Die Auferstehung
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Die Auferstehung
Forschung & Technik Max Rauner Carsten Behler Die Auferstehung Mirko Aach ist Chirurg – und querschnittgelähmt. Mit will er sich und seinen gelähmten Patienten das Gehen wieder beibringen. Das Training hat schon begonnen. Wird der Rollstuhl bald überflüssig? D as Wunder von Bochum ist für elf Uhr anberaumt, die Oberbürgermeisterin ist gekommen, ein japanischer Erfinder, der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen und ein deutscher Klinikdirektor. Und natürlich der Gelähmte, der gleich aufstehen und wieder gehen soll. Dies ist ein Ereignis von biblischer Wucht, und entsprechend groß ist der Andrang im Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikum Bergmannsheil. Eine rote Laufbahn markiert die zehn Meter, die der Querschnittgelähmte zurücklegen soll, am Ende gleißendes Licht wie aus einer Nahtoderfahrung, es sind aber nur die Scheinwerfer der Fernsehkameras. Am Anfang der Bahn sitzt ein lächelnder Mann auf einem Hocker: Philippe von Gliszynski, 35. Normalerweise kann er seine Beine nicht bewegen. Nun steckt er bis zur Hüfte in einem Exoskelett: einer Roboterhose mit Sensoren unter den Schuhen und elektrisch bewegten Gelenken an Knien und Füßen. Gleich soll er losgehen, aber vorher wird noch geredet. »Es gibt selten so schöne Termine wie diesen«, sagt die Oberbürgermeisterin. »Das ist der erste Ort außerhalb Japans, wo die Technik zum Einsatz kommt«, sagt der Minister. »Das ist unsere Apollo-Mission«, sagt der Geschäftsführer der Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie, sie finanziert die ExoskelettForschung. »Wir haben pro Jahr 1000 neu verletzte Patienten in Deutschland«, sagt der Klinikdirektor. »This is important«, sagt Yoshiyuki Sankai, der Erfinder, und macht ein Foto vom Publikum. Hinten im Saal sitzt Mirko Aach in seinem Rollstuhl, ein Assistenzarzt mit langen Haaren. Wenn dies eine Apollo-Mission ist, dann ist er der Neil Armstrong. Aach war der erste Europäer, der seinen Fuß in eines B=(,7:LVVHQBB der japanischen Exoskelette gesetzt hat, er ist selbst querschnittgelähmt. Philippe von Gliszynski ist sein Patient. Und der steht nun auf. Robotergelenke knarzen, Motoren surren, das rechte Bein macht einen Schritt, dann das linke, von Gliszynski schiebt einen Rollator ein Stück vorwärts, stakst weiter wie eine Marionette, die sich selbstständig gemacht hat. Zehn Meter geht er so, dreht um, geht wieder zurück, er hat nun rote Wangen vor Anstrengung. »Science-Fiction wird Wirklichkeit«, steht am nächsten Tag im Kölner Express. G ibt es Hoffnung für die schätzungsweise 100 000 betroffenen Menschen in Deutschland, eines Tages wieder ihre gelähmten Gliedmaßen nutzen zu können? Mirko Aach soll das herausfinden. Unter der Leitung von Klinikdirektor Thomas Schildhauer und Oberärztin Renate Meindl hat er eine Vorstudie gemacht mit fünf Probanden im Rollstuhl, ihn selbst eingeschlossen. »Sensationell« nennt er die ersten Ergebnisse. Er sagt aber auch: »Man darf keine falschen Hoffnungen wecken.« Es geht nicht nur um neue Technik. Es geht auch um die große Frage nach dem glücklichen Leben. Es geht darum, wie man weitermachen soll, wenn einen das Schicksal aus der Bahn geworfen hat. Der Architekt Philippe von Gliszynski wollte kurz vor Silvester 2010 das Dach eines Reitstalls vom Schnee befreien, damit die Kinder darunter spielen konnten. Er brach ein und fiel drei Meter tief auf den Betonboden. Der Sportstudent Mirko Aach stürzte 1999 beim Snowboarden und wachte in einem Krankenhaus wieder auf. Er war 26 Jahre alt. An einem Montag ein paar Wochen nach dem Pressetermin rollt Mirko Aach um 7.30 Uhr ins Foyer der Klinik, kurvt um die Zimmerpalmen, stoppt. Er trägt ein weißes Poloshirt, eine weiße Hose und Es geht nicht nur um Technik. Es geht auch darum, wie man weitermachen soll, wenn einen das Schicksal aus der Bahn geworfen hat. Mirko Aach ist auf den Rollstuhl angewiesen, seit er 1999 beim Snowboardfahren verunglückte. Mit dem Exoskelett aus Japan trainiert er regelmäßig seine Bein- und Rumpfmuskulatur. B=(,7:LVVHQBB Forschung & Technik Mit dem Aufrichtrollstuhl kann Mirko Aach operieren, ganz wie die anderen Chirurgen. Eine Schiene über den Knien sorgt dafür, dass er während der Operation nicht einknickt. B=(,7:LVVHQBB weiße Turnschuhe, er sieht aus wie die anderen Ärzte hier. Bis auf den Rollstuhl. Kann ein halb Gelähmter ein ganzer Arzt sein? Aach gibt seinen Rädern Schwung und rollt voran durch die Flure der Abteilung für Rückenmarksverletzte, raus aus dem Hauptgebäude, rein ins Zentrum für neurorobotales Bewegungstraining, wo Philippe von Gliszynski an diesem Morgen erwartet wird. Später muss er noch operieren. »Wir dürfen nicht behaupten: In fünf Jahren wird jeder, der heute im Rollstuhl sitzt, mit einem Exoskelett rumlaufen«, sagt Aach. Viele Patienten nähmen jede Nachricht über vermeintliche Heilungschancen begierig auf. »Die klammern sich an nicht belastbare Strohhalme.« Er war selbst so, nach seinem Unfall. Er werde wohl nie wieder gehen können, sagten ihm die Ärzte damals. Bei mir ist das anders, habe er gedacht, das wird schon. Es wurde aber nicht. Sein Körper blieb teilgelähmt vom achten Brustwirbel abwärts: Von den Zehen bis drei Finger breit unter den Brustwarzen hat er zwar ein fast normales Berührungsempfinden und kann auch einzelne Muskelgruppen ansteuern, aber seine Beine etwa kann er nicht koordiniert bewegen. Für die Reha wurde Aach nach Bochum verlegt. Wenn es stimmt, dass sich in Grenzsituationen der Charakter eines Menschen offenbart, dann zeigte Mirko Aach in jenen Wochen, dass er eine Kämpfernatur ist. Er saß nun im Rollstuhl und baute trotzdem weiter mit einem Freund Snowboards, die er über das Internet verkaufte. Seine Freundin blieb bei ihm, sie sind heute verheiratet. Er schrieb auch noch eine Klausur in Sport, aber er merkte: »Das war nicht mehr das, was ich wollte.« Ob man als Querschnittgelähmter Medizin studieren könne, fragte er die Oberärztin, die ihn in Bochum behandelt hatte. Kann man, sagte sie, er müsse ja nicht gleich Chirurg werden. Aach schrieb sich für ein Medizinstudium in Münster ein. Mit Kommilitonen paukte er regelmäßig für die Prüfungen, zu Partys trugen sie ihn die Treppen hoch, nach sechs Jahren war er – Arzt in der Chirurgie. Die Oberärztin, Renate Meindl, ist heute seine Chefin. »Er ist zäh«, sagt sie, »er hat das Leben trotz seiner Behinderung bejaht.« Im Frühjahr 2011 fragte sie ihn, ob er die Exoskelett-Studie betreuen wolle. Auf Medizinmessen hat Aach verschiedene Exoskelette begutachtet. Die Hersteller drängen nach Deutschland und buhlen um Kunden. In den meisten Modellen wird man festgeschnallt, und der Roboter trägt einen durch die Welt, gesteuert etwa mit einem Joystick. Die Bochumer Mediziner suchten stattdessen ein Gerät, mit dem Patienten aktiv ihre Bein- und Rumpfmuskulatur trainieren, und zwar zunächst auf dem Laufband in der Klinik. Dann nämlich, so die Hoffnung, könnten sie auch ohne Gehmaschine besser den Alltag meistern. Denn mit 50 000 Euro und mehr sind die Exoskelette noch zu teuer für den Hausgebrauch. Sie stießen auf die Erfindung von Yoshiyuki Sankai, Professor an der University of Tsukuba in Japan. »Hal« hat Sankai seinen Roboteranzug genannt, eine Abkürzung für Hybrid Assistive Limb (hybride Hilfsgliedmaße). Hal wird durch die schwachen Muskelaktivitäten und Nervenreize gesteuert, die vielen Gelähmten noch geblieben sind. Restfunktionen, sagen Mediziner. Elektroden auf Oberschenkeln und Knien messen elektrische Signale, wenn der Gelähmte die Beine bewegen will, und ein Minicomputer steuert dann den Motor für die entsprechende Bewegung an. Etwa jeder vierte Querschnittgelähmte eigne sich für das Training mit dieser Technik, schätzt Klinikdirektor Schildhauer. Mirko Aach traf Sankai im November 2011 – im Einkaufszentrum von Tsukuba. Die japanische Kleinstadt nordöstlich von Tokio ist berühmt für ihre Forschungskultur. Im Einkaufszentrum betreibt Sankais Firma Cyberdyne das Hal Fit Center, eine Mischung aus Robotermuseum, Fitnessstudio und Reha-Labor. »Wahnsinn«, sagt Aach, »da wurde ich von einem kleinen Roboter begrüßt.« Cyberdyne verkauft die Exoskelette nicht, sondern vermietet sie. Derzeit sind 300 Hal-Systeme an 125 japanischen Kliniken im Einsatz. Zwei Stunden betreutes Training im Hal Fit Center kosten 160 Euro. Im Trainingsraum vermaßen Sankais Assistenten Aachs Nervenreize und schnallten ihm das Exoskelett an. Dann halfen sie ihm auf das Laufband, rechts und links Haltegriffe, vor ihm ein Spiegel. Zwölf Jahre lang hatte er seine Beine durch die Welt gerollt, oft verkrampften sie, doch als das Laufband langsam anlief, schienen sie plötzlich seinen Befehlen zu gehorchen. Mirko Aach, der Cyborg aus Bochum, konnte gehen. Was war das für ein Gefühl? Aach zuckt mit den Schultern. Er sagt: »Das war eine gute Erfahrung. Aber wenn man zwölf Jahre im Rollstuhl saß, ist man damit eleganter unterwegs.« Es gibt Dinge, die ihn mehr nerven als der Rollstuhl. Wenn er einmal zwei Stunden als Fußgänger umherspazieren könnte, hat er einem Magazin für Querschnittgelähmte gesagt, dann würde er gern als Erstes im Stehen und mit vollem Strahl an einen Baum pinkeln, statt sich, wie jetzt mehrmals täglich, einen Katheter durch den Penis in die Blase zu schieben. Diesen Wunsch würde auch ein Roboteranzug nicht erfüllen. B=(,7:LVVHQBB In einem Standardtest messen Mediziner, wie schnell Querschnittgelähmte mit einem Hilfsmittel wie einem Rollator zehn Meter zurücklegen. Aach brauchte dafür knapp 60 Sekunden, bevor er nach Japan flog. Das Training auf dem Laufband in Tsukuba stärkte seine Bein- und Rumpfmuskeln. Schon nach fünf Tagen schaffte er die zehn Meter in 35 Sekunden. Allerdings haben die Japaner den Nutzen des Exoskelett-Trainings noch nicht systematisch untersucht. Das wollen die Bochumer Forscher nun nachholen. Yoshiyuki Sankai hat ihnen fünf Exemplare ausgeliehen, angefertigt für europäische Körpermaße. Der Erfinder der Exoskelette hat in Japan eine Art Fitnesscenter für Gelähmte errichtet: Im Einkaufszentrum von Tsukuba. E ine Krankengymnastin klebt Philippe von Gliszynski die Elektroden ans Bein, als Mirko Aach in das Zentrum für Bewegungstraining rollt. Aach erlaubt sich einen Spaß über dessen »DDR-Gedächtnis-Trainingsanzug«, von Gliszynski fragt zurück, ob Aach mit seinem Bart und dem Pferdeschwanz an den Störtebeker-Festspielen teilnehmen wolle. Aach ist hier der Arzt, aber er ist auch ein Leidensgenosse. Von Gliszynski ist von den Füßen bis zum zwölften Brustwirbel gelähmt, etwas unterhalb des Bauchnabels. Bevor er zum ersten Mal mit dem Exoskelett trainierte, konnte er sich aufrecht nur in einem Gehwagen vorwärtsschieben, der ihm bis unter die Achseln reichte. Heute kann er 140 Meter ohne Exoskelett an einem gewöhnlichen Rollator gehen. Die zehn Meter legt er in 27 Sekunden zurück, früher brauchte er dreimal so lange. Mirko Aach beobachtet ihn auf dem Laufband. »Merkst du, wie dein Herz anfängt zu pumpen?«, fragt er. »Es ist so ein Jogging-Gefühl«, sagt von Gliszynski, »da stellt sich ein Flow ein.« Später sagt er: »Dass ich mit meiner Freundin Strandspaziergänge machen kann, ist unrealistisch. Aber meine Hoffnung ist, dass ich zu Hause ab und zu auf den Rollstuhl verzichten kann.« Die aufrechte Haltung ist gut für die Verdauung und das Herz-Kreislauf-System. Ein anderer Teilnehmer der Vorstudie, Dietmar Maring, 1997 mit dem Motorrad verunglückt, spürt seit einiger Zeit wieder Teile seines Oberschenkels. Kann sein, dass das am Training liegt. Aber: »Wir sehen keine Wiederherstellung der Nerven«, sagt Thomas Schildhauer, »das wäre Fantasie.« Auch Mirko Aach spricht nicht von Heilung: »Am Schaden im Rückenmark ändert sich nichts.« Aach schätzt, dass man nach sechs Monaten weitgehend austrainiert ist und dann vielleicht zweimal die Woche aufs Laufband muss, um die erreichte Gehfähigkeit zu halten. In den kommenden drei Jahren sollen 60 Patienten an der klinischen Studie teilnehmen, erst dann gibt es statistisch aussagekräftige Ergebnisse. Forschung & Technik Mirko Aach trainiert einen teilgelähmten Patienten mit dem Exoskelett. Elektroden auf Oberschenkeln und Knien messen schwache Nervenreize und Muskelaktivität. Ein Minicomputer am Rücken empfängt die Signale und steuert die entsprechenden Motoren an. B=(,7:LVVHQBB Vielleicht werden Rollstuhlfahrer eines Tages tatsächlich ihre Rollstühle gegen Exoskelette eintauschen können – nicht nur in der Klinik, auch im Alltag. »Bis dahin muss ich glücklich weiterleben«, sagt Mirko Aach. Er wartet nicht auf den Fortschritt, es gibt Wichtigeres. Er hat jetzt einen einjährigen Sohn und arbeitet einen Tag weniger in der Woche. U m elf Uhr öffnet Mirko Aach die Tür zu einem engen Durchgangsraum. Er streift sich OP-Kleidung über und wechselt den Rollstuhl, desinfiziert sich die Hände. Der Anästhesist schiebt ihn in den Operationssaal und klappt den Rollstuhl in die Senkrechte, sodass Aach aufrecht steht, stabilisiert durch eine Schiene vor den Knien. Der Oberarzt steht auf der anderen Seite des OP-Tisches, zwei Schwestern reichen OP-Besteck an. Auf dem OP-Tisch liegt eine Patientin, die sich im Rollstuhl wund gesessen hat. Die beiden Chirurgen entfernen abgestorbenes Gewebe und vernähen gesunde Haut über der Wunde, ein Routineeingriff. Drei bis vier Operationen machen sie jeden Vormittag, Aach wird eingeteilt wie die anderen auch. Chirurg und querschnittgelähmt, als gäbe es nichts Normaleres auf der Welt. Nach der OP sitzt Aach in der Kaffeeküche und studiert die Sportseiten. Am Wochenende hat Borussia Dortmund das Revierderby gegen Schalke verloren, das schmerzt ihn derzeit mehr als alles andere. Im neuen OP-Saal der Klinik wird es einen behindertengerechten Umkleideraum fürs Personal geben. Wenn sie hier in der Abteilung nicht vorleben, wie Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben teilhaben können, wo dann? Im ganzen Land gibt es nun Kampagnen, um die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. »Die Akzeptanz für behinderte Menschen wird größer«, sagt Aach. »Man wird nicht mehr nur durch sein Schicksal beschrieben, sondern durch seine Leistungsfähigkeit.« Manche Patienten fänden es gut, wenn ihnen ein querschnittgelähmter Arzt begegne. Andere haben die Haltung: »Was will der Klugscheißer mir über die Welt erzählen?« Und dann gibt es noch diejenigen, die glauben, der Arzt habe sich aus Spaß in einen Rollstuhl gesetzt. In ihrem Weltbild hat ein querschnittgelähmter Chirurg keinen Platz. Die Nichtbehinderten haben noch einen langen Weg vor sich. ——