Bii.hnen auf Public Relations. Wie gehen Theaterleute. die aus den alten Bundesliindern in die neuen wechseln oder umgekehrt. mit dieser Situation urn? Eine Problematik. der man. obwohl existentiell fiir die Anwesenden wichtig, nur in KaiTeepausen Beachtung schenkte. Gleichfalls ins Leere verlief die Diskussion !Dit den Dramatikern Elfriede MUller. Irina Liebmann und Lothar Trolle. Ergebnis: Die Autoren fiihlten sich nicht selten vom Umgang mit ihren Stiicken durch die Regisseure vergewaltigt. Die Regisseure benutzten zur Verteidigung das Argument, die Schauspieler kOnnten nur schwer mit den zeitgenOssischen Texten umgehen. Und die Theaterleiter barmten ob des Fehlens brauchbarer Gegenwansstiicke iiberhaupt. Erfahrungen in einer fremden Welt Wiihrend der AbschluBrunde tat sich die fehlende Substanz der Tagung noch einmal deutlich auf. Regisseure, Theaterleiter und Schauspieler sollten ihre Erfahrungen in einer .,fremden Welt", im Osten oder Westen Deutschlands. beschreiben. Es zeigte sich als auBerst schwierig, Uber die unterschiedlichen Erfahrungen zu berichten. ohne dabei giingige Yorurteile · zu bedienen. B. K. Tragelehn warnte dann auch vor Pauschalisierungen. Die Chance allerdings, Uber die Spezifik west- und ostdeutscher Theaterarbeit eine Yerstiindigung zu beginnen, wurde auf · det Konferenz gena uSe" vertan wie die MOglichkeit, sich iiber StoiTe und Wirkungsasthetiken. eingedenk der verii.nderten europiiischen Wirklichkeit, produktiv auseinanderzusetzen. Claudia Petzold 57 P R E S S E E C H 0 zum Theaterreport Die Situation der Buhnen in den neuen Bundeslandern Die Tagesze1tung rlusgaoe Berlin W-1000 Berlin bl 3TAMM 31: B Norc}nwier 0-C,jOO :-.leubranoencur; 3ih,'riM '31: G 1C0.J 25. 09.91 '""1: inen'Th'e3tetreport zur Lage der Biihnen in den neuen Bun· 1: desHindero · ausge.nommen Berlin- hat die Dramaturgische Gesellschaft vorgelegt. 81slang muJ3te noch kein einziges der rund 70 Hiiuser geschlossen werden. da ihnen bis Ende 1992 zugesagte Bundesmirtel :•. (l die karge Existenz fristen he! fen. Viele Theater streben ob der Finanzschwiiche der Stadtv2ter keineswegs den Rang eines Stadt-. sondern den eines Landes- oder Staatstheaters an. Eilfertig taufen sie sich deshalb in Landesbtihne Sachsen-Anhalt Lutherstadt Eisleben urn. Thomas Miintzer mufite als Nam:nspatron abtreten .. Produziert wird mehr als fiiiher. allerdings sind die Stucke wegen der rap1de gesunkenen Zuschauerzahlen nach kurzer Zeit bereits abg~~ielt. Nu_rder Ju~end- u?d Kindenhearerbereich biGht. Den Spielplan donuruerend smd Musicals Wie Jesus Christ Superstar, Linie I oder die ~est ~!de St~ry. R~herch~enwurde vorOn in rund 50Thearern; pers6nliche Emdriicke smd nut Interv1ewaussagen verntischt. Der Repon kann bei der Dramarurgischen Gesellschaft in Berlin angeforden werden. ) ~Realistisches Bild vermitteln Gesprach mit Dr. K/aus PierwoB. Vorsitzender der Dramaturgischen Gesel/schaft Ein Jahr nach der deutschen Vereinigung ist die Dramaturgische Gesellschaft (dgJ~war"::g dabei. einen Report tiber ::A,_ reale Situation der Thea ter in den fun£ neuen BundesUindern zusammenzustellen. .,Derze1t herrscht in der 6ffentlichen Meinung eine Tendenz der Gememphitze und der pauschalen Charakterisierung vor. die mit der tatsachlichen Lage an den Theatern nichts zu tun hat·', erkli:irte Dr. Klaus PienvoJ3. Vorsitzender der dg und Chefdramaturg am Maxim Gorki Theater Berlin. in einem ADN-Gesorach. Die Besucherzahlen s€1en seit der Wende van Biih.ne zu BUhne unterschiedlich zunickgegangen. doch kcinne keine Rede van leeren Salen sein. Solche Tendenzmeldungen fOrderten die Gefahr vorschnelier RilckschlUsse bei kulturnolitischen und finanzieilerl Entscheidungen in den neuen Uindern. Die dg-Erhebung solle nun ein realistisches Bild der Theatersituation vennitteln. Die Auffassung des Prasidenten des Deutschen Btihnenvereins. Prof. August Everding, daB spatestens 58 1993 bei Reduzierung der Banner Zuschiisse urn ein Dnttel im Osten das greBe Theatersterben einsetzt, teilt PierwoB nicht. ,.Selbstverstandlich ist die kompliziene Situation der einstigen DDRTheater nicht zu tibersehen. In einer Zeit des allgememen gesellschaitlichen Umbruchs und der Neuorientierung muB auch das Theater seinen Platz. seine Funktion neu bestimmen·'. betonte er. Bisheriges Selbstverstandnis. auf der Biihne die in anderen Medien tabuisienen gesellschaftlichen Probleme und Widersp:riiche zu artikulieren und in einer unausgesprochenen Vereinbarung mlt dem Publikum auszutragen. falle nun weg. Zudem werfe die neue f6dera1e Struktur ftir viele Theater auch die Frage der Tragerschaft unci der Finanzierung neu auf.. ,Da wird dari.iber nachzudenken sein. ob das dichteste Theaternetz der Welt in bisheriger Fonn auirechtzuerhalten ist. Veranderungen sind notwendig, es wird zu Fusionen oder Koooerationen kommen und rrioglichenveise auch nicht ohne SchlieBungen abgehen·', meinte PierwoB. ,Dennoch hoffe ich, daB dabei die Aspekte der Erneuerung dominieren und nicht die der Besenigung. '' Dazu sei vor allem. auch hinsichtlich der Finanzierung der ,politische Wille der Verantwortlichen ·' nOtig ... Es ware geradezu grotesk. wenn die Kultur. wenn das Theater den Preis fUr die Vereinigung zahlen miillten. ·• DaB in der Kulturnation Deutschland bislang die Ausgaben fUr Kultur nicht Pflichtausgaben des Staates seien. seien em .,blamables Versaumnis·'. FUr bedauerlich halt Dr. PienvoB auch die totale Ubernahme des westlichen Theatersvstems iiir die Theater in der1 neuen Land ern. Die van ihm und der Dramaturgischen Geseilschaft gefordene Symbiose der progressiven Elemente van Theaterstrukturen in Ost und West habe nicht starl;.ge:!unden. Das westliche> Tarifsystem ist nach seiner Auffassung deshalb so starr. weil es nicht mehr primar an der spezifischen Produktion und Prasentation van Theater orientiert i~.t. ,Da ist di.; Chance des Ubergangs nicht zu S trukturveranderungen genutzt warden. die fachlich kompetente Theatennacher immer wi.eder gefordert haben.·' FUr eine .,geradezu haneb:..:.chene Entscheidung·' des Berliner Senats halt der Chefdrarnaturg des MaXlm Gorki Theaters die weitere Anhebung der Eintnttspreise. Innerhalb van 15 Monaten ist in semem Haus der Preis fUr die besten Platze van 10 aui 35 Mark gesuegen ... Das erreicht schon eme Dimension van Kulturaussperru.ng·', kommentiene Pierv.toi3: denn der Anteil der Besucher aus dern Osten. der sich aus bekannten GrUnden ohnehin auf ein Drittel reduziert habe. werde jetzt noch gertnger. In einer Zeit. in der viele Bewohner 1m Osten mit einer bis zu 500prozentigen Mietenerhdhung fenig werden mUBten und viele arbeitslos seien. habe der Senat ,aui ganz fatale Weise das kulturpolitisch false he Signal" gesetzt. Alle Erfahrungen zeigten, daJ3 solche Preiserhohungen zum falschen Zei tpunkt die Besucherzahlen und die Einnahmen senken statt sie anzuheOen. {Das Gespr3ch ADN-Korrespondent Baschleben.) fiihrte K.laus Berl1ner Zeitung J-J(('b Berlin 3TAMM 91: G 450.0 22.11. 31 Vorhang und alle Fragen offen 1 ? 9~"'-'4 Ein Theaterreport analysiert die Situation in den neuen Landern Heute beginnt in Potsdam die 39. BRD, wonach im Prinzip 55 Prozent Jahrestagung der Dramaturgischen der Subventionen van den KommuGesellschaft (DG). Vorbereitend nen, 20 Prozent van den Liindem, 5 legte sie einen Report zur Situation Prozent vom Bund und die restli· der Bilhnen in den neuen Bundes· chen Anteile durch die Betreiber Hindem vor. Ost-Berlin bleibt hier selbst erbracht werden, ist auf die ausgespart, da i.iber seine Situation, neuen Uinder nicht sofort anwend· so der Vorsitzende der DG Klaus bar. Darum erhalten die Theater ZuPierwoB, Chefdramaturg des Maxim schi.isse aus dem Sonderprogramm Gorki Theaters Berlin, vielfach aus- des Bundes. So triigt z. B. das Land fiihrlich berichtet werde. PierwoB Brandenburg zwischen 49 und 69 gibt Auskunft, daB bis zum 31. Okto- Prozent der Kosten; in Thi.iringen ber 1991 noch kein Theater geschlos- sind es 90 Prozent. Dabei muB gesesen warden ist, die Bundesmittel fi.ir hen werden, daB die Kosten der 1991 und 1992 die Weiterexistenz si- Theater durch die Anhebung der Tachern und Zeit geben, urn eine Thea- rife bei den Beschiiftigten auf 60 terlandschaft neu zu strukturieren. bzw. 80 Prozent der West-Tarife er,,Mit wie vielen Theatern es 1993 heblich angewachsen sind. In Thi.iweitergeht - das vermag gegenwar- ringen ist der Etat aller Theater van tig niemand zu sagen." 87auf 147 Millionen Mark angestiegen. Der Etat des Schauspiels in Gelder vom Bund Chemnitz stieg van 12 Millionen nur fi.ir den Obergang stung ist nach Meinung van Pier· wo13 ,weniger Realiti:it als gewi.inschtes Ziel". Die Theater reagierten auf die neue Situation auch mit mehr Pro· duktionen sowie mit einer ki.irzeren Laufzeit der Inszenierungen. Da$/ Stiidtische Theater Chemnitz hat die Zahl seiner Neu-Einstudierungen verdoppelt, das Theater in Rudolstadt gleich verdreifacht. Es herrscht die Tendenz vor, Unterhal· tungstheater zu bevorzugen - nicht immer glticklich: ,Eine Nacht in Venedig" wurde in Potsdam ein glatter Flop. Andererseits will das mittelsti:i.ndische Publikum keine sozial engagierten Sti.icke: ,.Der Minderlei· ster" van Turrini wurde in Restock van diesem neuen Publikum unter Protest zuri.ickgewiesen. Engagier· tes Theater wollen erk.liirtermafien das Mecklenburgische Landestheater Parc;!lim. das neue theater Halle und die Freien Kammerspiele in Magdeburg machen. Ui'aufflihrun· gen sind derzeit noch seltener ais zu DDR-Zeiten. 1990 auf 18 Millionen Mark 1991; 1992 sollen es 36 Millionen Mark Die erwiihnten Bundesmittel stel- sein. len eine 'Obergangsfinanzierung fi.ir Auf die Subventionierung der den Erhalt der .,Substanz der Kul· Theater entfiillt der Hauptanteil der i tur" in den ftinf neuen Uindern dar,, . ..O·berbril<lkungBfinanzierung. Als dem der Einigungsvertrag ver- B · · h d di i; zu pflichtet. Sie belaufen sich fiir das eiSpiel: Sac sen, as e meisten Haushaltsjahr 1991 auf 900 Millio- Mittel fi.ir den Substanzerhalt zuge• nEm. Davon werden 600 Millionen wiesen bekommt, erhiilt insgesamt 190 Millionen. Davon entfallen 75 fiir SubstanzerhaltungsmaBnahmen Prozent auf die. Subventionierung j und 300 Millionen fi.ir ein Infrastruk- der Theater. Dabei geht der LOwen· turprogramm ausgegeben. Das Geld anteil der Subventionen an das Muwird nach Projektlisten aus den Kul- siktheater: In Leipzig werden 70 · tusministerien der L3.nder vom Bun- Millionen fi.ir die Oper, ganze 16 Mildesministerium des Innern zuge- lionen fi.ir das Schauspiel und nur teilt. Von den 22000 kulturellen 2, 4 Millionen fi.ir das Kinder- und JuEinrichtungen, die dem Ministe· gendtheater ausgegeben. rium fi.ir Kultur unterstanden, kOnnen so in diesem Jahr 3000 Einrich· Inzwischen haben die meist tungen van nationalem und europ3.· neuen Theaterleitungen durchaus ischem Rang, darunter die Theater, das ihrige getan, urn einzusparen. In finanziert werden. allen Hausem wurde die Zahl der Beschiiftigten reduziert, oftmals urn Die DDR hatte mit 68 Theaterbe· ein Drittel, in Ank.lam sogar urn die trieben das dichteste Theatemetz H3.lfte. 'Oberall wird nach optimalen der Welt. Nun mtissen neue Triiger Betriebsformen gesucht. Viele Theagefunden werden. Die MOglichkei- ter streben den Status einer GmbH ten: Anerkennung als Staatstheater; an, weil sie si eh davon eine weitgeAnerkennung als Landesbi.ihne; An· hende Eigenstandigkeit in der Miterkennung als Stadttheater oder An· telverwendung versprechen. Sie erkennung als Theater eines Zweck- i.ibersehen dabei, daB dies auch den verbandes a us Stiidten oder Kreisen. Ri.ickzug van Triigern der QffentliDer Status als Staatstheater und chen Hand begi.instigt. Urn mehr Ei· Landesbi.ihne ist vor aUem gefrag.t, genmittel zu erwirtschaften, wurden denn die Kommunen sind mittello- i.iberall die Eintrittspreise erhOht. ser als der Staat. Aber durch den Schwund van BesuDie Findung neuer Triigerschaf- chern ging die Rechnung meist ten ist noch in vollem Gang. Das Sy- nicht auf. Die durchschnittlich gestem der KulturfOrderung der Alt- schiitzte fi.infzigprozentige Ausla- Die Oberlebensfrage steht bald neu I I I So stellt sich der Substanzerhalt der Theater derzeit vielerorts als trtigerisch dar. Bereits im ni:ichsten Jahr kOnnte das Theatersterben in den fi.inf neuen Liindern einsetzen, wenn die Uberbri.ickungsfinanzie· rung durch das Bundesinnenmini· sterium van 900 auf 600 Millionen Mark gektirzt wird. Dies kOnnen weder die groBen noch die k.leinen Theater verkraften. Vollends kri· tisch wird es, wenn der Bund ab 1. Januar 1993 die Uberbriickungsfinanzierung liberhaupt einstellen saUte. ,Die Ubergangsfinanzierung durch Bundesmittel ist eine Bewiih· rungshaft, die fUr Theaterleute und fUr (Kultur-)Politiker eine MOglich· keit zum gemeinsamen Handeln er· Offnet. Danach freilich stellt sich die 'Oberlebensfrage nochmals neu." So Klaus PierwoB. Man kOnnte auch die SchluBverse van Brechts ,Gutem Menschen van Sezuan" abwan· deln: ,.Der Vorhang offen, doch fast alle Fragen auch." Ernst Schumac~, 59 Si :74.2 ,;-;•)(l(l ~~r! 1:1 :THMM 91: ... .:.;>t.~. :,Buhnenreport der neuen Bundeslander ,. Die Dramaturgische Gesellschaft - in llinind Mitarbeiter der verschiedensten Kultursparten versammelt - hat erstmals die ,Die Situation der Biihnen in den neuen Bundesliindem" systema- tisch analysiert. Dazu sind Vorstandsmitglieder des Vereins in alle neuen Under gereist, urn die Spielstitten vor Ort zu besuchen .•Eine SysiphusArbeit", erzlihlt der Vorsitzende und Chefdramaturg am Berliner Maxim-Gorki-Theater, Klaus Pierwail, bei der Priisentation des Theaterreports: • Wir haben versucht, alle Theater zu erfassen bis auf die Puppentheater." Die Fi- spiel in Form van Zweckverbanden. in denen Stadte, Kreise und L.inder sich fUr die Unterstiitzung der SpielsUitten einsetzen. Durch die bis 1992 vom Bund garantierte Finanzierung hat hisher kein Theater in der ehemali- gen DDR sch!ieilen miissen. Und: ,Spektakuliire Personalreduzierungen hat es nicht gegeben", berichtet Klaus Pierwoil. Auch ,.die Abwanderungsbewegung hiilt sich in Grenzen. Probleme gibt es nur beim Nachwuchs, der lieber in den Westen zieht." Der Chefdramaturg hat sich in Sachsen-Anhalts Theaterlandschaft umgesehen. Viele HS.user nanzierung der zahlreichen, ins· haben sich umbenannt, berichtet gesamt 69 Theater in der ehemaligen DDR ist bis Ende 1992 gesichert. 900 ODD Mark hat der Bund er. Und nicht nur aus politischen Griinden: .. In Halle zum Beispiel gibt es drei Theater, die Staatstheater werden wollen. Und auch Magdeburg und Dessau wollen Landestheater warden." Mit Blick auf die schlechte Finanzlage der an die einzelnen I..a.nder - sie ha- ben die Kulturhoheit und damit auch die Bezuschuilungsfunktion - fur dieses Jahr gezahlt. Die Banner Finanzspritze ..hilft, iiber die dringendsten Probleme hinwegzukommen", so Klaus Pierwoil. Ab er: .Besonders geflihrdet sind kleine Tbeater''. MOgliche Uisungen wiiren Ausdehnungen der TrB.gerschaften zum Bei· Kommunen wollen sich auf diese Weise viele HB.user eine Finanzie- rung durch das Land sichem. Die Blihnen in Brandenburg werden in diesem lahr mit bis zu 69 Prozent bezuschuJlt, fur 1992 sind nur noch hOchstens 49 Pro- :1e Weit ;;usgabe D ~-2(100 Ha1burg :TAMM '31: G cj8,6 ,;a: :63.5 •.:•4./(i5.01. '32 ·· ~, i r,J<,1 sund und Plauen. l!:isenach und Ost-Biilmen:f1Vie steht es mit der Schwedt (mit Ausnahme Berlins) Weiterexistenz? Wie hoch ist der wurden konkret in den Report Etat? Gibt es gravierende Perso- embezogen, wornit fast Vollstannal-Anderung~n? Und. nicht zudJgkeit erreicht wurde. Von den letzt: Welche Angste und Hoffnun- Beruhrungsangsten zwischen gen bewegen die Theatennacher neuen u.nd alten Kollegen (Stralim Osten Deutschlands, auf dem sund) uber deft1g beschnittene Gebiet der ehemaligen DDR? - Haushalte bis hin zu ungekliirten .. Dramaturg", das jtingste Heft der Saruerungsprozessen (Magdedeutscheii .Dramaturgischen Ge- burg) und unbestimmten Hoffsellschaft" (Doppelheft 3/4; 85 S., nun~en aufTourismus (Annaberg) lO Mark; !000 Berlin 12, Tempel- 1st h1er·d1e Rede, also grundsatzhofer Ufer 22), liefert einen aktuelEntscbei..J,.__ von anstehenden . len Theater-Report (iber die Situz, lich tion der Bii:hnen in den neuen Bundeslandern. Vor Or! wurden Gespriiche mit den Intendanten und den ftir die Theater verantwortlichen Mitarbeitern in Kommunen und Ministerien gefiihrt: exakt 51 Theater ~chen Stral- 60 uuu~en, _von emer Sache, die wei- terhm .. un FluB" ist. wie Klaus P1erwoB, Leiter der Dramaturgischen Gesellschaft, resiimiert. J edenfalis wird durch diese Dokumentation erstmals eine, wenn auch subjektive, Diskussionsgrundlage geschaffen. tsch zent vorgesehen. Birgid Gysi war fur den Report in MecklenburgVorpommem unterwegs. Nach ihren Erfahrungen ,sind es gerade die Theater in den kleineren Stiidten, die dort die Anfiinge einer neuen Kulturpolitik machen." Weitere Trends der Theaterentwicklung in den neuen Bundes· liindem sind in dem Bericht nachzulesen. So domirtieren auf vielen Spielpliinen Zugnwnmem (wie etwa "West Side Story" und "Linie 1" oder Stiicke von Dario Fo und Woody Allen), um die im Schnitt hochstens 50prozentige Auslastung der Zuschauerpliitze zu erhiJhen. Mehr Premieren und kiirzere Laufzeiten der Auffiihrungen sowie zahlreiche Gastspielreisen der Ensembles in Richtung Westen kennzeichnen die Theatersituation im Osten. Fiir Klaus Pierwo6 ist ,die Obergangsfinanzierung durch Bundesmittel eine Bew~gs· haft, die fur Theaterleute und (Kultur-)Politiker eine MOglichk.eit zum gemeinsamen Handeln erOffnet. Mit wievielen Tbeatem es 1993 weitergeht - das vennag gegenwiirtig jedoch niemand zu sagen." Martin Rise! ~ecklingnauser ~-4j50 Leitung Recklinqnausen STAMM 91: G &3.9 " " . . Bisla!1..g noch keme TheaterschlieBung in Ostdeutschland :&.11. 31 ' Trotz schwieriger Umbruchsituation hat bisher kein Theater in d~n fiinf neuen BundesHindem schlieBen mtissen. Das bestatigte die D~ mat~che__Gese~schaft in ihrem m Berlin veroffenthchten aktuell~n Theaterreport. Da das Thea~metz_ m Ostdeutschland vergletchswetse dichter ist als in der alten Bundesrepublik seien jedoch die kleinen Biihne~ am meisten gefa.l~rdet, meinte Klaus PierwoB als Vorsttz~n der der Gesellschaft. Er halte SchlieBungen nicht fiir erstrebe_nswert. Doch der ,.Existensnachwets muB tiber Arbeit und Besucher" erbracht werden. Das stehe noch bevor. Der. Bericht weist folgende Trends der Umstrukturierungsphase aus: Ein Mehrfaches an Premieren gegenUber DDR-Zeiten und eine starkere Hinwendung zum Kinder- und Jugendtheater. weil bei die~em Zuschauerkreis das Besuchermteress~ ungebrochen ist. Im Spielplan do_m_Inieren solche Zugpferde wie .,Ltme 1". Stiicke von Dario Fo und Woo~y Allen. Empfindliche EinbuBen gtb_t es bei den Besuchern ... Der allgemelne Gebrauch des Theaters als Off~nt lichkeitsersatz funktioniert mcht mehr", sagte PierwoB. T~otz~em g~ be es zahlreiche neue Sptelstat~en m Kirchen und Schlt:issem. Bet d~_r Umfrage wurden wed.er spektak.ulare personalreduzierungen noch A?wanderungen in Richtung Westen m groBem Ausma13 festgestellt. PierwoB empfahl eine Fortsetzung der Bonner Hilfe fiir die ostde~tsche Kulturlandschaft von de~e~.~ 900 Millionen Mark im Jahr. Bet Buhne? im Land Brandenburg beispielswelse liegt cter Zuschufi zwischen 49 unci fig Prozent. Genutzt werden auch andere Wege, weis_t de~ Report aus. Beispielsweise w1~ stch __ das Theater in Zittau fiir zwe1 Jahre uber ein ABM-Projekt retten. Kaum gefragt ist der Typ ,Stadttheater" · J?agegen hatten sich Ensembles eme neue Landesbiihnenfunktion" zugeordnet. hieB es. Bei der . Suche nach neuen Tragerschaften gmge es kaum urn .. Fusionierungen, sond~rn eher wn Kooperation". Recherch1ert wurde an 51 von rund 70 Biihnen der ehemaligen DDR unter Ausklarnmerung der Ostberliner Theaterszene. 0-9(>10 Cheonitz -;TAMM 91: G &06. 9 IQ l':lfl 11 Ql ,DD R-Theaternetz" i~Jj)~.2~h intakt Report zur Situation in den neuen Bundeslandern (adn). Die DDR verfiigte iiber das dichteste Theaternetz der Welt, und noch ist es intakt und bislang kein Theater geschlossen warden. Bundesmittel in HOhe von 900 Millionen DM sichern fiir !99! und 1992 die Existenz und geben Zei t, urn die Theaterlandschaft in den neuen Bundeslandern neu zu strukturieren. Diese Dbergangsfinanzierung erOffnet Theaterleuten und Kulturpolitikern die MOglichkeit gemeinsamen Handelns, bevor ab 1993 die Oberlebensfrage noch einrnal gestellt ist. Das ist das Fazit eines aktuellen Theaterreports der Dramaturg!schen Gesellschaft Uber die Situation der Biihnen in den neuen BundesUindern, den dg-Vorsitzender Dr. Klaus PierwoB in Berlin vor Journalisten erla.utete. Fiir den nach Landern gegliederten Beri.cht wurden GesprS.che mit den Intendanten und den fii.r die Theater verantwortlichen Mitarbeitern in den Kommunen, LandJcreisen und Ministerien gefiihrt. Aus diesen Informationen ergab sich eine realistische Bestandsaufnahme an alien ehemaligen DDR-Theatern, ausgeklammert die Berliner, deren Situation .,schon geniigend t:iffentlich dargestellt wurde". Wie der Bericht ausweist, sind nach wie vor die kleineren Theater am sta.rksten in ihrer Existenz gefa.hrdet. Da die Sta.dte oder Landkreise als alleinige Trager finanziell Uberfordert sind, versuchen diese Theater durch Griindung van ZweckverbS.nden, denen die SUidte und Kreise im Spiel- und Einzugsgebiet angeht:iren, mehr Finanziers zu finden. Damit verbunden ist meist die "Obernahme einer Landesbiih_ nenfunktion und der Ausbau der Gastspiele. Eine wei tere allgemeine Tendenz ist die erhebliche Steigerung der Produktionen. Ein Mehrfaches an Premieren wird bei gleichzeitig kii.rzeren Laufzeiten der lnszenierungen herausgebracht. Stark ausgebaut wird an vielen Theatern das Spielen fiir Kinder und Jugendliche. Einst mehr eine Nebensache, wird das Kinder- und Jugendtheater mit seinem bisher ungebremsten Besucherstrom jetzt zu einem Hoffnungstrager. Eine Erweiterung des Angebots d.riickt sich auch in der ErOffnung zahlreicher neuer Spielstatten und durch zusatzliche Freilicht- oder Sommertheaterbespielung a us. Wie die Untersuchung weiter ergab, dominieren in den SpielpHinen die ,sicheren Zugnumrnern" - von den g§.ngigen Musicals wie ttJesus Christ Superstar" und ,.Linie 1" bis zu Stticken von Dario Found Woody Alien. Alternative Angebote, auch mit zeitgent:issischen Autoren, wie an den Freien Kammerspielen Magdeburg oder dem neuen theater Halle, seien Ausnahmen. Die Besuchersituation ist meist prek§.r, doch von Theater zu Theater unterschied.lich. Die oft angegebene 50prozentige Auslastung scheine allerdings meist mehr Wunsch denn Realita.t zu sein. Das alte Anrechtssystem funktioniert nicht mehr, und neues Publikum mull durch neue Formen der 6ffentlichkeitsarbeit gewonnen werden. Der Report weist weiter aus, daB die Eintrittspreise fast Uberall ,moderat gehalten" sind, damit sie nicht zum finanziellen Hindernis fUr den Theaterbesuch werden. 61 Giinther Riihle DAS WIEDERVEREINIGTE THEATER Anmerkungen zur aktuellen Situation Aus der Geschwindigkeit, mit der sich Europa vor unseren Augen verandert, sind wir noch immer nicht entlassen. Was vor sich geht, erst in Ungam und Polen, dann in unserem eigenen Land, nun in dem ehemaligen sowjetischen Imperium und auf dem Balkan, bezeichnen wir mi t einem Wort, das si eh auf das Theater bezieht. Wir sprechen von "dramatischen Vorgangen". Aber was vor si eh geht- Revolution, Staatsstreich, Biirgerkrieg, personliche Machtkampfe, Menschenvemichtung, Ver-treibung, Aucht, Hunger und Sturz in die Ann ut auf der einen und Karriere, Geschilft, Bereicherung auf der anderen Seite, und dabei immer das Wort "Freiheit" - ist alles andere als "Theater". Das Drama der Geschichte ist stiirker und elementarer als alles Theater, das doch von ebensolchen Vorgangenhandelt. Es ist sichtbarim Hintertreffen,obwohl es inder Vorgeschichte dieser Vorgange eine sichtbare Rolle spielte und sich spater aus dem Geroll der Vorgange seine schicksalhaften Stoffe auf die Biihne holen wird. Zur Erinnerung, zur Mahnung oder als Beispiel. So sind wir heute schon Zuschauer der Vorgange, die einmal aufs Theater kommen . . . Wurde in dem Beben der Geschichte unser Theater beschiidigt? Als man in den zwanziger Jahren den damals neuen Stahlskelettbau propagierte, gab es ein bis heute beriihmtes Plakat: Man sah auf verwiisteter Erde die Hausskelette ungebrochen. Steel stood, stand dariiber. Stahl hat standgehalten inmitten des Bebens. Ahnlich ist es mit dem deutschen Theater. Theatre stood. Das System der offentlichen Theater, das sich wieder zusammenfiigt, ist das von Gebrechen freilich nicht freie, aber lebenswillige alte Gemeinsame. In Leipzig und Dresden, in Chemnitz und Restock, inZwickau und Altenburg, in Frankfurt/Oderund Magdeburg, in Weimar und Erfurt, in Eisenach und Zeitz, in Halle und Dessau, in Stendal und Eisleben, in Anklam undSchwerin, inNeustrelitz, Schwedt oder Parchim: ein halbes hundert Theater tritt wieder in IJ!lSere Aufmer~.sa_T!I.ke!t, der grollte Teil davon sind jene Dreispartentheater, die sogar noch in Stiidten unter 25 000 Einwoh- 62 nem den Kunstanspruch und das Kunstangebot aufrecht erhalten und die alte Liebe der Deutschen zum Musentempel in der Stadt bezeugen; jene Liebe, auf die es in Zukunft noch mehr ankommen wird, weil die Finanzierbarkei t dieser Theater in Frage steht und der Biirgerwille allein die Grundlage fiir ihre Erhaltung schaffen mull, wenn man sich den Theaterbesuch bei gewachsenem Verdienst wieder leisten kann. Bis jetzt ist kein Verlust an dieser Substanz zu verzeichnen. Keiner will verzichten Dies istzunachst dem Bund zu verdanken, der -die Kulturhoheit der Lander iibergreifend in der auBerordentlichen Situation fiir einige J ahre nun eine gute Milliarde bereitstellt, diese vorhandene kulturelle Substanz in den neuen Landem zu sichem, bis sie selbst, von Steuem und eigener kultureller Energie gekriiftigt, die Gelder aufbringen konnen. V on den IS Millionen DM des Schauspiels in Leipzig zahlt die Stadt derzeit 5,5, das Land 3,8, der Bund aber 6,75 Millionen. Die Sicherung gilt bis !993, sie mull wohl noch einmal verlangert werden. Nein: auf die Theater will vor Ort keiner verzichten, obwohl der Ruf nach Schliellung etlicher Institute- aus kiinstlerischen wie auch okonomischen Griinden - !aut wird. Aber auch die Verteidiger sind zur Hand. Wo, wenn nicht in den Theatem, konnten die jungen Menschen der Kunst begeguen, was bedeutete die Auflosung der Oper (und das heillt auch: des Opemorchesters) fiir die Musikkultur der Stadt. Sogar das Theater als Arbeitgeber wird herbeizitiert. Der Kultusminister von SachsenAnhalt hat eben bekundet, er werde alle zehn Theaterstandorte erhalten. In Magdeburg hat man jetzt fiir 90 Millionen DM den Wiederaufbau des abgebrannten Theaters beschlossen, die Potsdamer knobe!n an ihrem Neubau. Neue Biihnen tun sich anspruchsvoll auf, wie das Neue Theater inHalle, die Freien Karnmerspiele in Magdeburg. An anderen Orten knobelt man an der Errichtung von Zweckverbanden, die die umherreisenden Landestheater stiitzen. Die Zeichen der Liebe zum Theater verringem sich nicht, wie leer die Parketts in manchen Theatem derneuen Liinder auch noch sein milgen. Oder ist das leere Parkett doch ein Zeichen dafur, "daB man die Theater nicht mehr braucht"? Das Theater hat unter der Diktatur des SED-Staates noch Funktionen gehabt, an die man sich aus der Hitlerschen Diktatur nur noch muhsam erinnert. Es war Zuflucht, Freiraurn, Ort heimlicher, kritischer Verstiindigung von Ktinstler und Publikurn, "ErsatzOffentlichkeit", wie man heute gem sagt, Ort fur die Setzung subversiver Zeichen. Seine Geschichte besagt, daB es der heftigsten Kontrolie und Pression durch die Partei unterlag, daB es sich aber muhsam immer wieder Freiheiten verschafft hat. "Was wirvor der Wende gespielt haben", so sagteneulich Peter Sod ann, lntendant in Halie, "das ha ben wir doch nicht fur den Staat und die Partei gemacht. Ich kenne kein Theater in der ehemaligen DDR, das zum Lobe der Regierung gespielt hat." Und werdieArbeit "drtiben" beobachtenkonnte, sah nicht nur am Werk von Heiner Mulier, wie der optimistische Impetus der sozialistischen Staatsgrtindung sich verzehrte, der Auftrag zur Revolution keine Empfanger mehr fand: das kontroliierte Theater bestuckte si eh immer deutlicher mit Zeichen des Zweifels, der kritischen Anspielung, der Opposition. Und man nahm sie in Ost-Berlin wahrnoch in lnsze-nierungen wie Barlachs nach "Anderung" rufendem "Blauem Boli", in Salters mauer-reicher lnszenierung von "Nathan dem Weisen", oder in dem Musterstiick hypertropher Staatserziehung, in Lessings - von Ulrich Mtiheexzelientgespieltem- "Philotas", in Volker Brauns "Ubergangsgeselischaft", in Christoph Heins "Ritter derTafelrunde", oder im radikalen Bruch mit den uberlieferten Spielformen in Castorfs lnszenierungen in Chemnitz und Ost-Berlin. Verstrickt und gebunden in die zunehmende Verelendung und in den Zusarnmenbruch der sozialistischen Diktatur hat dieses Theater in einem Moment der Ereignisse seine Zeitnahe und AuBerordentlichkeit bewiesen: da namlich, als unter Heiner Muliers Regie - im Deutschen Theater in Berlin-Ost (heute wieder: StadtMitte) Ulrich Muhe als Hamlet hervortrat, jung, stolz, in schilner Menschenherrlichkeit, ein anderer Prinz von Homburg; amEnde war er zerrieben und zerstort im Zusammenbruch der lugenhaften Staatsmaschinerie. Es war, als triebe hier die Geschichte selbst das Kunstwerk hervor. und dieses nahm in sich auf, was drauBen vor sich ging. Nie gabes in den letzten Jahrzehnten eine innigereBertihrung von Btihne und Wirklichkeit. Das in sich selbst versunkene westdeutsche Theater hatte dem nichts entgegenzusetzen. Alies, was diesem "Hamlet" folgte und folgt, ist Nachklang. Kann man - nach zwei J ahren- schon reden von einem wiedervereinigten Theater? Konflikte blollgelegt SchutzenwirunsvorvorschneliemSchluB. Wie fest das System unseres Theaters si eh auch erweist: die Ablaufe in den beiden Theaterlandschaften von Ost und West sind auch derzeit noch sehr verschieden. Langsam erst erkennen wir, mit welcher Gewalt das Theater in der DDR in Form gebracht, in Zaurn gehalten, zum Buttel der Politik gemacht werden solite. Ein Konflikt nach dem anderen wird dokumentarisch bloBgelegt. Der urn Heiner Muliers "Umsiedlerin", der urn die Uraufftihrung von Muliers "Mauser" 1972 in Magdeburg, der Konflikt urn Brecht/ Dessaus "Verhilrdes Lukullus", urn Hanns Eislers "Doktor Faustus", urn Hacksens "DieSorgen und die Macht" und "Moritz Tassow". um Schleef/ Tragelehns Inszenierung von "FrauleinJulie" am Berliner Ensemble; anderes wird noch folgen. Die vielenRegisseure und Schauspieler, die- vor allem seit 1975- auswanderten aus dem Theater des einen Deutschland ins andere, sie haben die sich da dokumentierende Unfreiheit ihrerseits durch ihren Auszug bestatigt und im Westen dann durch ihre Arbeit wichtige Elemente des DDRTheaters vorab integrieren helfen. Man kann also nicht sagen: das Theater der DDR sei im Westen unbekanntgewesen, so fern die Theaterlandschaft dart- mit Ausnahme von Ost-Berlin- dem Westen insgesamt auch war. Was ist der wirkliche Grund, warum das westdeutsche Theater den Vorgangen im ilstlichen derzeit so gelassen zusieht? Was ist im deutschen Theater mit dem Zerbrechen der Mauer passiert? Wir mussen ein Stiick zurtick: in den elementaren Aufbruch des deutschen Theaters in diesem Jahrhundert. Damals, in den zwanziger J ahren, waren Phantasie und Energien so zahlreich wie die Talente. Es gab einander widersprechende Positionen. Aber was zuerst- am Beginn 63 des Jahrzehnts - Lebendigkeit war, wurde gegen Ende Kampfposition gegeneinander. Je mehr die politische Situation auf eine Polarisierung van links und rechts zutrieb, urn so mehr polarisienesich auch dasTheaterund veri or das biirgerliche Theater an Boden. Als sich 1933 die rechte Gruppierung urn Hitler durchsetzte, wurde das Theater der Rechten, das in der Republik keine dominierende RoUe gespielt hatte, zum Staatstheater. Es integrierte die -nach der Eliminierung der jiidischen Krii.fte verbliebenen - Restbestande des biirgerlichen Theaters. Das starke, schlieBlich das Theater der Weirnarer Republik priigende linke und linksliberale Theater wurde in die Emigration gedrangt. Mit dem Zusanunenbruch des Hitlerstaates war dann das Theater der Rechten erledigt. In der neugegriindeten DD R wurde rnit der Riickkehr der Emigranten der zwanziger J ahre nun das vertriebene linke, sozialistischgepriigteTheater zum "Staatstheater". In der neuenBundesrepublikrestaurierte si eh dagegen m it dem 1930 zerfallenen Biirgertum das biirgerliche Theater. Abermals standen si eh also in denfiinfziger J ahren Fronten a us den zwanziger Jahren gegeniiber. Mit dem Zerfall der DDR ist nun auch das linke, sozialistisch intendierte Theater am Ende. Zuriick bleibt das biirgerliche Theater, wie es sich in der Bundesrepublik ausgebildet und (unter dem EinfluB der DDR-Exulanten in den achtziger Jahren auch) modifiziert hat. AUes, was sich im Augenblick irn Theater der ehemaligen DDR vollzieht, war und ist also Anniiherung an und Re-Integration in dieses biirgerliche System. Theater folgt der Politik, wie unabhangig es sich zuweilen auch fiihlen kann. "A us der Vergangenheit ruckwarts in die Gegenwart": auch hier stimmt Heiner Miillers auf seine eigenen Arbeiten bezogener Satz. So erkliiren si eh Unsicherheit, UngewiBheit, auch Ratlosigkeit des Augenblicks in den Theatem der ehemaligen DDR. Thomas Langhoffbenannte sie so: "GewiB sind wir noch in der Phase der Erschrockenheit. Das betrifft Theatermacher und Dramatiker gleichermaBen. Kulturschock und dazugehtiriges Trauma ha ben uns kal t erwischt, Die Frage gilt nichtnur fiir "· alten DDR. Alle Theater im friiheren sind von ihr bewegt, wie das osteurop<>. Theatergespriich van Chemnitz im Herbst '\1. ergab. "Wir waren Ersatz-Offentlichkeit. Das ist vorbei. Die Zeit der 'publizistischen Stiicke' ... und damit die Zeit unserer groBten Erfolge. Wir miissennach Neuemsuchen ... " Neuorientierung ist notwendig": so sprach damals der Jntendant des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, Albert Hetterle. Und der russische Dramatiker Michael Schwydkoy bezeugte seinerseits, mit der politischen Offnung sei die "Funktion als Medienersatz verloren. Das in-teressanteste Theater fand auf der StraBe statt ... das Theater hat seine N ische verloren ... und fand sich auf dem Markt wieder, und der ist gnadenlos". Man lebe nun in einem "Provisorium" mit altem Schlendrian, Neuansatzen und neuen Illusionen - iibereinstimmende Diagnosen. Die bewegendste Frage in Chemnitz war: "Sind wir im Os ten aufgebrochen und im Westen angekommen?" So scheint es. Die unkiindbaren Schauspieler-V•,rtrage des DDR-Theaters sind inzwischen gchcn die westdeutschen Vertrage aufZeit ersetzt, die Tarifordnung ist iibemommen. Neue Intendanten sind in Dresden, Chemnitz, Leipzig, in Berlin und Potsdam, in Magdeburg, m Restock, in Stendal, in Frankfurt/Oder an der Arbeit. West!er oft (in Neustrelitz kamen z. B. von 16 Bewerbem 11 aus dem Westen); mit ihrer Berufung verband sich oft die - blinde - Hoffnung auf Rettung, Erfahrung und neues Management. Einige der neuen Intendanten sind Rtickkehrer aus der westdeutschen Emigration. Wenigesind am Platz geblieben (wie Wendrich in Weimar, wie Hetterle in Berlin), und es ist ganz und gar die Frage, welche der Besetzungen richtiger ist: ein Westmanagement oder die Erfahrung derer, die die gleiche Geschichte mit ihren Besuchem haben. Es ist vie! irn FluB, wie man auch an den Ensembles sieht, die sich zu mischen beginnen. Noch kann man an der Spielweise sehen, woher einer kommt. Einfiihlung in die RoUe oder Darbietung aus der differenzierten Handwerklichkeit? und w!r sehen gart..z schOn a!t aus. Die Phase ne Zweierbe.ziehung" und "Anatevka", auch "Li- der Besinnung fehlt bislang: Was ist Ios? Was ist geschehen? nie I" und die Klassiker (Kleist bevorzugt) waren erfolgreichere Versuche, Besucher wieder ins 64 Spielpliine im Wandel Und noch deutlicher wird der Wandel an den Spielplanen der ostdeutschen Theater. "Offe- Theater zu ziehen, als etwa Turrinis "Minderleister". Nachholbedarf, sohatThomas Langhoff formulien, besteht gegeniibervielen westlichen Autoren, z. B. an Stiicken vonBothoStrauBoder Tankred Dorst. Er wird auf den Spielpliinen im Osten sichtbar. Man versteht die Ermiidung an politischen Themen, die Neigung zum Umerhaltungstheater. Damitkommtmandirektinden westlichen Trend. Ist das die Richtung, die die allgegenwli11ige Frage nach dem "Wohin?" beantwortet? DieZielbestimmung f:illtden Theatem in den neuen Bundesliindem aus vielen Griinden schwer. Thr gesellschaftliches Umfeld ist in dauemdem Wandel. Wer Spielpliine macht, urn sieh am Bestehenden zu rei ben, findet also kaurn Anhalt. Wer in Theatem mit 15 oder 20 Prozent Besuchem arbeitet, muB das Prograrnm nach der erhofften Erwanung der moglichen Besucher machen. Und wer besser oder sogar gut dran ist (wie die beiden ehemaligen Hauptstadt-Theater in Berlin-Mitte, das Deutsche und das Gorki-Theater ntit hoher Besucherzahl), der muB doch immer darauf achten, daB er das alte, aus finanziellen Griinden ausbleibende Publikum zuriickgewinnt und es nicht blind gegen das westliche austauscht, das dem verganglichen, voriibergehend hilfreichen Reiz des neuen Spielortes obliegt. Da versteht man schon die Frage der ostdeutschen Theaterleute, ob das auch den Untergang der eigenen Theaterkultur bedeute, die man doch inmitten van Fremdbestimmung durch Ideologie und Pression entwickelt und aufrechterhalten hat. Man sieht, daB man auf den Pluralismus des westlichen Theaters zutreibt, daB man in den Markt der Beliebigkeit kommt, auf dem alles angeboten werden kann, und fragt zuriick: ob mit der Ideologie auch alle hOhere Gesinnung aufzugeben ist, die im Theater der DDR doch auch gegenw artig war. in der Berei tschaftzurOpposition oder auch nur zur List, die Maximen des Regimes zu unterlaufen, urn andere als die verlangten Gedanken und Bilder in die Kopfe zu setren und Individualitat, den Sinnfiir Schicksal, kurz: das "Hurnanurn" zu behaupten. "Wir sagen nichts mehr fiir die DDR, wir sagen etwas aus der ehemaligen DDR heraus" - so hat Thomas Langhoff den nun sicheren W echsel der Perspektive benannt. Er hat damit auch an das westdeutsche Theater, in dem er vie! gearbeitet hat, die Frage gestellt, ob das Schicksal des ehemaligen Theaters in der DDR die EinbahnstraBe in den Westen sei? Dieser Westen hat, so scheint es, kaum eine Ant won darauf; der Status quo, die tagliche Lust, die Neugier auf die nachste Biihnenbrillanz zwischen Hamburg, Miinchen und Wien bestimmt hier das Geschehen. Die scheinbar bindungslose Freiheit hier wirkt als Irritation fiir den, der im Gehiiuse des oktroyierenden Staates sich seine Aufgabe definierte und sichnoch in der Kritik an ihm in die Utopie gebunden fiihlte, eine neue Gesellschaft mit herbeizufiihren. Noch halt das Fragen an, noch spiiren die Theater driiben die Last ihrerGeschichte mehr als die im Westen: "Wende darf nicht Abwendung sein": der Satz van Wolfgang Thierse ist wie eine Mahnung, aus der eigenen Geschichte nicht zu fliehen. Und die eminente Inszenierung van "Mauser" durch Heiner Muller am Deutschen Theater ist das erste Signal fiir die Wichtigkeit bleibender Auseinandersetzung. "Was war denn das Wesentliche an unserer Geschichte? DaB wir etwas geliebthaben, was uns spaterbetrogen hat." Dieses Grundmotiv sei in vielen Stiicken zu finden. Peter Sodanns Hinweis gibt einen Gesichtspunkt, denVorrat an alten Stiicken mit der eigenen Erfahrung zu durchdringen. Viele andere denken ahnlich und rufen auf, nach den Stiicken, den Autoren zu suchen, deren "kraftvolle Geschichten" wieder einen gesellschaftlichen Bezug gewinnen. Das ist ein Auftrag an die Zukunft, denn auch dart gibt es die Stiicke noch nicht. "Die Aufgabe bleibt", sagtThomas Langhoff, "hellwach zu bleiben, aufzupassen und sich nicht unbedingt ( er meinte wohl: bedingungslos) veriindem zu lassen. "DemBequemen, dem Falschen widerstehen, urn klarund selbstbestimmt zu erkennen und zu entscheiden: so darf ich den Satz interpretieren. Das ist ein alter Auftrag des Theaters. Er will freilich anders wahrgenommen werden in der offenen Gesellschaft als in einer geschlossenen. In der offenen Gesellschaft muB si eh jeder, jedes Theater seinen Standon selbst bestimmen. Denn hier gibt es nichts anderes Obergreifendes als den jeweiligen Tag und die jeweilige Situation. Die Summe der Standpunkte, der Reichtum des Verschiedenen ergibt dann das Tableau der kiinstlerischen Bemiihung. Das ist etwas anderes als das biirgerliche Theater alter Art, das zustim- 65 mend oder spater kri tisch den etablierten Konventionenzugetan war. Wenndas biirgerliche Theater nun der Erbe aller Bewegungen auf dem Theater des Jahrhunderts ist, also der Boden der neuen Gemeinsamkeit, ist es neu und anders zu definieren: als derOrt, auf dem sich die Gesell3chaft im Fiir und Wider die Bilder schafft, urn ihren Zustand auf eine lebenswerte Zukunft hin zu bedenken. An die Utopie erinnern Wenn man in den ostdeutschen Theatem jetzt den Verlust an Utopie beklagt, mag man sich daran erinnem, daB auch dem westdeutschen Theater die Utopien van 1968 verlorengegangen sind. So ist- in der Emiichterung - nun die gemeinsame Aufgabe: zu sehen, daB de m Theater eine ihm ganz und gar eigene Utopie innewohnt, die es nicht verlieren darf, an die es si eh erinnem muB, wenn sie aus den Augen gerat. Es ist die Utopie vom Gewinn eines konfliktfreien, lebenswerten, selbstbestimmten und unversehrten Lebens. Alle Dramen auf dem Theater erinnem daran, daB die Wirklichkeit anders ist. Aber jene Utopie ist die einzig nicht oktroyierbare, die keine Verfiihrungskraft ideologischer Art enthalt, die das Theater auch nicht durch Fremdbeanspruchung und Indienststellung deformiert. Denn diese dem Theater eigene Utopie erinnert den Zuschauer nur an sich selbst und an das, was er sein ktinnte. Sie enthiilt die Kraft zum Widerstand und ist das herzustellendeGemeinsame. SolangeimZentrum des Theaters rticht diese gemeinsame Anschauung van Funktion und Aufgabe ist, ist es sich seiner selbst ungewiB. Das ist die heutige Situation. In Ost wie in West. Diese SelbstgewiBheit, diese Vertrautheit mit der ihm eigenen Utopie, wurde durch vielerlei Vorgiinge, Ereignisse und Einfliisse in diesem Jahrhundert zersttirt. 1918, 1933, !945, 1949 (Spaltung Deutschlands), 1968, 1975, 1989: die gesellschaftlichen und politischen W andlungen fiihrten zu Traditionsbriichen, neue Zielsetzungen wechselten mit Indienststellungen, kiinstlerische Positionen mit ideologischen. Die Etablierung des Femsehens als Bildproduzent und Unterhaltungsmedium starte auf Dauer den einstigen, naiven Sympalhie-zusammenhang van Tneater und Publikum und verwies das Theater auf 66 kiinstlerische Progressivitat und experimentelle Selbst-erfahrung. Vielerlei Sttirungen im inneren Betrieb des Theaters taten ein iibriges. Diese Sttirung im Zentrum hat das Theater phasenweise immer wieder iiberdeckt durch Ersatzengagements und Ersatzmotivationen. Die heute geliiufige Begriffsfolge van "Zeittheater", "Politisches Theater", "Regietheater" und schlieBlich "Schauspielertheater" beschreibt grab die jeweiligen Entwicklungsvorgiinge und unterschiedlichen Motivationen zum Theater. Die vierzigjiihrige politische Spaltung des Landes fiihrte auBerdem zu unterschiedlichen Ausdrucksformen und Aufgabenbestimmungen "hiiben und drtiben". All diese Ersatzmotivationen haben sich amEnde des Jahrhunderts als vorlliufig, peripher oder durchgiingig erwiesen und darrtit als primlire erschi:ipfl. Eine breite, in sich vielfaltige, aber orientierungslose Theaterszene ist das Erbe. Zum erstenmal bietet sich wieder die Moglichkeit, das zergliederte Feld zusammenzufiihren. Wohin? In einer sich dauemd wandelnden Gesellschaft kann es ein kiinstlerisch monolithisches Theaternicht geben. Es lebt m it den Bewegungen der Zeit. Das zwanzigste Jahrhundert hatte entsprechend seinerpolitischen Gestalt- ein Theater der Exzesse, der kontraren Visionen und der extremenBelastungen. Keine seiner Durchgangsphasen war oder blieb ohne Begriindung. Der Durchgang scheint beendet. Diekommende Epoche wird in der nun neuen Konstellation eine der Zusammenfassung sein: Aufmerksamkeitauf die Aufgaben und Themen der Zeit, neuer Sinn fiir die Form und die Sprache, der Regisseur als verrrtittelnder Gestalterund der Schauspielerwieder als das Medium jener Utopie, die de m Theater eigen ist. Diese Entwicklung ist im Gang und hat in Thomas Langhoffs Inszenierung der "Obergangsgesellschaft". in Heiner Miillers "Hamlet",in Schleefs "Faust"- oder Castorfs "John Gabriel Borkmann", oder Zadeks "Iwanov"-Inszenierung vielfaltige, weisende Auspragungen. Das kiinstlerische Ziel ist nicht mehr: Umsichschlagen, Zersttiren, Aufltisen, Assoziieren, sondem: hohe Konzentration. aus: Sonntagsbeilage des Tagesspiegels vom 16. Februar !992, Seite I Neu erschienen! Sofort lieferbar! Kurze Geschichte des DDR-Theaters mit Beitragen von Knut Lennartz, Adolf Dresen, Heinz Klunker, Dieter G6rne, Gunther Ruhle, Hilmar Hoffmann, Siegfried B6ttger und Wolfgang Ruf Ein Sonderdruck der Zeitschrift SONDEADRUCK lli~ l)eul<eh~ Oilhno Die Deutsche Biihne 110 Seiten, zahlreiche Abbildungen Preis DM 19,80 ISBN 3-617-54999-3 Knu! Lennartz Vom Aufbruch in d:~b~~ zur Wende Erhord Fried rich Verlog Velber Postfach 10 01 50 3016 Seelze Telefon (0511) 40004-0 Telefax (0511) 40004-19 E1hard Friedrich Verlag Velbelt992 f ,_·.