Reise nach Zentralfrankreich
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Reise nach Zentralfrankreich
Reise nach Zentralfrankreich Aquitaine – Périgord – Auvergne Vom 16. Juni – 25. Juni 2005 I. Prolog V on dieser Reise möchte ich erzählen, meiner Begeisterung von Frankreich, den wechselvollen und großartigen Landschaften, den Menschen dort. Wieder einmal Frankreich. Verzeiht meine Liebe zu diesem Land, zu dieser Sprache, zu seiner Kultur. Verlockend schien mir die Wahl der Ziele zu sein- zwei Landschaften, die ich noch nicht kannte: das Périgord und die Auvergne. Beide liegen in Zentralfrankreich und sind von deutschen Touristen wenig besucht, von Reiseunternehmen wenig angeboten und von deutschen Privatreisenden noch weniger durchquert. Einem Höhepunkt fieberte ich besonders entgegen: der versprochenen Fahrt mit dem TGV1 von Paris nach Bordeaux. Ich würde Bordeaux wieder sehen, das Haut Medoc, einen Zipfel von Paris. Wieder war es „nur“ eine Fahrt mit einem Reiseunternehmen per Bus, und doch war sie am Ende so voll gepackt mit Erlebnissen und Begegnungen, wie man sie sich als Einzelreisender in dieser kurzen Zeit nicht organisieren kann. Über die Vorbereitungen gibt es nichts zu sagen. Ich freute mich ein wenig auf den Gebrauch meiner französischen Sprachkenntnisse, die kaum der Erwähnung bedürfen, obwohl ich mich auf der Abendschule jahrelang so gequält habe. Französisch ist für uns Deutsche schwierig. Aber schon bei der Beschäftigung damit erfährt man den Reiz der französischen Lebensart. Savoir vivre 2– könnte eine Umschreibung sein. In dieser Sprache klingt die Leichtigkeit des Seins an, die verbindliche und tolerante Umgangsweise der Menschen miteinander, die noch bewahrte Form der Höflichkeit, die jetzt uns Deutschen verloren gegangen ist, seit uns das Geld vollständig im Würgegriff hat. Ein Beispiel: Ein Franzose unterscheidet noch zwischen dem schönen jungfräulichen Stande des Mädchens oder einer jungen Frau und erkennt ihr noch das „Mademoiselle“, das Fräulein zu. Ich muss nicht erwähnen, wie lächerlich es klingt, wenn eine vierzehnjährige unreife Göre mit „Frau“ angesprochen wird. Der Verzicht auf das „Fräulein“ ist natürlich der Emanzipationswelle zu verdanken, die besonders Westdeutschland überzogen hat. Ein Fräulein auch im Alter zu bleiben, galt früher nicht als ehrenrührig, heute wäre jede zweite gebärfähige Frau ein Fräulein, weil ehemals die Erhebung in den Stand der „Frau“ mit Heirat oder mindestens mit dem Segen eines Kindes verbunden gewesen wäre. Doch welche Frau heiratet heute noch? Baby- KleinkindMädchen- Frau. Wann, mit welchem Alter geschieht der Sprung in die nächste Kategorie? Quo vadis3, Deutschland? Ein Franzose unterlässt es auch nie, bei einer Frage ein „S’il vous plâit“ oder „S’il te plâit“ voran zu stellen, was so viel heißt wie „Wenn es Ihnen (oder dir) gefällt“. Er wird auch, wenn ihm ein Gefallen getan ward, nicht vergessen, nach dem Gegendank ein „Je vous en prie“, ein ‚Bitte sehr’ erwidern. Das sind kleine Gesten der Höflichkeiten im Alltag, die die Würde des Menschen unterstreichen; auch dem Geringen gegenüber wird nach dem Dank ein „Monsieur“ oder „Madame“ hintangesetzt. Sie sind in Frankreich bei jung und alt üblich. Sie werden hoch gehalten und gepflegt. Sie mögen ein wenig anstrengen, diese Floskeln, und sie mögen uns, vor allem den Jungen, veraltet und verstaubt vorkommen. Dennoch: Die Sprache unserer Zunge ist neben der unseres Körpers der Vermittler unserer Haltung, unserer Meinung, unserer Gedanken, unseres Willens. Sie sind der Kitt, der die Gesellschaft zusammen hält. Sie erhalten die Achtung vor dem 1 Train Grand Vitesse = „Zug hoher Geschwindigkeit“, Hochgeschwindigkeitszug (sprich: te-sche- weh) Savoir vivre = Wissen zu leben 3 Quo vadis... = Wo gehst du hin,... 2 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 1 Gegenüber, wahren seine Würde, seine Integrität, üben Toleranz mit ihm. Dieser Kitt bröckelt nun... Es knirscht im Gebälk der Höflichkeit bei uns. Quo vadis, Deutschland? Beobachten Sie den Umgang mancher jungen Menschen, die es im Elternhaus und in der Schule nicht geschafft haben, ihre deutsche Muttersprache richtig zu erlernen! Wie viele sind es, und es werden immer mehr! Je geringer der Wortschatz dieser bedauernswerten Menschen, desto mehr sprechen sie die Sprache der Muskeln und nähern sich wieder dem Urzustande, in dem es nur um die Grundtriebe ging, Nahrungserwerb, Fortpflanzung, Egobefriedigung, Machtausübung, Gier nach Eigentum...Alles das wird mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt. Ich möchte damit den gesunden, strebsamen, lernbegierigen jungen Leuten, die ganz sicher die Mehrzahl bilden, nicht zu nahe treten! Mich zieht es in dem Maße zur französischen Kultur, wie in unserem Lande die Grundwerte des Humanismus zunehmend mit Füßen getreten werden, der Turbokapitalismus die Menschen kaputt macht, wie unsere so traditionsreiche deutsche Kultur verarmt, vom Einfluss des Geldes verfälscht wird, das Geschäft mit dem Sport, der Gesundheit, Gesang und Spiel zu Industrien verkommen, die Kluft zwischen arm und reich immer tiefer aufreißt. Man nehme nur das Lesen von Belletristik. Ich glaube, je mehr Bücher verkauft werden, desto weniger werden wirklich gelesen. So paradox es klingt, mir scheint, je weniger Leute Bücher lesen, desto mehr Leute gibt es, die Bücher schreiben. Leider setze ich mich nun auch noch hin und schreibe! Wobei meine Hoffnung, gelesen zu werden, gering ist. Wer nimmt sich noch die Zeit? Ich weiß, meine Meinung über die unterschiedlichen Kulturen ist strittig, und bei unserem Nachbarn ist auch nicht alles in reiner Butter. Der deutsche Nationalstolz klemmt. Noch in Generationen müssen wir uns vor unseren europäischen Nachbarn, vor jüdischen Gläubigen schämen. Tief sitzt noch der Stachel der letzten zweihundert Jahre, als Frankreich und andere europäische Völker unsere erklärten Feinde waren. Wie ist das in die Köpfe gehämmert worden, noch unsern Vätern: „Jeder Schuss ein Russ’, jeder Tritt ein Brit’, jeder Stoß ein Franzos’!“ Wie irrsinnig! Wie menschenverachtend! Ein ganzes Land dein Feind, jeder Mensch dieses Landes? Ich kann einen Menschen nicht mögen, eine Menschengruppierung mit bestimmten Absichten, aber ein ganzes Land? Gott sei Dank ist Frankreich seit 60 Jahren wieder ein Freundesland, ein friedliches Nachbarland! Wir Ostdeutschen können diese Freundschaft erst seit 15 Jahren in Anspruch nehmen. 45 Jahre hat uns eine Diktatur in engen Grenzen eingesperrt. Ich habe darunter sehr gelitten, wäre in jungen Jahren gern gereist und hätte Land und Leute selber vor Ort auf meine Weise studiert, ohne die abgestandene Doktrin von der Arbeiterklasse und ihren kapitalistischen Feinden wie bittere Medizin von Kind auf zu schlucken. Heute muss ich als alter Mann mit dem vorlieb nehmen, was die Reiseveranstalter der breiten Menge als Aufschnitt vorlegen. Und die Reisebüros bieten als Menü genau das, was der breiten Menge schmeckt, Hausmannskost. Die Interessen hängen nicht hoch. Die Spezialanbieter sind teuer. Wie sehnsüchtig habe ich immer über den Zaun ins Französische gelugt. Das war mir vor der Wende nur theoretisch möglich gewesen: über das Buch, den Film, die Sprache. Mein großer Lehrmeister, mein Mentor in diesem Bemühen war dabei stets Kurt Tucholsky, dessen Liebe zu Frankreich aus allen seinen Schriften strahlt. Hitlers Schergen haben seine Bücher verbrannt. Sie sind im Feuer nur gehärtet worden und haben in mir ein anderes Feuer angezündet. Seine Bücher und seine Haltung haben mich infiltriert. Das glimmt und glüht. Wer das für übertrieben hält, der lese sein Pyrenäenbuch! Was versprach mir das Programm noch neben dem Kennen lernen zweier unbekannter Landschaften? Es soll nach Bergerac gehen. Was hat es für ein Geheimnis um den Cyrano von Bergerac? Wer ist er gewesen? © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 2 Vor allem ein Punkt der Reise elektrisierte mich: Die Höhle von Lascaux II! Wie lange schon wusste ich davon! Ein Vierteljahrhundert steht in meinem Bücherschrank ein Band4 über eiszeitliche Kunst und eiszeitliche Spuren, darunter auch in den französischen Kalksteinhöhlen im Tal der Dordogne. Endlich würde ich Lascaux einmal sehen dürfen! Das gab den Ausschlag für diese Reise. Ich nahm dabei in Kauf, dass ich zwar ein zweites Mal nach Bordeaux und in das Haut Medoc käme, ein zweites Mal nach St. Emilion. Doch richtig überlegt, freute ich mich im Gegenteil auf diese Berührungen, wusste ich doch, dass sich ein erstes Mal nie wiederholt. Jede Begegnung, sei sie mit Menschen oder Städten, verläuft immer wieder neu und lässt immer wieder Neues zu. Was nur beim zweiten Hinsehen aus dem Reiseprogramm herausschaut ist, dass wir eine ganze Reihe alter romanischer Kirchen zu sehen bekommen werden. Ich werde wieder einen Blick in die französische Geschichte werfen dürfen. Und nicht zuletzt ist die Auvergne ein Gebiet, das noch vulkanisch verändert wurde, als bereits Menschen es besiedelten! Geologische Erkenntnisse werden mich bereichern. II. Anreise nach Paris Donnerstag, 16. Juni 2005 n früheren Reiseberichten habe ich diese Fahrt durch Deutschland nach Paris, die wir nun schon mehrere Male absolvierten, beschrieben. Sie ist ungefähr 1000 km lang und eine Strapaze. Start war 6.00 Uhr am Flughafen Dresden. Unsere Mitreisenden sind wie immer 60 Jahre und älter. Graue Haarfarbe dominiert. Später stellt sich heraus, dass nicht alle an allem interessiert sind. Für sie liegt der Schwerpunkt dieser Reise auf dem ersten Teil des Reisetitels „Genuss pur in Zentralfrankreich“, womit nicht der kulturelle, sondern der leibliche, insbesondere der kulinarische Genuss gemeint ist. Ich muss tolerant sein. Nicht jeder ist versessen auf Kunst, und gut Essen und Trinken ist nicht zu verachten. Einige fahren auch nur mit, weil sie es zu Hause vor Einsamkeit nicht aushalten. Ob nun Frankreich oder ein anderes Land, das ist ihnen egal! I Ich will ein paar Tagebuchnotizen aufarbeiten von diesem langen Reisetag. Ich genieße eine herrliche Passivität, gebe mich ganz dem Diktat unseres Reiseleiters hin. Er heißt Peter Großer, und unser Fahrer heißt Knuth. Wir fahren über die A4 durch Thüringen, sehen in der Ferne die drei Gleichen, den Inselsberg, die Wartburg bei Eisenach. Um 11 Uhr sind es draußen 24°C. Das Wetter spielt gut mit. An der Autobahnraststätte Wetterau ist Mittagshalt. 13.30 Uhr sehen wir im Vorbeifahren zwei „Rosinenbomber“ auf dem Frankfurter Flughafen stehen. Rosinenbomber; wer diesen Ausdruck nicht kennt: In den Zeiten des kalten Krieges waren die Westberliner zeitweilig von der nahrreichen Nabelschnur des bereits sehr verwöhnten Westens abgeschnitten, doch ich muss weiter ausholen. Hier ist also ein kleiner Rückblick in die jüngere deutsche Geschichte, die so manchem Jungen überhaupt nicht bewusst ist: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, die von je einer der Besatzungsmächte USA, Großbritannien, Frankreich oder Sowjetunion beherrscht wurden. Fragen, die Gesamtdeutschland betreffen, regelte der Alliierte Kontrollrat aus Vertretern aller vier Mächte. Nachdem sich die drei Westalliierten im Frühjahr 1948 in London auf eine gemeinsame staatliche Ordnung für ihre Zonen einigten, zog sich die Sowjetunion aus dem Kontrollrat zurück. In der Folgezeit versuchte die UdSSR, Berlin unter ihren wirtschaftlichen Einfluss zu bringen. Zunächst beeinträchtigte die Sowjetarmee die westlichen Truppentransporte von und nach Berlin. Als die Währungsreform der Westländer auch in Westberlin durchgeführt wurde, kam es im Juni 1948 zur völligen Blockade. Vom 24.6.1948 bis zum 12.5.1949 sperrte die Sowjetunion alle Land- und Wasserwege nach Berlin, um so die Integration Westberlins in die Währungseinheit der sowjetrussischen Zone zu erzwingen. Die Blockade überraschte die Westalliierten. Mit Aktionen gegen Berlin hatten sie zwar gerechnet, Gegenmaßnahmen waren jedoch nicht vorbereitet. Da sich zudem Washington, London und Paris 4 Rudolf Drößler, „Kunst der Eiszeit – Von Spanien bis Sibirien“, Verl. Koehler & Amelang, Leipzig 1980 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 3 nicht auf eine gemeinsame Politik gegen Sowjetrussland einigen konnten, geschah zunächst nichts. Die Entscheidung, Berlin aufzugeben oder nicht, lastete auf den Verantwortlichen. Der amerikanische Militärgouverneur und US-General Lucius D. Clay schlug US-Präsident Truman eine Militäraktion vor, mit der die Öffnung der Verkehrswege mit Gewalt herbeigeführt werden sollte. Truman lehnte ab, entschied aber zugleich, dass sich die USA nicht freiwillig aus Berlin zurückziehen werden. Die Westalliierten erinnerten sich der alliierten Vereinbarung vom November 1945 zur Nutzung der Luftkorridore nach Berlin. Lucius D. Clay initiierte am 25. Juni die Einrichtung einer Luftbrücke zur Versorgung der West- Berliner und des alliierten Kontingents, die als die Operation "Vittels" in die Geschichte einging. Am 26. Juni landete die erste US-Maschine auf dem Flughafen Tempelhof. Ab dem 28. Juni schloss sich die britische Luftwaffe mit der Operation " Plain Fare" an. Die Engländer landeten in Gatow und mit Wasserflugzeugen auf der Havel. Zu den Piloten gesellten sich auch Franzosen, Australier, Neuseeländer, Kanadier und Südafrikaner. Die 426 alliierten Militär- und Zivilflugzeuge erreichten über die Luftkorridore von Hamburg, Düsseldorf/Köln/Bonn, Frankfurt sowie Stuttgart/München/ Nürnberg aus die Stadt. Damit transportierten die Alliierten den täglichen Bedarf von etwa 6.000 Tonnen Gebrauchsgütern aller Art: Kohle, Lebensmittel, Maschinen, Medikamente und Rohstoffe. Die Flugzeuge flogen rund um die Uhr. Am 16.4.1949 wurde mit 12.840 Tonnen Fracht ein Tagesrekord aufgestellt. Die Russen erkannten im Laufe der Monate, dass ihre Blockade keinen Erfolg bringen würde. Am 15.2.1949 nahmen sie Geheimverhandlungen mit den USA über die Aufhebung der Blockade auf. Am 4.5.1949 verlasen sie ein gemeinsames Kommuniqué zur Beendigung der Blockade, das am 12. Mai um 0.01 Uhr in Kraft trat. Nach elf Monaten brachen die Russen die erfolglose Blockade ab. Damit war die Blockade Berlins beendet. Unbeabsichtigt beschleunigte die Sowjetunion mit der erfolglosen Aktion die Westintegration Westberlins und Westdeutschlands. Während der elfmonatigen Blockade landeten alle zwei bis drei Minuten Flugzeuge auf einem der drei Westberliner Flughäfen. Besondere Berühmtheit erlangte US-Pilot Gail Halvorsen, der aus seinem Flugzeug vor allem Süßigkeiten an kleinen Fallschirmen abwarf. Bei den Berlinern wurden diese Flugzeuge bald als "Rosinenbomber" berühmt. Bei den Flügen verloren 76 Menschen durch Abstürze oder Unfälle ihr Leben. Das Luftbrückendenkmal - im Berliner Volksmund "die Hungerharke" - in der Nähe des Flughafens Tempelhof erinnert an sie. Seit 1985 steht auf der Rhein- Main- Airbase in Frankfurt am Main ein Duplikat. 14 Uhr überquerten wir den Rhein bei Ludwigshafen. 60 km vor Saarbrücken passierten wir die US Air Base Landstuhl/ Ramstein. Ich erinnere mich an das große Unglück, als bei einer Flugschau Dutzende Leute starben, als ein brennender Düsenjet in die Zuschauermenge stürzte. Wir in der DDR sahen nur ein paar wenige Bilder, die sich tief einprägten, schlimme Bilder. Was war geschehen? Ich recherchiere heute, nach 18 Jahren, im weltweiten Netz folgendes und erfahre Tatsachen, die so verblüffend ähnlich den heutigen Machenschaften der Geheimdienste sind, dass es sich lohnt, eine, ich betone eine mögliche, Darstellung unverfälscht darüber zu zitieren: „Dreizehn tote Zeugen. Heute vor zehn Jahren kam es zur Katastrophe von Ramstein - weil ein militärisches Geheimnis um jeden Preis bewahrt werden sollte? Zum Jahrestag des Ramstein-Unglücks von August 1988 sieht die Zeitung "Junge Welt" vom 28. August 1998 einen Zusammenhang mit dem Ustica- Zwischenfall vom Juni 1980. (Autor: Gerhard Feldbauer) Heute (1998) jährt sich zum zehnten Mal die Katastrophe von Ramstein. Noch immer streiten die Opfer um angemessene Entschädigungen, noch immer sind die Hintergründe des Unglücks nicht aufgeklärt. Anfang dieser Woche berichtete das ZDF über eine Verwicklung des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA in das dem libyschen Staatschef Gaddafi zugeschriebene Attentat auf die Westberliner Discothek »La Belle«. Wenige Tage später starteten die USA »zur Strafe« Luftangriffe auf die libyschen Städte Tripolis und Benghazi. Vor zehn Jahren, am 28. August 1988, kam es während einer Flugschau über dem Gelände des USA- Luftwaffenstützpunktes im pfälzischen Ramstein zu einer Katastrophe, bei der 70 Menschen getötet und 450 zum Teil schwer verletzt wurden. Zwei Piloten der italienischen Kunstflugstaffel »Frecce tricolori« stürzten mit ihren Maschinen während eines Kunstflugmanövers ab und in die Menge. Bei staatsanwaltlichen Ermittlungen in Italien spielt derzeit die Frage eine Rolle, ob bei © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 4 diesem Absturz der beiden Piloten der »dreifarbigen Pfeile« nachgeholfen wurde und wenn ja, von wem und warum. Hintergrund: Die beiden Jagdflieger waren Mitwisser eines brisanten militärischen Geheimnisses: Die Ursachen des mysteriösen Absturzes einer Passagiermaschine DC-9 der italienischen Luftfahrtgesellschaft Itavia, die acht Jahre zuvor, am 27. Juni 1980, um 20.59 Uhr aus einer Höhe von 7620 Meter nördlich der Insel Ustica ins Tyrrhenische Meer stürzte. Bei der Katastrophe kamen alle 81 Insassen ums Leben. Der seit 1990 die Ermittlungen führende Untersuchungsrichter Rosario Priore kam zu dem Schluss, dass NATO-Jäger, die im Luftraum über Ustica operierten, die DC-9 mit einer Rakete abschossen. Ziel des Angriffs wäre jedoch der libysche Staatschef Gadafi gewesen, dessen Maschine vom Typ Tupolew sich zur selben Zeit über Ustica auf dem Weg nach Warschau befand, aber überraschend abdrehte und auf Malta landete. Später wurde bekannt, dass pro-arabische Kreise in Rom Kenntnis von dem Anschlag hatten und Gaddafi in letzter Minute warnten. Ferner sickerte durch, dass das Attentat gegen Gadafi in Tripolis einen Putsch auslösen sollte. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass über Ustica auch eine libysche MiG 23 flog, deren Pilot offensichtlich die Tupolew abschießen oder den Anschlag auch nur doubeln sollte, um das NATO-Komplott als einen Anschlag der Gegner Gaddafis ausweisen zu können. Als nun das Attentat ausfiel, kam es darauf an, den libyschen Mitwisser »zu liquidieren«, wie man das im CIAJargon nennt. Dabei wurde dann statt der MiG, die hinter der DC-9 flog, die Passagiermaschine von einer Rakete getroffen. Die libysche MiG, deren Pilot nach geglücktem Anschlag auf einem italienischen Flugplatz landen sollte, drehte nach Süden ab und stürzte wegen Treibstoffmangels über Kalabrien ab. Ihr Wrack wurde von der italienischen Luftwaffe geborgen. 5 Auch Wörner vertuschte Die beiden Frecce- Piloten, die Kapitäne Mario Naldini und Ivo Nutarelli, waren am Abend des 27. Juni 1980 an einem Einsatz zur »Abfangjagd« über Ustica beteiligt. Sie kannten nicht nur das Szenarium dieses kriegsmäßigen Einsatzes, bei dem die Tupolew als »Zombie« (Feindflugzeug) bezeichnet wurde, und die Piloten Befehl erhalten hatten, ihre Identifikationscodes auszuschalten, sondern auch die Aufzeichnungen der Flugbewegungen. Beide Offiziere waren einige Tage nach der Flugschau bei Ramstein zur Vernehmung im Rahmen der immer noch nicht abgeschlossenen Untersuchungen vorgeladen. Kapitän Nutarelli hatte geäußert, er »werde endlich aussagen«. Jahrelang hütete man den Anschlag über Ustica als strengstes militärisches Geheimnis, beseitigte Spuren, vernichtete Beweismaterial oder nahm es unter Verschluss, verhinderte Ermittlungen, setzte Zeugen, Richter und Staatsanwälte unter Druck. Wenigstens dreizehn Zeugen einschließlich der bei Ramstein abgestürzten Frecce- +-Piloten kamen auf mysteriöse Weise ums Leben. Die Vertuschungspraktiken scheiterten indessen. Die skandalösen Vorfälle, die Beobachter in Rom inzwischen mit den Ausmaßen der Geheimdienstpraktiken im Mordfall Moro vergleichen, sind nun nach 18 Jahren der Verschleppung Gegenstand der Anklage der Staatsanwaltschaft in Rom. Frühzeitig tauchten in den Medien Anschuldigungen auf, die DC-9 sei von einer Rakete getroffen worden. In Übereinstimmung mit den italienischen Diensten erklärten die NATO und ihre Geheimdienste - mit denen der USA an der Spitze - unverzüglich, »sämtliche Maschinen« seien zum Zeitpunkt des Absturzes am Boden, alle Raketen in den Hangars gewesen. Der damalige NATOSekretär Manfred Wörner (BRD) höchstpersönlich deckte das Verbrechen und wies jede Schuld von Piloten des Paktes zurück. In Rom verbreitete US-Botschafter Richard Gardner denselben Standpunkt. Noch im März 1989 erklärte das US- Verteidigungsministerium, dass »zur Zeit des Unglücks weder Schiffe noch Flugzeuge der US-Marine oder -Luftwaffe in oder über dem Thyrrhenischen Meer anwesend waren«. 1990 wurden sie alle der Lüge überführt. Sichergestellte Tonbänder der Gespräche der Radarzentrale, die bis dahin von den verantwortlichen Militärs unterschlagen wurden, beweisen, dass sich zum Zeitpunkt des Absturzes der DC-9 am Abend des 27. Juni 1980 zwischen Palermo und Neapel und damit über Ustica zirka 30 Jäger der NATO, zum größten Teil vom Typ Phantom, einige von den Italienern geflogene F-104, französische Mirage und zwei britische Radarflugzeuge vom Typ Nimrod im Einsatz befanden und in dem Gebiet Kriegsschiffe des Paktes, darunter Flugzeugträger und U- Boote, operierten. Dabei war bereits ein erster Versuch, die Verantwortung der NATO zu vertuschen, kurz nach dem Absturz der DC-9 gescheitert. Zunächst wurde versucht, die Spuren nach links zu lenken und ein 5 Wörner, Manfred, deutscher Politiker (CDU) (1934 – 1994), 1982 – 1988 Bundesverteidigungsminister, 1988 -1994 Generalsekretär der NATO © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 5 »rotes Attentat« zu fabrizieren. Schon einen Tag nach dem Absturz meldete sich ein anonymer Anrufer bei der Redaktion des Mailänder »Corriere della Sera« und teilte mit, an Bord der DC-9 habe es eine Bombenexplosion gegeben, die den bekannten neofaschistischen Terroristenchef Marco Affatigato töten sollte. Das rasch eingefädelte plumpe Manöver platzte nach einigen Tagen wie eine Seifenblase. Besagter Affatigato befand sich gar nicht an Bord der Absturzmaschine und ist quicklebendig. Erst Jahre danach stellte sich heraus, dass der Anruf beim »Corriere« vom Geheimdienst SISMI kam. Die damit lancierte These von der Bombenexplosion versuchte man noch lange »am Kochen« zu halten - eine bekannte Methode der zu dieser Zeit von der CIA praktizierten Spannungsstrategie. Parallel dazu wurden Abnutzungserscheinungen, schlechte Wartung und Materialermüdung als Absturzursache angeführt. Gegen diese Version legte der Präsident der Fluggesellschaft Itavia, Aldo Davanzali, Ende 1980 offiziell und entschieden Protest ein und übernahm die These des Raketeneinschlags in der Passagiermaschine. Der Einspruch wurde durch Radaraufzeichnungen des römischen zivilen Flughafens Fiumincino belegt, nach denen ein fliegendes Objekt die Absturzzone mit hoher Geschwindigkeit von West nach Ost durchflog. Der Expertenbericht betont, es könne sich nur um einen Jäger gehandelt haben, der eine Rakete abschoss. Überlebende ermordet? Der Standpunkt der Itavia wurde sieben Jahre später bestätigt, als im Juni 1987 endlich das in 3 800 Meter Tiefe liegende Wrack der DC-9 gehoben wurde. Schon die ersten Fotoaufnahmen vom Meeresboden machten sichtbar, dass eines der beiden Triebwerke völlig geschmolzen war. Nach der Bergung waren Einschläge im Frachtraum zu erkennen, die von außen stammten. Im Inneren waren keine Spuren von Flammen zu sehen. Das alles schließt eine Bombenexplosion aus, bestätigt dagegen einen Raketeneinschlag. Nur der Voice- Recorder, der die letzten Meldungen der Piloten aufgezeichnet haben muss, wurde von der französischen Bergungsgesellschaft IFREMER nicht sichergestellt. Das Unternehmen, das bereits mit den Amerikanern Teile der 1912 gesunkenen Titanic geborgen hatte, wird beschuldigt, den Fund unterschlagen zu haben. Einer der ungeheuerlichsten Fakten, die nach der Bergung des Wracks bekannt wurden, betrifft die Verschleppung der Such- und Bergungsaktion für die Passagiere der DC-9, für die das wichtigste Flugleitzentrum der italienischen Luftwaffe »Martina Franca« in Apulien, das zum NATORadarsystem Nadge gehört, verantwortlich war. Nadge kann mit seinen vollautomatisch gesteuerten Anlagen in rund 80 Radarstationen den gesamten Flugverkehr in Europa, von der Türkei bis nach Norwegen, lückenlos aufzeichnen. Obwohl die Absturzstelle in »Martina Franca« genau bekannt war, wurden die Bergungskommandos der Luftwaffe zunächst in ein weit abseits liegendes Gebiet geschickt. Erst zehn Stunden nach dem Absturz begann die Bergung in dem Raum, in dem die DC-9 ins Meer fiel. Ziel der Aktion: Es sollte keine Überlebenden geben, die aussagen könnten, dass die Passagiermaschine von einer Rakete getroffen worden war. Das Mailänder Nachrichtenmagazin »Panorama« berichtete 1989 sogar, dass, entgegen anders lautenden Darstellungen, die von einer Rakete getroffene DC-9 noch eine gewisse Manövrierfähigkeit besessen haben soll und von dem Piloten auf das Wasser aufgesetzt noch mehrere Stunden auf dem Meer schwamm. Erst nachdem ihr Rumpf im Morgengrauen von Froschmännern eines britischen U-Bootes gesprengt worden war, ging sie unter. Dann erst begannen die »Bergungsarbeiten«. »Panorama« zitierte einen Zeugen aus Militärkreisen, der angab, dass es bis zur Sprengung des Flugzeuges noch Überlebende gegeben haben soll. Am Morgen des 28. Juni 1980 wurden nur noch die Leichen und Körperteile von 31 Personen geborgen, ferner Gepäckstücke, Teile von Sitzen und der Kegel des Flugzeughecks. Eine Obduktion der Leichen unterblieb, womit verhindert wurde, dass an ihnen Spuren eines Sprengstoffgemischs aus TNT und T4, das für militärische Raketen oder schwere Artilleriegeschosse verwendet wird, festgestellt werden konnten. Die Militärs versuchten auch zu vertuschen, dass sich während des Abschusses der DC-9 eine libysche MiG im Luftraum über Ustica befunden hatte. Der Tod des abgestürzten Piloten wurde auf drei Wochen später, den 18. Juli festgesetzt. Auch hier ergab eine spätere Autopsie, dass der Tod mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit bereits am 27. Juni 1980 eingetreten war. Die Wende in den Ermittlungen führte, nachdem zuvor vier Untersuchungsrichter das Handtuch geworfen hatten oder dazu »veranlasst« worden waren, der in der Untersuchung von Terrorakten erfahrene Richter Rosario Priore herbei, der 1990 den »Fall Ustica« übernahm. Als er 1991 nach Washington reiste, stieß er dort, gestützt auf bereits erfolgte Enthüllungen in den Medien, auf die Spuren entscheidender Rädelsführer des Verbrechens und seiner Vertuschung. Priore fand heraus, dass an der US-Botschaft in Rom bereits einen Tag nach dem Abschuss der DC-9 ein »Sonderstab Ustica« gebildet worden war, der fast alle Beweise sicherstellte und unter Verschluss nahm. Auf die © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 6 italienischen Militärs, die Geheimdienste und die Regierung wurde Druck ausgeübt, über den »Vorfall« strengstes Stillschweigen zu bewahren. Der damalige Ministerpräsident, Francesco Cossiga, der bereits zwei Jahre vorher als Innenminister im Mordfall Moro für seine mit USA-Kreisen betriebene Verhinderung der Fahndung unrühmlich bekannt wurde, hatte dazu den italienischen Dienststellen die entsprechenden Weisungen gegeben. Im Ergebnis dessen händigte der Chef des Geheimdienstes SIOS der Luftwaffe, Zeno Tascio, die Radaraufzeichnungen der italienischen Stationen von dem Geschehen über Ustica dem Chef der CIA- Residentur in Rom, Duane Clarridge, aus. Mindestens 13 Zeugen tot Ende 1990 begann die Aufdeckung der geheimen NATO- Truppe Gladio in Italien. Einige Militärs und Geheimdienstler waren nun nicht mehr bereit, für CIA und Pentagon ihre Haut zu Markte zu tragen. Zumal Richter Priore ankündigte, Anklage gegen die Verantwortlichen zu erheben. Vor der Parlamentarischen Untersuchungskommission gab Ex- Verteidigungsminister Lagorio zu, dass es im »Fall Ustica« ein internationales Komplott von hohen Militärs auch anderer Staaten gegeben habe, dem er und die Regierung zum Opfer gefallen seien. Gleichzeitig versuchte der Militär, den Geheimdiensten die Hauptschuld zuzuschieben. Sie hätten die Ermittlungen behindert oder in falsche Richtungen gelenkt. Der Ex-Minister deutete sogar die Beseitigung von Zeugen an. Derartige Fälle waren seit Jahren zur Genüge bekannt, und weitere kamen hinzu. Bereits sechs Wochen nach dem Absturz über Ustica kam der Kommandeur der Luftwaffenbasis Poggio Ballone, Giorgio Teodoldi, bei einem Autounfall ums Leben. Von dem zu dieser Basis gehörenden Flugplatz Grosseto waren am Abend des 27. Juni drei Maschinen aufgestiegen, die an der Operation über Ustica teilnahmen. Auf derselben Luftwaffenbasis war am Abend des DC-9Absturzes Kapitän Maurizio Gari diensthabender Offizier der Radarstation. Er starb am 9. Mai 1981 mit 32 Jahren an einem Herzanfall. Kurz vorher war Giovanni Finetti, Bürgermeister von Grosseto, der Garnisonsstadt des Stützpunktes Poggio Ballone, ebenfalls bei einem seltsamen Autounfall ums Leben gekommen. Von zwei Luftwaffengenerälen hatte er erfahren, dass am Abend des 27. Juni von dem nahe gelegenen Flugplatz zwei Abfangjäger aufgestiegen waren, um eine libysche MiG abzuschießen. Im März 1987 kamen innerhalb von zehn Tagen zwei weitere Mitwisser des »Falles Ustica« ums Leben. General Licio Giorgieri wurde von einem so genannten Terrorkommando Unitä Comuniste Combattenti erschossen. Wie später ans Licht kam, wurde der Anführer des Mordkommandos vom Innenministerium bezahlt. Der General war Radarexperte und Mitglied des Radarstabes der italienischen Luftwaffe. In der Absturznacht führte Giorgieri jedoch einen für seinen hohen Rang ungewöhnlichen Auftrag aus: Über dem Luftraum von Ustica kommandierte er eine PD 808, ein Spezialflugzeug für elektronische Kriegsführung. Der zweite Tote dieses Monats war Feldwebel Alberto Dettori. Er war Assistent des durch einen »Herzanfall« ums Leben gekommenen Kapitän Gari, des diensthabenden Radar- Offiziers von Poggio Ballone. Dettori wurde erhängt an einem Baum aufgefunden. Gegenüber Angehörigen hatte er sich über die Hintergründe des Absturzes der DC-9 geäußert. Als bei Ermittlungen die Liste der diensttuenden Soldaten und Offiziere der Radarstation überprüft wurde, fehlten jedoch die Namen Garis und Dettoris. Im August 1988 fanden drei weitere Mitwisser der »Affäre Ustica« den Tod. Der Luftwaffenfeldwebel Ugo Zammarelli kam mit seiner Freundin bei einem Motorradunfall ums Leben. Er gehörte zu einer Untersuchungsgruppe, die den Absturz der libyschen MiG recherchierte. Weitere Tote waren die beiden bei der Flugschau von Ramstein abgestürzten Piloten Nutarelli und Naldini. 1991 und 1992 kamen ebenfalls zwei mit dem Absturz der MiG befasste Luftwaffenangehörige ums Leben. Im Februar 1991 wurde Unteroffizier Antonio Muzio von unbekannten Tätern mit drei Pistolenschüssen umgebracht. Ein Jahr später stürzte der Luftwaffenoffizier Alessandro Marcucci mit einem kleinen Sportflugzeug ab. Er war kurz zuvor von Richter Priore vernommen worden. Gegenüber Journalisten hatte er die Verwicklung des Luftwaffengeheimdienstes und seines Chefs General Tascio persönlich im »Fall Ustica« erwähnt. Ein Jahr später, im Januar 1993, wurde der Luftwaffengeneral Roberto Boemio in Brüssel von unbekannten Tätern erstochen. Der inzwischen pensionierte Offizier war am 27. Juni 1980 abends Kommandant der Radarzentrale »Martina Franca«. Er war von Richter Priore vernommen worden und hatte über die Hintergründe des DC- 9-Absturzes ausgesagt. Im November 1994 beging ein weiterer Mitwisser unter mysteriösen Umständen Selbstmord, der Arzt der beiden Frecce-Piloten, Dr. Gianpaolo Totaro. Ein Jahr später, im Dezember 1995 erhängte sich der Offizier Franco Parisi, der während des Abends des 27. Juni 1980 in dem für den Flug der DC-9 zuständigen Radarzentrum von Otranto Dienst hatte. Auch ihn hatte Untersuchungsrichter Priore vernommen. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 7 Vor der Anklage zog Richter Priore folgendes Fazit: »Wir wissen, dass die DC-9 abgeschossen wurde. Wir wissen, dass das im Rahmen eines NATO-Manövers geschah. Aber wir wissen noch nicht, wer den Knopf drückte, der die DC-9 vom Himmel holte.« Als ich das las, rieselte mir ein Schauer über den Rücken. Welch ein Sumpf! Die Geheimdienste arbeiten im Regierungsauftrag! Man braucht keine Kriminalromane mehr zu lesen, nur noch einen Blick in die tatsächliche Geschichte zu werfen. Die kleinen Verbrecher werden gehängt,... Ramstein ist heute noch der größte amerikanische Luftwaffenstützpunkt auf europäischem Boden. Von hier wird der verbrecherische Irakkrieg unterstützt und mit Logistik versorgt– mit freundlicher Billigung der deutschen Regierung. Von der Air Base Ramstein aus zieht die CIA ihre geheimnisvollen Fäden zum Wohle der USA. Wer weiß, zu welchen politischen Schweinereien der deutsche Boden noch herhalten muss? Dieser lange Abstecher muss bitte wohlwollend entschuldigt werden. Ich stolpere über ein Stichwort und komme nicht davon los. Wir fuhren also an der US- Air Base im deutsch/amerikanischen Ramstein vorbei. 60 Jahre nach Kriegsende haben wir immer noch amerikanische Besatzer im Land, die sich im Gegensatz zu unseren russischen Befreiern wahrscheinlich für immer hier eingenistet haben. Ich frage mich, in welche verteufelten Auseinandersetzungen uns die dreimal verfluchte NATO noch hineinziehen wird. Schlimm genug, dass deutsche Soldaten unter ihrer Flagge Jugoslawien bombardierten, deutsches Kriegsmaterial gegen islamische Länder eingesetzt wird. Die NATO ist ein überlebtes Relikt der Nachkriegszeit, als es in der Welt noch ein starkes kommunistisches Lager gab. Was soll sie heute? Ein Nordatlantikpakt gegen wen? USA gegen Europa? Geht nicht, denn die Europäer bezahlen die Chose und stellen die Soldaten. Also gegen wen? Oder für wen? Da kommt man der heutigen Zielstellung wesentlich näher: Für die Hegemonialansprüche der USA gegen die dritte Welt. Deutschland lässt sich ja bereits einspannen, in Afghanistan, in Dutzenden Kleineinsätzen im Vorderen Orient, im Kongo. Die Kosten für diese Abenteuer? Bezahlen wir, die kleinen Leute! Wäre Schröder damals nicht so konsequent gegen den Irakkrieg aufgetreten, unter der Merkel hätten schon wieder deutsche Mütter ihre Söhne beweint. Bitterkeit steigt in mir auf. Ich wende mich anderen Gedanken zu. Immerhin fängt ja mein Ausflug ins Nachbarland gerade an. 15.45 Uhr passieren wir die französische Grenze. Dann sind wir in der Lorraine, ehemals Lothringen6. Auf der Autobahn A4 bewegen wir uns konstant mit 100 Stundenkilometern, am Tempomat eingestellt, und an uns rauscht französisches Land vorbei. Vor langer Zeit war es deutsches Land, und es gab in der Vergangenheit harte Kämpfe darum. Knuth bezahlt durch das Busfenster eine erste Maut, die Péage. Bald wird auch Deutschland Maut von Bussen und PKW kassieren, da bin ich mir sicher. 6 Lothringen, französisch Lorraine, historische Landschaft in Nordostfrankreich, reicht von den Argonnen im Westen bis zu den Vogesen im Südosten, von den Ardennen im Norden bis zum Südrand der Monts Fauciles, umfasst die Départements Meuse, Moselle, Meurthe-et-Moselle und Vosges, 23 547 km2, 2,3 Mill. Einwohner; Hauptstadt Nancy; Geschichte Beim Tod Kaiser Lothars I. 855 wurde sein Reich unter seine Söhne aufgeteilt. Das Gebiet von Friesland bis Hochburgund wurde dem fränkischen König Lothar II. zugesprochen, mit dem die Geschichte des eigentlichen Lothringen (Lotharingien) beginnt. Nach seinem Tod fiel Lothringen an das Ostfränkische und spätere deutsche Reich. Nach kurzer Zugehörigkeit zum Westfränkischen Reich (911—925) erhielt Bruno von Köln 953 das Herzogtum Lothringen; unter ihm wurde Lothringen in Oberlothringen, das Land um Metz und Nancy, und Niederlothringen, das Gebiet der heutigen Niederlande, Belgiens und der späteren Rheinprovinz, geteilt. Niederlothringen wurde im 11. Jahrhundert von den deutschen Kaisern als Lehen an die Grafen von Limburg und die von Brabant gegeben. Nach dem Tod Gottfrieds von Bouillon (1100) zerfiel Niederlothringen in die Herzogtümer Limburg und Löwen (Brabant); seitdem führten nur noch die Herzöge von Oberlothringen den Titel „Herzog von Lothringen.“ Der 1048 mit Oberlothringen belehnte Gerhard († 1070), Graf im Elsaß, wurde der Stammvater aller folgenden Herzöge von Lothringen. 1766 fiel ganz Lothringen an Frankreich, behielt aber bis zum Frieden von Lunéville 1801 Sitz und Stimme auf deutschen Reichs- und Kreistagen. 1871 nach dem Deutsch-Französischen Krieg musste Frankreich Teile Lothringens an Deutschland abtreten (Elsaß- Lothringen), die es 1918 im 1. Weltkrieg wiedergewann. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 8 Die berühmten Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges liegen rechts und links, als wir in die Nähe von Verdun kommen. Metz wird erreicht. Diese große Stadt liegt am Fuße der langgestreckten Moselhöhen. Metz war seit dem hohen Mittelalter Freie Reichsstadt. Leider wird die Stadt auf der Autobahn umfahren, so dass nichts von ihr zu sehen ist. Der Reiseleiter schwärmt von der Cathédrale St-Ètienne in Metz und besonders von den farbigen Glasfenstern, die eine Fläche von über 6500 m2 einnehmen. Darunter sind von Marc Chagall im nördlichen Chorumgang und an der Südwand des nördlichen Querarms alttestamentliche Szenen des Irdischen Paradieses etwa im Jahre 1960 hinzugekommen. Gegen 16.30 Uhr überqueren wir die Moselle, auf frz. die Mosel, die irgendwo in den Südvogesen entspringt und den Mosel- Erz- Kanal. Er ist Wasserstraße für lothringische Kohle und Erz. Nicht lange danach verkündete ein Schild, dass wir das Département Meurthe- et- Moselle erreichen. Seine Hauptstadt ist Nancy. Nun gibt Herr Großer eine Übersicht über die Gliederung Frankreichs, das in 22 Regionen und 96 Départements eingeteilt ist. Frankreich ist ein zentral verwaltetes Land, anders als die noch mit den Maßstäben der ehemaligen Kleinstaaterei denkende Bundesrepublik Deutschland. Die Maginotlinie7 wird erwähnt. Wir sehen nicht viel davon, dennoch denken die Älteren unter uns an Verdun, wo im Ersten Weltkrieg etwa je viermal hunderttausend französische und deutsche Soldaten verbluteten und für ein Nichts ihr Leben hingeben mussten. Der wahnsinnige Kostenaufwand der Franzosen für diese Festungswerke hat sich nicht gelohnt. Die Generale Hitlers umgingen 1940 mit ihren Panzerdivisionen diese Linie einfach und drangen vom Norden her über Belgien und die Ardennen in Frankreich ein- die Maginotlinie war ein militärischer Flop. 7 Maginotlinie, die Befestigungszone, die Frankreich nach dem 1. Weltkrieg an seiner Ostgrenze erbaute; hat zahlreiche besonders starke Befestigungsgruppen als Stützpunkte, mit unterirdischen Verbindungen, zahlreichen Sperren, tief gegliederten Panzerbatterien, stark abgedeckten Beobachtungsständen und tief eingelagerter Munition; im Hintergelände unterirdische Kasernen, deren Besatzungen ungefährdet die vorderen Zonen erreichen konnten. Die Maginotlinie schien uneinnehmbar; im Mai 1940 gelang es aber dem Zusammenwirken deutscher Panzerverbände mit der Luftwaffe, die Befestigungsanlage an der noch schwachen Stelle bei Sedan zu durchstoßen. André Maginot lebte von 1877 bis 1932 und war von 1922 bis 1924 sowie von 1926 bis 1932 französischer Kriegsminister. Seine Amtszeiten wurden von den politischen Wirren der Zwischenkriegszeit geprägt. Seit Ende der 1920er Jahre setzte sich Maginot besonders für den Bau und die Finanzierung der sog. “Ligne de Fortification Est” ein, dessen Fertigstellung von dem französischen Ministerpräsidenten André Tardieu (1876-1945) unterstützt wurde. Dieses Befestigungssystem an der französischen Nordostgrenze wurde unter der Oberaufsicht von General Guillaumat entworfen und erhielt nach dem Tode Maginots in einem Staatsakt den Namen “Die Maginot-Linie”. Die Bauzeit, die zunächst auf vier Jahre veranschlagt worden war, betrug neun Jahre (1927-1936). Das Kernstück der “Maginot-Linie” befand sich in Elsaß- Lothringen. Sie zog sich 314 km lang parallel der deutschen Grenze von Belfort nach Montmedy, und zwar in einem Abstand von 7 bis 10 Kilometern. Die Etappenstaffelung ins Hinterland betrug bis 20 Kilometer. Das Befestigungssystem war in die drei Kampfabschnitte Rhin-Vosges (RheinVogesen), Metz-Thionville und den alten traditionellen Festungsgürtel von Belfort bis Toul eingeteilt, wobei letzterer unter Einschluß von Verdun völlig modernisiert wurde. Die “Maginot-Linie” war größtenteils unterirdisch angelegt. Die großen Panzerforts (= “Ouvrages“) reichten bis 7 Stockwerke unter die Erde. Die unterste Sohle lag häufig bei 100 m Tiefe. Es gab Bunkersysteme für Panzerabwehrkanonen und Maschinengewehre, die 50 bis 70 m unter der Erde lagen und miteinander verbunden waren. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 9 Das Festungsgelände von Verdun liegt rechts der Straße, 200 km2 groß, ein Riegel von 16 Festungen mit dem Fort Douaumont, wo heute ein Beinhaus mit den Resten von 15 000 Soldaten errichtet ist. Ich denke an A. Zweigs „Erziehung vor Verdun“ und bin froh, zu der heute lebenden Generation zu gehören. 18 Monate lagen sich bei Verdun deutsche und französische Männer in den Schützengräben gegenüber. Ein besonders heftig umkämpfter Punkt war die Höhe 304. Nachdem der Inhalt von 18 Munitionszügen auf sie abgefeuert war, maß sie nur noch 297 m. 17.08 Uhr überqueren wir die Maas, auf französisch la Meuse, an der Verdun liegt. Peter Großer zeigt uns den voie sacrée8, ein Wald- und Geländestück, das damals nicht von der deutschen Artillerie eingesehen werden konnte, die dünne „Lebenslinie“, ein kleine Straße, die den Nachschub für das so brutal umkämpfte französische Festungsgelände sicherte. Ich bin in großer Spannung. Frankreich ist ein großes Land. Es ist dünn besiedelt hier und hat riesige Waldflächen. 17.20 Uhr meldet Knuth von vorn 27°C am Thermometer. Der Reiseleiter gibt bekannt, dass wir jetzt den Argonner Wald in der Champagne passieren und gibt, als wir rechts vor uns eine Anhöhe mit einer Mühle erblicken, die kleine Geschichte zum besten über Ludwig XVI., der mit Marie Antoinette 1791 als „Kutscher mit Locken auf dem Bock“, also verkleidet, von Paris bis hier in das Dörfchen Varennes-en-Argonne flüchtete, besser hier verraten, entdeckt und verhaftet wurde. Der Post- und der Bürgermeister hatten ihn erkannt. Sein Tod unter der Guillotine am 21. Januar 1793 löste unter den europäischen Souveräns starken Protest und eine Koalition gegen Frankreich aus. Wir kreuzen die Aisne, halten danach zu einer kurzen Rast bei Moulin de Valmy. 1792 soll Unser Dichterfürst Johann Wolfgang Goethe als Kriegsminister im Auftrage seines Landesherrn, des Herzogs von Sachsen- Weimar, hier Kriegsdienst geleistet haben. Peter Großer liest einige deftige und ironische Passagen aus Goethes überlieferten Schriften als Kriegsberichterstatter. Er hat hier an der Mühle von Valmy die Artilleriestellungen der Franzosen inspiziert („Die Kanonade an der Mühle von Valmy“). Seine Niederschrift über diese Ereignisse erfolgte erst in den Jahren 1820/21. Seine Tagebuchnotizen waren verbrannt. Er stützte sich vor allem auf die Notizen seines damaligen Kämmerers. Seine Beschreibung der militärischen Geschehnisse war ironisch, während er die Natur sehr lebendig und gefühlvoll schilderte. Die revolutionären Franzosen siegten. Dann schlugen die Flammen der Französischen Revolution hoch und loderten bald über ganz Europa. Was ereignete sich? Während des sog. 1. Koalitionskriegs erklärte Frankreich am 20. April 1792 Österreich den Krieg. Eine hastig durchgeführte Invasion nach Belgien hinein misslang jedoch aufgrund einer unzureichenden Mannschaftsstärke der französischen Armee. Die Preußen, die sich Österreich angeschlossen hatten, vertrieben daraufhin die (Gemälde von Jean-Baptiste Mauzaisse, 1835) Franzosen aus Longwy und Verdun. Französische Truppen unter dem Oberbefehl von Kellermann und Dumouriez konnten die Preußen jedoch bei Valmy durch die berühmte mehrstündige Kanonade von Valmy zum Rückzug zwingen, was einen Wendepunkt des 1. Koalitionskrieges bedeutete. Die französischen Revolutionsarmeen gingen von da an zur Offensive über und besiegten die Truppen der anti-revolutionären Allianz. Goethe sagte über dieses Ereignis: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." 8 Voie sacrée = heiliger Weg © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 10 Links von uns in der Ferne liegt Épernay, ein oder besser das Zentrum der Champagner- Produktion. Dann greift Knuth wieder in die Reisekasse: 11,60 € für péage Metz- Reims. Reims wird auf der Autobahn umfahren. Wir sehen nur für einen kurzen Moment die Kathedrale. Sie soll über 2500 überlebensgroße Figuren aufweisen. Reims blutete besonders im Ersten Weltkrieg aus den Kriegswunden. Es wurde zwischen dem 3. und 12. September 1914 von der deutschen Armee besetzt. Die Stadt und ihre stolze Kathedrale erlitten im Kriege schwere Schäden. Am Ende des Krieges standen von 14130 Häusern nur noch 60! 400 Tonnen flüssiges Blei floss über die Wasserspeier heraus, als der Dachstuhl brannte. Die große Rosette brach aus... 19.10 Uhr verkündete ein Schild, dass wir uns jetzt in der südlichen Picardie befinden, einer Region im Norden Frankreichs, die aus drei Départements besteht, die wir aber nur streifen. In ChâteauThierry soll es einen besonderen Champagner geben. Peter Großer nennt uns die Regionen und Départements, die wir durchfahren und immer eine Besonderheit dazu oder interessante Details der Geschichte darüber. Jetzt sind wir bereits in der Région Île de France, die in 8 Départements eingeteilt ist, darunter Paris mit der Nummer 75. Wir wissen bereits, dass diese Nummer der erste Teil der Autokennzeichen ist und können die Herkunft der Autos auf der Straße ablesen- falls man in der Liste der Départements kundig ist. Ich hänge sie einfach dazwischen. Diese Liste ist zusätzlich nach Landschaften geordnet, ein Prinzip, dass den Unkundigen zusätzlich in Verwirrung bringt. Aus Tradition und geschichtlicher Zeit überkamen Landschaftsnamen, die sich nicht verwaltungstechnisch einordnen ließen und bringen außerdem noch Bezeichnungen, die jeder nutzt. Manche Namen decken sich aber noch damit und verwirren die Orientierung vollends. Bald sind wir im äußeren Gürtel, im Großraum von Paris. Wir verlassen die Autobahn A4 und fädeln uns in das Netz von Schnellstraßen ein, die den Außenring bilden. Nun geht es schnell. Wohin wird man uns zur Zwischenübernachtung bringen? Was werden wir von der französischen Hauptstadt sehen? Unser Bus hält etwa gegen 20 Uhr, es ist jetzt im Juni noch hell, vor einem unscheinbaren Plattenbau, dem „Eurohotel“ in Paris- Créteil, 12 Avenue Fernand Pouillon. Direkt vor dem nüchtern wirkenden Haus befindet sich eine Busstation. Große Bäume verdecken die trostlose Fassade. Wir packen unsere Koffer, die Knuth aus dem Bauch des Busses herauswuchtet und streben in die Rezeption und nach Erhalt des Zimmerschlüssels in die ebenso nüchtern ausgestatteten Zimmer. Es ist ja nur für eine Nacht! Wir stellen keine Ansprüche und Komfort in den Hintergrund. Heute Abend sind wir zu müde von der anstrengenden Fahrt, um noch auf Erkundung zu gehen. Freitag, 17. Juni 2005 III. Vom Montparnasse nach Bordeaux Ein prächtiger Morgenhimmel wölbte sich über Paris. Wir waren gut ausgeschlafen, und ich voll innerer Spannung über die heutigen Ereignisse, sollte es doch mit der Metro zum Gare Montparnasse und dann mit dem Hochgeschwindigkeitszug nach Bordeaux gehen. Jetzt erst sah man so richtig den Charakter dieser großen Vorstadt Créteil. Fast futuristisch ragte die Architektur in den blauen Himmel. Wohnhochhäuser und viele neue Gebäude mit spiegelnden GlasFassaden, deren Beton in der Sonne weiß schimmerten, verlangten Respekt vor der Moderne. Der Pariser Osten, einst stark industriell geprägt, wurde in den 70ern © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 11 Paris- Créteil: Hochhäuser und Glasfassaden futuristisch umgestaltet, und moderne Bürobauten ersetzten die alten Dockanlagen. Das Bürohochhausviertel La Défense mit der La Grand Arche de Défense, dem 110 m hohen Triumphbogen, ist ein ähnliches Beispiel. Heute kämpfen die Eigner der Bürohäuser gegen den Leerstand. Der brandende Verkehr, Gleis- und Industrieanlagen, Brücken über die Gleise, weiträumige Kreuzungen schafften eine befremdliche Atmosphäre, die die Orientierung schwer machte. Prompt verfuhr sich hier Knuth das erste Mal. Wir suchten den Bahnhof Créteil Préfecture und wollten zur Metro Nr. 8. Herr Großer befreite uns schließlich aus der entstehenden Unsicherheit, fragte eine Passantin, die uns in die entgegengesetzte Richtung verwies. Wir verließen den Bus, hatten nur unser Handgepäck und marschierten zur Metrostation. Knuth indessen musste sich auf den einsamen, über 600 km langen Weg nach Bordeaux machen. Dort würde er uns 18.00 Uhr am Monument de Girondistes wieder aufnehmen. In der Metro herrschte morgendliches Gedränge. Die Leute aus den Vororten strebten an ihre Arbeitsplätze in der City. Wir bekamen ein Billet und schoben uns in den Zug. Vorher gab es Anweisungen, wo wir umzusteigen hätten. Die M8 Créteil- Préfecture de Balard durften wir nur bis Daumesnil benutzen, dort hatten wir in die M6 Nation de Ch. De Gaulle- Étoile umzusteigen. Sie düst im Süden des Stadtkernes von Ost nach West und überquert die Seine. Am Gare Montparnasse sollen wir aussteigen, wurde uns eingeschärft. So standen wir eingezwängt in die Menschentrauben, und weit verteilt, manche recht ängstlich wegen der Orientierung, schwitzten mit Paris. Die Seine zwischen Bercy und Quai de la Gare ihnen in den engen Gängen, hielten unser Gepäck fest und brausten durch Paris. Junge Frauen, junge gestylte Männer stehen neben uns, es riecht nach frischem Deo. Viele haben trotz der Enge ein Buch in der einen Hand, lesen, während die andere für den Halt sorgt. Es gibt keine Blickkontakte. Ich habe das genau beobachtet und ausprobiert. Wenn ich jemand in die Augen schaue, blickt er an dir vorbei, über dich hinweg, durch dich hindurch. Du bist in diesem Verkehrsmittel ein Gegenstand, ein Neutrum, eine Sache. Die Rollos sind herunter, die Läden geschlossen. Keinen elektronischen Kontakt, obwohl du fest an seinen oder ihren Körper gepresst stehst, trotz fast intimer körperlicher Nähe...Seltsames Phänomen. Da sind Menschen so nahe beieinander und astronomisch voneinander entfernt. Das ist in allen Metros der Welt so. Das Individuum schützt sich. Wovor eigentlich? Montparnasse. Der Name des Viertels geht auf einen Scherz zurück, der daran erinnert, dass die Studenten des 17. Jahrhunderts auf einem „Berg“ aus Trümmerresten arbeiteten. Im 19. Jahrhundert lockten Bars und Kabaretts lebenshungrige Menschen in Strömen herbei, indem sie zollfreie Getränke boten. Es zog Künstler heran, die hier lebten. Diese Mischung aus Kunst und Ausgelassenheit prägte auch die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen Hemingway, Picasso, Cocteau, Matisse und Modigliani „Montparnos“ waren. Mit dem 2. Weltkrieg war diese „Belle Epoque“ jäh zu Ende. Heute wird dieses Quartier von dem weithin sichtbaren Tour Montparnasse beherrscht, zu dessen Füßen sich eine Galerie Lafayette, ein Einkaufsbereich ausdehnt, dem SCNF- Bahnhof Montparnasse, und im Übrigen von ausladenden Bürohauskomplexen. Wir bekamen etwa eine Stunde Freizeit, die Martina und ich für einen Bummel nutzten. Der Turm hatte noch geschlossen. Eine Auffahrt würde erst ab 10 Uhr möglich sein. Schade. Von hier oben bietet sich bestimmt eine herrliche Aussicht über die Stadt. Die breiten Boulevards mit ihrem typischen Pariser Flair in der Aufmachung der Restaurants, Bars und Cafés ließen immer noch ahnen, welche Anziehungskraft dieses Pariser Viertel ausgeübt hat. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 12 In der Ferne konnten wir im Frühdunst den Eiffelturm erblicken. Wir sind im Herzen von Paris! Heute Morgen erwachte gerade das Geschäftsleben. Die Händler richteten ihre Stände für den Tag ein. Die Kellner und Hilfskräfte mit weißen Schürzen entstapelten und rückten Tische und Stühle auf den Freisitzen. Auch hier verdrängen Indonesen, Türken und Jugoslawen die französischen Gastronomen. Europa wandelt sich unmerklich. Die so berühmte Cuisine française wird unterwandert. Paris- Montparnasse. Galeries Lafayette an der Rue de l’Arrivée Ganz in der Nähe befindet sich der Cimetiere du Montparnasse, einer der bedeutenden Friedhöfe der Stadt. Dafür müsste man sich aber einen halben Tag Zeit nehmen. Voller Spannung betreten wir Punkt 9.50 Uhr mit unseren Tickets in der Hand den Bahnhof und machen uns mit dem TGV bekannt, dem französischen Hochgeschwindigkeitszug- Richtung Atlantik. Auf dem Bahnsteig bittet uns Herr Großer, dass Martina und ich, getrennt von der übrigen Reisegruppe, in einem anderen Waggon Platz nehmen möchten- ich könnte doch ein wenig Französisch. Mir war es recht, und so bestiegen wir den Wagen 16 in diesem Zug, der hinunter bis nach Spanien rauscht in weniger als einem halben Tag. Paris- Gare Montparnass: TGV nach Bordeaux Punkt 10.10 Uhr schließen sich die automatischen Türen im TGV 8515. Wir lehnen uns in die weichen Polster und entspannen uns langsam. Uns gegenüber sitzen zwei spanische Reisende. Sie wälzen Prospekte und scheinen von einer Messe oder einer Geschäftsreise in ihre Heimatregion zurückzukehren. Irgendwelche Bewässerungsprojekte und deren Technik schienen sie zu beschäftigen. Jeder Platz ist besetzt. Ich schaue aus dem Fenster. Bald haben wir Paris verlassen. Ich bin neugierig auf das Geschwindigkeitsgefühl, das sich mit 300 km/h einstellen wird. Ohrenbrausen? Der Zugführer dreht langsam auf, als die letzten Häuser hinter uns blieben. Wir brausten in das flache Land der Île de France. Ein schwaches gefahrvolles Brummen vermittelt sich über die Sitze ähnlich dem leisen Dröhnen von Schiffsmotoren auf großen Kreuzfahrern. Die Landschaft zieht am Fenster vorbei, vorn völlig unscharf, blitzartig, ich bin unfähig, in der Schnelle Einzelheiten auszumachen. Das Auge kann das Gesehene nicht aufnehmen. Im Mittelgrund beeilen sich die Kulissenschieber mit Autogeschwindigkeit. Das ist dann aber schon sehr weit weg vom Schienenstrang. Kühe auf der Weide stehen wie Rädertiere- weg. Ein ganzes Dorf mit Kircheweg. Ein kompaktes Waldstück schiebt sich wie ein unscharfer Vorhang vor jedes Bild- vorbei. Ein © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 13 Luftdruck wie ein Faustschlag gegen die automatisch verriegelte Fensterscheibe- eine Zugbegegnung. Ich fokussiere auf den Hintergrund, um die Augen zu beruhigen. Dort zieht eine andere unsichtbare Maschine ständig neue, aber betrachtbare Kulissen vorbei, scharf abgegrenzt gegen den schnellen Autofilm im Mittelgrund und die Lichtblitze im Vordergrund direkt hinter der Scheibe. Die Perspektiven wechseln laufend. Das Gehirn kann die Bilder nicht verarbeiten, die der Blitzfilm vom Auge versucht zu senden. Die Hechtschnauze des Zuges sticht sich ein Loch über dem endlosen Gleis in die warme Luft und stößt sein stählernes Schlangenungeheuer dahinein, erzeugt irrsinnigen Sog, Verwirbelungen, hinterlässt rumpelndes Donnern und hochtöniges Rauschen, das im Fahrgastraum nur noch gedämpft, erträglich den Aufruhr der vielpferdigen Kräfte da draußen ahnen lässt Hinter dem Fenster tauchen verschwommene Farbflächen auf, Sonnenflächen, Schattenflächen, Waldgrün, Feldbraun, Hausrot, verschwinden sofort wieder, lösen sich ab, zucken vorbei. Nah, fern, mittel. Lichtreflexe blitzen. Pure Stroboskopie9 dringt da durchs Fenster. Da müssen Bahnhöfe sein. Ich versuche sie zu identifizieren, kann aber keine Namen lesen oder entziffern- wumm, vorbei. Der Weg vom Auge zum Gehirn ist zu lang. Ich weiß nicht, wo wir sind. Wir brausen mit über 200 Sachen durch Frankreich. Um unser vielgliedriges aber windkanalgeprüftes Blechungeheuer wirbelt die warme Frühlingsluft und verändert sie zum Orkan. Sind wir noch in der Région Pays de la Loire, im Loiretal oder im Poitou- Charentes oder schon in der Région Aquitaine? Blitzaufnahme einer Pferdekoppel. Ein Tunnel. Es drückt auf die Ohren und wirkt auf sie wie der Schalldruck einer entfernten Explosion. Wwwumm. Es wird für zwei Sekunden schwarz- vorbei. Blendende Helle. Das Auge akkommodiert: Kulissen einer veränderten, ganz neuartigen Landschaft schieben sich in den Mittelgrund. Ein Fluss, eine Brücke- ein hohler Ton im Blasorchester- wwammvorbei. Ich stelle fest. Meine Augen sind nicht mehr geeignet, meinem Gehirn die notwendigen Informationen zu vermitteln, dass es sinnvolle Assoziationen herstellt. Geht nicht. Das ist nicht mehr Autofahren, das ist frontale Verarbeitung, das sind sie gewöhnt, das ist nicht Flug, wo das wieder geht, abgehoben von der Erde eine neue Sicht zu entdecken. Wir sind noch auf der Erde, jetzt Rennfahrer auf Schienen. Ein schwarzer Stier steht im Baumschatten, ein Schemen. Ein Bahnhof wird vorbeigeschossen. Die Augen sind machtlos. Dann spüre ich eine gewaltige Kraft, die diese Geschwindigkeit verzögert. Wir fahren mit normaler Zuggeschwindigkeit. Häuser wachsen heran, werden wieder als Häuser wahrnehmbar. Industrieanlagen. Wir rattern über Weichen, Kreuzungen, der Zug wird immer langsamer. Die Dinge lassen sich wieder betrachten, identifizieren. Wir sind in Bordeaux. Es ist 13.06 Uhr. Wir haben die Entfernung Paris- Bordeaux in weniger als drei Stunden zurückgelegt. Das sind etwa 650 Kilometer. Knuth wird noch lange unterwegs sein. Der Bahnhof Gare St-Jean SNCF liegt am südöstlichen Ende des Altstadtkerns von Bordeaux. Im September 2003 war ich das erste Mal hier und erlebte diese Stadt als riesige Baustelle. Sie sollte eine Straßenbahn bekommen, ein Projekt, das damals von der Schönheit Bordeaux’ viel verdeckte. Alle wichtigen Straßen waren aufgerissen. Alles war eine einzige Baustelle. Heute dagegen zeigte sich Bordeaux von seiner schönsten Seite. Und der blaue Himmel und die Sonne halfen mit. IV. Bordeaux M it einer Bevölkerungszahl von 215 000 Einwohnern gehört Bordeaux zu den mittleren Großstädten in Frankreich. Ihr Flair bezieht es von der Lage an der Garonne und seiner Nähe zum Atlantik, zur Gironde, die die Flüsse Garonne und Dordogne vereinigt und einen langen Mündungstrichter bildet, der einen einzigartig fruchtbaren Landstreifen abschneidet, das berühmte Weinland Haut- Médoc. 9 Stroboskop: Gerät zur periodischen Unterbrechung oder Intensitätsänderung eines Lichtbündels, entweder durch Verdeckung (Blendenverfahren) oder durch Beleuchtung (Lichtblitzverfahren) © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 14 Sechs Etappen der Stadtentwicklung von Bordeaux © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 15 Seit dem 3. Jh.. ist Bordeaux, „das kleine Rom“ genannt, eine florierende gallo- romanische Stadt. Das Mittelalter war dank des Weinhandels die Epoche wirtschaftlicher Expansion. Bordeaux liegt auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostella. Einige seiner Denkmäler zählen zum Weltkulturerbe der UNESCO. Im 18. Jh. veränderten Städtebauer und geniale Architekten das Stadtbild auf Anstoß der königlichen Auftraggeber. Heute steht die Gestaltung des Kais mit seinen Bauten im Louis- Quince- Stil im Vordergrund. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 16 Viel Trubel empfing uns in der geräumigen, in klassischem Stil gehaltenen Bahnhofshalle. Sie hatte noch etwas von der Morgenkühle bewahrt. Es war angenehm temperiert. Von oben wurde das Gebäude durch eine Glasdecke ausgeleuchtet und erhielt durch viele gusseiserne Kandelaber mit aufgesetzten weißen Glasballons einen eigenen Reiz. Urlauber, junge vor allem mit Rucksäcken behängten Leute bevölkerten die Halle und erzeugten das Gemurmel, das auf jedem belebten Bahnhof der Welt zu hören ist. Unsere Truppe sammelte sich wieder, suchte die Regie von Peter Großer, der auf einen Kiosk wies, wo es Verpflegung gab. Wir hatten auch Hunger und Durst. Martina besaß noch ein wenig Wasser, zögerte etwas zu kaufen, und als wir uns dann endlich entschieden, blies Herr Großer zum Aufbruch. Er hatte die französische Stadtführerin getroffen, die sich kurz vorstellte und an die Spitze zu einem Stadtrundgang setzte. Draußen brannte die Mittagssonne. Irgendwie freute es mich, dass ich gleich vor dem Bahnhof die große Veränderung der Stadt zum letzten Besuch gegenständlich erblicken konnte: Sie schmückt sich mit einer neuen Straßenbahn. Sie sei die modernste Europas. Ihre futuristischen Führerstände gefielen mir sehr. Ihre Stromschiene im Boden ist als dritte Schiene in der Mitte des Gleises eingelegt und führt nur einige Hundert Meter Strom vor und nach dem Zug. Wir liefen die Rue de Tauzia hinunter und hielten das erste Mal im Schatten des mittelalterlichen Noviziats der Jesuiten, um die Bordeaux, erster Eindruck: Klosterkirche Sante Croix, die Kirche zum Die neue Straßenbahn, gebaut 2004 Heiligen Kreuz, anzuschauen, allerdings nur von außen. Sie ist eine dreischiffige Basilika, deren Front völlig unsymmetrisch von zwei Türmen ohne Haube oder Spitze bestimmt wird, die aber ein bemerkenswertes Portal besitzt. Stilelemente aus vielen Jahrhunderten finden sich. Reich mit figürlichem Schmuck ist das fünffach in die Tiefe gestufte Tympanon über der Pforte. Es stellt den Eingang von sündigen und gläubigen Menschen vor das Jüngste Gericht dar. Es ist die erste Begegnung mit der Romanik, der Kunst des 11. Jahrhunderts auf unserer Reise. Welche symbolische Kraft! In einem Schmuckportal über dem Nebeneingang, hoch über dem ersten Sims, besiegt der Heilige Georg den Drachen. Das unschuldige Opfer, eine Jungfrau, schaut mit erhobener Hand gruselnd zu. Ich muss mich losreißen und eile der fast schon verschwindenden Gruppe hinterher. Adam und Eva beim Sündenfall. Sehr offene Darstellung mit der Schlange. Wahrscheinlich 11. Jahrhundert. Bordeaux, Église St-Croix, Fassade © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 17 Über die enge, halbschattige Rue Camille Sauvageau bummeln wir im Tempo der Langsamsten unter uns in Richtung St-Michél. Es ist still hier, Siestazeit. Nur einige junge Touristen überholen uns. Von den Einwohnern sehen wir nichts. Rechts öffnet sich eine schmale Gasse, die Rue porte de la monnaie, wörtlich die Straße zum Tor der Münzen. Ein gleichnamiges Tor aus dem Jahre 1758 weist auf rege Münzwirtschaft während der Ägide Ludwigs XIV. hin. Wir folgen weiter dieser alten Straße mit ihren alten zweistöckigen Häusern. Und da zwängen sich noch Autos in diese Schlucht hinein! In der Ferne ragt die Nadelspitze des Turmes von St-Michél in den azurblauen Himmel. Diese Kirche steht von ihrem Turm getrennt, ein Phänomen, das ich noch wiederholt sehen kann. Wir halten und bleiben an der Place canteluop stehen. Die Führerin erzählt die Geschichte dieses Gotteshauses. Vom Turm hätte man einen schönen Rundblick. Wir haben keine Zeit, außerdem ist einigen aus unseren Reihen ein Aufstieg zu beschwerlich. St-Michél wurde im 14. – 16. Jahrhundert erbaut und ist die größte Pfarrkirche von Bordeaux. Der frei ´stehende Glockenturm aus dem 15. Jahrhundert ist 114 m hoch und beeindruckt durch seine filigrane gotische Architektur. Ich finde besonders hübsch die herrlichen Kandelaber, die den Platz erhellen sollen, eigentlich immer wieder in der ganzen Stadt. Wir gehen um den Turm herum. Drüben packen gerade die Händler auf der Place maynard ihre Siebensachen ein. Abfall bleibt übrig, Leere. Mit dem Freitagnachmittag kündet sich das nahende Wochenende an. Ich bleibe an einem Denkmal gegenüber dem Turm St Michél stehen und kenne die Person nicht: ULYSSE DESPAU (1844 – 1925). Seine Bronze- Büste thront auf einem kegeligen Stein, an dem ein Mädchen mit Blumenstrauß und einem Henkelkorb zu ihm aufschaut. Aus dem Stein ragen einige lachende Köpfe. Daneben: LES BORDELAIS. Ich fand seinen Namen in keinem französischen Lexikon. Sicher wird hier einem lokalen Matador von dankbaren Bürgern ein Andenken gewidmet. An seinem Sockel lehnt ein Fahrrad. Ich finde es immer schön, wenn solche Monumente in das Leben einbezogen werden, wenn sich an seinem Fuße die Jugend versammelt, in seinem Schatten die Alten ausruhen, Liebespaare sich treffen... Ich möchte verweilen, noch ein wenig das Denkmal umforschen, doch schon sehe ich die Gruppe nicht mehr, kann nur ahnen, welche Richtung sie genommen hat. Die Führerin hat es eilig. Sie will ihr Wochenende haben. Bordeaux, Place meynard Monument Ulysse Despau Es ist 14.10 Uhr, zeitiger Nachmittag. Die Sonne brennt. Etwas neidisch beobachte ich die Sitzenden in der Rue Victor Hugo auf den zahlreichen Freisitzen im Schatten der Platanen. Manche Restaurants sehen schmuddelig, ärmlich aus. Auch hier überwiegen die Snack bars und Pizzerias der Vietnamesen, Chinesen und Italiener, die Dönerbuden der Türken. An einer Kreuzung öffnet sich der Blick auf eines der schönsten Bauwerke von Bordeaux, La grosse cloche, die dicke Glocke, eine Sturmglocke über dem ehemaligen Rathausturm. Das Bauwerk, das die frei sichtbare Glocke trägt, ist Überrest einer alten Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert. Diese Epoche fällt in eine Zeit, da in Bordeaux eine wichtige Hochzeit gefeiert wurde: Eleonores Mitgift - In der Andreas- Kathedrale feierte man 1137 die Vermählung des späteren Königs Ludwig VII. mit der einzigen Tochter des Herzogs W; von Aquitanien, die praktisch ganz Südwestfrankreich als Mitgift einbrachte. 15 Jahren einer unglücklichen Ehe erreichte der Kapetinger - nachdem sein kluger Ratgeber, Abt Suger von St. Denis, ihn nicht mehr daran hindern konnte vom Konzil von Beaugency die Scheidung. Eleonore war wieder frei, samt ihrer Mitgift. Und zwei Monate später ging sie eine neue Ehe ein mit Heinrich Plantagenet, Herzog der Normandie und Graf von Anjou, der schon 1154 als Heinrich II. den Thron Englands erben sollte und dessen Herrschaft damit vom Kanal bis zu den Pyrenäen reichte. Der politische Fehler Ludwigs VII. sollte zu drei Jahrhunderten blutiger französisch- englischer Konflikte führen. Erst 1453, als am Ende des Hundertjährigen Krieges Bordeaux erobert und damit der gesamte englische Festlandbesitz außer Calais in französischen Händen war, ging dieses Kapitel zu Ende. (Michelin, Der grüne Reiseführer Frankreich) © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 18 Wir gehen in der engen Rue St-James unter der grosse cloche hindurch. Gleich dahinter rechts erhebt sich ein unscheinbares fensterloses Gebäude. Es ist die kleine Kirche St-Éloi. Dann kommen wir an ein Eckhaus, das unsere Führerin erwähnt. Es ist das Haus des Druckers Simon Millanges, dem Hofdrucker des Königs, der hier 1580 die erste Auflage der berühmten Essais von Montaigne herausbrachte. Ich verzeihe jedem, der weder Millanges noch Montaigne kennt. Es ist wie bei uns zu Hause. Jeder Ort ist bemüht um ein wenig überregionale Anerkennung, und da besinnen sich die Bewohner auf jeden Namen, der in der Geschichte Großes hervorgebracht hat. Mit straffem Schritt „bummeln“ wir durch die belebte Straße. vorwiegend bevölkern sie Touristen, junge Leute vor allem. Es ist fast schon kalendarischer Sommer, aber das Wetter ist bereits hochsommerlich. So sind denn auch die Frauen schön anzuschauen. In der Fußgängerzone stehen- wo Platz ist – Kübelpflanzen am Straßenrand, Jalousien sind ausgefahren und spenden den Sitzenden vor den Cafés Schatten. Es duftet abwechselnd nach Pizza, Kaffee, Bratfisch. Unser nächstes Ziel ist die Kathedrale St-André und ihr einzeln stehender Turm Pey- Berland. Hier zu ihren Füßen kreuzen sich die beiden Straßenbahnlinien A und B. Schön anzuschauen sind die modernen Wagen. In ihren Fenstern spiegeln sich die Geschäfte und ihre Auslagen. Wir werden in die „Freiheit“ entlassen. Wir treffen uns erst 18 Uhr wieder. Vor uns überragt die schlanke Gestalt der Tour Pey-Berland die Dächer der Häuser. Erzbischof Pey Berland ließ von 1440 1466 den 47 m hohen Glockenturm bauen, der seinen Namen trägt. Martina will unten bleiben. Ich wage den Turmaufstieg. Er ist schweißtreibend, mühsam, aber belohnt mich mit einem atemberaubenden Blick über die Stadt. Frischer Wind weht hier oben, kommt vom Atlantik, der nicht weit ist. Die Kathedrale erinnert ein wenig an Notre Dame in Paris. Sie wurde übrigens im 14./15. Jahrhundert neu erbaut, allerdings nur Chor und Querschiff. Das Langhaus von 1096, in dem besagte Eleonore von Aquitanien mit Ludwig VII. getraut wurde, konnte aus Geldmangel nicht ersetzt werden. Im 13. bis 15. Jahrhundert erhielt es Strebebögen und Kreuzrippengewölbe. Die mächtigen Strebepfeiler nehmen sich aus der Höhe gewaltig und beinahe wie Treppenanlagen aus. Der Blick reicht weit in die Ferne. Die Stadt dehnt sich bis an den sichtbaren Horizont. Die Menschen sind winzig. Das Leben wird leicht, und ich fühle mich wie ein Vogel. Ich versuche mich zu orientieren, suche den Bahnhof, die Garonne mit dem Pont de Pierre, unseren bisherigen Weg, die Kirche St-Michél... Beglückt steige ich herunter und erlöse Martina von ihrer Bank, auf der sie treulich meiner harrte. Ich begeisterte mich noch beim Weitergehen an dem Portal am nördlichen Querhaus, der so genannten Königspforte. Hier schmückt ein wunderschönes Tympanon das Portal. Die Porte Royale zeigt die Apostel beim Abendmahl, das Jüngste Gericht, eine Bischofsgalerie. Judas sitzt neben Jesus mit abgeschlagenem Kopf. Wir wissen warum. Wir wenden uns dem großen Platz, dem Centre Jean Moulin zu. Hier grenzt das Stadtarchiv an, einige Museen. Den gleichnamigen Platz ziert ein bronzenes Denkmal mit einer Skulptur von Antonin Mercié (1845-1916). © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 19 Eine Inschrift deutet auf die Ehrung der Gefallenen im Deutsch- Französischen Kriege 1870/71: Le talon est soulevé, seule la pointe du pied effleure le sol, l’envol est proche. Figure de la gloire ou de la renommée, en armure, guerrière, ailée, elle enlève le jeune soldat vers de nouveuax cieux. Héros vaincu, son épée est brisée : il a perdu la bataille. « Gloria victis », c’est « Gloire aux vaincus », ceux de la défaite de 1870. Le rameau dit la paix, la choutte dit la sagesse. D’abord réalisée en plâtre, la statue devint de bronze. Il en existe plusieurs reproductions, dont une est à Paris, square Montholon, une autre est ici.1 Dann wenden wir uns dem Hôtel de Ville zu; das Palais mit seinem hinter Säulen liegenden Ehrenhof bewohnte ehemals der Erzbischof. Wir suchen die Place Gambetta, wandern unter großer Hitze an der ehemaligen Stadtmauer entlang, der Rue des Remparts und wollen eine Kaffee trinken. Wir finden ein kleines Künstlercafé. Kühl ist es hier und leer, und auf einmal sind wir dem Stress da draußen entrückt, setzen uns zu einem Stück Käsekuchen und schauen auf die Bilder an der Wand, die uns gut gefallen. Ein junger Mann bedient. Ich teile ihm unser Interesse an den Bildern mit. Er könne sie nicht verkaufen, uns aber die Adresse des Künstlers geben. Er schrieb sie auf einen Zettel. Vielleicht ist es möglich... Dann hatte uns die laute erhitzte Straße wieder. Der Weg zur wunderbaren Place Gambetta war belebt, Bauarbeiten behinderten den Verkehr, Bauzäune verschandelten den Schönen Blick. Doch bald erreichten wir diesen großen Platz, den konzeptgleiche, kongeniale Architektur umgibt und eine von Erholungssuchenden intensiv genutzte Grünanlage umschließt. Seitlich davon steht ein altes Stadttor, die Porte Dijeaux, 1748 zur Zeit Ludwig XV. erbaut. Ich kaufte an einem Stand auf der Straße ein Viertel Pfund cerises, Kirschen, groß wie kleine Aprikosen und labte mich- Martina lehnte ab. Sie ließ sich auch keine aufdrängen. Nun nahm uns die Fußgängerzone in ihren Bann, die Rue de la porte dijeaux. Volles Leben, ein Auf und Ab in dieser goldenen Nachmittagsstunde. Das sanierte Opernhaus, le Grand Théâtre, an der Place de la Comédie, erbaut 1773 – 2780, forderte Aufmerksamkeit, ein stolzes Gebäude. Ein Seitenblick in die Rue Castillon gestattete die Sicht auf eine der schönsten klassizistischen Kirchen der Stadt, die Église Notre Dame. Eine Erinnerung an den ersten Besuch in der Stadt gab uns der zweite Seitenblick auf die Marché und Galerie Grand Hommes, ein Einkaufszentrum mit Tiefgeschoss, das uns damals aus tiefer Bedrängnis gerettet hat. Heute war die Zeit knapp geworden. Ich fotografierte zwei Polizisten, wie sie mit einem Motorradfahrer verhandelten, die Auslagen einer Parfümerie, einen Oleanderzweig im Gegenlicht und das steinerne Standbild von Tournay. Wieder fand ich seinen Namen nicht im Lexikon, bestimmt ist er ein Mann der lokalen Stadtgeschichte. Schließlich war es Zeit, zum Treffpunkt zu finden, zur Esplanade des Quinconces, an der Fontäne der Girondisten, die eingerüstet war und trocken. Ich war etwas enttäuscht, hatte aber diesmal besseres Licht für die Kamera. Grand Théâtre an der Place de la Comédie 1 „Der Absatz ist angehoben, allein die Fußspitze berührt den Boden, der Abflug ist nah. Die Göttin des Ruhmes und der Ehre, als geflügelte Kriegerin in Rüstung; sie entfernt den jungen Soldaten von der Erde in einen neuen Himmel. Besiegter Held, sein Degen ist gebrochen: er hat verloren, sie kämpft für ihn. „Gloria victis“, dies ist der „Ruhm der Besiegten“, Opfer der Niederlage von 1870. Der Zweig bedeutet den Frieden, die Eule sagt die Weisheit. Zuerst in Gips realisiert, wurde die Statue später in Bronze gegossen. Es gibt noch eine Nachbildung in Paris.“ © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 20 Über das Denkmal, das „Monument aux Girodins et à la République“ habe ich ausführlich in meinem Reisebericht « Tour de France » berichtet. Auch ohne dass Wasser fließt, haben diese Bronze- Figuren rings um den Obelisken einen lebhaften Ausdruck, fordern zum Nachdenken auf über ihre Bedeutung, ihre tiefe Symbolik, die nur mit Kenntnissen über die französische Revolutionsgeschichte Erfolg hat. Die Girondisten bildeten während der Revolution 1791 die Partei der gemäßigten Republikaner. Ihr Führer stammte aus dem Département Gironde. Sie waren in die Assemblée nationale législative, in die Französische Nationalversammlung gewählt worden. Sie waren Vertreter des Großbürgertums und der mittleren, besonders der Provinzbourgeoisie und der bürgerlichen Intellektuellen. Sie setzten sich für Föderalismus und die Unverletzlichkeit des Privateigentums ein. Sie herrschten nach dem Sturm auf die Tuilerien am 10.8.1792 bis zur Vertreibung aus dem Konvent durch die Pariser Volksmassen (31.5.1793). Ihre Führer hießen Brissot, Vergniaud, Madame Roland, Pétion de Villeneuve und andere. Ein großer Teil der Girondisten wurde 1793/94 von den Jakobinern guillotiniert. Die Jakobiner, die radikalen Republikaner der Französischen Revolution 1789 (benannt nach ihrem Versammlungsort, dem Dominikanerkloster St. Jakob in Paris), seit 1791 unter Leitung Maximilien de Robespierres, übten 1793/94 eine terroristische Diktatur, die sog. Schreckensherrschaft aus. Sie wurden nach Robespierres Hinrichtung (1794) zunehmend einflusslos. Ich hatte noch Zeit, ein wenig die Esplanade des Quinconces zu inspizieren, eine riesige leere Fläche, betrachtete ein Denkmal von Montesquieu2, einem Vordenker der Revolution. Dann stellte ich mich mit festen Füßen an einen Baum, um die zwei Säulen scharf zu erfassen, die hoch über dem nahen Quai Louis XVIII. über die Garonne in den Himmel ragen. Die zwei gegenüber stehenden Säulen sind der Seefahrt gewidmet. Sie heißen colonnes rostrales, was in der Bedeutung mit dem Schmuck der römischen Kriegsschiffe am Bug zu tun hat. In etwa einem Drittel der Höhe zeigen denn auch vier solcher steinernen Rümpfe in alle Himmelsrichtungen. Darüber zieren nautische Zeichen die Schäfte, die berühmten Anker am Seil zum Beispiel. Gekrönt werden beide Säulen, die übrigens im Inneren besteigbar sind und oben Aussichtsplattformen haben, von überlebensgroßen Figuren. Eine davon, römisch gewandet, blickt in Richtung Meer. Ihre abgeknickte linke Hand soll wohl die Geste ausdrücken: ‚Kommt hierher zurück!’ Die andere Figur scheint mir eine Mutter zu sein, an der Seite ihr Kind, so dass sich mir der Sinn ergibt: „Glückliche Heimkehr dem Seefahrer!“ Aber das ist meine Auslegung. Esplanade des Quinconces, colonnes rostrales Wir trafen Knuth, der die lange Fahrt von Paris bis hier herunter gut überstanden hatte, und bestiegen fußmüde den Bus. Ich überredete Herrn Großer, da nun die Zeit gekommen war, ins Hotel zu fahren, noch einen Abstecher über den Pont de Pierre auf die andere Garonne- Seite zu machen. Ich war einfach vom letzten Male her noch bezaubert von dem steinernen Brücken- Bauwerk, dem ältesten der Stadt. Napoleon ließ es in den Jahren 1810 – 1822 errichten. 2 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de, (1689 – 1755), franz. Rechtsphilosoph und politischer Schriftsteller. Er geißelte die Missstände seiner Zeit. In seinem Hauptwerk « Vom Geiste der Gesetze“ (1748) führt er die Regierungsformen und die Gesetzgebung auf geografische und soziale Verhältnisse zurück. Sein Einfluss reichte über die Französische Revolution hinaus bis in die Zeit der Entstehung des Liberalismus. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 21 Damals. 2003, nach der großen Hitze und Trockenheit im August/September war absolutes Niedrigwasser. Heute führte der Fluss viel Wasser. Lehmig- braun strudelte es um die vielen Pfeiler. Darüber schwang sich der steinerne Überbau in eleganten Bögen hinüber zur Place Stalingrad. Bordeaux, Pont de Pierre über die Garonne Beim Überfahren dieser wunderschönen Brücke erfreute ich mich erneut an der Sinfonie der Kandelaber, die den Luftraum der Brücke wie eine Wachmannschaft beherrschen, vier- und dreiarmig im steten Wechsel, einmal stehend, einmal hängend, einzigartig. Dann endlich, ich hatte meinen Willen und ein Wiedersehen erreicht, fuhr uns Knuth ins Quartier. Meine Mitreisenden waren mir sicher nicht böse. Das Hotel Holiday Inn Garden Court*** in der Avenue de Géneral de Larminat lag unweit des Stadtzentrums. Es hob sich schon aus der großen Gruppe der Touristenhotels heraus. Wir hatten die Adresse in der Tasche für den Fall, dorthin laufen zu müssen. Mit dem Bus fanden wir es weit bequemer. Unser winziges Zimmer lag zur belebten Straße hinaus und hatte sich in der Nachmittagssonne so aufgeheizt, dass eine anstrengende Nacht bevorstand. Das Fenster konnten wir wegen des lebhaften Straßenverkehrs nicht öffnen. Der Blick auf die Straße verriet nur, dass wir die neue Straßenbahn auch hören konnten. Aber sie war gut schallisoliert und störte uns nicht. Bordeaux, Hotel Holiday Inn Garden Court, Blick aus dem Fenster Samstag, den 18. Juni 2005 V. Soulac-sur-mer und Haut- Médoc in heißer Tag begann mit einem Frühstück im engen Gemeinschaftsraum des absolut nicht französisch anmutenden Hotels. Das Thermometer zeigte bereits 8 Uhr morgens 27°C. Laut Programm sollte es erst an den Atlantik ins Haut- Médoc, dann wieder ostwärts über StEmilion ins Périgord gehen. Abends wurde uns ein schönes Landhotel versprochen. E Die Fahrt durch das berühmteste Weinland der Welt- dieser Superlativ muss sein- gestaltete sich zu einer Bilderbuchtour. Wir passierten eine Reihe von kleinen Orten. Die Weinwirtschaft und das damit verbundene Schankgewerbe prägt diese Halbinsel zwischen Gironde und Atlantik. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 22 Der größte und älteste Weingarten feiner Weine hat auf einer Fläche von 113000 Hektar mit 57 Weingütern, die AOC3- Weine herstellen, eine Kapazität von 800 Millionen Flaschen pro Jahr verschiedener Arten von Rotwein, trockenem und süßen Weißwein, Rosé, Clairet und Crémant de Bordeaux. Viele Weingüter bieten für den Fremdenverkehr Weinverkostungen und Ausflüge in die Weingärten, verbunden mit Weinproben an. Was uns während der Fahrt erklärt wurde: An bestimmten schwierigen, unübersichtlichen Straßenplätzen standen schwarze Pappmenschen, manchmal nur einer, aber auch zwei oder sogar Gruppen. Alle waren sie symbolisch blutrot gezeichnet an den Stellen, die die tödliche Verletzung hervorgerufen hat- Mahnmale für Verkehrsopfer, die bei Unfällen auf dieser „Weinstraße“ den Tod fanden. Je tiefer wir in das Haut- Médoc hinein fuhren, desto mehr häuften sich die toten Pappkameraden, ein Zeichen für die oft tödlich endenden Fahrten. Wein ist nicht nur Kulturgut und Nahrungsmittel, sonder eben auch eine tödliche Waffe des Königs Alkohol. Man muss sich dem Wein mit Respekt nähern und in seiner Begleitung besonders Acht geben. Wir kamen durch viele Orte, sie tragen samt und sonders mir unbekannte Namen, die ich auf den Ortsschildern las. Jede Menge Schilder auf ganz unterschiedliche Weise um denselben Gegenstand werbenden Weingütern versuchten, den unbefangenen Besucher zu sich zu locken. Jeder machte auf seine Besonderheiten aufmerksam, schier unüberschaubar für den Laien und schwierig für den Kenner. Ein ganz anderes Thema tat sich auf, als wir in Soulac-sur-mer ankamen. Herr Großer erzählte uns die Geschichte dieses Ortes, der - wie sein Name verrät -, schon am Atlantik liegt, heute ein gesuchter Badeort ist, aber auch eine sehenswerte Kirche besitzt, die Basilika von Soulac. Aus einer kleinen Schrift entnehme ich das Folgende und hoffe, ein paar interessante Einzelheiten auszugraben, die wieder ein Streiflicht auf französische Geschichte werfen. Und es ist der Beginn der Bekanntschaft mit der großartigen Architektur- Epoche der Romanik auf unserer Reise und mit einer Station des berühmten Jakobsweges. Die Kirche von Soulac, allgemein bekannt unter dem Namen „Basilique de Notre Dame de la Fin des Terres“ (Basilika Unserer Lieben Frau vom Ende der Erde), besteht aus drei Kirchenschiffen im romanischen Stile des Poitou4 aus dem 12. Jahrhundert. Ihre großen Ausmaße lassen schließen, dass sie für die Aufnahme großer Menschenmengen gedacht war, zum Beispiel für die Pilger des Médoc, die hierher kamen, die Hl. Veronika oder die Hl. Jungfrau Maria zu verehren, oder aber für andere Pilger, die über Royan aus den Gebieten des Aunis, der Vendée, der Normandie oder der Bretagne kamen und auf dem Weg nach St. Jacques de Compostella in Soulac Station machten. Die Kirche liegt heute in einer Bodensenke und ist mit Ausnahme der Eingangsseite von bewachsenen Dünen umgeben. Ende des 18. Jahrhunderts war sie vollkommen vom Sand verschüttet und zur Ruine verfallen, wurde dann aber im 19. Jh. vom Sand befreit und in ihrem ursprünglichen Zustand fast völlig wieder hergestellt. 3 Soulac-sur-mer: Basilika de Notre Dame de la Fin de Terres AOC = Appellation d’Origine Contrôllée Poitou: Der romanische Stil ist durch den Rundbogen gekennzeichnet. Die romanische Schule des Poitou lässt sich, neben anderen besonderen Merkmalen, in erster Linie an den drei gleich hohen Kirchenschiffen, die durch die Fenster der Seitenschiffe beleuchtet werden und durch eine anschließende Apsis mit zwei Seitenkapellen erkennen. 4 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 23 Dieses Gebäude fällt in seiner Bedeutung in den Bereich der Poesie als auch in den von Geschichte und Archäologie. Wissenschaftler schwärmen: Um die Schönheit dieses Gebäudes zu erkennen, muss man folgendes kennen: Die Hauptereignisse, die den Weg dieser Kirche durch die Zeiten markieren Die Gottesverehrung, die damals wie heute stattfindet. Aus der Geschichte dieses Hauses weiß man noch folgendes: - In weit zurück liegender Zeit wurde in Soulac nahe einer Quelle zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria eine Betkapelle errichtet. - Um 950 schenkte Wilhelm von Aquitanien, Wilhelm der Gute genannt, das Gebiet von Soulac der Benediktinerabtei5 Zum Heiligen Kreuz. - Im 12. Jh. wurde die Kirche im romanischen Stil erbaut. - Im 14. Jh. wurde der Fußboden wegen des Vordringens der Düne um mehr als 3 m angehoben. Die Eingangstür an der Südseite war jedoch durch den Sand verschüttet und musste aufgegeben werden. - Im Jahre 1467 wurden die Bewohner von Soulac durch eine Horde von 200 Männern bedroht, die der Sire de Lesparre geschickt hatte, und sie suchten in ihrer vor einiger Zeit befestigten Kirche Zuflucht - Am 20. März 1612 suchte Kardinal François de Sourdis, Bischof von Bordeaux, die Kirche auf und gab Anweisungen zu ihrer Renovierung. - Am 5. Februar 1622 wurde die Kirche unter Führung von Jean de Fabas, Fürst von Castetsen-Dorthe, von den Hugenotten, die aus Royan kamen, im Sturmangriff genommen. Jean de Fabas machte aus ihr eine Zitadelle, ermordete den Pfarrer, besetzte die Stadt und konnte bis St. Vivien vordringen. Vier Monate später gelang es Marschall d’Ornano, ihn aus Soulac und dem Médoc zu vertreiben. - Im Jahre 1659 drang der Sand weiter in die Kirche ein. diese droht unter der Last einzustürzen. Das Gewölbe im hinteren Teil und in der Nähe des Glockenturmes gab nach. - 1737 drang der Sand noch weiter vor. Das Kirchenschiff hatte kein Dach mehr, und die Türen waren verschüttet. Nur der Altarraum war noch geschützt und konnte noch betreten werden. - 1744 war das Gebäude im Sand total versunken. Die Stadt erlitt das gleiche Schicksal. Die Einwohner beschlossen, die Stadt zu verlassen. Sie begannen, ihre Kirche abzubauen, um sie an anderer Stelle wieder aufzubauen. - Im Jahre 1848 besuchte der Bischof von Bordeaux, Kardinal Donnet, während einer Seelsorge- Fahrt durch das Médoc, die ehemalige Pfarrkirche. Hier die überlieferten Worte seines Sekretärs: „ ...Die Schaulustigen können auf dem Gewölbe spazieren gehen. Am hat zwar des öfteren darüber gesprochen, den Sand wegzuräumen, jedoch scheut man die Kosten. Es könnte aber auch passieren, dass die Mauern zusammenstürzen, wenn man den Sand entfernt, der gewissermaßen als Stütze dient. Sollen später die Architekten und Archäologen darüber entscheiden!...“ 5 Benediktiner, lateinisch Ordo Sancti Benedicti, Abkürzung OSB, ältester katholischer Mönchsorden im Abendland, gegründet auf dem Monte Cassino in Italien im 6. Jahrhundert. Seit 650 gibt es in Bordeaux in der Abtei Zum Heiligen Kreuz Mönche dieses Ordens. Die Benediktiner leben nach der von Benedikt von Nursia verfassten Regel, die eine ständige Anwesenheit im Kloster (stabilitas) verlangt. Die regelmäßige Arbeit wird zur Pflicht gemacht; Grundsatz: ora et labora (lateinisch, „bete und arbeite“). Die Arbeit, Handarbeit und geistige Tätigkeit, steht gleichberechtigt neben dem Chordienst. Eine Neubelebung erfuhr das Benediktiner-Mönchtum durch die Cluniazensische Reform. Ursprünglich bestanden die einzelnen Benediktinerklöster unverbunden nebeneinander; seit dem 14./15. Jahrhundert schlossen sie sich zu Kongregationen zusammen; 1893 wurde daraus die benediktinische Konföderation unter einem Abtprimas gebildet. Tracht: schwarz, meistens mit Kapuze, ledernes Cingulum und beim Chordienst schwarze Kukulle. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 24 - - - - - Am 7. November 1858 hielt der Kardinal in Lesparre eine Rede über „die Notwendigkeit, die verschüttete Kirche von „Vieux (Alt )Soulac“ wieder auszugraben und dem Gottesdienst zurück zu geben. Für die Restaurierung wurde eine Sammlung veranstaltet. Am Tage darauf unternahm der Kardinal eine Wallfahrt zur Kirche und zelebrierte eine Messe in der „Kleinen Holzkapelle am Ufer des Meeres“. 1860 wurde die Entscheidung zur Ausgrabung getroffen 1863 ist sie zum Teil vom Sand befreit und wieder aufgebaut. Die erste Wallfahrt zur „Notre Dame de la Fin des Terres“ fand statt. 1909 rekonstruiert der Architekt Bapine die Seitenkapellen der Apsis Um 1920 wurden die Seitenkapellen regelmäßig überschwemmt, und auch durch die Dielenfußböden drang gelegentlich Wasser. 1953 bis 1955 stand die Kirche zeitweise völlig unter Wasser, so dass man mehrere Monate keine Gottesdienste halten konnte. 1955 wurde ein automatisches Pumpsystem installiert und das Wasser in eine riesige Zisterne kanalisiert, die an der Vorderseite der Basilika liegt. Im Jahre 1965 wurde im oberen Teil der Stadt eine Regenwasserkanalisation verlegt, die künftig zusammen mit dem Pumpsystem Überschwemmungen verhindern wird. Heute, wo die Reizschwelle für Sensationen hoch liegt, wird sich kein normaler Mensch vom Schicksal einer solchen Kirche berührt fühlen. Mich hat sie bewegt. Einmal hat sich an ihr gezeigt, wie die Elemente der Natur, in diesem Falle der Wind mit den Sanddünen und das Wasser, in Jahrhunderten die Bauwerke des Menschen zerstören, sich über sie hinwegbewegen, sie begraben und vergessen machen. Meistens sind es die Menschen selber, die ihre Werke gegenseitig schänden, vernichten, sprengen, niederreißen. Hier war es anders. Man entriss ein Kirchenbauwerk den rieselnden und bedeckenden Fängen des Sandes von Jahrhunderten. Aus der strahlenden Helle des blauen Sommertages traten wir in das düstere Dunkel. Aus der Beschreibung, deren letztes Exemplar in deutscher Sprache ich mir ergatterte, entnehme ich einige Fakten, die mir sonst aus der Erinnerung gefallen wären: Die Kirche ist 44 m lang, im Hauptschiff 5,50 m und in jedem Seitenschiff 3,50 m breit. Die drei Kirchenschiffe enden im Osten in der Apsis und in je einer Seitenkapelle. Die Höhe der Gewölbe und die der Kirchenschiffe sind etwa gleich, eine Basilika eben. Erstaunt steige ich von draußen etwa 10 Stufen nach unten, um den Fliesenfußboden des Inneren zu erreichen. Der heutige Fußboden liegt 3,60 m über dem ursprünglichen. Die Spuren der ehemaligen Verschüttung bezeugen zum Beispiel die verdeckten Säulenfüße und die sehr tief liegenden Fenster. Ursprünglich hatte die Kirche ein Querschiff, dessen Arme nicht mehr existieren. Oberhalb der Vierung befand sich wahrscheinlich ein Glockenturm. Die Seitenwände haben Fenster mit moderner Glasmalerei. Sie wurden 1954 von einem Glasermeister aus Limoges gestaltet. Ihre Inhalte beziehen sich auf Szenen aus der Passion Jesu, an die die Legende der Hl. Veronika, die Jesus das Schweißtuch reichte, geknüpft ist. Eine auffallende Statue bewegt mich, sie im Bild groß festzuhalten. Es ist ein Standbild des Heiligen Benedikt, der im Jahre 480 bis ca. 547 gelebt haben soll. An seiner Kappe trägt er als Symbol der Jakobspilger- eine Muschel. Auch ist geschichtlich belegt, dass in Soulac seit Urzeiten die Hl. Jungfrau Maria verehrt wurde. Man kam hierher, um „Unsere Liebe Frau vom Ende der Erde“ zu © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 25 ehren und die Pilger versäumten nicht, hier ihre Andachten abzuhalten. Der Überlieferung zufolge soll auch König Ludwig XI.6 in den Jahren 1453, 1472 und 1473 hierher Wallfahrten unternommen haben. Der Vorplatz der Kirche ist geräumig. Das heutige Soulac lebt nicht nur von Jakobs- Pilgern oder Verehrern der Heiligen Veronika, sondern vor allem von Urlaubern, die die weiten Sandstrände des Atlantik anziehen und die Ruhe dieses recht abgelegenen Ortes genießen wollen. Einer schönen Brunnenplastik versuche ich vergeblich, ihre bedeutungsvolle Symbolik zu entschlüsseln. In der Kürze der Zeit gelang es mir nicht einmal, die Rückseite der Kirche von außen zu inspizieren, die romanischen Rundbogenfenster und runden Säulen, die die Wände des Chores und der Soulac-sur-mer, Brunnenplastik Seitenkapellen stützen, die eigentlich interessantere Seite der Kirche, der in geringem Abstand die heute gebändigten, bewachsenen Dünen noch gefährlich nahe sind. Wir durchfuhren den Ort, sahen viele schmucke Häuser, einige in typisch viktorianischem Stil, aus Ziegeln gebaut oder mit ihnen verblendet. Viele Engländer entdeckten als erste den wunderbaren Erholungswert dieses kleinen Pilgerfleckens an der Unterlippe des großen Schlundes, den man Gironde getauft hat. Sie bauten hier Häuser und wurden so die Pioniere des heutigen Fremdenverkehrs. Und dann sahen wir das Meer und den riesigen weiten Sandstrand. Vor uns breitete sich die Côt d’Argent, die Silberküste. Ein Sehnsuchtsgefühl suchte mich zu überwältigen. Jetzt hier Urlaub machen! Baden. Schwimmen. Sonnen. Am Ufer laufen und Muscheln sammeln oder Strandgut. Ausbaumeln. Nichts tun. Peter Großer gab uns eine halbe Stunde. Wir zogen die Schuhe aus, wateten über die Dünen hinunter ans Wasser. Natürlich machte ich mir die Füße nass, platschte, genoss die Kühle dieses Elementes, sprang den kleinen Wellen davon, die tückisch schnell und unberechenbar weit auf den festen Ufersand hinaufliefen und auch an meinen Waden hoch sprangen, die aufgekrempelten Hosen bespritzten. Größere Wellen erreichten trockenen Sand, durchfeuchteten ihn, ebneten kleine Minidünen im Sande ein, rauschten zurück und überließen es der Sonne und den Schwerkräften, die verlassenen Stellen zu trocknen, ihn hell zu färben, bis in ungewisser Zeit wieder eine größere Welle dasselbe Spiel trieb. Unaufhörlich. Seit Urzeiten geht das so. Ich blickte hinaus in die Ferne, in der das Wasser mit dem Himmel verschmolz. Nichts, kein Land dazwischen, bis der andere Kontinent Amerika erreicht wird. Auf gleicher geografischer Breite von hier mit einem Schiff würde man in Kanada, in Halifax landen. Nach Tausenden Kilometern. Mit dem Fernglas konnte ich rechter Hand den Leuchtturm sehen, das Schifffahrtszeichen an der Einfahrt der Gironde. Zwei Leute von uns hatten sich extra Badezeug mitgenommen und schwammen ein wenig hinaus. Die frische Seeluft roch nach Tang und Salz und Fisch. Der Wind 6 Louis XI., (*1423 Bourges, †1483 Plessiz-les-Tours), Sohn Karls VII. und Marie d’Anjou, König von Frankreich von 1461 - 1483 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 26 wehte vom Lande her. Die Wellen brachen sich recht zahm und artig und rollten gegen das Ufer. Verweile doch, du Augenblick – wie bist du schön! Weingüter und wunderschöne Châteaus wollten nun bestaunt und bewundert werden. Einige tragen berühmte Namen, Château Lafite-Rothschild, Château Latour...Wir passieren den kleinen Ort Lesparre, von dem in der Kirchengeschichte von Soulac die Rede war und halten nach einiger Zeit an einem Weingut an. Es ist beinahe Mittag. Wir haben Hunger. Eine Weinverkostung ist angekündigt. Im Stillen besorge ich mich um das Essen vorher. Es ist richtig heiß jetzt, hochsommerlich. Die Sonne sticht, als wir aus dem Bus klettern, brennt auf unsere Köpfe und Schultern. Wir suchen Schatten. Ein Hund läuft uns entgegen. Hinter ihm erscheint eine Frau- die Besitzerin, Chefin, „Schlossherrin“? Viele wollen erst einmal auf die Toilette. Solch eine Begrüßung ist peinlich, aber die Natur ist stärker. Dann folgen wir ihr in einen Seitenflügel zu einer kleinen Führung. Kühl ist der dunkle Raum, in dem, nachdem die Augen sich an die Dämmerung und das spärliche Glühlampenlicht gewöhnt haben, Destillierapparate, Edelmetallbottiche und Winzerwerkzeuge Profil annehmen. Dann wird ein weiteres Tor geöffnet zum Heiligsten, dem Fasslager, in dem die Weine in Eichenfässern reifen, in langen Reihen geordnet, wie die Kolonnen vor der Schlacht. Die Frau ist Christine Touchais. Das Weingut heißt Château Balac, wurde im 18. Jahrhundert erbaut und gehört zu der Gemeinde SaintLaurent-Médoc. Es liegt im Herzen des Haut Médoc und erzeugt auf 19 Hektar Anbaufläche vor allem weine mit den Rebsorten CabernetSauvignon (40%), Cabernet-Franc (20%) und Merlot (40%). Das Anwesen befindet sich auf einer kleinen Anhöhe, einer kiesbedeckten Kuppe, so erfahren wir, und es ist durch sein äußerst günstiges Klima für den Weinanbau sehr gut geeignet. Nach dieser eher flüchtigen Besichtigung, bei der die Toilettengänger fehlen und einige sich auch schon in den wunderschönen Vorhof des Châteaus abgesetzt haben, folgt Madame Touchais dem Trieb der Herde und zeigt uns im Haupthaus den Raum und den großen langen Holztisch, an dem wir uns niederlassen können, um ihre Weine zu probieren. Dann geht es schnell. Jeder bekommt etwa drei, vier Gläser Proben verschiedener Jahrgänge, der wertvollste in kleinen Dosen zuletzt. Daneben werden wir von reichlichen Beigaben von französischem Weißbrot überrascht, mit Käse und Gänseleberpastete und kleinen Partytomaten ergänzt, so dass der Gaumen rasch befriedigt Ein Teil des Fassbestandes wird jährlich und nicht nur der kleine Hunger besiegt ist, sondern auch erneuert. Der Château Balac reift in Eichenfässern. Er ist fein und fruchtig, reich die Seele zu schweben anfängt und die Welt fröhlicher und an Tanninen, geschmeidig und voll zarter heller wird. Wir kaufen eine Flasche 1999er, die ich mir für Aromen. einen besonderen Anlass aufhebe. Nun nach dieser Stärkung führt uns die Fahrt direkt nach St-Émilion. Wir sind etwas müde und lehnen abgespannt in den Sitzen. Ich erinnere mich der ersten Begegnung im Jahre 2003. Heute ist die Zeit noch knapper als damals. Eine Führung ist nicht vorgesehen. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 27 VI. St-Émilion eter Großer hat seine Karte vor sich und lenkt Knuth, den Busfahrer, der sich überhaupt nicht auskennt. St-Émilion liegt an der Dordogne oben am Hang. Wir kurven unten im Tal und finden keine Zufahrt zu dem kleinen Städtchen. Nach mehreren Anläufen, weil der Bus nicht überall durchkommt, und engen Wendemanövern klappt es endlich. Alles ist mir noch frisch in Erinnerung. Wir machen uns sofort selbständig, hinterlassen aber den Rat, unbedingt die Monolithkirche zu besichtigen. Dort treffen wir uns natürlich alle wieder. P Wir müssen noch eine halbe Stunde warten, bis eine Führung beginnt. Lust auf den Bergfried zu steigen, den Donjon der ehemaligen Burg, verspüren Martina und ich heute nicht. Es ist heiß, und wir haben Kaffeedurst. So verziehen wir uns bis zur verabredeten Treffzeit auf eine schattige Bank unterhalb des Donjons und essen ein mitgebrachtes Baguette und schlürfen den heißen Kaffee, den Martina im Hotel kocht und in der Thermosflasche in ihrer voll gestopften Tasche transportiert. So sitzen wir nun hier im Schatten, auf einem harten Stein zwar, aber an einem wunderbaren Ort. Die Augen schweifen hinunter in die Dordogne- Ebene, über die rotbraunen Dächer des Ortes, zur Felsenkirche, die gestaffelten, an den Hang geduckten Häuschen. Es herrscht hier die Stille des frühen Nachmittags mit seiner ruhigen Schläfrigkeit in der lastenden Hitze. Siesta. Die Bewohner meiden die Straße, die wenigen Touristen rasten bei einem Getränk unter den schattigen Freisitzen oder im Hof einer Wirtschaft unter Bäumen. Wir bummeln langsam zum Eingang in die Felsenkirche und freuen uns auf die Führung. Martina und ich erleben sie zum zweiten Mal. Ich schrieb darüber in meinem Bericht über die „Tour de France 2003“. Außer unserer Gruppe haben sich noch einige andere Besucher gemeldet. Alle drängen nun hinter der jungen Frau, möglicherweise eine Kunststudentin, die uns führt, ins dunkle, angenehm kühle Innere dieses einzigartigen unterirdischen Felsendomes, der in mehr als dreihundert Jahren aus dem Kalkstein von Mönchen herausgehauen wurde. Es soll noch andere Monolithkirchen in Frankreich geben, aber keine hat diese Ausmaße wie diese. Sie hat eine Länge von 38 m, eine Breite von 20 und eine Höhe von 11 Metern. Wenn man draußen davor steht, kann man sich die Abmessungen nicht vorstellen. Die Monolithkirche Es waren die Benediktinermönche, die am Ende des 8. Jahrhunderts dieses Werk begannen und etwas mehr als dreihundert Jahre später, am Anfang des 12. Jahrhunderts, beendeten. Vorher schon wurde ein Benediktinerkloster von den Sarazenen zerstört; die Mönche versteckten sich in den Höhlen, und diese Höhlen waren Ausgangspunkt der Kirche. Gleich zu Beginn, wenn man die wenigen Stufen in die Kirche hinabsteigt, fallen die gewaltigen Stahlträger auf, die die stehen gelassenen Felsensäulen umgürten. Auf dem Gewölbe und nur auf drei Pfeilern ruht der weithin sichtbare Turm der Kirche, genauer auf einem einzigen und den Ecken von zwei anderen. Wissenschaftler haben 1990 festgestellt, dass der Stein der betroffenen Pfeiler schnell altert, und dass sich 7 cm tiefe Risse im Gewölbe befinden. In der Monolithkirche zu St-Émilion © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 28 Es bestand Einsturzgefahr. Die Kirche blieb ein ganzes Jahr geschlossen. Man hat befürchtet, dass die Last des Glockenturmes, der nachträglich auf den hohlen Felsen aufgebaut wurde, zu schwer wird. Der gotische Turm wurde schon seiner Glocke entbunden. Er ist zu schwer. Die Stahlkonstruktion fängt nun die Lasten ab, aber mindert nach meinem Empfinden beträchtlich das Gefühl für diesen sakralen Raum, lässt eher Gedanken an eine Baustelle aufkommen. Während dieser Zeit wurde ein breiter, leider unschöner Betonsockel mit 38 Säulen gebaut, die nun die Sicherheit garantieren. Ich erfahre, dass die unschöne Umgürtung nicht die endgültige Lösung ist, sondern nur ein Provisorium. Im hinteren Teil der Kirche ist es dunkel. Das diffuse Licht lässt kaum Schmuckelemente erkennen. Im Strahl einer Taschenlampe zeigt sich dort, wo sich einst der Altarraum befand, ein scheinbar unfertiges Flachrelief oben an der Wand, undeutliche Fresken, Reste von gotischen Verzierungen. Man erkennt rechts einen musizierenden Engel, links einen Mann, der mit einem Drachen kämpft. Die Szene könnte eine Szene des Jüngsten Gerichts sein oder eine Allegorie des Kampfes des Guten mit dem Bösen darstellen. Auf dem erhöhten hinteren Ende der Kirche steht der erste Altar. Früher versammelten sich hier zweimal im Jahr die Weinbauern von Saint Emilion, Mitglieder der Weinbruderschaft- sie nennen sich Jurade7 – um im Juni zur Weinblüte den neuen Wein zu beurteilen, und im September, um die Weinlese feierlich einzuleiten Im Kirchenraum verteilen sich drei Altäre aus verschiedenen Epochen. Es gibt die Seitenkapelle des Heiligen Nicolas. Der Altar dieser Kapelle bleibt ein Rätsel. Bis jetzt kennt niemand die Bedeutung der zwei Flaschen, in welche Schlangen ihre Köpfe stecken. Die ganze Kirche scheint bemalt gewesen zu sein. Reste davon findet man im Gewölbe dieser Kapelle. Die Monolithkirche wurde wie alle anderen Kirchen während der Französischen Revolution säkularisiert, enteignet. Der Stein, stark salpeterhaltig, wurde abgekratzt und die Kirche als Salpeterfabrik verwendet, um Schießpulver herzustellen. Ich warte, bis die Gruppe weiter gezogen ist, um zu fotografieren. Schade, eine Frau verstellt mir den Weg, Ich drücke ab. Ich mag keine Bilder mit fremden Menschen, wenn ich Kunstwerke oder bedeutende Bauwerke ablichte. Die Katakomben Wir passieren einen feuchten niedrigen Quergang. Ein magisch beleuchteter Totenkopf unten an der Wand soll wohl dem Besucher einen Schauer vermitteln. Diese unterirdischen Begräbnisstätten mit ihren Grabnischen erinnern in ihrem Aussehen an die römischen Katakomben. Am Eingang der Katakomben befindet sich eine in den Fels gehauene Kuppel, gestützt von drei Säulen, welche in direkter Verbindung mit dem darüber liegenden Platz stehen. Im 12. Jahrhundert stand auf diesem Platz das Kloster der Augustinermönche. In den Mauern dieses Gebäudes befindet sich jetzt das Touristenbüro. Vor dem Kloster befand sich der Friedhof der Mönche. Als dieser zu klein geworden war, benutzten sie die darunter liegenden Höhlen als Begräbnisstätte und bauten sie zu diesem Zwecke aus. Eine in den Fels geschlagene Wendeltreppe diente dazu, die Toten in die Katakomben zu schaffen. Drei Stufen dieser Treppe kann man noch sehen. In der Mitte der Kuppel sieht man oben eine runde Öffnung. Durch sie wurde die Knochenerde in die Katakomben geschüttet, als der überirdische Friedhof aufgelöst wurde. 7 Jurade: Im 12. Jahrhundert nannten sich die zivilen und militärischen Stadtverwalter Jurade. Saint Emilion war „Freie Stadt“ seit der Charta von 1199, in welcher König Jean Sans Terre die Privilegien der Stadt, ausgegeben von seinen Vorgängern, anerkannte. Diese Jurade wurde während der Französischen Revolution aufgelöst. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 29 Im Ringelreigen reichen sich drei Reliefgestalten die ausgespannten Arme. An ihnen aufschauend, vermitteln sie einen beschützenden Eindruck. Es sollen aber Tote sein, die aus ihren Särgen kommen und die Auferstehung symbolisieren. Die hübsche Französin hat wohl eine Erklärung, aber ich verstehe sie nicht. Die Galerie Sie wurde erst vor einigen Jahrzehnten zufällig wiederentdeckt. Der Besitzer des daneben stehenden Hauses wollte seinen Keller vergrößern und befand sich plötzlich in dieser Galerie. Links kann man zwei in Stein gehauene Säulen sehen. Eine davon stammt aus der Karolingerzeit und die andere mit dem Spiralmuster aus der Merowingerzeit. Das Wasser und seine Abführung im Frühjahr, Herbst und Winter muss wohl ein Problem sein. Ein kleiner Kanal und ein Gang, diese Galerie eben, führen zu einer Erweiterung, einer größeren Höhle. Ein bearbeiteter Kalkstein mit römischen Inschriften soll beweisen, dass schon weit vor den Benediktinermönchen diese Höhlen den Menschen dienten, wozu, war im französischen Wortschwall der Erklärerin, die auf uns Deutsche keine sprachlichen Rücksichten nahm, nicht zu erkennen. Im Nachhinein konnte ich Genaueres erfahren. Am Ende der Galerie befindet sich der Stein des Aulius, eine wichtige Entdeckung der Archäologen. Die auf dem Stein eingeritzten Schriftzeichen sagen aus, dass Aulius, eine Persönlichkeit des religiösen Lebens, im Jahre 1014 gestorben ist und neben dem heiligen Emilion und dem heiligen Valery, dem Schutzpatron der Winzer von Saint-Émilion begraben ist. Dieser Stein ist der Beweis, dass Emilion in den Katakomben begraben wurde. Aber man hat sein Grab nie gefunden, und seine Reliquien, die sich in der Stiftskirche befanden, sind während der Religionskriege im 16. Jahrhundert verloren gegangen. Diese unterirdischen Galerien und Gänge sind in ihrer Einmaligkeit eines der Reichtümer der Stadt. Im Umkreis von sechs Kilometern und unter der Stadt selbst gibt es ein riesiges Labyrinth von mehr als 200 Kilometern Länge. Vom 10. Jahrhundert an wurde der mürbe Kalkstein aus dem unterirdischen Steinbruch geholt und damit Kirchen und Klöster, und im 12. Jahrhundert die Befestigungsmauer gebaut. Vor einiger Zeit benutzte man Teile der Galerien für die Champignonkultur. Heute werden sie auch von den großen Châteaux im Umkreis der Stadt, um den Wein bei konstanter Temperatur zu lagern. Die Kapelle der Dreifaltigkeit Einige Stufen führen in die gleißende Helle eines kleinen Hofes, der zur zweiten Sehenswürdigkeit lenkt, in die Chapelle de la Trinité, die Dreifaltigkeitskapelle. Sie wurde zu Ehren des heiligen Emilion im 13. Jahrhundert von den Augustinermönchen erbaut und bestand anfänglich nur aus dem Chorteil. Der Anbau mit dem Holzgebälk stammt aus der Zeit der Revolution. In dieser Zeit wurde der ganze Raum als Küferei genutzt. Da man mit Feuer arbeitete, hat der Rauch zum großen Teil die alten Fresken der Kapelle zerstört. Das Fotografieren der Fresken nur ohne Blitzlicht ist schwierig. Mit Blitz wird nicht erlaubt: „No Flash!“ Die Kapelle ist nicht groß. Im Chor führen von einem Schlussstein in der Höhe schmale Rippenbogen herab, diese wiederum stützen Wandscheiben, welche auf reich verzierten Konsolen enden. In den Nischen dazwischen treffen, von unsichtbaren Scheinwerfern angestrahlt, in rötlich- gelben Pastelltönen gehalten, die naiven Gestalten der heiligen Dreieinigkeit ins Auge, wunderbar erhalten, Kunst der Gotik des 12. oder 13. Jahrhunderts. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 30 Mittelfresko in der Chapelle de la Trinité in St-Émilion Im Mittelstück sehen wir den segnenden Christus mit Heiligenschein, rechts davon Maria mit dem auf ihren Knien stehenden Jesuskinde. Weiter rechts die Kreuzigung Jesu, daneben Maria und Johannes. Links sieht man Johannes den Täufer. Ganz links kniet ein Mönch, vielleicht Emilion, der von einem Abt gesegnet wird. In der Mitte der Wandflächen durchbrechen hohe schmale Rundbogenfenster den fünfgliedrigen Chor, der jetzt am Nachmittag im Schatten liegt. Einige Steinsärge, geborgene Säulenstücke, Reste von Kapitellen bilden ein kleines Lapidarium8. Wir werden noch über eine winzige enge Stiege unter die Kapelle in die Katakomben geführt, wo angeblich Aemilius, der diese Einsiedelei als Mönch gegründet und hier gelebt haben soll. Nach ihm hat der Ort seinen Namen. Eine kleine Quelle ist in einen Brunnen gefasst. Eine Schlafnische in der einen Kammer, ein Altar in der anderen sind das einzige Mobiliar. Eng ist es hier unten, wenn auch angenehm kühl. Die lebensgroße Figur eines Benediktiners in brauner Kutte gemahnt an den heiligen Zweck dieser Räume. Über seine segnende Hand ist ein Rosenkranz gelegt. Die Menschengruppe drängelt und schiebt, einige blitzen Fotos, während die junge Französin ihren Text herunter leiert, obwohl die Hälfte Deutsche sind und nichts verstehen. Eine schöne Geschichte grub ich dennoch aus: Die Eremitage von Saint-Émilion Diese Einsiedelei ist das älteste Denkmal der Stadt, der Anfang und Ausgangspunkt religiösen Lebens dieser Gegend. Im 8. Jahrhundert lebte hier besagter Aemilius oder Emilion, oder Emilian, der aus Vannes in der Bretagne; dem jetzigen Département Morbihan, stammte. Er war Verwalter der Ländereien des Grafen von Vannes. Schon bald zog er den Verdacht auf sich, die Armen am Reichtum des Grafen teilhaben zu lassen. Er wurde überwacht, und als er eines Tages mit Brot das Gut verließ, sprach der Graf ihn an uns fragte, was er unter seinem Mantel verberge. Emilion antwortete, es sei Holzund als er seinen Mantel öffnete, hatte sich das Brot in Holz verwandelt. Dieses Wunder war bald in der ganzen Gegend bekannt. Aber Emilion gefielen die Bewunderung und Ehren nicht, die ihm nun zuteil wurden. Er ging auf Wanderschaft in Richtung Süden. Des Weges müde, kam er zu einem Benediktinerkloster in Saujon nahe Royan, etwa 150 km nördlich von hier. Er wurde in die Klostergemeinschaft aufgenommen und blieb 6 Jahre dort und wurde von allen Eingang zur Dreifaltigkeitskapelle verehrt. Aber wieder ging er dieser Bewunderung und Ehre aus dem Wege und wanderte weiter. So kam er in diese Gegend hier, dem Dordognetal, reich an Grotten und einer üppigen Vegetation. Diese Höhlen waren schon in der Steinzeit bewohnt. Emilion blieb hier und wählte diese Grotte, weil sie eine Quelle besaß. Er baute sie zu einer Einsiedelei aus, betete und fastete, und evangelisierte die Gegend. Viele kamen, um ihn predigen zu hören und ließen sich taufen. Kranke wurden an dieser Quelle gesund. Man sagt heute noch, dass dieses Wasser Augenkrankheiten heilen würde. Es gibt diese Legende um diese Quelle: Wenn ein junger Mann und ein junges Mädchen zwei Haarnadeln ins Wasser werfen, und die Haarnadeln sich im Wasser kreuzen, dann heiraten die beiden noch im selben Jahr. Neben der Quelle, hinter der im 17. Jahrhundert errichteten Balustrade, war das Lager des Einsiedlers. 8 Lapidarium, von lat. lapis = der Stein, Sammlung von antiken Denkmälern, Altären, Säulen etc. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 31 Den Stuhl hat Emilion aus dem Felsen geschlagen, um darauf zu meditieren. Nach einer Legende keltischen Ursprungs werden unfruchtbare Frauen, die sich darauf setzen, geheilt und werden Kinder haben. Neben dem Stuhl befinden sich sein Altar und darüber eine Statue des Heiligen. Der natürliche Eingang befand sich an dem jetzt hinteren Ende der Grotte. Durch ihn kam Tageslicht und Wärme herein. Er war ebenerdig in Verbindung mit der Außenwelt. Jetzt ist dieser Eingang zugemauert. Nach Emilions Tod im Jahre 767 nahm der Ort seinen Namen an. Immer mehr religiöse Menschen kamen, um sein Andenken zu bewahren. Sie ließen sich hier nieder und bauten Kirchen und Klöster. Dann sind wir entlassen, bleiben in der Gruppe, sammeln uns zur Weiterfahrt. Wir wollen noch im Konsum Wasser und ein paar Pfirsiche kaufen. Es ist angenehm kühl in dem kleinen Landkonsum. Es gibt noch eine andere Kirche, vor der sich eine kleine Anzahl festlich gekleideter Menschen sammeln, vielleicht zum Abendgottesdienst. Es ist 18 Uhr. Auch hier warte ich, bis die gut gekleideten Menschen in die Kirche entschwunden sind. Dann betrachte ich, gewissermaßen von diesem Orte damit Abschied nehmend, als Letztes das mit romanischen Schmuckelementen verzierte Portal. Eine Mittelstütze unter dem Tympanon teilt es. Eine raffiniert angeordnete Gruppe unterschiedlich ausgeführter Nischen fesselt den Blick und verleiht dem Kircheneingang große Lebendigkeit Wir müssen weiter, unserem Nachtquartier entgegen. VII. Ins Périgord D as Tal aufwärts entlang der Dordogne führt in eine der schönsten Landschaften Frankreichs, das Périgord. Offiziell fahren wir nun in dieser Abendstunde in das Département 24 Dordogne, dessen Hauptstadt Périgeux ist. Geprägt wird diese Gegend von der Dordogne, die aus dem Zentralmassiv kommt, erst südwestwärts, dann nach Westen fließt. Sie entspringt am Puy de Sancy und ist bis zu ihrem Zusammenfluss mit der Garonne 472 km lang. In ihrem Tal liegen wunderbare alte Städte und verträumte Burgen auf bizarren Felsen. Es gibt interessante prähistorische Stätten, die uns Vieles über das Leben der Menschen vor Zehntausenden Jahren lehren, die in den Höhlen an den Ufern der Vézère lebten. Im Périgord sind die Spuren der ununterbrochenen menschlichen Okkupation seit 400 000 Jahren konserviert. Ich freute mich auf den Besuch der Höhle von Lascaux, in der es Felsenzeichnungen ihrer eiszeitlichen Bewohner, die ersten Zeugnisse menschlicher Kunst überhaupt, zu bestaunen gibt. Daneben soll es zahlreiche Grotten, Höhlen und Kavernen geben, die von unterirdischen Wasseradern in diesem Karstgebiet ausgehöhlt und ausgelaugt wurden. Viele Zeugnisse finden sich im Périgord aus der Zeit der galloromanischen Eroberer. Nicht zuletzt zeigen heute noch viele alte Festungen und Bastiden die erbitterten Kämpfe von Franzosen und Engländern um dieses Territorium für ihre Kronen während des Hundertjährigen Krieges (1337 – 1453). Die Zeit der Romanik hinterließ herrliche alte Kirchen, wie sie im übrigen Europa nicht so zahlreich vorzufinden sind. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 32 Le Manoir du Grand Vignoble Das Périgord bzw. das Département 24 „Dordogne“ Besuchte Orte bzw. Sehenswürdigkeiten Der Kern des Périgords ist das Périgord Noir (Schwarzes Périgord) zwischen den Flüssen Vézère und Dordogne. Seinen Namen hat es von den ausgedehnten Wäldern der dunkelblättrigen Steineiche. Nordwestlich schließt sich das Périgord Blanc (Weißes Périgord) mit der Hauptstadt Périgueux an, ein hügeliges Kalksteinplateau mit Getreidefeldern und Weiden sowie schönen Kastanienwäldern. Westlich des Zusammenflusses von Vézère und Dordogne liegt das Périgord Pourpre (Purpurnes Périgord), ein Weinanbaugebiet mit dem Zentrum Bergerac. Das Périgord Vert (Grünes Périgord) schließlich ist der nördlichste Teil, nördlich von Périgueux zwischen Excideuil und Nontron mit den Flüssen Auvézère und Dronne. In geschichtlicher Zeit lebten im Périgord die keltischen Petrocoren. Unter Augustus gehörte es zur Provinz Aquitanien. Die Römer führten den Nuss- und den Kastanienbaum ein sowie die Weinrebe ein. Erst 1607 kam dieses Gebiet endgültig zu Frankreich. Die Französische Revolution ließ dem Périgord als Département de la Dordogne seine historischen Umrisse. Im Périgord wird hauptsächlich Landwirtschaft – neben dem Fremdenverkehr – betrieben. Bekannt sind die Gänse, deren Lebern berühmte Pasteten liefern. Um die 7000 Tonnen Walnüsse werden hier geerntet und weiterverarbeitet. Es ist auch eines der Hauptfundgebiete der Schwarzen Trüffel, deren Knollen von abgerichteten Schweinen und Hunden gesucht werden. Man nennt die wahnsinnige Zahl von 4000 Tonnen jährlich geernteten Trüffeln! © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 33 Unter all diesen Erläuterungen zu dieser Landschaft bugsierte uns Herr Großer mit Hilfe von Karten über kleine und kleinste Straßen bei tief stehender Sonne in ein einsames Waldgebiet, musste wohl auch an mehreren Schildern anhalten, um unser Ziel zu finden. Dann ließ Knut den Bus halten: Vor uns leuchtete ein Château in der Abendsonne und spiegelte sich in einem kleinen See. Efeuumrankt glänzte die Fassade, schlicht war seine Architektur, solide und bodenständig bildete der ganze Bau mit dem Weiher eine Einheit, ruhte in sich selbst. Eine Pferdekoppel lag zwischen uns und dem idyllischen Landsitz. Der Bus kurvte auf engen Wegen näher heran. Weißer Kalkkies knirschte. Wir hatten unser Nachtquartier, das uns für zwei Nächte beherbergen sollte, erreicht. Wir befanden uns inmitten von Wald und Pferdekoppeln in einem wunderschönen kleinen Landhotel mit dem klangvollen Namen „Le Manoir du Grand Vignoble“. Die nächste Ortschaft Saint Julien de Crempse liegt kilometerweit weg. Ringsum umgab uns nur Natur. Von unserem Zimmer blickten wir hinab auf den kleinen See, wobei „See“ geschmeichelt ist. Enten und allerlei Wassergetier vergnügten sich hier nach einem langen Sonnentag. Weiter hinten tummelten sich acht oder zehn rassige Pferde. Es gibt ein zweites Haus, in dem sich die Rezeption und die Gasträume befinden. Abendessen erst 19 Uhr. Wir haben noch etwas Zeit und schauen nach den Pferden. Alle sind begeistert von diesem herrlichen Fleckchen Erde. Einige sind nicht zufrieden mit ihrem Zimmer und zicken mit Reiseleiter und Hotelpersonal herum. Das Abendessen wird im Freien serviert. An weiß gedeckten Tischen dürfen wir die samtweiche milde Luft dieses lauen Sommerabends genießen. In voller Blüte wuchern orangene Taglilien. Um die Giebelfenster des alten Gemäuers schwirren Fledermäuse und jagen Insekten. Grillen zirpen. Das frische Wasser in den Karaffen muss bald nachgefüllt werden. Weißbrot und Wein. Eine schmackhafte Vorsuppe. Wir lehnen uns behaglich in die Sessel zurück und genießen die wundervolle Umgebung. Langsam und unmerklich zieht die Dämmerung herauf. Der Hauptgang. Das Dessert. Mücken umschwirren uns. Lampen gehen an. Ihr Licht wirft seltsame Schatten auf den Garten, vertieft die Kontraste, alles wird unwirklich. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 34 VII. Bergerac So wundervoll wie der gestrige Abend zieht der Morgen herauf. Ich drücke die Fensterläden zurück und fühle mich in die Rolle eines Märchenprinzen versetzt. Die aufgehende Sonne, der große Kulissenschieber, verzaubert wieder einmal alles in neue Farben. Am Teich höre ich Frösche. Die Enten haben schon voll zu tun, wuseln im Uferschlamm. Über verdorrtes Gras blick ich hinüber zur Koppel. Ab und zu verfällt ein Pferd drüben hinter der hölzernen Absperrung in einen kurzen Galopp, schnaubt, wirft die Mähne, wehrt mit dem langen Schweif die lästigen Fliegen ab. Müssen diese herrlichen Tiere ihr Futter verdienen, indem sie ungeliebte Reiter durch den Wald tragen oder sich vor Kutschen spannen lassen? Oder warten sie auf Käufer, die sie auf Rennbahnen arbeiten lassen? Hier jedoch sind sie frei und ungebunden und stolz, wenngleich sie immer dem Menschen untertan sind – seit Urzeiten, damals wie heute, wenn auch mit anderen Aufgaben. Sonntag, 19. Juni 2005 H eute ist Bergerac, der Hauport des „Périgord pourpre“, unser erstes Ziel. Nach kurzer Fahrt parken wir am kopfsteingepflasterten Ufer der Dordogne. Als geschlossene Truppe unternehmen wir mit Peter Großer einen Stadtrundgang durch die sonntäglich verträumte Altstadt. Den eigenartigen Reiz zu beschreiben, den die teilweise sehr alten mittelalterlich anmutenden Gebäude auf mich ausüben, ist schwierig und bedarf vielleicht der Kunst eines Dichters. Die menschenleeren Gassen mochten es sein, die wunderschönen Blumen, die in den kleinen Fenstern die Giebel oder Fassaden schmücken. Der Blick in die offene Backstube eines Konditors, der trotz des Feiertages an seinen Torten werkelte, mag dabei geholfen haben, oder die üppig gelockte, langhaarige, hüftschmale, dunkelbraune Gestalt einer Kellnerin, die die Freisitze für die kommenden Gäste herrichtete. Aus der nahen Kirche tönte Gesang. Wir traten ein und erlebten den klaren Klang des Chores und die voll tönende Stimme des Priesters. Inmitten der Gemeinde und während eines Gottesdienstes erlebe ich eine Kirche intensiver. Meine Augen nehmen die Formen des Raumes wahr, schweifen über die Gemälde und Skulpturen, den Altar als Mittelpunkt der Begegnung, die hier gläubige Menschen, vermittelt durch den Priester, mit ihrem Gott suchen. Das Lied klingt aus, Frauenstimmen sangen es in inbrünstiger Harmonie. Man feierte die Taufe eines jungen Erdenbürgers. Wir hielten uns nicht bis zum Ende auf. Festlich gekleidete Angehörige warteten draußen vor der Kirchentür, die Fotoapparate gezückt, Blumen in der Hand. Ich geriet in Feiertagsstimmung, wollte sie mir erhalten, zog Martina mit mir fort. Es war noch etwas Zeit bis elf Uhr, da wir zu einer Bootsfahrt auf der Dordogne starten wollten. Ziellos laufen wir durch die Altstadt, genießen die idyllischen Durchblicke und Ansichten, die kleinen oft windschiefen Häuschen, die fremden Schilder. Kleine versteckte Plätze, von alten Häusern umgeben, entstanden vielleicht auf dem Boden einer abgerissenen Behausung, tun sich auf, mit plätschernden Brunnen, blühenden Blumen in Pflanzschalen, steinernen kühlen Bänken. Die winzigen Restaurants tragen verrückte Namen, um die Gäste zu locken oder auch aus Tradition: „Le Poivre et Sel“ (Pfeffer und Salz), „Restaurant au Puits Fleur“ (…zum Feinsten Brunnen), „Aux Cèpes Enchantés“( Zu den Entzückenden Steinpilzen), „La Bonbonnière“, „L’Imparfait“ (Der Unvollkommene), „Autour d’un Verre“ (Auf ein Glas), „Restaurant Le Saint Jacques“… Es gab aber auch den „Sherwood Pub“ oder das „Café Dagobert“, die auf englische Gäste hindeuten. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 35 Ich befand mich weiter in Hochstimmung, zog kreuz und quer durch die alten Gassen, las Schilder, machte Aufnahmen und bewunderte die blanken Häuserwände, die ihren Schmuck aus der kunstvollen Anordnung der dünnformatigen Mauerziegel im uralten Fachwerkgebälk bezogen. Natürlich streifte ich um das Denkmal, das man der berühmten Literaturgestalt des Cyrano von Bergerac aufgestellt hat. Seine ungewöhnlich große Nase ist gewissermaßen sein „Markenzeichen“. Sonst weiß man vielleicht noch, dass es ein Theaterstück über ihn gibt. Wer war dieser Mann? Ich habe einige Quellen bemüht: Zunächst war Savinien de Cyrano de Bergerac, eigentlich HectorSavinien Cyrano ein französischer, atheistischer Schriftsteller, geboren am 6.3.1619 in Paris, gestorben daselbst am 28.7.1655. Er war ein Vorläufer der französischen Aufklärung, ein lebendiger, einfallsreicher Geist und wurde bekannt durch die Tragödie „Tod der Agrippina (1653) und besonders durch seine Komödien „Die komische Geschichte des Staates und Reiches auf dem Mond“ (1657) sowie der “Geschichte des Staates und Reiches auf der Sonne“ (1662), beide posthum veröffentlicht. Sie beschrieben beide phantastisch- satirisch- ironische Reisen von Sonnenund Mondbewohnern zwischen den Planeten und machten damals viel Aufsehen. Später, im 19. Jahrhundert, griff der Franzose Edmond Rostand, ebenfalls Schriftsteller, (* 1. 4. 1868 Marseille, † 2. 12. 1918 Paris); der wirkungsvolle neuromantische Versdramen schrieb, auf die klassisch-französische Tradition und diesen Stoff zurück. Mit seinem Hauptwerk: „Cyrano de Bergerac“ setzte er sich und vor allem diesem spöttelnden Aufklärer ein ewiges Denkmal. Cyrano de Bergerac ist ein romantisch-komödiantisches Versdrama, das Edmond Rostand 1897 schrieb. Inhalt Der Titelheld Cyrano de Bergerac, ein französischer Dichter des 17. Jahrhunderts, leidet unter einem unüberwindlichem Makel: einer riesigen Nase. So mancher vorlaute Spötter bezahlt im Duell mit seinem Leben. Doch unter einer rauen Schale versteckt Cyrano einen empfindsamen Kern. Ein ausgesprochen verwundbares Inneres, denn unser Held liebt. Dame seines Herzens ist ausgerechnet "die Schönste der Schönen", seine Cousine Roxane. Ihren Spott fürchtet er mehr als alles ander, und so verbirgt er seine wahren Gefühle. Er spielt sogar den Schutzpatron der Liebe, als Roxane ihm ihre Zuneigung zu Christian von Neuvillette gesteht. Christian - ein Schönling, aber "arger Dummkopf" - dient im gleichen Regiment, bei den Gascogner Kadetten, und so nimmt ihn Cyrano um Roxanes Willen unter seine Fittiche. Um die romantischen Ansprüche der Angebeteten zu befriedigen, leiht Cyrano dem Nebenbuhler sein poetisches Talent. Die schönen Briefe, die Zauberworte stammen von Cyrano, die Früchte der Liebeswerbung aber erntet Christian. In einer Nacht- und Nebelaktion schafft Cyrano die beiden Verliebten vor den Traualtar und entzieht Roxane damit dem Zugriff des Grafen Guiche, der die Schöne zu seiner Geliebten machen will. Der Geprellte schäumt vor Wut. Seine Rache: Er schickt die Gascogner Kadetten samt Christian und Cyrano in den Krieg an die vorderste Front. Obgleich durch die spanischen Belagerer ausgehungert und eingekesselt, schmuggelt Cyrano im Namen Christians täglich zwei Briefe an Roxane durch die feindlichen Linien. Dieser Briefe wegen eilt Roxane mitten ins Heereslager zu ihrem Mann, dem sie nun gesteht, ihn nicht mehr wegen seiner "äußeren Hülle" zu lieben, sondern wegen der Schönheit seiner Seele. Christian ist entsetzt, weiß er doch, dass es nicht sein eigenes Wesen ist, das Roxane betört hat. Er will jetzt die Entscheidung erzwingen. Doch kurz bevor Cyrano der gemeinsam Geliebten den wahren Urheber der Briefe entdecken kann, trifft die Todesmeldung ein: Christian ist gefallen, und nun schweigt Cyrano, um der trauernden Roxane das Andenken an den perfekten Liebeshelden zu erhalten. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 36 Erst 14 Jahre später entdeckt Roxane, die sich in ein Kloster zurückgezogen hat, die Wahrheit. Zu spät: Cyrano, von einem Anschlag schwer verwundet, stirbt in ihren Armen. Cyrano de Bergerac wird oft exemplarisch für die Motive des Ghostwriters und des "guten Kerns hinter weniger ansehnlicher Fassade" herangezogen. Das Drama wurde mehrfach verfilmt. Franco Alfanos Oper, 1936 komponiert, wurde 2005 an der Metropolitan Opera, New York, wiederaufgeführt, mit Plácido Domingo in der Titelrolle. Eine weitere Oper, auf estonisch, wurde von Eino Tamberg komponiert. Warum sich eigentlich bedichteter Hector- Savinien Cyrano den Beinamen „von Bergerac“ gegeben hat, ist damit immer noch nicht geklärt, und auch nicht, ob der Ort irgendetwas mit ihm zu schaffen hatte. Dennoch saugt die Stadt Honig aus seinem Nachruf, den ihm vor allem der - den heutigen Zeitgenossen weitgehend unbekannte - E. Rostand mit seinem Drama verschafft hat. Das Denkmal zeigt eine weiße Gestalt mit breitkrempigem Hut und natürlich einer übertriebenen Nase. Ich habe den Film von Jean-Paul Rappenau gesehen, in dem Gérard Dépardieu, dessen Nase wunderbare Identitätsmerkmale hat, den Cyrano gegeben hat. Er kam im Januar 1991 in die Kinos. Dort spielte er den liebenswerten, sich ständig mit dem Degen Martina neben dem „großen“ verteidigenden traurigen Helden. Hier ist die Filmkritik: "Cyrano von Bergerac" - Inhalt und Kritik: Cyrano de Bergerac in Bergerac Cyrano de Bergerac (Gerard Depardieu) ist nicht nur ein großartiger Kämpfer mit dem Degen, sondern auch mit Worten. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts genau das, worauf die Frauen fliegen - gäbe es da nicht einen kleinen, aber entscheidenden Nachteil: Sein Riechzinken prangt etwas überdimensioniert im Gesicht und trübt das optische Erscheinungsbild für die meisten doch erheblich. So muss er auch feststellen, dass er bei seiner geliebten Cousine Roxane (Anne Brochet) keine Schnitte hat. Noch mehr trifft es ihn aber zunächst, als er merkt, dass diese offensichtlich einen anderen Verehrer, den Soldaten Christian de Neuvilette (Vincet Perez) hat. Diesem ist Cyrano zwar nicht gerade freundschaftlich zugetan, um aber zumindest teilweise in Roxanes Nähe sein zu können, lässt er sich als Ghostwriter für seine Liebesbriefe engagieren. Und es dauert einige Zeit, bis der Schwindel auffliegt... Wem die Geschichte vage bekannt vorkommt, der hat vielleicht die deutlich modernisierte Fassung mit Steve Martin als Feuerwehrmann unter dem Titel "Roxanne" gesehen. Regisseur Jean-Paul Rapenau geht hier genau den umgekehrten Weg. Er lässt so viel wie möglich unverändert. So sind auch die Verse des Theaterstücks von Edmond Rostand fast Eins zu Eins übernommen. Trotzdem ist "Cyrano de Bergerac" weder gespieltes Theater (im negativen Sinne) noch ein Kostüm-und-Degen-Schinken, sondern beste Komödienunterhaltung auf hohem Niveau. Die französische Produktion war insgesamt für fünf "OSCAR"s nominiert, eine Seltenheit für einen ausländischen Film. Umso erstaunlicher war, dass er zwar einen Preis für die besten Kostüme, nicht aber die Auszeichnung für den "besten fremdsprachigen Film" bekam und auch der favorisierte Hauptdarsteller leer ausging. Man schob dies auf Negativschlagzeilen, die Depardieu just kurz vor der "OSCAR"- Verleihung produziert hatte - oder muss man sagen "produziert worden waren"... Viele kleine verträumte Winkel boten ihre schönste Seite: Menschenleere, Sonne und Schatten, sprudelnde Brunnen und Grün. Ich genoss den Anblick und musste weiter. Martina war immer einige Schritte voraus, drehte sich um, wenn ich außer Sichtweite geriet, und fragte mit Gesten: Wo entlang weiter? Ich deutete die Richtung, und schon war sie wieder meinen Blicken entschwunden. Motiv suchen, stehen bleiben, Klick, vielleicht warten, bis das Wölkchen die Sonne freigab oder das Menschlein aus dem Bild gelaufen war, Bild drehen, Zoomen, nein, wieder zurück, Standort etwas verändern- das dauert. Und nervt den Partner. Ich weiß! Ich bestaune ihre Geduld. Ich trotte hinterdrein, freue mich meiner digitalen Schätze und behüte meine Kamera, stets mich vergewissernd: Wie viel Bilder gibt die Karte noch her? Reichen die Batterien noch? Das Haus des Konsuls ist noch einmal eine Sehenswürdigkeit. Es stammt aus dem 14. Jahrhundert. Wo haben wir in Deutschland noch so alte Originale? Es ist ein Bürgerhaus, rein äußerlich recht anspruchslos und schlicht, zwei damals komfortable Wohneinheiten umfassend. Seine Bauhülle folgte den Vorstellungen des aufstrebenden Bürgertums zwischen 1250 und 1350. Das Wohnhaus zeigt, wie man zwei Vorstellungen vereinigen wollte, die Repräsentanz von geschäftlichem und handwerklichem Wohlstand sowie die Verwirklichung bequemen Wohnens. Es blieb seinem Entwurf immer treu: Im Erdgeschoss die Arkaden für den öffentlichen Verkehr, die Lager, Geschäfte und Läden. Eine kleiner unabhängiger Eingang und eine enge steile Treppe führten in die Räume des ersten Geschosses, deren Wände äußerst gewissenhaft tapeziert und deren Fußböden handwerklich exakt belegt sind. Abflüsse, eingebaute Wandschränke und Latrinen schafften für ihre © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 37 Bewohner Bedingungen, die denen der armen Leute in der Unterstadt weit überlegen waren. Für die Heizung war der Gebrauch von Kohlenpfannen vorherrschend. Kamine mit offenem Feuer gab es in diesen Häusern noch nicht. Keramikfliesen auf einer Erdschicht bedeckten als Isolation die Decke zum Erdgeschoss, da darunter die Arkaden oder unbeheizte Räume sich befanden. Schade, dass es für uns aus Zeitmangel nicht begehbar war. Ich hätte gerne einen Hauch dieser Atmosphäre eingefangen und die Räume auf mich wirken lassen. Eine Laterne schmückt die schlichte Fassade und ein Fries, besser ein Sims über den Arkaden, der an en End- und Knickpunkten von kleinen Bergerac, Maison des Consuls unauffälligen Skulpturen aus Sandstein unterbrochen wird. Oft machen die entdeckten Details besondere Freude. So fand ich an einer alten Eingangstür einen wunderschönen Türklopfer. Oder es sind die noch gesunden Kastanien vor der Natursteinfassade einer Herberge, die besonders Engländer bevorzugt „Bed & Breakfast“, steht an einem verzierten Schild. Das Blau von Tür und Fensterläden stehen in bestem Kontrast zum Kalkstein, den braunen Fenstern und den blühenden Blumen. Alles ist grün gerahmt. Wir mussten Abschied nehmen von diesem reizvollen Städtchen, das nicht mehr als 25 000 Einwohner hat. Am Quai Salvert sammelten wir uns wieder, nachdem wir noch ein kleines peinliches Abenteuer an einer der zwei öffentlichen Toiletten der Stadt bestanden hatten. Der Anstand breitet seinen Mantel des Schweigens darüber. Vor uns flossen die Wasser der Dordogne vorüber, unter einer alten Steinbrücke hindurch, die den linken Bildrand bildete. Rechts am Kai begannen Gebäude, die zu einem bekannten Ruderklub gehörten. Auf dem Wasser lagen zwei Schiffe, deren eines wir offensichtlich gleich benutzen werden. Es sind so genannte Gabares, offene Schuten oder Leichter, mit einem Segel, die früher für den Transport von Weinfässern auf der Dordogne verwendet wurden. Sie verkehrten flussab beladen bis Bordeaux, wo der Wein aus der Region verladen wurde. Flussaufwärts gegen die Strömung half das Segel. Der Rest an Triebkraft musste durch Treidler oder Pferde bewältigt werden, als es noch keine Motoren gab. Das eine, ein schmucker, brauner, modern anmutender „Touristentransporter“ mit einer Reihe Sitzbänken für vielleicht 50 Passagiere lag vertäut an Land. War das unser Schiff? Es trug den schönen zum Nachdenken einladenden Namen „Carpe diem1“. Doch nein. Kurz vor 11 Uhr machte sich eine junge Frau, stehend in einer winzigen Jolle, bewaffnete mit einem Stechpaddel auf den Weg, um zu einem weiter draußen verankerten schwarzen Kahn zu wriggen. Sie legte an, aufmerksam beobachtet von unserer ganzen Reisegruppe, die sich - unauffällig - immer näher an die Anlegestelle heran schob, um gute Plätze auf dem Schiff bangend. Dann band die beherzte junge Frau die Jolle an der schwarzen Gabare fest, stieg auf, warf den Motor an und steuerte sie gegen den Strom ans Ufer und machte ihn hier fest. 1 Carpe diem = lat. Nutze den Tag © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 38 Nach langer Vorbereitung ließ sie uns endlich an Bord klettern. Jeder fand sein Plätzchen. Der Kapitän stellte sich vor und wünschte uns, von Peter Großer als Dolmetsch assistiert, eine unterhaltsame und erlebnisreiche Stunde auf der Dordogne. Nun folgt eine Stunde auf dem Wasser. Zunächst treiben wir in Stromrichtung an dem großen Ruderklub vorbei, sehen viele Ruderboote und Kajaks, die heute am Sonntag ihrem Sport oder Vergnügen nachgehen. Wir erfahren, dass der Ruderklub überregionale Bedeutung erreicht hat. Dann unterqueren wir die alte Steinbrücke, die den Ort über den Fluss verbindet. Immerhin hat Bergerac ungefähr 28 000 Einwohner, und auf der anderen Seite gegenüber der Altstadt sehe ich, eingebettet in Grün, schöne Villen. Weiter flussaufwärts schwimmen wir noch unter einer neuen Betonbrücke hindurch. Am Horizont versperrt eine Eisenbahn- Fachwerkbrücke den weiteren Blick. Aber das sind keine Attraktionen. Was mich gefangen nimmt, sind die Uferlandschaften, das wechselnde Grün der Busch- und Baumbewachsung, das sich im ruhigen Wasser spiegelt. Der Kapitän weist uns mit Stolz auf die vielen Greif- und Wasservögel hin, die hier leben, Milane, Fischreiher, Schwäne, Pelikane, Wildenten. Über uns kreist gleich eine Gabelweihe, wie man den Milan auch nennt. Man erkennt sie an der tiefen Einkerbung des Schwanzprofiles. Elegant schwebt sie herab, schwingt sich in der Thermik wieder auf, gleitet auf gerader Bahn zur Seite, sicher mit scharfem Blick ein Opfer suchend, um dann spiralförmig sich in die Höhe zu schrauben, einige Momente verharrend, um sich dann im Pfeilflug senkrecht hinab zu stürzen… Da! Der Kapitän zeigt auf eine Stelle im Ufergebüsch. Dort, auf einem Baum lässt sich bei genauem Hinsehen ein MilanHorst ausmachen. Allseitiges Aah. Schwäne gründeln am Ufer, das von oben kaum zugänglich scheint, ein sicheres und von Menschen ungestörtes Refugium. Die Fließgeschwindigkeit am Rande des Flusses ist gering. In der Sommerhitze haben sich Algen gebildet. Träge treibt das Wasser am undurchdringlichen Gebüsch vorbei, das weit übers Wasser hängt und eine kühle Schattenzone bildet. Dann wieder wird der Blick frei auf eine offene Uferstelle, an der Leute mit dem Autoanhänger ein Boot an Land ziehen oder einfach nur auf kleine Häuschen. Milan am Ufer der Dordogne Wir kehren um. Der Motor wird ausgestellt. Wir treiben auf dem breiten Fluss und genießen die Stille. An mir gleitet jetzt die andere Uferseite vorüber. Mit wachem Auge suche ich das wilde Geflügel und freue mich, wenn ich an versteckter Stelle das gefiederte Wild entdecke. Wir erhalten noch mancherlei Informationen über Bergerac. Ein sehr altes Tabakmuseum gibt es in der Stadt und in der Umgebung wird der berühmte Monbazillac erzeugt, ein weißer Süßwein, den die Franzosen gern trinken. Das gleichnamige Schloss mit Weinkelterei liegt etwa 7 km südlich von Bergerac an der N21. Die Betonbrücke nähert sich wieder, dann die alte Ziegelbrücke, dann taucht unter den steinernen Bögen die Silhouette der Altstadt von Bergerac auf. Anlegen. Einsteigen. Abfahrt Bus Richtung Osten zum zweiten Tagesziel, nach Blick von der Dordogne auf die Altstadt von Bergerac © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 39 VIII. Périgueux egen 13 Uhr langen wir bei Temperaturen von etwa 35°C in der Hauptstadt des Périgord an. Es schlägt wie eine Keule aufs Haupt, als wir aus dem klimatisierten Bus aussteigen. Knut parkt am lieblichen Ufer der Isle, das jetzt in der Mittagshitze allerdings keine Anziehungskraft besitzt. Das Flüsschen Isle ist 235 km lang, entspringt im Norden, im Limousin, in der Gegend von Limoges, und mündet, nachdem es den Norden des Périgord durchquert hat, in der Nähe von Bordeaux in die Dordogne. Am Nordufer steigt das Terrain stetig an. An diesem Hang ist Périgueux gebaut. Überragend und dominierend glitzern die vielen Kuppeln der Cathédrale Saint Front im Graphitgrau der Schieferdeckung. Peter Großer übernimmt die Stadtführung und steuert zuerst auf das Office Tourisme zu, vor dem wir bis 14 Uhr warten müssen, ehe es nach der Mittagspause wieder öffnet. Hier versorgen wir uns mit einem Stadtplan und einigen Prospekten für Sehenswertes. In großer Hitze laufen wir los. Es gibt zwei verschiedene Rundgänge, um die Sehenswürdigkeiten dieser Stadt kennen zu lernen: Erstens: Eine Tour auf den Spuren der alten Römer. Sie führt uns ein wenig an die Peripherie der alten römischen Stadt Vesunna. G Périgueux, Cathédrale Saint Front I. Der Vesunna- Tempel Von diesem Tempel, erbaut im 11. Jahrhundert nach Chr. Erbaut, ist nur noch die Cella erhalten. Das ist der sakrale Teil, in den allein der Priester hinein durfte, um sich dem Kult für die keltische Göttin „Tutela Vesunna“ zu widmen, die von den Römern aberkannt wurde und die mit dem Wasserkult verbunden war. Der Turm ist 27 m hoch und 20 m breit. Er war mit einem Säulengang umgeben, der den Gläubigen erlaubte zu wandeln und ihre Opfergaben anzubieten. Nach der Legende verdankt der Turm seinen offenen Spalt dem Fluch des heiligen Front, der den heidnischen Tempel vernichten wollte. In Wirklichkeit diente er aber als Steinbruch bis ins 19. Jh. Hinein, ab dem er unter Denkmalschutz stand. II. Das Gallo- Römische Museum Vesunna Bei unserem Spaziergang durch den kleinen Park können wir nur einen Blick durch die großen Glasfenster werfen. Hier sind wichtige Ausgrabungen konserviert. Einmalige Überreste aus ganz Aquitanien sind hier zusammengeführt. Der Baumschatten im Park bietet kurzzeitig etwas Schutz vor der Mittagssonne. Doch es gibt noch weitere Ziele in dieser übersonnten Stadt! III. Die Römische Straße Im 3. Jahrhundert nach den Barbareninvasionen erbaute die Vesunnastadt eine Ringmauer mit verschiedenen Teilen aus römischen Bauten, die der © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 40 Cella des Vesunna- Tempels Stolz der Stadt zur Zeit der Pax Romana waren. Sie bildet einen ellipsenförmigen Ring mit einem Umfang von 950 Metern, umklammerte nun die Stadt, die auf 5,5 ha schrumpfte und stützte sich auf den westlichen und östlichen Teil des Amphitheaters. Heute zieht sie sich unter Häusern hin. IV. Das Schloss Barrière Viel davon sahen wir nicht mehr- Ruinen. Dieses Schloss, im 12. Jh. erbaut, wurde in der Renaissance mit einem Wendeltreppenturm, einem spätgotischen Tor und Kreuzfenstern versehen. 1575, in den Religionskriegen, brannte es nieder und wurde nie wieder aufgebaut. V. Das Normannentor ist eines der Tore der Ringmauer aus dem spätrömischen Reich, die die „civitas Petrocoriorum“ einschloss. So wurde nach ihrem Verfall Vesunna genannt. Dieses Tor verdankt seinen Namen den Einfällen der Wikinger im 9. Jahrhundert. VI. Die GallorömischeRingmauer Die Stadtmauer wurde mit 24 kräftigen Runinenreste Türmen verstärkt, einer ist noch des Schlosses Barrière vorhanden. Es gab zwölf Stadttore; das Römische Tor im Süden (im 18. Jh. zerstört), das Mars- Tor und das Normannentor sind noch erkennbar. Die gallorömische Ringmauer diente als Unterbau für die Normannentor mittelalterlichen Bauten. Es gibt noch ein altes romanisches Haus. VII. Das Amphitheater Wir verlassen diese steinernen Zeugen und kommen in den Jardin des Arènes.1 In dieser grünen Oase, die Arena, erzählen altertümliche Überreste von den prächtigen Stunden der einstigen römischen Spiele. Dieses ellipsenförmige, im 1. Jahrhundert n. Chr. errichtete Gemäuer, mit Nîmes oder Arles vergleichbar, konnte 20 000 Zuschauer aufnehmen. Im Mittelalter wurde es in eine Festung und im 17. Jahrhundert in ein Nonnenkloster umgewandelt. Schließlich gestaltete man es im 19. Jahrhundert zu einem öffentlichen Garten um, in dem wir nun Schatten und Freude an einem beinahe subtropischen Pflanzenwuchs finden. Wunderschöne Arrangements wechseln sich mit bunt blühenden Blumenbeeten ab. In einem Brunnenareal vergnügen sich badelustige Kinder und trotzen so der Hitze. Wir spazieren hindurch, erquicken uns ein wenig und verlassen dieses erholsame Areal durch eines der übrig gebliebenen Stadttore, wahrscheinlich durch das Marstor, und wenden uns der jüngeren Stadt zu. Da ist noch… VIII. Die Kirche La Cité Bis 1577 war sie der erste Dom in der Stadt. Die Protestanten vergriffen sich an den zwei Kuppeln und am Kirchturm: Beides wurde zerstört. Zur Zeit der Fronde2 diente sie als Reitbahn und verlor ihren Domrang zugunsten von Saint Front. 1 Jardin des Arènes = Garten der Arenen Fronde: frz., lat. “Schleuder“; die Fronde (1648 – 1653) war die letzte Erhebung der französischen Feldherrn unter Führung von Prinz Louis Condé gegen den Absolutismus Mazarins unter Ludwig XIV. Es begann mit einem Aufstand gegen die Arrestation des Abgeordneten Broussel im Parlament am 26. August 1648. Man nutzte die demokratische Erhebung des Parlaments in Paris und der Bauernbewegung aus. Sie endete mit dem vollen Sieg der absoluten Monarchie. Mazarin war Kardinal unter Richelieu und leitender Minister während der Minorität Ludwigs XIV. 2 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 41 Die westliche Kuppel aus dem 19. Jahrhundert ist im romanischen Stil, während die östliche Kuppel im 17. Jh. renoviert wurde. Zweiter Teil der Stadtbesichtigung: Die mittelalterliche und Renaissance- Stadt Saint Front. Wir werden von Peter Großer entlassen, der sich in einem Café an der Kathedrale eine Tee- Pause gönnt. Die Hitze ist schweißtreibend. Eigentlich beginnt dieser Rundgang dort, wo wir auch begannen, am Tour Mataguerre, der sich recht wuchtig neben dem Fremdenverkehrsbüro erhebt und den wir vorhin gar nicht so ernst nahmen. Dieser Turm ist der letzte übrig gebliebene Turm der vorhin erwähnten 28 Türme der mittelalterlichen Ringmauer, in der sich 12 Tore befanden. Kreuzförmige Schießscharten und Kanonenöffnungen zeugen von kriegswütigen Zeiten. Aber ich möchte die Kathedrale von innen sehen und überrede Martina mitzukommen. Das Leben der Hauptstadt des Périgord begann mit der Gründung von Vesunna nach dem Willen der Römer, um damit ihren Sieg über die Kelten zu festigen. Diese Kelten bestanden aus vier Stämmen, die schon längst mit ihren Eroberern Handel trieben, Die gallorömischen Überbleibsel betonen die Pracht der Stadt im ersten und zweiten Jahrhundert sowie auch deren Verkümmern im dritten innerhalb des Stadtwalls. Sie wurde Wiege einer neuen Stadt, Tochter der Christianisierung und des Feudalismus. Périgueux – La Tour Mataguerre Sie hieß La Cité. Dort wurde nach dem Jahr 1000 auch diese vorhin genannte Kuppelkirche errichtet. Wie ging die zweitausendjährige Geschichte weiter? Die Jahre des 11. – 13. Jahrhundert im Mittelalter sind von der Entwicklung der Ortschaft „Le Puy Saint Front“ um das Grab dieses Apostels des Périgords geprägt. Die Kaufleute, die diese Stadt aufbauten, verstanden es, der alten Cité die Freiheitsrechte zu rauben, die ihnen erlaubten, sich selbständig zu verwalten und einen Bund mit dem König von Frankreich zu schließen. Unter dessen Schutz verwandelten sich die beiden Städte La Cité und Le Puy Saint Front zu den zwei Stadtvierteln einer einzigen Gemeinde Périgueux, wie sie im Jahre 1240 erstmals erwähnt wurde. Nach den Notzeiten des Hundertjährigen Krieges erlebte die Stadt ein beneidenswertes Aufblühen zur Zeit der Renaissance (1550 – 1650), wo die unternehmungslustigen Händlerfamilien sie mit zahlreichen Wohnsitzen schmückten. Heute verleihen diese Patrizierhäuser der unter Denkmalschutz stehenden Altstadt einen besonderen Reiz. Wir wenden uns der Kathedrale zu und stehen fast im Dunkeln. Der reiche holzgeschnitzte Altar ist kaum zu sehen, geschweige denn fotografierbar. Ich erkenne ein Schild: Für 50 Cent beleuchtet ein Scheinwerfer den Chor und geht nach kurzer Zeit wieder aus. Geschäft der Kirche mit dem modernen Tourismus. Die Kathedrale Saint- Front gehört seit September 1998 zum Weltkulturerbe der UNESCO. Sie ist Zwischenstation auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostella über Vézelay. Der Bau ist mit seinem Grundriss einmalig. Über Langhaus und den Querhausarmen erheben sich fünf Kuppeln in Kreuzform, die im 19. Jh. restauriert wurden und als Modell für den Bau des Sacre Coeur im Viertel Mont Martre in Paris dienten. Der Kirchturm aus dem 12. Jh. trennt die ursprüngliche Kirche von der byzantinischen Basilika. Seltsam rührt mich die liegende Steinfigur eines Bischofs an, besser sein Gesichtsausdruck. So entspannt, so ruhig und erfüllt- solch ein Entschlafen möchte man sich wünschen. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 42 In einer Nebenkapelle steht die Figur eines Jakobspilgers und erinnert so an ihren religiösen Zweck. Weiter beeindrucken mich die herrlich farbigen Kirchenfenster. Ich muss sie einfach aufs Bild bannen. Dann unternehmen wir, Martina und ich, einen Gang durch die Altstadt, bummeln durch die engen alten Gassen. Vor der Tür eines Kunstgeschäftes oder Antikladens steht zu Füßen eines Ritters in Rüstung ein Schild: „Danke, dass Sie die Rüstung nicht berührt haben!“ Ich stelle fest, dass es auch moderne öffentliche Kunstwerke gibt. Die Skulptur einer unbekleideten Frau hält eine Trinkschale, aus der Wasser in ein kleines Becken rinnt. Sie heißt „Die Quelle“. Klobige, wohlproportionierte, aber üppige Formen stehen in provozierendem Gegensatz zu dem tropfenden Abfluss aus der Schale. Martina und ich haben uns ein wenig ausgeruht auf einem Platz unterhalb der Kathedrale, um in Ruhe etwas Mitgebrachtes zu essen und eine Tasse Kaffee zu trinken. Einige Penner belagerten die Bänke in der kleinen Anlage bis auf eine. Von ihr konnten wir über eine mächtige Kanone hinunter ins Tal der Isle schauen und auf den gegenüber liegenden Hang. Das war einfach schön. Immer wieder bin ich begeistert über das Licht, das hier im Süden Frankreichs vor allem in später Nachmittagsstunde schräg in die Gassen scheint, herrliche Schatten erzeugt, die Wände und Fassaden in zartes Gelb, Ocker oder in variierende Brauntöne färbt. Ein Maler muss einfach seine Freude haben. Ein Fotograf, der weiß, was Licht in der Fotografie bedeutet aber auch. Immer wieder muss ich aufrecht stehende Aufnahmen dieser Altstadtgassen machen, wenn ich sie zu Hause anschaue, weiß ich oft selbst nicht, wo sie entstanden sind. Da ist das historische Kopfsteinpflaster mit den ursprünglichen Regenrinnen, da gibt es schöne alte Türen und Hauseingänge, schiefe Fenster und altertümliche Fensterläden, hundertmal gestrichen. Liebevoll sind die eingetrockneten Fachwerkbalken, Ständer, Verstrebungen, Balkenköpfe, Zierwerk gepflegt, gestrichen. Die Häuser scheinen sich wie alte Menschen gegenseitig zu stützen. Die Laternen mögen in der Dunkelheit den Reiz dieser überkommenen Wohnstätten noch erhöhen. Ich kann mich schwer loslösen und möchte viel mehr Zeit haben! Périgueux- Rue Port de Graule Périgueux – Panorama an der Isle © R. Bührend, Sommer 2006 Irgendwann ist jeder Stadtrundgang zu Ende. Die Sonne hat ihn verklärt. Wie eine Blüte sich in der Sonne entfaltet und öffnet, zeigt sich auch eine unbekannte Stadt in den schönsten Farben, im luftigsten Kleid. Langsam wandern wir hinunter an die Uferpromenade. Ein letzter Blick von der Isle- Brücke auf das Panorama und hinauf zur Silhouette des mächtigen Domes. Abschied von der Bischofsstadt Périgueux. Wir fahren durch das abendliche Périgord zurück ins Manoir du Grand Vignoble. Wieder ist für uns im Garten festlich gedeckt, und noch einmal genießen wir den Luxus dieser ganz besonderen Herberge. Seite 43 Montag, den 20. Juni 2005 IX. Beynac W ir frühstücken heute in einem gefliesten Salon des Empfangsgebäudes, gruppiert um vier Sechsertische. Es ist etwas eng für unsere 24 Leute, aber der Raum strahlt ein gediegenes Ambiente aus. Die Schwere der flämischen Lüster und der in Bordeauxrot tapezierten Wände wurde durch die duftigen Tüllvorhänge und das herein flutende Morgenlicht wieder aufgehoben. Wir nehmen in Ruhe das Petit déjeuner3 ein, packen die Koffer und steigen in den Bus. Auf zu neuen Horizonten. Wir bleiben heute noch im Périgord, werden aber am Abend hinüber ins Département Lot wechseln. Die Fahrt führt uns an diesem Morgen an der Dordogne entlang. Immer mal wieder haben wir den das Tal ausprägenden Fluss im Blickfeld. Links beginnen Felsen und Hänge die Durchfahrt einzuengen. Eingeklemmt zwischen steilen Felsen, kommen wir durch ein kleines Dorf. Bald sehen wir hoch oben über dem malerischen Dorf ein Märchenschloss, kompakt seine Mauern, trutzig sein Aussehen. „Ach bitte, Herr Großer, können wir nicht…? Es ist doch noch zeitig am Tag“, betteln wir ihn. Er ließ sich überreden. Eine schmale Straße zweigt rechtwinklig ab. Wir biegen mit unserem klobigen Eberhardt- Bus ein und geraten bald an eine Polizeistreife, die die Straße absperrt. Keine Weiterfahrt für Busse. Großer steigt aus, schwatzt mit den Leuten in bestem Französisch. Sie lassen mit sich reden, geben Hinweise. Aber nur bis…Wir dürfen hochfahren. Bald sehen wir was los ist: Bauarbeiten an der Zufahrt zum Parkplatz. Es wird verteufelt eng. Wir stören die Arbeiter, die ihre Walzen beiseite rücken, ihre Lastwagen umrangieren, um uns durchzulassen. Es klappt. Wir parken. Vor uns liegt das Château Beynac-et-Cazenac. Die Burg auf dem Felsen wurde im 13. Jahrhundert errichtet, nachdem ihre Vorgängerin Ende des 12. Jahrhunderts von Richard Löwenherz und 1214 von Simon de Montfort IV.4 erobert und zerstört wurde. Sie war ab 1368 Bastion gegen das gegenüber liegende englische Castelnaud. Am Wege zum Schloss sehen wir schöne alte Häuser. Besonders fällt an einem Haus die kompakte Steindeckung auf, mit der die Kuppel eingedeckt ist. Wir können die Burg nicht besichtigen – Zeitgründe – gehen nur bis zum Eingang. Dort erfahre ich, die Informationen sind in zwei Steine gemeißelt, dass sie seit vielen Jahrhunderten eine Baronie ist. Darüber hängt im geschützten Tor ein herrlicher Wandteppich mit Bildern aus der Ritterzeit. In lückenloser Folge sind die Besitzer der Burg aufgeführt. Ich lese ab, dass Ahdemar während des 3. Kreuzzuges von 1147 – 1189 hier Herrscher war und sich dann 10 Jahre Richard Löwenherz (1189 – 1199) beugen musste. Der letzte Besitzer war 1961 mit Ehefrau eingetragen: Lucius Grosso und Dionysia -Uxor Sua. Eingang zur Burg Beynac: Tafel der Besitzer Vielleicht leben sie noch? Die Jahre zwischen 1209 und 1228 sind ausgelassen. Es ist die Zeit der blutigen Katharer- Verfolgung5… 3 Petit déjeuner = frz. Frühstück Montfort, Simon IV., * 1150, † 25. 6. 1218 vor Toulouse (gefallen); Vater von Simon de Montfort; Führer des Kreuzzugs gegen die Albigenser, eroberte Carcassonne und das Languedoc. 5 Katharer, [griechisch, „die Reinen“], auch Albigenser genannt, Selbstbezeichnung Christiani und Boni homines, Sekte des Mittelalters, von den Bogomilen beeinflusst. Vom Balkan kommend, verbreitete sie sich seit dem 12. Jahrhundert schnell über Oberitalien und Südfrankreich, fasste aber auch in Deutschland, Spanien und Sizilien Fuß. Die Katharer glaubten, durch völlige Weltenthaltung das Heil erlangen zu können. Sie richteten eine eigene Hierarchie und einen eigenen Kult ein. Trotz Verfolgung durch die Inquisition der katholischen Kirche kam die Sekte erst im 15. Jahrhundert zum Erliegen. 4 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 44 Es macht Spaß, in dieser Morgenstunde im menschenleeren Umfeld des Schlosses spazieren zu gehen. Eine Taverne lädt zum Sitzen ein. Zahlreiche Gebäude umgeben den Hofbezirk vor dem eigentlichen Zugang, den wir uns versagen müssen. Die ganze Fahrt hier herauf war ja schon eine Zugabe zum Tagesprogramm. Neben einem mit Steinen gedeckten Runddach erstaunte mich ein Schild, auf dem die tierfreundlichen Schlossherren die Besucher mahnen: Lassen Sie nicht Ihre Hunde im Auto. Sie sind im Bereich des Schlosses geduldet. Das gibt es in ganz Deutschland nicht! Ich müsste ein großes Album bebildern, um wenigstens die wichtigsten Eindrücke zu dokumentieren, die dieser schnelle Rundgang im Eiltempo vermittelte. Sehr schnell stößt man auf die Geschichte des Landes und der Landschaft, deckt interessante Querverbindungen auf, muss unbekannten Namen nachstöbern. Wer täte das nicht lieber als ich, doch ich würde jeden Leser Steingedeckter Rundbau. Im Hintergrund Château Beynac dieser Zeilen verprellen. Es gibt auch eine Kirche, die ehemalige Schlosskapelle, aus dem 15. Jahrhundert und schöne alte Häuser im Dorf, die mindestens dreihundert Jahr alt sind. Auf die Steinbedachung hatte ich schon hingewiesen. Man baute mit Material aus der Gegend. Unser Bus hat den Arbeitern am Parkplatz gehörige Umstände gemacht. Wieder mussten sie Asphaltierer, LKW, Straßenwalzen umrangieren und ihre Arbeit unterbrechen, um uns rückwärts durchzulassen. Peter Großer reichte einige Flaschen Bier aus unserem Bordvorrat heraus. Freundlich blitzten die Augen der Arbeiter auf. Hände wurden zum Gruß erhoben. Wir winkten, sie grüßten zurück. Für sie eine willkommene Pause, für uns adhoc eine Sehenswürdigkeit mehr. So ist Frankreich. Vive la France! Wieder im Tal, dem Vallée de la Dordogne, war es nur ein Katzensprung auf der D703 bis zum eigentlichen ersten Tagesziel, den Troglodytenfelsen6 von La Roque Gageac. Zwei Stunden standen zur Verfügung. Mein erster Gang: Hinauf zu den Höhlen. Martina wollte nicht, es gab viele Stufen zu klettern. Von unten sah das Ganze sehr abenteuerlich aus. Bei dem freundlichen Mann an der Aufsicht konnte ich den Eintritt um einen Euro herunterhandeln. Er hatte frische Kirschen, cerises, zum Naschen in einem Körbchen liegen. Über Holztreppen und ausgeschlagene Steinstufen gewann ich Höhe, bis sich große Öffnungen auftaten und dahinter mehrere Grotten. 6 Troglodyt <m.; -en, Höhlenbewohner, [<grch. troglodytes, <trogle “Höhle” + duesthai “untertauchen, sich verkriechen”] © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 45 Wir sind nun bereits im Périgord Noir. Hier häufen sich im Dordognetal die Burgen, Festungen, Kastelle oder Châteaux. Viele Geschichten und Ereignisse prägen diesen Ort, denen auf den Grund zu gehen sich lohnt, wenn der Aufenthalt hier länger währte. 400 Einwohner hat das Dorf. Schöne Bürgerhäuser zieren die Hauptstraße, von der kleine Abzweigungen sofort steil in die Höhe führen. Wie eingeklemmt liegen die Anwesen zwischen Felswand und dem Wasser. Einige Häuser lehnen direkt am Fels. Auch die Kirche scheint aus der Mauer heraus zu wachsen. Im Mittelalter zählte Roque Gageac 1.500 Seelen. Seinerzeit lebten die Fischer und Gabariers, die Schiffer der Weinschuten, von der Dordogne. Aus dieser Periode ist die bedeckte Kirche von Lauzes geblieben. Während des hundertjährigen Krieges verbargen sich in Roque Gageac die Bischöfe von Sarlat. Ihr Wohnsitz ist am Ende des Dorfes bewahrt worden. Die Überreste des Schlosses beherrschen von oben die Häuser, und erzählen noch Geschichten aus dieser Zeit. Das Dorf, in voller Südlage, genießt ein Mikroklima, das entlang der Gassen den Mittelmeer- und tropischen Pflanzen erlaubt zu wachsen. Palmenbäume, Bananenbäume, Bambusse und Lorbeerbaum-Rosen blühen so unter der aquitanischen Sonne. Die Felsenhöhlen sind wirklich beeindruckend. Sie sind tief in den Berg gegraben, falls sie künstlich nachgearbeitet wurden, was ich annehme. Sie sind ehemals wettersicher geschützt durch Mauerwerk an der Frontseite zum Fluss. Sie sind von außen unangreifbar, denn die Steintreppen waren durch Leiterpassagen unterbrochen, die im Falle eines Angriffes aufgezogen wurden. Im hundertjährigen Krieg7 war die Dordogne Grenzlinie. Hüben, also im Norden, verteidigten die Franzosen ihre Stellungen. Drüben im Süden saßen die Engländer fest. Der nächstgrößere Ort ist Domme. Die von hier oben sichtbare Festung ist das Château Castelnaud, das heute noch viele Spuren der englischen Besatzung aufweist. Auf unserem Wege entlang der Dordogne liegt auch das Château Siorac en Périgord. An Hand der Geschichte seines Besitzes hat der – nach meiner Meinung – gescheiteste Romancier der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Robert Felsenhöhle in La Roque Gageac 8 Merle eine Romanfolge geschrieben, in der die Ereignisse Frankreichs in den 70 Jahren von 1550 bis in die Zwanziger des 17. Jahrhunderts spannend geschildert werden. „Fortune de France“, das „Schicksal Frankreichs“, heißen diese 13 Romane. 7 Hundertjähriger Krieg, der Krieg zwischen England und Frankreich 1338—1453 (mit Unterbrechungen). Er begann, als der englische König Eduard III. den französischen Königstitel annahm; zeitweise beherrschten die englischen Könige ganz Frankreich. Nach dem Friedensschluss 1475 behielt Großbritannien noch Calais bis 1558 und die normannischen Inseln. 8 Der 1908 in Algerien als Sohn eines französischen Offiziers geborene Schriftsteller Robert Merle studierte Philosophie und Anglistik, eine Zeit lang war er als Hochschullehrer tätig. Obwohl er spätestens seit seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman Wochenende in Zuydcoote (1949) sehr erfolgreich war, schrieb er bis zu seiner Pensionierung nur nebenberuflich. Robert Merles eher linke politische Einstellung (er war Mitglied der französischen Kommunistischen Partei) schlägt sich in seinem literarischen Werk nieder. Nebenhandlungen und -figuren tauchen dabei öfter in anderen Romanen wieder auf, so dass die Bücher gewissermaßen miteinander verzahnt sind, ohne dass daraus ein Endlos-Zyklus entsteht. In seinem Spätwerk wich Merle von dieser Linie ab, ohne sich mit der Gesellschaft grundsätzlich zu arrangieren. Die Konflikte verlagern sich lediglich in die Vergangenheit. Ein dreizehnbändiges historisches Werk behandelt die Geschichte der Adelsfamilie Siorac und vieler anderer hoher Adliger in der Zeit von 1550 bis etwa 1650. Robert Merle, eher Gast im phantastischen Genre, sah sich nie als Science-Fiction-Autor, sondern als Autor »politischutopischer« Romane. Robert Merle starb am 28. März 2004 im Alter von 95 Jahren in seinem Haus in der Nähe von Paris. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 46 Wer diese Bücher liest, dringt tief in die französische Volksseele ein, lernt die bewegte Vergangenheit vieler Orte des Périgord und des Quercy kennen, wird aber dann an alle Brennpunkte geführt, an denen Geschichte geschrieben wurde, nach Paris, La Rochelle, nach Pau, in die Königsschlösser um Paris und an die Loire. Nun stand ich hier oben in den Höhlen von Roque Gageac und schaute weit hinaus ins Tal der Dordogne. Sie bargen vorzeitliche Funde, aber auch Reste aus der Zeit der mittelalterlichen Bewohner, die zeigten, dass diese Höhlen auch in jüngerer Zeit bewohnt waren. Es war später Vormittag. Unten auf dem Fluss schaute ich eine ähnliche Schute, eine Gabare, wie in Bergerac. Sie wartete auf ihre Fahrgäste. Sie war hübsch aufgemacht und lag vertäut am hohen Ufer. Das einzige Rahsegel war eingerollt. Über zwei Holzbogen lag ein Längsbalken mit ebenfalls eingerolltem Sonnensegel, das nach rechts und links herabgelassen werden konnte. Die Geschichte dieser Gabares macht traurig und zeigt den Wandel, den die Technik in die Gewohnheiten der Menschen einschneidet. Für viele Jahrhunderte ernährte der Fluss die Schiffer, die den Wein der Winzer abwärts transportierten. Gegen 1900-1910 begann die Schifffahrt auf der Dordogne zu erlöschen. Die Straße und die Schiene vollendeten hier ihre Überlegenheit über den Wasserweg. Es gab noch einige letzte und seltene zusammenfassende Aufladungen, die man noch einigen Schiffern anvertraute, welche eigensinnig ablehnten, ihren Beruf aufzugeben, den sie leidenschaftlich liebten. Die Wracks von unnütz gewordenen Booten, befreit von ihren Winden und ihrem Mast, wurden seitdem verkauft, an solche, die Holz wollten. Manchmal kam es vor, dass enttäuschte Schiffer, bettelarm geworden, ihre Welt zusammenbrechen sahen, ihre Schiffe anzündeten und verbrannten, um ihren ganzen Aufruhr zu zeigen und um sich selbst zu überzeugen, dass die Zeit der Flussschifffahrt beendet ist. Andere Boote vollendeten ihre Existenz, längs ruhiger Ufer liegend, wo das Wasser und die Sonne nach und nach am Ende ihrer starken Eichenpanzer nagten. Ausgemusterte Gabares am Kai, um 1910 Einige als Bagger umgestellte Boote blieben noch bis in die Jahre um l950 im Wasser. Dann blieb nichts mehr in der Landschaft, außer letzten Docks und verlassenen Kais, um zu bezeugen, wovon Schiffer auf der Dordogne und der Isle mehrere Jahrhunderte gelebt haben. Heute hat man noch einige wenige Gabares erhalten oder sogar nachgebaut, um sie wieder für den Fremdenverkehr zu benutzen. Hier von Roque Gageac drehen einige Boote bis hinunter zum Pont de Castelnaud ihre Runde auf dem Fluss, vorbei an den Chateaux de Malartie und Marqueyssac und der Mit Weinfässern voll beladene Gabare auf der Chapelle de Saint-Julien, sicher eine interessante Dordogne, um 1900 Tour. Wir machten eine kleine Mittagspause, aßen etwas, verließen gedanklich diese Geschichte und bestiegen dann den Bus zur Weiterfahrt nach Osten. Unterwegs erzählte uns Peter Großer viel über die Höhlenwelt in dieser Region, die Felsgrotten und weit überhängenden Felswände, die man hier Abris9 nennt. 9 Abri= frz. Schutzdach gegen Regen, Obdach gegen Gefahr, Unterstand; sie boten in prähistorischer Zeit Menschen Schutz und Versteck © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 47 Uns umgab viel Wald. Wir fuhren nun im Tal der Vézère, einem Nebenfluss der Dordogne, und hielten am Parkplatz und Eingang zu einem „Préhisto Parc“, einem natürlichem Umfeld, in das man Szenen aus dem Alltagsleben prähistorischer Menschen plastisch nachgestellte hatte. Wir wurden gleich gewarnt, dass keine Zeit wäre, die anliegende Sehenswürdigkeit zu erleben und hineinzugehen- jedoch eine halbe Stunde wurde gewährt. Ich lief los, um wenigstens einige Postkarten zu erhaschen. Vom Eingang her sah ich eine nachgebildete Hütte aus Mammutfellen, beschert mit Dutzenden Mammutzähnen, beeindruckend! Weiter konnte ich Steinzeitkrieger mit Speeren hinter Bäumen beobachten, die Wild nachstellten. Auf den Postkarten fand ich Szenen, in denen die Frühmenschen Feuer bohren, Felle bearbeiten, erlegte Tiere ausweiden oder sie gemeinsam transportieren. Alles dies ist naturgetreu nachgebildet, die Figuren sind lebensecht modelliert und in typischen Szenen vor allem bei der Jagd auf wilde Tiere, Rentiere oder Hirsche, Mammute oder Figurengruppen im Préhisto Parc Bären. Für die Kinder und Heranwachsenden sind solche Parks eine Mischung von Abenteuer und Lehre, für die Älteren durchaus geeignet, selbst noch etwas hinzuzulernen. Hier in dieser Gegend bietet es sich an, ja drängt es sich auf, so etwas zu schaffen. Ich hatte den Eindruck, dass dieser Préhisto Parc deutlich mehr der Volksaufklärung dient als dem Kommerz. Überhaupt habe ich den Eindruck gewonnen, dass in Frankreich mehr für Kinder getan wird als in Deutschland. Das hier gehört dazu. Ich wusste, dass die Départementsstraße 706, auf der wir von Les Eyzies her gekommen waren, an der Vézère entlang führt und lief, um die Pause ganz zu nutzen, über die Straße zum Flussufer und stieg bis ans Wasser hinunter. Was für ein von Menschen unberührtes Bild bot sich hier! So weit ich schauen konnte, säumten die Ufer nur Kräuter, Buschwerk, Bäume. Das dunkle Wasser und das Grün strömten eine unheimliche Ruhe aus. Der Fluss quirlte vorüber und verstärkte das eben gewonnene Bild, dass sich seit Urzeiten nicht viel verändert hat. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 48 Bei Roque St-Christophe, eine auch viel gerühmte Stelle, überquerten wir die Vézère, durchfuhren Thonac und kamen nach kurzer Fahrt nach Montignac, einem größeren Ort von vielleicht 3000 Einwohnern. Hier überfuhren wir auf einer alten Steinbrücke wieder die Vézère und waren nun ganz in der Nähe der berühmten Höhle von Lascaux II angelangt. Montignac an der Vézère, letzte Station vor Lascaux II Der Bus hielt an. Nichts Aufregendes konnte ich wahrnehmen. Was ich sah, entsprach nicht meiner inneren Anspannung. Nun würde ich diese weltberühmten Höhlenmalereien sehen dürfen! XI. Lascaux I n einem locker bewaldeten Hain auf einem Hügel, den wir bei warmem Wetter hinaufliefen, standen einige Pavillons. Hinweisschilder warben mit den bekannten Motiven. Wir mussten warten und feststellen, dass die Kapazitäten für den Höhlenbesuch sehr eingeschränkt und die schubweise eingelassenen Besuchergruppen klein sind. Ich kaufte mir im Souvenirladen ein Buch und – nach scherzhaftem Anraten Martinas, die das nicht unchic fand, eine weiße Base cap, weil wir wussten, dass in drei Wochen unsere hochsommerliche Erholungsreise nach Kroatien in die Adria gehen würde. Dann war es soweit. Eine junge Frau nahm uns die Tickets ab und führte uns unter die Erde. Es wurde finster um uns. Wir standen eng. Spärliches Licht fiel auf Wandvitrinen, die gerade lesbar erleuchtet waren. Die Frau erklärte in einigermaßen verständlichem Deutsch die Geschichte dieser weltweit einzigartigen Höhle von Lascaux und das Entstehen des Duplikates Lascaux II. Sie sprach von der Entdeckung im Jahre 1940, von den schnell ansteigenden Besucherzahlen und den in der Folge beängstigenden Veränderungen bei den Zeichnungen an Höhlenwänden und -decken, die unter dem schädigenden Einfluss Lascaux II, im Park, Pavillon am Eingang zur Höhle der sich unter dem Licht bildenden ChlorellaAlgen und dem lösenden chemischen Angriff des sich bildenden Kondensats der Atemluft auf die farblichen Bestandteile der Höhlenbilder litten. Zerstörung drohte, unwiederbringlicher Verlust dieser einzigartigen Zeugnisse eiszeitlicher Kunst. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 49 Schon 1963 wurde deshalb die originale Höhle geschlossen, und 1980 kam man auf die Idee, ein getreues Abbild einiger Räume ganz in der Nähe zu schaffen, eben Lascaux II, in welchem wir uns nun befanden. Es hätte wieder die ganze Zeit eines geduldigen und wissbegierigen Museumsbesuchers bedurft, um alle Informationen der Wandvitrinen zu studieren und geistig zu verarbeiten. Von wissenschaftlichen Versuchen, Fehlschlägen und erfolgreichen Umsetzungen waren Bilder präsentiert, französische und englische Texte zu lesen. Ein unmögliches und innerhalb dieser Führung gar nicht beabsichtigtes Unterfangen. Durch eine Schleusentür gelangten wir ins „Heiligtum“. Wie ich später nachlesen konnte, war dieser so genannte „Saal der Stiere“ tatsächlich so etwas wie eine prähistorische Kultstätte. Wenn ich bedenke, dass diese Felsenzeichnungen in bunten Farben originalgetreu von Lascaux I hierher übertragen wurden, bis auf nur 5 mm Abweichung, überkommt mich Hochachtung vor der Leistung der Wissenschaftler und Handwerker. Ich konnte nur noch staunen. Ein lange gehegter Traum ging in Erfüllung. Nur als Kopie, doch hier erschienen die berühmten Zeichnungen schöner als das leidende Original an den Wänden und an der Decke dieses engen Hohlraumes, der sich Saal der Stiere nennt. Dicht gedrängt standen wir im Dämmerlicht, folgten dem Strahl der Taschenlampe, mit der die Französin uns Bild für Bild ins Licht rückte, die Deutungen schnell und routiniert erklärte, kurz und knapp beschrieb, um welche Tiere es sich handelte- weiter. Wir rückten langsam nach in die so genannte „Galerie“. Fotografieren, was nur mit Blitzlicht möglich war, verboten, verstehbar. Mein Blick saugte sich an den Zeichnungen fest, bis sie wieder im schemenhaften Dämmerlicht verschwanden. Jetzt konnten wir nur noch hintereinander treten. Weit vorn war auf einmal die erklärende Stimme, nicht mehr verständlich. Ich klinkte mich aus, bemühte meine Phantasie. 17 000 Jahre ist es her, dass Menschen solche Malereien schufen. Im alten Ägypten begann die so genannte prädynastische Epoche vor etwa 7000 Jahren, ab etwa 5200 v. Chr. Dazwischen liegen noch einmal 10 000 Jahre, von denen wir so gut wie nichts wissen! Viele Leute laufen hier durch wie durch eine normale Sehenswürdigkeit, eine unter vielen. Den heiligen Schauder verspüren nur wenige. Noch hier unten fasse ich den Entschluss, mich mit dieser Höhle, dieser Kultur, der frühesten überhaupt, später näher zu beschäftigen. So möge man es mir nicht verübeln, wenn ich in der Folge die Kopie eines Heftes im Wortlaut folgen lasse, das von den Doktoren der Vorgeschichte Brigitte und Gilles Delluc verfasst wurde und auf umfangreiche Arbeiten von Arlette und André LeroiGourhan zurückgeht, Lascaux, Schiff: Flüchtende Hirsche. Mit Magnesiumdioxid in Tonerde gezeichnet. die das Höhlensystem von Lascaux gründlich erforscht haben. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 50 Die Höhle von Lascaux Ein Land ZWISCHEN HÜGELN UND FELSWÄNDEN: DIE VÉZÈRE Der schwarze Fluss, in Mergel und Glimmer der entlegenen Corrèze1 und dem Kiesel des Limousin gebettet, fließt hier in breitem Tale zwischen Tabak und Mais, Pappeln und Wiesen, entlang der meist sanften Kalkhügel des Périgord Noir. Hier errichtete man einst Montignac, ein malerisches Landstädtchen, von einer ritterlichen Burg beherrscht. Die obere Vézère führt durch die engen Schluchten und kristallenen Gründe des Limousin. Stromabwärts hinter Thonac bricht sie sich enge Gänge in den Kalk von Le Moustier, La Madeleine, Les Eyzies, zwischen die Felsen, in die sich überall Höhlengänge und Überhänge eingegraben haben. Dieser Fluss ist zugleich ein Weg der Eroberung und der Ansiedlung, eine Achse, an der sich seit 200 000 Jahren die Wohnungen der Menschen reihen. Seine Nebenflüsse sind bescheiden: einige Bäche, häufiger bereits ausgetrocknete Schluchten, die in das Plateau einschneiden und es in viele kleine Massive teilen, in kahle oder kärglich bewaldete Hügel. Einer von ihnen ist, am linken Ufer der Vézère, der Hügel von Lascaux. Überall findet man Kalkstein im Périgord Noir, in den Felswänden und Steilhängen, und auch in den oft mit einer dünnen Erdschicht bedeckten Bergmassiven. Dieser Coniacien ist ein gelber Fels, reich an Eisen, das durch Feuer rötet, ein körniges Gestein, gleichermaßen reich an Sand und Kalk. Einige Spalten durchbrechen den Fels, lassen ihn rissig werden und öffnen den Weg zu unterirdischen Bächen, die ihrerseits zahllose Grotten ausschachten. EINE HÖHLE UNTER TAUSEND Das Périgord ist das Land der tausend Höhlen. Hier bahnt sich das eingesickerte Wasser unterirdisch seinen Weg zu Lasten der vertikalen Diaklasen oder Gesteinskluften. Gelegentlich ist die Decke eingebrochen und gibt tiefe Abgründe frei. Vielfach sind in die unterirdischen Gänge später rote Tonerde, Sand und Stalagmitkonkretionen eingedrungen; an geneigten Hängen sind ihre Eingänge oftmals aufgeschlämmt; oft haben die Bäche die Gänge verlassen und ihren Lauf in immer größere Tiefen verlegt. So sind es trockene, fossile Grotten, die wir heute besuchen: enge Felsrinnen, in die sich nur Höhlenforscher zwängen, ebenso wie schöne und breite Höhlengänge, die manchmal für den Touristenbesuch ausgebaut wurden. d ma = Tausend Jahre Einige von ihnen (wenigstens dreißig. außerdem etwa zehn Abris oder Felsdächer) sahen ihre Wände von prähistorischen Menschen bemalt, seit dem Gravettien vor etwa 25 000 Jahren bis zum Ende des Magdalénien vor 10 000 Jahren. Die Länge der kleinsten von ihnen beträgt nur einige Meter; die längste mit einer Ausdehnung von mehreren Kilometern wird heute von einer kleinen unterirdischen Eisenbahn befahren. Viele sind, wie man weiß, nur Vordächer und Halbhöhlen, die ein Schutz nahe der Behausungen und besonders der Grabanlagen der Neandertaler und CrôMagnon-Menschen waren. Doch man vermutet in ihnen keine unterirdischen Wohnanlagen. Die Höhlenmenschen lebten nicht in den Höhlen, jedenfalls nicht im Périgord. 1 Corrèze = Département 19, benachbart zum Périgord, in der Region des Limousin © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 51 ti Unter diesen tausend Höhlen wählten die Crô-Magnon-Menschen vor 17 000 Jahren jene im Hügel von Lascaux aus, um hier das bemerkenswerteste unterirdische Heiligtum der Vorgeschichte zu errichten. Es ist eine der größten Höhlen dieser Gegend, und zugleich diejenige, deren Wände sich am besten für Malerei, Gravur und Wandkunst eignen. Es war keine Kunst, sie zu finden. Seinerzeit öffnete sich ihr Eingang, aus dem ein unterirdischer Bach des frühen Tertiär ans Licht trat, auf eine dürre, sonnenbeschienene Kalkhochfläche, auf der einige verkrüppelte Eichen, Pinien, Haselsträucher und Wacholderbäume standen. Mit Hilfe von Talglampen entdeckte man beim Abstieg unter die Erde eine große Rotunde (Saal der Stiere) und einen engen Längsgang (Diverticule Axial). Seitlich verschoben besitzt die hohe Galerie des Schiffs zwei Verlängerungen, zu denen man durch einen Quergang Passage) nur geduckt gelangen kann: rechts die Erweiterung der Apsis mit der Öffnung des Brunnens ; am Ende der enge Gang der Galerie der Katzen. Ein komplexer Grundriss von 250 m Ausdehnung und zwei Achsen: die eine am Eingang (Saal der Stiere und Längsgang); die andere im Innern Quergang, Schiff, Galerie der Katzen). Die erste ist bequem begehbar, die zweite dagegen unregelmäßig, mit einigen niedrigen Gängen und zwei kleinen Schächten. Vor allem war es eine leere Höhle. Eine wasserundurchlässige Schicht Mergel bietet der Grotte ein sicheres Dach, jeder Einsickerung kalkhaltigen Wassers trotzend. Hier gibt es weder Stalagmiten und Stalaktiten, noch sonstige Kalkablagerungen, wie man sie in anderen Höhlen des Périgord allenthalben findet. Decken und Wände weisen nur eine feine Kalkmakulatur auf, die wohl nach einem Wassereinbruch kristallisiert ist, und der Boden ist mit einer Lehmschicht bedeckt. In den anderen Galerien liegen die gelben oder rötlichen Felsen in der Regel bloß. Die Böden bestehen überall aus Lehm oder Sand, und nur in der Eingangshalle finden sich Ablagerungen eines ehemaligen Baches. Die mit kleinen Kristallen bedeckten Wände der Eingangshalle tragen ausschließlich Bemalungen; Gravuren (auch solche, die zusätzlich durch Bemalung zur Geltung gebracht werden) schmücken ockern und kieselig die Wände der anderen Galerien, deren Kalk sich von Korn zu Korn unterscheidet. Die Höhlenmenschen trafen also eine zweifache Wahl: die dieser Höhle unter tausend anderen, und die der geeigneten graphischen Techniken gemäß der Oberflächenbeschaffenheit der Wände. Über die Höhle selbst wissen wir heute vieles, was den Menschen des Magdalénien unbekannt war. Die Vorhalle ihres Heiligtums ist kurz nach ihrem Auszug durch die Auswirkungen von Vereisung und Auftauen eingestürzt, so dass der Eingang für 17 000 Jahre verschlossen war. In diesem vergessenen Mikrokosmos entwickelte sich ein eigenes Klima, in welchem geringfügige Zirkulationen die feuchte Luft durchziehen, von einem starken Geröllkegel kühl gehalten, der jegliche Kondensation an den Wänden verhindert und eben Abzug für das natürlich entstehende Karbongas bildet. Die von den vorgeschichtlichen Malern, Graveuren und Bewunderern verlassenen Objekte sind so an den Wänden erhalten geblieben, und nur am Boden haben sie nach und nach eine dünne Schicht von Sand und Kiesel, ein stalagmitischer Boden und vor allem dicke Kalzitlagen verdeckt. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 52 Die archäologische Schicht ist unter einer einige Zentimeter dicken Sedimentschicht und in einer geschlossenen Höhle zweifach versiegelt. Anhand dieser kostbaren Spuren können wir das Leben der Höhlenmenschen nachzeichnen. ALLES IM GRIFF - ODER FAST ALLES Die Epoche des Magdalénien war weder eine Zeit des Schreckens noch des Überflusses. Neben dem Schutz der Felsen und Höhlen bot das Tal der Vézère den Menschen von Lascaux Stein, Holz und Tiere. In der Erde finden sich Pigmente: gelbes und braunes Ocker, das im Kochen rötet (dies sind Sandund Kieselmischungen mit trockenem Eisenoxid), schwarzes Mangan (oder zumindest dessen Bioxid, der Braunstein), und sogar Kohle. Der Kalk des Hügels liefert aus kleinen Platten Lampen, Paletten und Pigmentschalen. Auch Feuerstein, universal verwendbar, ist nicht selten. Das Périgord war seinerzeit noch kaum bewaldet. Die Bäume der Umgebung wurden als Steigleitern und Gerüste verwendet, die pflanzlichen Fasern der Büsche als Seilwerk. Mannigfaltig präsentierte sich die Fauna: Großwild, Katzen, kleine Nager und Vögel. Doch vor allem das Rentier lieferte den Menschen des Magdalénien Nahrung und Werkstoff: Man könnte geradezu von einer Epoche des Rentiers sprechen. ANHAND EINIGER POLLENKÖRNER Die Blumen welken, die Blätter der Bäume verwesen, doch Pollen und Samenkörner überdauern die Zeiten. Eine zuverlässige Schutzhülle macht diese mikroskopischen Partikel mit jeweils charakteristischen Formen und Maßen zu unzerstörbaren Zeugen. Für den Palynologen 2 künden sie zugleich von ihrer pflanzlichen Umgebung und dem Klima der Epoche, in deren archäologischer Schicht sie sich finden. Vergleichbare Befunde liefert die mikroskopische Analyse von außergewöhnlich gut erhaltenen Holzresten. Die Beschaffenheit der Sedimente in jeder Schicht einer Ablagerung ist ebenfalls von Konservierungs- und Klimabedingungen abhängig. Die Menschen von Crô-Magnon erlebten ebenso wie diejenigen von Neandertal und ihre Ahnen von Le Moustier eine Abkühlung des Klimas: die Würm- Eiszeit (75 000 bis 10 000 v. Chr.). Doch war Europa damals nicht in eine riesige Eiswüste verwandelt. In unseren Breiten war das Klima zwar rauer und im jährlichen Mittel etwa 5 °C kälter als heute, ermöglichte den Menschen jedoch ein normales Leben. Zudem variierte dieses Klima je nach Höhe des Ortes und Entfernung zum Meer, mit beachtlichen Auswirkungen auf die Pflanzen- und Tierwelt. Lascaux fällt in eine etwa tausendjährige, verhältnismäßig feuchte Epoche der Erwärmung zwischen zwei kalten Perioden. Diese „Zwischen- Warmzeit“ von Lascaux gliedert sich seinerseits selbst in verschiedene, mehr oder weniger kalte Episoden. Die Menschen von Lascaux, in gleicher Entfernung zum Pol wie zum Äquator, zum Meer wie zum Gebirge, lebten in einem dem heutigen vergleichbaren Klima: zwischen 0 und 10 °C im Januar, 15 und 22 °C im Juli, eine jährliche Regenmenge von 500 bis 700 mm, lange, jedoch gemäßigte Winter, kurze und nicht sehr heiße Sommer, Herbst und Frühling von kurzer Dauer. Und das Panorama, das sich um den Hügel von Lascaux darbot, war dem heutigen, abgesehen von Bauten und Kulturen, kaum verschieden. So konnte die Palynologin Arlette Leroi-Gourhan mit Hilfe des Mikroskops die Umrisse der einstigen Landschaft präzisieren. Die Höhle wurde im klimatisch günstigsten Moment gefunden, und bei den ersten Anzeichen der nachfolgenden kälteren Periode wieder verlassen. Die ersten Menschen in Lascaux kannten demzufolge noch einen dichten Mischwald aus Kiefern, 2 Palynologie, Palynologe = Teilgebiet der Botanik, das sich mit Pflanzenpollen und Sporen beschäftigt © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 53 Haselsträuchern und Laubbäumen (Eiche, Linde, Ulme, Esche, Buche, Ahorn), in dessen Schatten Liguster, Johannisbeeren, Faulbaum und Waldrebe wuchsen. Einige Bäume wie Pinien und Nussbäume, die sich hin und wieder nachweisen lassen, bedurften eines milderen Klimas. Als das Klima sich verschlechterte, nahmen die Laubbäume deutlich ab, und eine Steppenvegetation bemächtigte sich der Gegend (Korbblütler wie Kornblume und Distel setzten sich gegenüber den Gräsern durch). Die Fauna war zunächst diejenige gemäßigter Zonen: Pferde und Büffel, Hirsche und Rehe, Steinböcke, Wildschweine, Braunbären, Hasen und Kaninchen, Siebenschläfer, Igel, Frösche und Wildmäuse. Überdauert haben die Vertreter einer kältebeständigeren Tierwelt: das Wollnashorn, der Moschusochse und vor allem das Rentier, das sich während des Sommers auf die Hänge des Massif Central zurückzog. EINE HANDVOLL KOHLEN Die Pflanzenwelt lieferte den Menschen der Vorzeit jedoch nicht nur Pollen: Erhaltene Holzkohlenfunde können mit der Radiokarbonmethode datiert werden. Lebende Organismen, Tiere wie Pflanzen, enthalten gleichviel natürlichen Kohlenstoff (Karbon 12) und radioaktiven Kohlenstoff (Karbon 14) wie die Atmosphäre. Sobald der Stoffwechsel mit dem Tod eingestellt ist, verringert sich das Karbon 14 allmählich, gemäß dem bekannten radioaktiven Zerfall. Das Maß des heute erhaltenen Karbons 14 erlaubt eine exakte Bestimmung dieses Moments. Die in der archäologischen Schicht von Lascaux erhaltenen Kohlen wurden gesammelt und anhand dieser Methode analysiert. Sie sind durchschnittlich 17 000 Jahre alt (genauer 17 070 Jahre, mit einer maximalen Abweichung von 130 Jahren). Die Objekte, die in derselben Schicht gefunden wurden (Feuersteinklingen und Lanzenspitzen), entsprechen ebenfalls denjenigen des frühen Magdalénien. Die Tiere UNSICHTBAR UND ÜBERALL: DAS RENTIER Die Fauna, die die Menschen des Magdalénien umgab, war vor allem durch die großen Herden von Rentieren geprägt. Sie wurden gejagt, und alles an ihnen fand Verwendung. Doch weniger das Ren, sondern andere Tiere wurden auf den Wänden von Lascaux dargestellt. Das Ren beherrschte diese "Rentierzeit", die mit dem späteren Paläolithikum, oder genauer: dem Magdalénien, zusammenfällt. Diese Hirschart (1,30 bis 2,20 m lang und 60 bis 315 kg schwer) unternahm gewaltige Wanderungen. Ihre Feinde waren Wölfe und, vor allem im Sommer, die Mücken, die sie aus der Tundra in die höheren Bergregionen vertrieben. Männliche wie weibliche Tiere tragen Geweihe mit langen, nach vorn gebogenen Stangen. Ihren Kopf mit dem großen Maul tragen sie tief, unter einem vorspringenden Widerrist, und unter ihrem Hals schützt sie ein dichtes Haarkleid. Sie stehen, bei einer Widerristhöhe zwischen 80 und 150 cm, auf großen Füßen, die ihnen einen sicheren Gang auf verschneitem Boden ermöglichen. Ihr Schwanz ist kurz. Sie ernähren sich von Blättern und anderen Pflanzen, im Winter vor allem von Flechten, die sie unter dem Schnee aufstöbern können. Gegen Ende der Eiszeit wanderten sie in polare und subpolare Regionen aus, und es währt nicht leicht, sie heute in Frankreich zu reakklimatisieren. Das Rentier war sozusagen ein prähistorischer „Selbstbedienungsladen“. Die Geweihe wurden zur Herstellung von Spießen verwendet, die man mit Hilfe anderer Werkzeuge geradlinig bearbeitete. Aus den Knochen wurden Nähnadeln und Röhren gefertigt. Das dichte Fell wurde gegerbt und zur Isolation der Holzhütten und zur Anfertigung warmer Kleidung und dicker Mokassins verwendet. Aus den Sehnen gewann man Nähgarn, und mit dem Talg speiste man die Lampen. Doch vor allem bildeten Fleisch, Fett, Mark und Innereien des Rentiers den Grundstock der Ernährung, die durch Beeren, Blätter, Wurzeln und Nüsse ergänzt wurde. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 54 KLEINES BESTIARIUM Die übrigen Tiere von Lascaux hingegen dienten den Menschen kaum zum Verzehr oder anderer Nutzung, doch ihre Silhouetten zieren die Wände und Decken der Höhle. Die Pferde stehen unter ihnen an erster Stelle. Sie sind etwa viermal so oft abgebildet wie Büffel oder Hirsche. Es handelt sich meist um kleine Pferde, den Przewalskipferden ähnlich (sprich: Prschewalski), die noch im letzten Jahrhundert in wilden Herden, von je einem Hengst angeführt, durch die Steppen der Mongolei zogen, wo man sie um 1880 entdeckte. In freier Natur sind sie heute ausgestorben, doch leben noch zahlreiche Exemplare in Zoologischen Gärten. Es sind kleine Tiere (2,20 bis 2,80 m lang, Widerristhöhe 1,20 bis 1,45 m) mit einem großen Kopf auf einem dicken Hals. Ihre Mähne ist struppig, der Schwanz recht lang (90 bis 110 cm). Die Farbe ihres Kleides variiert von falben bis gelbbraun, mit einem längeren und helleren Fell im Winter. Das Rückgrat wird durch eine kastanienbraune Linie betont, die Schultern durch einige dunkle Saal der Stiere: Rotes Pferd mit schwarzem Kopf etwa 2 m) Der Kopf mit zwei aufgerichteten Ohren ist klein im Zeichnungen. Die Gliedmaßen sind ebenfalls dunkler, (Länge Verhältnis zum Körper. Die kurzen Gliedmaßen sind nach vorn und bisweilen auch gestreift. Ihre Chromosomenzahl hinten geworfen und zeigen fliegenden Galopp an. Das linke Vorderbein ist durch einen Kunstgriff von der Brust abgesetzt. entspricht nicht der heutiger Pferde. Eine andere Art wildlebender Pferde sind die Tarpane der Steppen und Wälder. Lange Zeit in Europa heimisch und den vorigen ähnlich in Gestalt, jedoch mit einem grauen Fell, sind sie im Laufe der beiden letzten Jahrhunderte ausgestorben. Durch Kreuzung verschiedener tarpanoider Pferderassen hat man heute wieder Tarpane züchten können. In den Malereien von Lascaux (und somit wohl auch in der Anschauung der damaligen Menschen) nehmen die Horntiere in großem Abstand hinter den Pferden gemeinsam mit den Hirschen den zweiten Platz ein. Bei den Darstellungen handelt es sich um Auerochsen und Bisons. Der Auerochse, ein Urrind der Wiesen, zeigt ein milderes Klima an als der Bison. Einige Zahlen mögen eine Vorstellung von seiner imposanten Erscheinung geben: 3 m Länge, 1,80 m Widerristhöhe, Gewicht bis zu einer Tonne, Hörner von 80 cm Länge (die Kuh ist um ein Viertel kleiner und leichter als der Stier). Unsere heutigen Kühe stammen von diesen gewaltigen und aggressiven Vorfahren ab, die ein dunkelbraunes Fell mit einer helleren Zeichnung auf dem Rückgrat trugen, lang und zottig im Winter, kurz im Sommer. Der Kopf war besonders bei den Stieren kolossal, mit einem weißen Reif um Maul und Kinn, einer gewölbten Stirn und langen weißen Hörnern mit schwarzen Spitzen. Der Bauch und die Innenseiten der Läufe waren weiß. Die Urrinder lebten in kleinen Herden (ein Stier, einige Kühe und Kälber). Das letzte Exemplar ist 1627 in Polen gestorben. Lascaux, Saal der Stiere: Erster großer Stier (oder Auerochse) An den Seiten großes rotes Pferd mit schwarzem Kopf und eine Reihe kleiner Pferde © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 55 Seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts bemühen sich die Zoologen um die Zucht eines NeoAuerochsen, wobei sie auf die Darstellungen in alten Bildern und Stichen zurückgreifen. Auch die Abbildungen von Urrindern in Lascaux kommen dem Erfolg dieses Unternehmens zugute, doch kann eine einmal ausgestorbene Art niemals wirklich wieder zum Leben erweckt werden. Die zweite Rinderart von Lascaux ist der Bison. Das heutige europäische Wisent ist sein Nachfahre. Auch seine Maße sind beeindruckend: 3,10 bis 3,50 m Länge, Höhe am Widerrist 2 m, Gewicht bis zu einer Tonne. Die wuchtige Vorderseite wird von einem dunklen Haarkleid bedeckt. Der Kopf mit seinem vertikalen Antlitz liegt tief und trägt struppiges Bart- und Stirnhaar. Die bis zu 60 cm langen Hörner sitzen seitlich der Stirn, biegen sich erst nach oben, dann nach vorn, und haben nach innen gerichtete Spitzen. Das Fell auf dem Körper ist dicht und fällt im Frühling aus. Der Schwanz ist kurz (50 bis 60 cm) und ohne Büschel. Der Widerrist ist durch den Vorsprung des Rückgrats betont. Genick und Rückgrat des Bisons tragen so insgesamt vier markante Buckel: die behaarte Front, der Nackenwulst vor und zwischen den Hörnern, ein fettes, fellbedecktes Genickmassiv, und schließlich der lange und hohe Widerrist. Das europäische Wisent, das einstmals ein Steppenbewohner war, hat sich in die Wälder zurückgezogen. Doch sind die noch heute im Wald von Bialowieza in Polen lebenden Tiere Nachfahren domestizierter Wisente, die eine bedrohliche Inzucht überdauert haben. In Freiheit sondern sich die alten Stiere von den Herden ab. Während der Brunftzeit teilt sich die Herde in kleine, acht- bis zehnköpfige Gruppen, die jeweils von der ältesten Kuh geführt werden. Eine unvollständige Gravur von mäßiger Qualität in der Apsis von Lascaux scheint einen Moschusochsen darzustellen. Diese große Ziegenart (1,80 bis 2,50 m lang, Widerrist 1,10 bis 1,45 m, Gewicht 200 bis 300 kg) zeichnet sich vor allem durch ihr zotteliges und aufgepludertes Fell aus, das die Konturen verschleiert und das Tier größer erscheinen lässt, als es tatsächlich ist. Auch die Hörner sind sehr eigenartig: die Basis eines jeden ist verbreitert und bildet bisweilen eine Art Helm aus. Die Hörner senken sich dicht an die Wangen und richten dann ihre Spitzen wie Haken steil auf. Die Moschusochsen leben heute nur noch im hohen Norden, wo man sie erst im letzten Jahrhundert entdeckt hat: sie lieben ein eisiges Klima. Die geweihtragenden Tiere auf den Wänden von Lascaux stellen (mit Ausnahme eines Rentiers) Rehe und Hirsche dar, die ein gemäßigtes Klima voraussetzen. Sie entsprechen in der Regel unseren Rothirschen. Sie sind 1,65 bis 2,65 m lang, 75 cm bis 1,50 m hoch und 75 bis 340 kg schwer. Der Kopf mit spitzem Maul wird aufrecht gehalten. Nur das Männchen trägt ein Geweih, das jeden Winter abgeworfen wird. Der Geweihstange entspringen zahlreiche Gabelungen mit Enden variabler Zahl. Das Geweih erhält mit fortschreitendem Alter des Hirsches eine immer größere Zahl von Enden. Außerhalb der Brunftzeit im Herbst, in der er mit lautem Röhren die Weibchen zur Paarung ruft, lebt der Hirsch einzeln, in gemischten Herden oder auch in rein männlichen „Clubs“ Steinböcke trifft man heute nur noch im Hochgebirge an der Schneegrenze an, und auch dort nur sehr selten. Zur Zeit von Lascaux waren sie auch in unseren Regionen heimisch, doch vertragen sie keine große Hitze. Diese immer noch recht stattlichen Ziegen von 1,15 bis 1,70 m Länge, 65 cm bis 1,05 m Höhe und 35 bis 150 kg Gewicht haben charakteristische Hörner, die kreisförmig nach vorne gebogen sind und beim männlichen Tier eine Länge von 1 m erreichen können. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 56 Der heutige Alpensteinbock hat einen kräftigen Körper und einen kurzen, bisweilen geringelten Schwanz. Die Gliedmaßen enden in gepaarten Hufen, die ein geschwindes Laufen und Springen auf zerklüftetem Boden möglich machen. Die Steinböcke leben heute geschützt in den Naturparks der Alpen. Nur während der winterlichen Brunft leben Männchen und Weibchen beisammen, den Rest des Jahres verbringen sie in getrennten Herden. Im Sommer tragen die Männchen lange ritualisierte Kämpfe aus, durch die sie untereinander eine Hierarchie festlegen. In der Paarungszeit meiden sie sich. Die heutigen Steinböcke sind vor ihren einstigen Feinden, Lascaux, Längsgang: Kämpfende Alpensteinböcke, einer schwarz gezeichnet, der andere durch verlängerte gelbe Punkte Wölfen, Luchsen und Bären, in Sicherheit. dargestellt. Zwischen ihnen ein rechteckiges Zeichen. Darüber Pferde. Die gravierten Katzen von Lascaux finden sich im Gegensatz zu den großen Pflanzenfressern, die die Galerien bevölkern, nur in einem einzigen engen Gang. Kaum ein Dutzend Tiere sind hier in schemenhaften Silhouetten abgebildet. Es sind zweifellos Löwen ohne Mähnen (oder Höhlenlöwen), die sich sonst kaum von heutigen Löwen unterscheiden (Länge 1,70 bis 1,90 m, Gewicht der Männchen 150 bis 250 kg, der Weibchen 120 bis 180 kg, mit einem 1 m langen Schwanz mit Büschel). Die bescheidene Qualität ihrer Darstellung ist vielleicht im Verhalten der Tiere begründet: Rudel von zwei oder drei Männchen und fünf bis zehn Weibchen, die versteckt leben und auch nachts aktiv sind. Heute leben Löwen in der afrikanischen Steppe bis zu den kenianischen Bergen hinauf, doch es sind ursprünglich gewiss keine Tiere der Tropen gewesen. Der Bär, der sich im Saal der Stiere hinter einem Auerochsen versteckt, ist sicherlich ein Braunbär, wie wir ihn heute kennen (2 bis 3 m lang und 150 bis 780 kg schwer). Sein braunes Fell, sein Kopf mit kaum gewölbter Stirn (im Gegensatz zum Höhlenbären, seinem Vorfahren), sein Schnauze mit der feinen Nase, seine runden Ohren, seine Tatzen mit den langen, gebogenen und nicht einziehbaren Klauen und sein manchmal aufrechter Gang sind uns allen von Kindheit an vertraut. Der Bär, ein Allesfresser, braucht ein sehr großes Territorium. Er lebt sehr versteckt, hält Winterschlaf in Höhlen, in denen auch die Jungen zur Welt kommen, und hinterlässt im Lehm und auf den Felsen seine Kratzspuren. Aber in die Höhle von Lascaux sind wohl niemals Bären vorgedrungen, und es wäre etwas einfältig, sich einen Kampf um die Höhle zwischen Mensch und Löwe oder Bär vorzustellen... Gegenüber all diesen Tieren, denen wir heute noch im Zoo oder in freier Natur begegnen können, ist das in Lascaux dargestellte Rhinozeros ausgestorben. Es handelt sich um das Wollnashorn einer Kaltzeit, das im Gegensatz zu seinen Vorfahren schon geteilte Nasenflügel besaß. Vielleicht ist das Wollnashorn der Ursprung der legendären Drachen. Es ist schon vor Jahrtausenden von der Erde verschwunden, doch kennen wir es gut. Wie auch Mammuts hat man zahlreiche unversehrt eingefrorene Wollnashörner im hohen Norden Sibiriens gefunden. Es war ein ebenso gewaltiges Tier wie die größten heute lebenden Nashörner Afrikas (3 bis 4 m lang, 1,50 m Schulterhöhe, 2 Tonnen schwer). Die etwas verschrobenen Konturen des Rhinozeros sind uns bestens vertraut, mit dem langen Kopf, horizontal oder tief getragen, den großen Ohren, dem aufgeblähten Unterleib, den massiven, kurzen Gliedmaßen, dem dürren Schwanz und vor allem den beiden keratinösen3 Hörnern in der Form eines Rosendoms von manchmal mehr als 1,50 m Länge. Bemerkenswert ist das dichte Fell des Wollnashorns aus schwarzer Wolle, mit langem, starrem Grannenhaar von rotschwarzer Tönung über den Flanken. Diese Wolle war an Hals und Schultern besonders dicht und erreichte auch den wulstigen Buckel des Widerrists. Die sibirischen Nashörner lebten einzeln 3 Keratin = Hornstoff, schwefelhaltige Eiweißverbindung; Hauptbestandteil der Haut, Nägel, Federn, Geweihen © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 57 oder in Familien mit mehreren Weibchen und Jungtieren in der Steppe, aber auch in Nadelwäldern, wo sie sich auch von Zweigen und den niedrigen Blättern der Sträucher ernährten. Ebenso wie bei den Mammuts, die jedoch in Lascaux nicht dargestellt sind, kennt man die Ursache für ihr Aussterben nicht genau. Die Menschen IM LAUFE DER ZEIT Lascaux liegt keineswegs in dunkler Nacht der Vorzeit. Einige Ziffern mögen dies knapp verdeutlichen. Das Leben erschien in Gestalt einer kleinen blauen Alge vor zwei Milliarden Jahren auf unserem Planeten. Die Dinosaurier ihrerseits sind 200 Millionen Jahre alt. Der erste Mensch (Homo habilis, der die ersten Werkzeuge herstellen konnte) lebte vor 2 Millionen Jahren in Afrika. Das Périgord ist seit 200 000 Jahren von Menschen bewohnt. Die Höhle von Lascaux wurde von den Crô-Magnon-Menschen4 vor 17 000 Jahren bemalt. Gerade mal... LEUTE WIE DU UND ICH Die Crô-Magnon-Menschen hatten die gleiche Gestalt wie wir und auch die gleiche Intelligenz, sieht man einmal vom kulturellen Erbe ab. Wie wir kannten sie die Sprache, das Lachen und die Tränen, wie wir hatten sie Tugenden und Schwächen. Sie führten ein aktives Leben in freier Natur, und es waren in der Mehrzahl junge Leute. Es waren moderne Menschen wie wir: wir alle sind Crô-Magnon-Menschen. Tatsächlich war bereits unser Vorfahre, der Neandertaler, der beispielsweise nicht weit entfernt von Le Moustier lebte, sehr hoch entwickelt. In der Sprache der Anthropologen war auch er schon sapiens: weise; uns hingegen nennen sie Homo sapiens sapiens: doppelt weise. So scheint es. Die Crô-Magnon-Menschen von Lascaux hatten eine fortgeschrittene Zivilisation und ein ausgeprägtes Sozialleben. Sie lebten in bequemen Hütten, die sie unter freiem Himmel oder im Schutz von Felsüberhängen (Abris) oder Höhleneingängen errichteten. Nach und nach lernten sie, Werkzeuge aus Feuerstein (Klingen, Lamellen, Schaber, Stichel, Bohrer) und Jagdwaffen aus Rentiergeweihen (Lanzenspitzen, Pfeile und wahrscheinlich auch Bögen) herzustellen. Sie waren keineswegs in Lumpen gekleidet, und die vielen Nadeln mit Nadelöhren, die man bei ihren Wohnstätten fand, zeugen von ihrem Interesse an der Kleidung. Sie hatten viel Freizeit, denn ihr Alltag erforderte nur wenige Stunden Arbeit pro Tag (Herstellung der Werkzeuge, Jagd, Fischfang). Die Menschen führten in Familien oder Gruppen von mehreren Familien ein Leben als jagende Halbnomaden. Sie hatten ein Hauptquartier inmitten des Jagdgebiets, daneben kleine Lager nahe den Rentierpfaden (Wanderungsstrecken, Furten, Quellen). Ihre Nahrung bestand vor allem aus Fleisch, Speck und Knochenmark und wurde durch Wildpflanzen ergänzt. Jagd und Fischfang waren zweifellos Aufgaben der Männer, während die Frauen die Speisen zubereiteten. Sie lebten in vollendeter Harmonie mit ihren Bedingungen. Jede fortgeschrittene Technologie - und diejenige des späten Paläolithikums ist eine solche - wird von einer Verbreitung der technischen Informationen begleitet: so verbreiteten sich die Arten der Silexbearbeitung5 und der Geweihteilung in ganz Europa. Auch der Glaube und die religiösen 4 Crô-Magnon-Menschen: Vom fossilen homo sapiens kennt man zwei Rassen, die von Aurignac und die von CrôMagnon. An letzterem Ort, im Abri de Crô-Magnon, Dép. Dordogne, fand man 1868 beim Bau einer Eisenbahn die Skelette von drei Männern und einer schwangeren Frau. Ihre Gliedmaßen und Muskelansätze waren stärker ausgeprägt als bei der Rasse von Aurignac. 5 Silexverarbeitung= gemeint ist die Technik der Bearbeitung sehr harter Silikatgesteine, die z.B. bei Erhitzung scharfkantig brechen oder durch Klopfen blattartig splittern © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 58 Bräuche (Gräber, bemalte Höhlen) beschränkten sich nicht auf unsere Region: der Mensch ist, wie man weiß, ein religiöses Wesen. Die Menschen des Magdalénien kannten weder Dörfer noch Tierzucht oder Landwirtschaft. Die Lebenserwartung war kurz, doch wissen wir für diese Epoche nichts über Mord, Krieg, oder Kannibalismus. LEHRJAHRE Vor rund 30 000 Jahren erfanden die Crô-Magnon-Menschen an den Ufern der Vézère das Zeichnen. Hier hatten sie zum ersten Mal die Idee, das, was sie dreidimensional in der Natur sahen, auf der Fläche des Gesteins zweidimensional abzubilden: Tiere (oft unvollständig) und auch weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale. Diese ersten Bildnisse aus der Zeit des Aurignacien sind Ritzungen in Kalksteinblöcke oder in mittlerweile eingestürzte Wände. (Stil IV: Jüngeres und mittleres Magdalénien vor 16000 bis 10 000 Jahren) Nach und nach, während des Gravettien vor 20 bis 25 000 Jahren, begannen diese ersten Künstler die Wände einzelner Höhlen und der Abris, die sie bewohnten, zu bemalen (Abris von Laussel, Oreille d'Enfer, Le Poisson bei Les Eyzies; Höhle von Pair-non-Pair, Gironde). Ihre Kunst entwickelte sich weiter: die Tiersilhouetten wurden immer detaillierter, die Formen immer plastischer. Im Solutreen (vor 18 000 Jahren, also ein Jahrtausend vor Lascaux) wurde mit dem Flachrelief die Skulptur und damit die dritte Dimension entdeckt. Der Stil von Lascaux kündigt sich bereits in den Höhlen von Pataud und Le Fourneau du Diable an der Dordogne sowie in Roc de Sers in der Charente an. MALER UND GRAVEURE VON LASCAUX Lascaux markiert den Höhepunkt dieser langen Entwicklung. Zwischen der Erfindung der Malerei vor 30 bis 35 000 Jahren und Lascaux (17 000 Jahre) ist ebensoviel Zeit verflossen wie zwischen Lascaux und heute. Lascaux erscheint im Lichte der Talglampen als das erste wirkliche Höhlenheiligtum. Sein Dekor ist etwas stereotyp, und seine Anordnung findet sich in verschiedenen Formen (wie in unseren Kirchen) während des gesamten Magdalénien wieder. Meist nehmen Pferde und Rinder die zentralen Flächen ein, von anderen Tieren umgeben. Abbildungen von Menschen (selten und © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 59 schematisch) und Raubtieren (Katzen. Bären) sind an die Enden der Galerien verwiesen. Dagegen sind geometrische Zeichen überall zu finden. Lascaux ist die erste der umfangreich ausgemalten Höhlen, und die originellste obendrein. Spätere bemalte Höhlen des Magdalénien, von denen es in Frankreich und Spanien mehr als hundert gibt, sind oft sehr schön, doch „klassischer“ in ihrer Ausstattung (Font de Gaume, Les Combarelles, Rouffignac an der Dordogne, Niaux im Ariège, Altamira in Spanien). In jener Epoche entwickelte sich auch die Objektkunst. So präsentiert sich Lascaux am Anfang des Magdalénien zugleich als Experimentierfeld und als Meisterwerk. Die Maler und Graveure waren Fachleute, die man wohl von den alltäglichen Besorgungen enthoben hatte. Über ihre Kunst und ihre Techniken sind wir bestens unterrichtet. Sie erwarben allmählich eine Meisterschaft der großen Geste: eine derartige Souveränität der Linienführung lässt sich nicht improvisieren. Wirkliche Irrtümer der Linien oder Proportionen sind selten. Sie kannten verschiedene Farbmaltechniken, den Umgang mit der Schablone und die in den Fels eingeschnittene Gravur. Sie erfanden den Dreischritt Gravur- Malerei- Gravur (zuerst Gravurskizze, dann farbliche Ausgestaltung, zuletzt wurden Details und Konturen nachgraviert). Sie wussten die Tiersilhouetten einzufassen, ihre Reliefs in die Beschaffenheit der Felsen einzufügen, mit den Proportionen zu spielen, die Tiere benachbart, sich Gravierungen aus der Höhle „Les Trois Frères“ überschneidend oder durcheinander anzuordnen. Doch zugleich blieben die Künstler auch Jäger, die die anatomischen Eigenschaften der Tiere kannten (wie zum Beispiel Geweihe oder Felle), ihr Verhalten (die Kämpfe der Steinböcke oder die "Clubs" älterer Hirsche) und selbst präzise Details (das Winterfell mancher Pferde, den Fellabwurf der Bisons und deren Beisammenstehen Kruppe an Kruppe). Diese Beobachtungen haben die Künstler frei umgesetzt. Die Konturen der Tiere wurden je nach Art einzelner Künstler oder einer Schule wie auch graphischer Konventionen deformiert und dann regelmäßig angewandt. Man weiß nur zu gut, dass Renoir Frauen anders malte als Bernard Buffet, und wer könnte nicht Statuen von Giacometti6 von denen eines Maillol7 unterscheiden. Ebenso sind auch die Tiere von Lascaux keine Fotografien ihrer lebenden Modelle: Pferde, Auerochsen, Bisons und Hirsche erhalten einen großen Bauch, kurze und bewegte Gliedmaßen, Hufe wie von oben betrachtet (rund oder oval, gespalten oder nicht), kleine längliche Köpfe, manchmal geometrische Pigmentandeutungen von Fell. Die Perspektive ist sorgfältig verschleiert: Kopf und Rumpf sind im Profil dargestellt, Brust und Hörner jedoch in Dreiviertelansicht. Von den Geweihen der Hirsche und den Hörnern der Steinböcke ist je eines fast vertikal gezeichnet, das zweite tiefer und nach hinten gerichtet. In Lascaux haben das Auge des Jägers und die Hand des Künstlers zueinander gefunden. Deshalb nimmt die Höhle eine so einmalige Stellung in der Prähistorie ein. 6 Giacometti, Alberto, 1901 – 1966, schweizerischer Bildhauer und Maler, kam 1943 nach Frankreich; er war Surrealist. Ab 1943-45 sind seine Personen in Bronze fadenförmig und gequält. 7 Maillol, Aristide, 1861 – 1944, französischer Bildhauer, Zeichner und Maler. Sein Stil ist besonders gekennzeichnet von der architektonischen Behandlung des weiblichen Körpers. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 60 Fassen wir lapidar zusammen: vor Lascaux war es nicht schlecht, hinterher kunstvoll gearbeitet, doch Lascaux ist - schön. RELIGIÖSE KUNST UND HÖHLENHEILIGTUM Der gesamte Mythenschatz des Magdalénien ist hier präsent: die immer wiederkehrende Beiordnung von Pferden und Stieren, die Hierarchie der anderen Tiere, der Mensch und geometrische Zeichen. Doch das ist nicht alles. Lascaux, Saal der Stiere: Kopf des zweiten großen Stieres, rotes Pferd mit braunem Kopf Auf Schritt und Tritt begegnen wir dem Leitmotiv der Grotte: ein großer Stier und kleine Pferde. Erinnern wir uns daran, dass Lascaux alles andere als eine in die Provinz verlegte Tierkunstausstellung ist. Die Anordnung der Tiere richtet sich nach der Beschaffenheit des Malgrundes und der Form der Höhle: ein zweigeteilter Rotundenfries im Saal der Stiere, Reihendekoration im Längsgang, kreisförmig an seiner Deckenwölbung angeordnete Rinder und ein „stürzendes“ Pferd am Ende der Galerie, kleine ungeordnete und einander überlagernde Gravuren in Apsis und Quergang, Malereien und Gravurmalereien im Schiff, schwarze Zeichnungen im Brunnen (Szene Mensch und Bison), schließlich die verflochtenen Gravuren im engen Gang der Katzen. Mit anderen Worten: eine Höhle von 250 m Länge, dekoriert mit großartigen Bildern in der Nähe des Eingangs, einem Gewirr von Gravuren in einem Seitenflügel, weiteren gravierten und/oder gemalten Friesen und zwei kleinen Galerien, von denen eine nur bemalt, die andere bemalt und graviert ist. Auf den Wänden berühren oder überlagern sich die Tiere ganz oder teilweise, ohne Rücksicht auf Proportionen und oft ohne erkennbaren Zusammenhang, sieht man von den wenigen ethologischen Darstellungen ab: Bisons Kruppe an Kruppe, kämpfende Steinböcke, Gruppen von Hirschen und Steinböcken. Die einzige erzählende Darstellung ist jene in der Tiefe des Brunnens: ein liegender Mann vor einem sterbenden Bison, ein sehr ungewöhnliches Bild an schwer zugänglichem Ort. Die vielen verschiedenen und komplexen Zeichen fügen sich in das Rätsel ein. Sie finden sich überall und lassen sich in drei Gruppen unterteilen: rechteckige oder ovale Formen stellen wohl weibliche Symbole dar, Strichzeichen (Stäbchen mit oder ohne seitlichen Fortsätzen) dagegen männliche, und über die punktförmigen Zeichen weiß man so gut wie nichts. Manche Zeichen sind charakteristisch für Lascaux und einige wenige Höhlen dieser Zeit (Rechtecke von Lascaux, Gabillou und Villars) und werden als ethnische Merkmale angesehen. Keulenförmige Zeichen, in Lascaux selten, sind dagegen typisch für viele spanische Höhlen. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 61 Doch bleibt die Bedeutung all dieser Zeichen unbekannt, auch wenn man in Lascaux spürt, dass diese Menschen einer Schriftsprache sehr nahe waren. Wären denn unsere gebräuchlichen Zeichen etwa ein von einem Pfeil durchbohrtes Herz, ein Kreuz oder ein Verkehrsschild - für außerirdische Wesen oder die letzten „Wilden“ unseres Planeten verständlich? Weitere Rätsel bleiben ungeklärt: die in Lascaux wiedergegebene Fauna (Pferde, Urrinder, Bisons, Hirsche, Rehe, Steinböcke, Bären, Wollnashörner) entspricht nicht der Jagdbeute der MagdalénienMenschen, wie man sie anhand von Knochenresten rekonstruieren kann: ihre Nahrung bildete vor allem das Ren. Doch unter den rund 600 Malereien und 1 500 Gravuren der Höhle befindet sich nur ein einziges Rentierbild, dessen Ikonographie nicht einmal gesichert ist. Die verbreitete Vorstellung also, bei den Höhlenmalereien handele es sich um einen naiven „Jagdzauber“, ist sicherlich zu einfach. Und neben dem Sichtbaren liegt das Unausgesprochene, das Nicht-Abgebildete. Weder in Lascaux noch in anderen Höhlen findet man Erde, Landschaft, Kleinwild, Bäume, Felsen oder Objekte dargestellt (außer vielleicht einer Lanze in der Szene im Brunnen). Von zwei Ausnahmen abgesehen, die von Lanzen durchbohrte Tiere zeigen, scheinen die gemalten Lebewesen keine Blessuren zu erleiden. Lascaux war eine viel besuchte Kultstätte: viele gefundene Gegenstände, darunter allein rund hundert Lampen, die Beschaffenheit des Bodens, Spuren reger Benutzung an den gravierten Wänden zeugen davon. Die Künstler richteten sich bequeme Arbeitsstätten ein: Klettermasten und selbst Spuren von Baugerüsten haben sich erhalten, und die Passage, in der sie im Sitzen malen mussten, war mit Gräsern und Johanniskraut bedeckt. Die Kunst von Lascaux stand im Dienst einer organisierten und kollektiven Religion, nicht dagegen marginaler und individueller Magiepraktiken. Man hat nicht aufgehört, im Zusammenhang mit dem Höhlenkult von schwarzer Magie zu reden, und Andre Leroi-Gourhan hat dazu treffend bemerkt, dass es vielen nützlich sei, „in Worten ohne genaue Bedeutung eine Präzision zu suchen, die dem Sachverhalt nicht angemessen ist“. Lascaux gleicht weit eher einer Kathedrale mit Haupt- und Seitenschiffen als einer rauchigen Zauberhöhle. Doch schließen religiöse Motive weder ästhetische Voreingenommenheiten noch magische Hintergedanken aus, wie unser gotischen Kathedralen zeigen. Lascaux in seiner überaus mannigfaltiger und doch einheitlichen Bilderwelt erscheint uns heute als das Werk einiger religiöser Berufskünstler, die einer oder mehrerer Familien entstammten, während einer oder mehreren Generationen. EIN ERLOSCHENES THEATER Seit der Entdeckung der Höhle im Jahre 1940, insbesondere bei den Erdaushebungen für die Installation einer Ventilationsanlage, wurden zahlreiche Gegenstände gefunden und gesammelt. In Lascaux wurde jedoch nie systematisch gegraben (außer im Brunnen), und der Ausbau hat den Boden durchgewühlt. Die Objekte bilden ein gewaltiges Durcheinander und sind heute auf diverse Sammlungen verteilt, doch konnte ihre Gesamtheit dank der Beharrlichkeit Arlette Leroi-Gourhans untersucht werden. So können wir das Leben der Künstler und prähistorischen Besucher von Lascaux nachzeichnen. Die Höhle war keine Wohnstätte, doch sind gleichwohl auch Gegenstände des Alltags gefunden worden, die vor allem im Sand nach und nach von einer Sedimentschicht bedeckt wurden. So entstand nur eine einzige archäologische Schicht, im Gegensatz zu den sich überlagernden Schichten in lange Zeit bewohnten Abris. Diese Schicht ist homogen und von einigen Zentimeter © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 62 Sand, Kiesel oder Kalkspat geschützt. Die Höhle wurde kurz nach dem Abzug der Menschen des Magdalénien durch den Einsturz des Eingangsgewölbes abgeschlossen. Die Gegenstände gehörten den Künstlern selbst, wie wir aus zwei Gründen wissen: die Schicht enthält Werkzeuge und Materialien, deren sie sich bedienten (Feuerstein, Pigmente, Paletten, Mörser). außerdem sind einige dieser Objekte mit den gleichen Zeichen dekoriert, die auch die Wände von Lascaux zieren (Doppelwinkel an einer Lampe und Pfeilspitzen, ein sechsarmiger Stern auf einer Lanze). Die Feuersteinwerkzeuge entsprechen den im Magdalénien gebräuchlichen Techniken, desgleichen die sparsam dekorierten Lanzen. Pollen und Pflanzenreste, die man in der gleichen Schicht fand, belegen eine Erwärmung des Klimas (Zwischenzeit von Lascaux), während man das Alter der gleichzeitigen Holzkohlenreste mit der Radiokarbonmethode auf 17 000 Jahre bestimmen konnte. RÜCKBLICK Versuchen wir zu rekonstruieren, was in Lascaux geschah. Die Lampen, deren Fettgeruch ständig in der Luft Geräte des Magdalénien: Bohrer mit Kratzer, lag, spendeten nur ein flackerndes Licht, das jedoch Spitzklinge, Bohrer mit Kratzer, Bohrer Arbeit und Fortbewegung in der Höhle ermöglichte. Eine der Lampen in der Form eines dicken Löffels ist aus sehr fein bearbeitetem rotem Sandstein, der aus der Gegend der heutigen Corrèze stammt, eine andere ist ein kleiner Block aus lokalem Kalkstein, in den mit einem Feuerstein eine kleine Mulde geschlagen wurde. Diese Lampen funktionierten ähnlich wie die alten Öllampen, deren pflanzlicher Docht als geschlossener Kreis durch das schmelzende Fett gespeist wird. Die meisten der weiteren mehr als 100 Lampen sind einfache Kalkplatten in der Größe von ein oder zwei Händen. Sie sind von Natur aus flach oder leicht ausgehöhlt, und brauchten kaum bearbeitet zu werden. Ihre Verbrennungsspuren (rote oder geschwärzte Oberflächen) und Experimente haben gezeigt, dass sie wie eine Kerze funktionierten: ein Stück Talg diente als Brennmaterial, aus kleinen, rasch verkohlenden Zweigbündeln fertigte man Dochte, die im heißen Fett getränkt wurden. Dieses selbstgenügsame System (die Flamme schmolz das Fett, das seinerseits den Docht speiste) spendete etwa soviel Licht wie eine Kerze. Die Dochte waren meist aus Wacholderzweigen, wie Analysen der karbonisierten Partikel ergeben haben. Gravieren bedeutete das Einschneiden der grobkörnigen, sandigen Wände mit Hilfe von Feuersteinklingen. Der Schnitt gab eine feine Kerbe, die heute mehr oder weniger abgestumpft ist. Man verwendete keine Werkzeuge, sondern einfache Klingen. Einige von ihnen (27 von 403) tragen davon noch an einer oder mehreren Seiten Abnutzungsspuren, wie sie beim Reiben von Feuerstein an Sandsteinwänden entstehen. Werkzeuge wie Schaber, Stichel oder Bohrer zeigen sonst keine derartigen Spuren, mit Ausnahme eines Stichels. Einige Klingen haben die Form gleichschenkliger Dreiecke, andere waren mit einem Stiel versehen und zeigen noch Reste eines Kitts aus Harz und Ton. Der Gebrauch, den man von diesen Klingen in Lascaux machte, ist unbekannt. Die Maler extrahierten die Pigmente aus dem Boden der Höhle oder der Umgebung. Man hat eine erhebliche Menge farbiger Pulver und mehrere Dutzend kleiner Pigmentklumpen gefunden. Streifen belegen, dass letztere als "Pastellfarben" verwendet oder zu Puder zerrieben wurden. Eisenoxide lieferten alle Rottöne (Hämatite), von gelbrot bis zu tiefem braunrot. Gelbe Farben wurden aus Lehm gewonnen, von blassgelb bis tiefbraun. Magnesiumdioxid, Eisenoxid und Steinkohle gaben Grautöne, von olivgrau bis schwarz, Kalkpulver lieferte das Weiß. Die Mineralien wurden mit Sand © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 63 und Ton gemischt, mit dem Mörser zerkleinert und mit Wasser gebunden. Die Farben wurden mit den Fingern, mit Haar- und Faserpinseln oder mit Lappen aus Leder auf die Wände aufgetragen. Das Zerkleinern der Pulver im Mund oder in Knochenröhren, wovon in Führungen gerne die Rede ist, wurde gewiss nicht häufig praktiziert. Derart ausgerüstet standen die Maler vor den beleuchteten Wänden. Doch befinden sich die Bilder von Lascaux meist außerhalb der Reichweite der Hände. So wurde wohl eine hölzerne Zwischendecke über dem Boden des Querganges eingezogen, deren Spuren (Löcher für Balkenträger oder Stützen) man an den Wänden fand. In anderen Gängen haben die Künstler Stämme oder Leitern verwendet. Diese verschiedenen Gerüste waren gewiss solide, aus Eiche, wie man mikroskopisch festgestellt hat. Es ist möglich, mit Feuersteinwerkzeugen bis zu 10 cm dicke Stämme zu schneiden. Spuren einer Kordel hat man gleichfalls gefunden. Man weiß nichts Genaueres über die Kleidung der Menschen von Lascaux, doch kennt man manches, was sie auf dem Leib getragen haben. Schmuck fertigte man aus Fossilien (aus Muschelkalk der Region oder Stätten im Südosten) und Schnecken (von Atlantikküste und Mittelmeer, wo sie gesammelt und von Stamm zu Stamm weitergegeben wurden), die manchmal für eine Aufhängung durchbohrt wurden. Die Freude an Schmuck und Sammlung war nicht neu: schon der Neandertaler kannte sie. Vielmehr verblüfft uns eine Muschelimitation aus Stein, mit gravierten Rillen geschmückt: ein Vorläufer heutiger Schmuckimitationen. Ein längerer Aufenthalt in der Höhle machte Mahlzeiten erforderlich, und so hat man Knochenreste im Schiff und im Längsgang gefunden. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle handelt es sich um Rentierknochen, rar hingegen sind Reh, Wildschwein oder Hase, noch seltener Pferd oder Hirsch, und Knochen von Rindern finden sich gar nicht. Die verzehrten Rens waren Jungtiere (1 bis 3 Jahre alt) und wurden zu Beginn des Winters erlegt, als die Herden aus den Höhen des Massif Central an die Ufer der Vézère zurückkehrten. Genaueres wissen wir nicht, und der Prähistoriker lehnt es ab, seine Fantasie ausschweifen zu lassen. Wir fragen also vorläufig nicht weiter, warum man so viele zerschlagene Lanzenspitzen in Lascaux findet, mit Gravuren von Doppelwinkeln, einem sechsarmigen Stern, einem verlängerten Andreaskreuz oder einfachen Linien dekoriert. In diesen Rillen (ebenso in den Windungen einer Schnecke) überdauern Spuren von roter Farbe aus dem Gebrauch der Künstler, oder vielleicht war es das rote Ocker, das Felle und die Haut der Menschen färbte. Die Objekte aus Lascaux ermöglichen also die Kenntnis der Techniken von Malern und Graveuren (andere Höhlen bieten hierfür selten Indizien). Dank dieser Spuren weiß man um den graphischen Stil und die geometrischen Zeichen dieser Zeit. Vor 1940 hatten die Prähistoriker noch keine Vorstellung davon, denn man kannte nichts derartiges, und die wenigen gleichzeitigen geschmückten Höhlen (Gabillou, Villars und der Eingang von Saint-Cirq) wurden erst nach Lascaux entdeckt. VIER JUNGEN UND EIN HUND Die wundersame Entdeckung von Lascaux ist oft erzählt worden. Wir verdanken sie der Beharrlichkeit eines 17jährigen Jungen aus Montignac. Am 8. September 1940 entdeckte er mit drei Kameraden und einem Hund einen kleinen Erdsturz oberhalb seiner Heimatstadt, der sich unlängst durch den Fall eines kräftigen Baumes aufgetan hatte. Einige Tage später, am 12. September, kam er dorthin zurück, um sich auf dem Schutt- und Kieselkegel in die Öffnung gleiten zu lassen, diesmal mit einer Petroleumlampe und einem großen Messer ausgerüstet, zwei Stücke aus eigener Herstellung. Drei weitere Jungen begleiteten ihn (Georges Agnel, Simon Coencas und Jacques Marsal). Er purzelte hinab und fand sich an dem Ort wieder, den wir heute den Saal der Stiere nennen, die drei anderen folgten ihm. Etwa 20 Meter weiter, im Längsgang, stießen sie im flackernden Licht ihrer Lampe auf die ersten Malereien. Von hier aus folgte Entdeckung auf © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 64 Entdeckung, und am nächsten Tage, einem Freitag den 13., kletterte bereits Marcel Ravidat an einem Seil in den fünf Meter tiefen Schacht hinab, den wir „Brunnen“ nennen. Der Lehrer der Jungen, Leon Laval, wurde einige Tage später verständigt. Kurz darauf traf auch der Abbé Henri Breuil ein, den man damals als den „Papst“ der Vor- und Frühgeschichte ansah, gefolgt von weiteren Wissenschaftlern und Schaulustigen. Trotz dieses Ansturms gab es dank der gewissenhaften Aufsicht der Jungen keine Schäden in der Höhle zu beklagen, und die meisten erreichbaren Gegenstände konnten in Sicherheit gebracht werden. Die ersten Beschreibungen der Wände stammen von F. Windels und A. Laming-Emperaire, denen diejenigen des Abbé Henri Breuil folgten. Sie behandelten vor allem die Malereien. Eine erste Gesamtstudie über die Höhle besorgte A. Leroi-Gourhan. Doch mussten weitere vierzig Jahre vergehen, ehe durch A. Glory die erste Gesamtpublikation der Graphiken erschien (eine exakte Kopie von 1 500 Graphien auf 115 m Papier), kommentiert von D. Vialou. Eine interdisziplinäre Forschergruppe, in der wir alle gemeinsam unter der Leitung von Arlette Leroi-Gourhan arbeiteten, befaßte sich mit der Geologie und Stratigraphie der Höhle, Sedimentanalysen (Radiokarbon, Holz, Pollen), den Resten von Feuersteinen und Knochen, Lampen und Muscheln, der Fauna, den Farben und dem Zugang zu den Wänden. Dies war die eigentliche wissenschaftliche Erforschung der Höhle. PFADE DES RUHMES Lascaux, eine geschlossene, absteigende Höhle, von leichtem Luftzug durchweht, kam 1940 plötzlich abrupt mit der Außenluft in Kontakt. Die touristische Erschließung brachte seit 1948 während 15 Jahren rund 1 Million Besucher in die Höhle. Man glaubte, alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Malereien ergriffen zu haben. Als 1955 einige farbige Wassertropfen vom Gewölbe des Längsganges fielen, installierte man ein Ventilationssystem. Doch führten diese 1958 abgeschlossenen Arbeiten zu keiner Verbesserung. Zur gleichen Zeit bemerkte M. Ravidat die ersten Anzeichen der „grünen Krankheit“, die sich in der feuchtwarmen Luft und bei fast ununterbrochener Beleuchtung ausbreitete. Die Höhle musste 1963 geschlossen und dekontaminiert werden, was nicht ohne Verluste durchgeführt werden konnte Nun wurde eine "weiße Krankheit" diagnostiziert: durch den Anstieg der Temperatur, der Feuchtigkeit und der Vermehrung von Kohlendioxid bildeten sich Kalkspatkristalle, die im Laufe der Zeit die Malereien gänzlich zu bedecken drohten. Die Höhle wurde gegen äußere Einwirkungen isoliert, und nach langen Experimenten fand man ein einfaches Heilmittel: Abkühlung der Höhle durch einen Kaltpunkt am Eingang, der die Kondensation hier anstatt an den Wänden begünstigt, Evakuierung des Kohlendioxids und des infiltrierten Wassers. Die Konstanthaltung von Temperatur, Luftfeuchtigkeit und CO & Gehalt erlaubt nur einen täglichen Besuch von fünf Personen. Man hofft, dass mit diesen Maßnahmen die Höhle dauerhaft erhalten werden kann. Der Schließung der Höhle für den Touristenbesuch folgten Faksimile- Reproduktionen ihrer Malereien. 1980 rekonstruierte man den Saal der Stiere durch Transfer von Fotographien auf ein Modell in natürlicher Größe, das gegenwärtig im prähistorischen Museum von Saint-Germain-enLaye gezeigt wird. 1983 wurde Lascaux II eröffnet, ein Gesamtfaksimile direkt neben der Höhle. In einen gewaltigen Betonbunker hat man exakt die Innenräume von Lascaux modelliert. Auf diesem rekonstruierten Grund haben die Maler mit äußerster Genauigkeit und den Materialien der Magdalénien- Künstler alle Figuren und Zeichen reproduziert. Dieser klimatisierten Anlage ist ein kleines Museum vorangestellt, in dem wir die archäologische und historische Umgebung, Elemente der Datierung und die wichtigsten graphischen und stilistischen Formen präsentiert haben, um Lascaux besser verstehen zu können. Einige Kilometer entfernt werden im Prähistorischen Zentrum von Le Thot die Etappen der Errichtung von Lascaux II und eine Kopie der Brunnenszene gezeigt, daneben lebende Tiere (Pferde, Auerochsen, Bisons und, vielleicht demnächst, Rentiere und Steinböcke. Wir wollen hier © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 65 nicht Lascaux mit seinen Nachbildungen vergleichen. Stellen wir nur einfach fest, dass Lascaux II und Le Thot gemeinsam dem Besucher heute weitaus reichere und besser präsentierte Informationen bieten als einstmals ein Besuch der authentischen Höhle von Lascaux. Brigitte et Gilles Delluc, C.N.R.S.8, Musée de l'Homme, Paris. (Der Bericht wurde wörtlich übernommen, auch einige Bilder. Weitere, den Text ergänzende Bilder entstammen dem Buch von Rudolf Drößler „Kunst der Eiszeit – Von Spanien bis Sibirien“, Verlag Koehler & Amelang, Leipzig 1980) Lascaux, Längsgang: Ansicht der Decke in Richtung auf den Saal der Stiere. Rechts ein großer schwarzer Stier, ein Pferd und ein Zeichen Ich entsinne mich, dass es zum Ausgang hin recht eng wurde. Natürlich hat man nur Stiersaal und Längsgang sowie einen Teil vom „Brunnen“ nachgestaltet. Ich verlasse die Höhle aber mit dem Gefühl, ein echtes Stück Kulturgeschichte leibhaftig gesehen zu haben: Künstler der Eiszeit und Künstler der Neuzeit haben sich über 17 000 Jahre die Hand gereicht und Großartiges geschaffen! Wir hatten es hier schon mit Menschen der Art homo sapiens sapiens, den „Jetztmenschen“ zu tun, im Gegenteil zu den „Altmenschen“ der Art homo sapiens neandertalensis, die durch ihn verdrängt wurden. XII. Sarlat P ünktlich 14.30 Uhr saßen wir wieder im Bus. Welche Eindrücke heute schon: Beynac, La Roque Gageac, Préhistoric Parc, Lascaux. Kann ich noch mehr verarbeiten? Wir fahren in den Hauptort des Périgord Noir, nach Sarlat. Eine Stunde Fahrzeit. 15.30 Uhr landen wir nach einer unfreiwilligen Runde in der verkehrsreichen Kleinstadt - weil Knut wieder einmal nichts fand – auf einem kleinen Parkplatz direkt neben der historischen Altstadt. Wolkenloser Himmel beschert uns eine recht hohe Temperatur, obwohl ein frischer Wind weht. 8 C.N.R.S. = Centre national de la recherche scientifique, Staatliche Zentrale für wissenschaftliche Forschung © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 66 Zwei Stunden bekommen wir Zeit, um Sarlat, die Hauptstadt des Périgord Noir kennen zu lernen. Und wir stürzen uns hinein in das nachmittägliche Gewühl dieses wunderbaren Ortes. Wie die Spürhunde liefen wir erst einmal mit Peter Großer, um im Office du Tourisme nach Stadtplan und Prospekten zu suchen, immer der erste Gang für mich in einer fremden Stadt. Das war schnell erledigt. Mit dem Plan in der Hand nahm ich meine Martina und machte mich mit ihr selbständig. Natürlich befasste ich mich nicht sofort mit der Geschichte dieser Stadt, sondern erst später: EIN KURZER ÜBERBLICK ÜBER DIE GESCHICHTE DER STADT SARLAT soll schon in der galloromanischen Zeit bewohnt gewesen sein, wurde jedoch erst Ende des achten Jahrhunderts unter Pippin dem Kurzen und Karl dem Großen zu einer aufblühenden Stadt, als die Benediktinermönche dort ein Kloster gründeten. Im Jahre 937 wurde die Abtei dem Cluny- Orden angeschlossen und schließlich der direkten Obrigkeit des Heiligen Stuhls unterworfen. Als der Heilige Bernard im Jahre 1147 auf dem Rückweg von einem Kreuzzug durch Sarlat kam, vollbrachte er dort das Wunder der heilenden Brote, an das der Sankt- Bernard- Turm, auch Totenlaterne genannt, erinnern soll. Die seltsame Architektur dieses Turms kann man hinter der Kathedrale Saint-Sacerdos, inmitten des ehemaligen, des ersten Friedhofs von Sarlat bewundern. Die Stadt befreite sich recht bald aus der Herrschaft der Mönche (1298) und erhielt, indem sie gegenüber dem französischen König Ludwig VIII. einen Treueid ablegte, das Recht, sich selbst zu verwalten und ihre Konsuln zu wählen. Nach den Normanneninvasionen hatte die Stadt aufgrund ihrer Lage im Grenzbereich zwischen dem englischen und dem französischen Königreich unter dem Hundertjährigen Krieg zu leiden, Von den Konsuln gut befestigt, hielt sie jedoch allen Angriffen stand und fiel erst am Ende des ersten Abschnitts des Hundertjährigen Krieges (1360) durch das Abkommen von Bretigny, demzufolge Edward III. von England als Entschädigung für den Verzicht auf den französischen Thron Südwestfrankreich erhielt, an die Engländer. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 67 10 Jahre später aber vertrieb der Connétable9 du Guesclin die Engländer aus Frankreich, und die Stadt wurde wieder französisch. Wenn auch der Hundertjährige Krieg durch den Sieg von Castillon beendet wurde, so brachten die Religionskriege leider neue Verheerungen mit sich, und die Stadt hatte unter den Ausschreitungen des Ritters de Vivans und des Vicomte de Turenne zu leiden. Unter der Herrschaft von Heinrich IV. erlebte die Stadt dann friedliche Zeiten. Als Sarlat-1317 zum Bischofssitz erhoben wurde, begann man mit dem Bau einer Kathedrale (Kathedrale SaintSacerdos), der Pfarrkirche zur Heiligen Maria und zahlreicher Bürgerhäuser, die heute noch stolz aufragen. Sarlat war im 16., 17., und 18. Jahrhundert eine wohlhabende Stadt, konnte aber dann den wirtschaftlichen Entwicklungen nicht mehr folgen. So lag es fast 150 Jahre lang gleichsam in einem Dornröschenschlaf und erwachte erst vor etwa 30 Jahren wieder zu neuem Leben, nachdem die Straße die anderen Verkehrswege, Flüsse und Eisenbahn, verdrängt hatte. Man darf annehmen, dass zahlreiche Städte in Frankreich ebenso sehenswerte und malerische Gässchen und ebenso schöne Bauten besaßen; aber diese Schätze der Vergangenheit sind nach und nach vom Modernismus zerstört worden, und heute können wir uns glücklich schätzen, dass die Stadt auf so wunderbare Weise durch das Gesetz vom 4. August 1962 (Malraux 10-Gesetz) gerettet wurde. Die Geldmittel zur Durchführung des Sanierungsplanes kamen der Altstadt zugute. So präsentieren sich die alten Fassaden, die durch prächtige Schieferdächer geschützt werden, heute in einem einwandfreien Zustand. In dieser bewohnten und lebendigen Stadt ist die Lethargie der alten Stadtviertel überwunden, und unsere architektonischen Schätze bieten sich dem Besucher so dar, wie die Jahrhunderte sie uns überlassen haben. Zunächst besuchten wir die Kathedrale Saint Sacerdos. Sie bezeugt die Kirchengeschichte des Ortes. Die romanische Kirche der Benediktinerabtei in Sarlat wurde 1317 zur Kathedrale erhoben, als der ehemalige Bischof von Cahors, Papst Johannes XXII., das Bistum Sarlat gründete. Dieses Bistum existierte bis 1790. Im Jahre 1505 gab der damalige Bischof den Auftrag, eine neue Kathedrale zu errichten. Doch fehlendes Geld, Kriege, Epidemien unter der Bevölkerung unterbrachen den Bau. So wurden die letzten Rundbögen erst im 17. und der zwiebelförmige Glockenturm sogar erst im18. Jh. fertig. Der Chor dagegen wurde 1686 vollendet. Er hat die Form eines Fünfeckes. Das Gewölbe besteht aus sechs Spitzbogenrippen mit zentralem Schlussstein. Ein Wort muss noch zum „Namensgeber“ der Kirche gesagt werden. Der heilige Sacerdos ist der Stadtpatron. Er wurde in Calviac geboren und studierte in der bischöflichen Schule von Cahors. Später trat er in den Orden ein und wurde bald Abt. Während dieser Zeit heilte er Kranke. Kurz nach seiner Wahl zum Bischof von Limoges starb er 720. Sein Leichnam wurde zunächst im Kloster von Calviac beigesetzt, zwei Jahrhunderte später nach Sarlat überführt. 9 Le Connétable, von lat.comes stabuli, frz. « comte de l’ étable » 1. Erster Offizier des Königshauses, 2. Titel des kommandierenden Generals der Armeen von 1219 bis1627, 3. Großer Würdenträger des Großen Kaiserreiches Frankreich, 4. Titel, gegeben den Gouverneuren von befestigten Städten 10 André Malraux (1901 – 1976), franz. Schriftsteller und Politiker, war von 1959 – 1969 Kulturminister Frankreichs © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 68 Seltsame dickbauchige, aufgedunsene Skulpturen zieren an vielen Plätzen den öffentlichen Raum. Sicher stellt sich ein Künstler in diesem Sommer seinem Publikum. Bildhauer haben es schwer, ihre Werke zu publizieren. Aber das ist jetzt nicht das Ziel, sich damit zu beschäftigen. Am Cour des Fontaines gäbe es zu naschen: Seit mehreren Jahrhunderten fließt aus drei Hähnen sehr reines Wasser. Der „Brunnenhof“ liegt im Stiftsherrenhof. Um diesen Brunnen siedelten die Mönche vom achten Jahrhundert an. Noch bewundere ich das Innere der Kirche, die vielen Stilrichtungen, die die Epochen den Baumeistern ihr Denken und Handeln beeinflussten. Die Kirchenfenster lumineszieren im Nachmittagslicht. Eines zeigt zwei Episoden des heiligen Sacerdos. Sarlat, Cour des Fontaines Wir wandten uns nun einem kleinen Stadtrundgang zu, einen breiten Weg eine Anhöhe hinan. Ein runder Turm mit steilem spitzem Kegeldach fiel mir auf. Er zierte ein stilles Stück Erde, den Jardins des Enfeus, den Gräbergarten. Der Turm heißt die Lanterne des Morts, die Totenlaterne, auch Tour Saint-Bernard genannt. Es ist ein eigenartiges Gebäude, hat einen Rundbogen auf romanischen Säulen im Eingang. Sein ‚Verwendungszweck ist umstritten. Ich hielt ihn für eine Leichenkapelle. Im 17. Jahrhundert wurde er „Fanal“ genannt. Dann waren wir der Stadtmauer sehr nahe, die in einigen Teilen noch original erhalten ist. Wollte ich die Bilder alle schildern, die wir bei unserem Bummel im Hirn abspeicherten - Namen ließen sich Fenster in der Kathedrale rekonstruieren - dann würde wieder Saint-Sacerdos sehr viel Papier beschrieben. Fast goldgelb leuchten die Mauern, von immergrünem Efeu überwuchert. Herrlich verschnörkelte Laternen sitzen am Ende zierlicher Eisenkonsolen, die aus der Mauer ragen. Altes Kopfsteinpflaster haben wir unter den Güssen. Idyllisch gelegene Restaurants bezaubern uns. Ihre eigentümlichen Aushängeschilder werben für foie gras, die berühmte Gänseleberpastete. In den Gassen nahe der Stadtmauer ist es still und menschenleer. Alte Gebäude aus dem 15. und 16. Jahrhundert haben die Zeiten überdauert. Uralte Holztüren sind noch im Gebrauch. Lustig finde ich improvisierte Sarlat, Lanterne des Morts Klingelzüge, die die ersten Erbauer noch nicht kannten. Vor der Sonne schützende Leinwand dämpft das Licht und taucht die Freisitze vor den Restaurants in den kleinen Gassen in wundervolles Gelb. Die eng gegenüber stehenden Mauern geben wohl tuenden Schatten. Ich schaue zu den Dächern der alten Häuser auf. Dass sie noch in ihrer ursprünglichen Bauweise erhalten sind, ist auch eine Auswirkung des Malraux- Gesetzes von 1962 mit seinem Pilotprojekt zum Schutze einer kompletten Stadt aus dem Mittelalter. Hier sehe ich die seltenen, aus dicken Platten bestehenden Schieferdächer. Sie sind sehr steil, damit die hohen Lasten von mehr als 500 kg/m2 schnell auf die Mauern abgeleitet werden. Wir gelangen auf die Place de la Liberté, den Freiheitsplatz. Er wird dominiert von der Kirche SaintMarie. Das ist eine ehemalige Pfarrkirche, erbaut von 1368 bis 1479 im Stil der südfranzösischen Gotik. Mit der Französischen Revolution wurde sie säkularisiert und fiel in staatlichen Besitz. Die Apsis wurde zerstört. Heute existieren nur noch Teile des Kirchenschiffes, Seitenkapellen und Reste eines mächtigen Turmes mit Wasserspeiern. Mir fielen die gewaltigen Türen auf, die erst im Jahre © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 69 2000 eingeweiht wurden und von dem bekannten Architekten Jean Nouvel (Oper Lyon 1993) stammen. Eine flache Treppe führt zum Alten Rathaus hinauf. Auf der Steinbrüstung hockt ein nachdenklicher junger Mann aus Bronze. Sinnend blickt er auf das bunte Gewimmel der sommerlich gekleideten Menschen da unten. Wir steigen langsam die podestartigen Stufen hinauf und schlendern weiter. Ich nehme meinen Stadtplan. Wir folgen der Rue des Consuls, an der die berühmtesten Häuser von Sarlat stehen, allen voran das Maison des Consuls. Alle Häuser haben viele Jahrhunderte überdauert. Einige sind aus dem 14., dem 15. oder 16. Jahrhundert. Ockergelb leuchtet ihr Sandstein im Licht der späten Nachmittagsonne. Immer wieder bin ich ergriffen von diesem Licht. Wir erreichen die breite Rue de la République, die Hauptverkehrsader der Altstadt. Sie ist im Juli bis August von 11 Uhr mittags bis Mitternacht zur Fußgängerzone erklärt. Sie schneidet als Sekante die Altstadt in zwei ungleiche Teile. Eine Menge Geschäfte locken zu Einkehr und Umschau. Mich zieht es in die engen Gassen jenseits dieses knapp 400 m langen Boulevards. Dort ist es still, sie atmen den Geist der Vergangenheit. Das Licht spielt mit den Mauern Verstecken, durchglüht Laternen, lässt sie ohne Strom brennen. Eine Katze läuft vor uns davon. Interessant sind die steinernen Fensterkreuze, die vielfach geteilten Fensterscheiben, das alte Fachwerk, Holzbalkone, die Schieferdächer. Efeu klettert an der Mauer empor, Blumenranken fallen aus den Kästen auf die Fassaden, hängen aus Töpfen und verschönern alles mit anderen Farben. Es sind Bilder des Friedens. Es geht etwas aufwärts, durch ein Tor der alten Stadtmauer hindurch und noch ein Stück weiter; oben braust von weitem der Verkehr auf der südlichen Umfahrungsstraße, dem Boulevard Eugène le Roy. Doch der Plan rät, wieder die nächste Gasse zurück zu wählen. Sie führt auf die Rue JeanJacques Rousseau, die wir nun entlang wandern, um am Ende wieder über einige kleine verträumte Plätze zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Am liebsten wäre ich in ein kleines Antiquariat eingetaucht, das am Wege lag und in den Bücherkästen gekramt. Mein Französisch ist zwar recht mangelhaft, doch die alte Folianten, abgegriffen, in unansehnliches Leder gebunden, manche zweihundert Jahre alt, die haben Generationen überlebt, sie sprechen von der Vergangenheit. Vergilbte Fotos aus der Gründerzeit, Xylografien …Friedhöfe erzählen viel aus alten Zeiten und- Bücher. Alle haben sie einen Besitzer gehabt, der mit ihnen alt geworden ist. Schließlich haben sie ihn überlebt. Ein nächster stellte sie in seinen Bücherschrank. Manches Buchschicksal war es auch, im staubigen Regal eines Antiquars Jahrzehnte zu verdämmern. Fachliteratur ist darunter über heute vergessenes Handwerk, alte Kochbücher, belehrende Haushaltbücher für die jungen Mädchen und einst populäre „Doktorbücher“, die immer vor den Kindern unter Verschluss gehalten wurden wegen der ausklappbaren Bilder, sündhaftes erstes Aufklärungsmaterial. Das ist in Frankreich nicht anders als bei uns gewesen. Und das alles zu entdecken und dem nachzuspüren… Der Strom der Passanten nahm uns wieder auf. Der Zauber der stillen Gässchen war vorbei. Wir trafen nun auch bekannte Gesichter aus unserer Gruppe. Die Auslagen eines Delikatessengeschäftes warben neben anderen Köstlichkeiten für foie gras und miel de pays. Wir verkniffen es uns, etwas zu kaufen, wurden wir doch gut verpflegt. Das Gepäck war schwer genug. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 70 Ein besonderer Laden zog mich dennoch hinein. Martina hatte auch Interesse: „Maison de l’Artisanat“11. Dutzende Besenhexen schwebten und baumelten draußen vor der Türe in der Luft und lockten die Vorbeigehenden ins Innere. Puppen aller Art und Größe waren zu haben, Handpuppen, Fingerpuppen, wunderbare Einzelstücke, komplette Requisiten für Märchenaufführungen für das heimische Kaspertheater, sofern man noch Kinder in dem Alter hätte. Puppen lachten uns an, für den Setzkasten im Miniformat bis hin zu den stillen Bewohnern der Sofaecke in natürlicher Größe- ein seltener Schatz für den speziellen Sammler. Wir waren für einen Moment selbst Kinder. Martina konnte nicht widerstehen, als sie an einem Laden mit allerlei Weibertrödel bunte Schaltücher sah. Immer hat sie etwas für ihre Bekleidung im Sinn, wonach sie gerade ausschaut. Diesmal suchte sie nach einer ganz bestimmten Farbe für ein Schaltuch, einen einzigartigen Melange- Orangeton. Ihr Motto: Ton in Ton. Hier schien es zu klappen. Natürlich kostete das wertvolle Zeit, die ich ihr aber kulanterweise opfern musste, schloss sie sich ja sonst immer mir unverdrossen an, wenn ich auf dem Kulturtrip war. Der Kauf wurde nach langem Zögern, Probieren, Verwerfen, mich fragen, wieder probieren, Spiegel suchen, drehen und wenden, wieder zurückhängen, aus Unentschlossenheit nach anderem suchen Blusen, Röcke, Schmuck - dann wieder zu den Schals zurückkehren…Ich musste ein Machtwort sprechen. Dann entschloss sie sich, nachdem ich ihr gut zugeredet hatte und den Kauf schließlich spendierte. Das heißt nicht, dass sie geizig ist, aber ehe sie sich entschließen kann… Auf der Place de la Grande Rigaudie, was immer dieser Name bedeutete, trafen wir alle wieder zusammen. Links verschloss der Justizpalast die Sicht, ansonsten flutete hinter einer Allee von Platanen der schon abendliche Verkehr. Was an diesem Tage noch blieb, war die Fahrt ins Quartier Richtung Rocamadour. Sie führte hinüber in das Nachbar- Département 46 Lot in der Region Midi-Pyrénées. Ihr Hauptorte sind Cahors, Sitz der Verwaltung und Figeac, Sitz einer Unterpräfektur, beide am Lot gelegen, der seine Wasser nach 481 km in die Garonne ergießt. Mit etwa 30 Einwohnern pro Quadratkilometer ist dieses Département relativ dünn besiedelt. Vor allem im Norden, den die Dordogne schneidet, liegen eine Reihe bemerkenswerter sehenswerter Plätze. Unser morgiges Ziel ist Rocamadour. Bei Souillac überqueren wir im Abendlicht die Dordogne. Ich fotografiere aus dem Bus heraus eine steinerne Bogenbrücke über diesen wilden Fluss. Der helle Sandstein strahlt in der schrägen Sonne und wirft orangene Schatten in die Wellen. Neben der Straße blüht lilafarben später Lavendel. Die Landstraße wird immer enger. Wir überqueren den Fluss über eine seltsame einspurige Stahlbrücke. 11 Haus des Handwerks © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 71 Unser heutiges Quartier liegt an der Landstraße kurz hinter dem kleinen Dorf Garenne. Wir dürfen kurz aussteigen, als wir an einer großen Schar Gänse vorbeifahren, die mit aufgeregten Gegacker die vielen und Angst machenden Besucher mit ihren Fotoapparaten und Videokameras quittierten. Einige Ganter gingen zum Angriff über, doch ein Zaun trennte die Parteien. Das sind also die wahren Erzeuger der in aller Welt berühmten Pastete „foie gras“! Eigentlich können sie einem leidtun. Ich gehe aber davon aus, dass nicht nur ihre durch intensives Stopfen und definitive Mast vergrößerten Lebern, sondern auch die anderen Teile dieser Nutztiere verwertet werden. Sie fühlen sich offensichtlich wohl, haben freien Auslauf und einen Fernblick in die weite Landschaft, wo gerade im Abenddunst die Kalkfelsen, grünen Hänge und mit Châteaux bebauten Bergkuppen das letzte Licht abstrahlen. Den Gänsen scheint aber gerade dieser Komfort überhaupt nicht zu imponieren. Ein runder Wassertrog ist anziehender. Um ihn versammeln sie sich und schnattern sich die verschiedenen Ansichten über diese wildfremden Menschen in bewegten Posen einander zu. Plötzlich hält Knut, biegt rechts auf eine freie Parkfläche und hält vor einem Motel. Über seinem Eingang lese ich „Auberge de la Garenne“. Wir bekommen ein Zimmer zugeteilt und erwarten ein pompöses Abendessen, auf das ich mich schon sehr freue: Cassoulet. Wer meinen Bericht „Tour de France 2003“ nicht gelesen hat, für den wiederhole ich noch einmal das Rezept, wie es im überlieferten Ursprungsort angezeigt wird: Rezeptur des Cassoulets der Großen Bruderschaft vom Cassoulet von Castelnaudary (Für 4 Personen) 350 g bis 400 g trockene Blöcke weiße Bohnen 2 Lenden von der Ente oder einer Gans (die je in zwei Teile geschnitten werden) 4 Stücke von 80 g Würste vom reinen Toulouser Schwein 4 Stücke von 50 g Fleisch vom Schwein; Kniekehle, Schulter oder Brust wenigstens 250 g von Schwarte von Schwein, deren Hälfte nach Kochen für die " Montage " des Cassoulets angewandt werden wird, ein bißchen salziger Speck, und nach Geschmack, ein Löffel einer Suppe von Tomatenkonzentrat für die Bouillon: ein Geflügel- Panzer, wenn man ihn im Voraus hat, einige Knochen vom Schwein, wir salben es ein, Karotten. Der Vorabend: die Bohnen eine Nacht im kalten Wasser wässern lassen. Nächsten Tag, dieses Wasser wegwerfen und die Bohnen in eine Pfanne mit 3 Litern von kaltem Wasser legen. Während 5 Minuten zum Aufkochen zu bringen. Feuer zurückzuziehen und das Wasser wegwerfen. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 72 Die Bouillon vorzubereiten: Geben Sie 3 Liter von nicht-kalkhaltigem Wasser in eine Pfanne, die geschnittenen Schwarten in breitem Riemen, der Geflügel-Panzer, die Knochen von Schwein, die Zwiebeln und die Karotten. Salzen und pfeffern. Während einer Stunde zu kochen. Diese Bouillon filtrieren und die Schwarten zurückzuholen. In diese filtrierte Bouillon die Bohnen legen, kochen, bis sie biegsam werden, aber ganz bleiben, ungefähr 1 Stunde. Während des Kochens der Bohnen, die Fleischteile vorbereiten. In einer dicken Schmorpfanne-, dann die Stücke von eingemachtem Fett befreien, sie zu reservieren an kleinem Feuer lassen. Im übrigen Fett dann die Stücke Würste braten, sie zu reservieren zu lassen. Danach die Stücke Schwein braten lassen, bis sie gut goldbraun werden und sie mit den anderen Fleischteilen reservieren. Das Fett bewahren, das im Innern der Pfanne ist. Die Bohnen trockenlegen, aber die kochende Bouillon warm halten. Zusammen einige Knoblauch-Schoten und den zerkleinerten Speck den Bohnen hinzufügen. In diesem Stadium einen Löffel Suppe von Tomaten- Püree hinzufügen. Dann das Cassoulet hinaufbringen. In einer Tonschüssel den Boden mit Stücken der Schwarte belegen, hinzufügen der Bohnen, oben die Fleische anordnen, und noch am Sopran der Rest der Bohnen. Danach die Stücke Würste in den Bohnen eindrücken. In Abhang in der Pfanne der warmen Bouillon zu vervollständigen, die richtig die Bohnen bedecken muss. Mit der Mühle die Oberfläche pfeffern und einen Löffel der Suppe des Fetts, die dazu gedient hat, die Fleischstücke zu braten)) hinzufügen. In den Ofen bei 150/160 Grad legen, Stufe 5 oder 6, und 2 bis 3 Stunden kochen lassen. Während des Kochens wird sich eine goldbraune Kruste oben bilden. Man muss sie mehrmals eindrücken, 7 Mal sagten die Fachleute. Wenn die Bohnen hochkommen zu trocknen, fügt man einige Löffel Bouillon hinzu. Wenn das Cassoulet am Vorabend vorbereitet worden ist, muss es im Ofen ungefähr bei 150 Grad während 1½ Stunden aufgewärmt werden. Nicht zu vergessen, ein bißchen Bouillon hinzuzufügen, (falls nicht) einige Löffel Wasser…. Eine blumige Übersetzung. Doch verständlich und für jeden Koch ein Klassiker. Man kann sich denken, dass dieses südfranzösische Nationalgericht einige Mühe macht. Und gerade an diesem Abend muss Martina schlapp machen! Eine Migräne sprang sie an. Sie blieb auf dem Zimmer und konnte nichts essen. Für vier Leute gab es eine Schüssel. Es schmeckte himmlisch, obwohl das schlechte Gewissen bezüglich falscher Ernährung mit am Tisch saß. Ein kleiner Bummel zur Verdauung zeigt hügelige Gegend. Ein fast leer stehendes Schwimmbecken lädt ein, doch mit dem vollen Magen wäre es wohl jetzt nicht besonders zuträglich für die Gesundheit! Als Einziger schwimmt Knut seine Runden und entspannt sich. Wir gehen zeitig schlafen. Dienstag, 21. Juni 2005 XIII. Rocamadour D ie Natur lag im grauen Nebel, als wir 8.30 Uhr starteten. Wir sind im Hoch- QuercySchon gegen 9 Uhr erreichten wir, einer engen Zufahrt durch einen Tunnel folgend, das winzige Städtchen. Es ging beim Einparken des Busses verteufelt eng zu. Ein hilfreicher Kraftfahrer sprang hinzu, räumte Absperrketten und rotweiße Kegel beiseite, um Knut beim Rangieren zu helfen. Durch ein Rundbogentor gelangten wir in das Städtchen. Es ist an einen recht © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 73 steilen Hang gebaut und hat nur Platz für eine einzige Straße. Zum Tal, durch das ein kleines Flüsschen, der Alzou fließt, fällt sie steil ab. Man kann davon ausgehen, dass dieser Ort ausschließlich vom Fremdenverkehr lebt. Darunter ist natürlich jedes Jahr eine erkleckliche Zahl von Pilgern, denn Rocamadour liegt am Jakobsweg. Die einzige Straße war noch menschenleer. Gerade begannen die Geschäfte zu öffnen. Am „Hotel de Ville prangten die Fahnen. Wir bekamen zwei Stunden Zeit, uns umzusehen. Mit Peter Großer becircten wir die Dame des Office de Tourisme, sie hatte noch gar nicht geöffnet und fuhr gerade mit ihrem kleinen Auto vor. Wir schleppten ihr einige Pakete Prospekte ins Büro und bekamen dafür Stadtpläne und Prospekte gratis. Damit ausgerüstet, nahm ich wieder meine Martina und begab mich mit ihr auf Entdeckertour. Natürlich konnten wir wieder nur eine Auswahl treffen und liefen Gefahr, gerade die Hauptattraktionen nicht gesehen zu haben, wenn wir uns alle wieder trafen. Das riskierte ich. Vier Tore schmückten, früher schützten das Pilgerstädtchen. Hinter dem Rathaus führt eine endlose Treppe, die „Escalier des Pélerins“, die Pilgerstiege, hinauf zu den Sanktuarien. Auch ein großer Aufzug ist von der Straßen- bis zur Kirchenebene nutzbar. Noch einmal hoch über der Kirchenebene auf dem Plateau des Felsenmassivs thront ein Schloss. Ein Spruch aus dem Quercy sagt: Die Häuser über den Bächen Die Kirchen über den Häusern Die Felsen über den Kirchen Das Schloss über den Felsen Rocamadour. Die Sanctuarien der Kirchenebene Was hat den Ort berühmt gemacht? „Es war einmal eine kleine Kapelle in der Höhlung einer Felswand…“ Die Geschichte von Rocamadour könnte wie in einem Märchen beginnen, ebenso wahr wie die Ursprünge von Pilgerfahrten, von denen man nichts weiß. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 74 Die zahlreichen in dieser Gegend vorgenommenen Ausgrabungen brachten zum Vorschein, dass das Tal des Alzou seit dem Magdalénien bewohnt war (15000 – 8500 v.u.Z.). Leider ist es nicht mehr möglich, unter der Siedlung Rocamadour und unter den Bauten an den Felsen zu graben. Wenn man sich aber die Lage dieses Tales und dieses gewaltigen Felsvorsprunges über dem Alzou heute anschaut, wird jeder verstehen, dass dieser hervorragende Ort inmitten unfruchtbarer und steiniger Kalkhochflächen, diese Felswand oberhalb des 150 m tiefen Tales, die mystische Einheit des Schönen, zahlreiche Einsiedler im Hochmittelalter angezogen haben muss. Vieles ist durch Feuersbrünste und Plünderungen vernichtet. So gibt es früheste Dokumente erst aus dem 12. Jahrhundert, die von einem großen Rechtsstreit zwischen zwei verschiedenen Abteien, eine davon 1076 an Cluny angeschlossen, und dem Bischof von Cahors künden. Natürlich kann ihn nur der Papst entscheiden. Im Jahre 1105 enthält zum ersten Male eine Bulle des Papstes Pascal II., an den Abbé von Saint-Martin gerichtet, in der die Verehrung der Seligen Schwarzen Madonna von Rocamadour berichtet wird. Der wirkliche Ursprung der Wallfahrt Im Jahre 1152, beim Tode des Eble de Turenne, wird Géraud d'Escorailles als Abt der Mönche von Saint-Martin-de-Tulle gewählt. Auf Anregung des Letztgenannten hin wird der kleine Marienort seinen großen Aufschwung erleben, um einer der berühmtesten Wallfahrtsorte Europas zu werden. In der Tat war die Verehrung der Jungfrau wohl begründet, reichte aber nicht aus, um die große Anzahl der Pilger, die die Gegend Richtung Saint-Jacques de Compostella durchwanderten, anzuziehen. Man muss zugeben, dass durch die Denkweise der Epoche, die für das Wunderbare sehr aufgeschlossen und durch das Glück begünstigt war, Geraud d'Escorailles und die Mönche von Rocamadour einen mysteriösen Schein um die Wallfahrt entwickelten, die durch eine gut geführte „Werbekampagne“ herausgestellt werden soll. Die Legende von Saint Amadour Das herausragendste Ereignis des XII Jh. ist ohne Zweifel die Entdeckung eines unversehrten Leichnams in dem Felsen. Aber geben wir besser das Wort an Robert de Thorigny, Abbé von Mont Saint-Michel und Chronist der Epoche: „Im Jahre 1166 befahl ein Einwohner eines weiter entfernten Landstriches seiner Familie, vielleicht durch göttliche Eingebung, seine sterblichen Überreste am Eingang des Oratoriums beizusetzen. Kaum hatte man mit dem Ausgraben begonnen, als der Körper des seligen Amadour in seiner Ganzheit wiedergefunden wurde, und in der gleichen Ganzheit wurde er in der Kirche nahe des Altars aufgebahrt und der Andacht der Pilger ausgesetzt. Dann geschahen an diesem Ort so zahlreiche und außergewöhnliche Wunder durch die Kraft der Heiligsten Jungfrau, dass der König Heinrich II. von England, der sich in Castelnau de Bretenoux aufhielt, höchstpersönlich kam, um seiner Ehrerbietung genüge zu tun.“ Aber wer war Saint Amadour wirklich? Aller Wahrscheinlichkeit nach ein Einsiedler, von der grandiosen Siedlung angezogen. Trotzdem gingen die Legenden, die ihn betrafen, um: Einige bestätigten, dass er ein Diener der Jungfrau war, für die Gallier weggegangen, der dann sein Einsiedlerdasein an diesem Ort führte. Später identifizierten ihn andere mit dem Zacharias aus dem Evangelium, Jude aus Jericho, mit der heiligen Veronika verheiratet, der ein Diener der Jungfrau gewesen sein soll. Die Legende von La Durandal zählt auch zu dem Inhalt der „frommen Lüge“, die die Bekanntheit der Siedlung mitbegründet. „Rolands Lied“ berichtet von den Heldentaten des frommen Ritters gegen die Horden der Sarazenen und war im ganzen Mittelalter sehr beliebt. Alle Wallfahrtsorte stritten sich um seine Reliquien, Rocamadour hat die seinige: das Schwert. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 75 Dieses, das nur ein Faksimile ist, steckte früher in der Fassade von Saint-Michel, inmitten der Ketten der ehemaligen Gefangenen. Das Buch der Wunder wurde im Jahre 1172 durch einen Mönch von Rocamadour, auf Anfrage des Géraud d'Escorailles verfasst. Es stellt in einem einfachen Stil die Geschichte der 126 Wunder dar (angenehm zu lesen, was seinen Ruf begründete), die an diesem Ort durch die Fürsprache der Heiligsten Jungfrau geschahen. Alle Wallfahrtsorte hatten ihre Wundersammlung, die Verdienste ihrer Reliquien lobend und die Vorteile beschreibend, die man daraus erzielen konnte. Dieses von Rocamadour wird einen „sehr wichtigen Einschlag“ haben, der den Beginn der Ausweitung der Periode der Pilger beeinflussen würde, der die berühmtesten Pilger vorbeiziehen sehen wird, aber auch die Masse der Gauner, Kaufleute, Bauern, Handwerker und selbst der Bettler. Man kommt, die Jungfrau zu sehen, um eine Heilung zu erhalten, das sind die häufigsten Fälle, und in der Tat enthält das Buch der Wunder derer 90. Gleichwohl bittet man auch für die Befreiung der Gefangenen, für die lieben Angehörigen, die in den Krieg gezogen sind, für die Seeleute, den Gefahren der Meere ausgesetzt... Aber nehmen wir eher eine dem Buch entnommene Erzählung, die uns die Geschichte einer Blinden darlegt: „Eine Frau, deren Namen ich nicht kannte, aus dem Burgund stammend, befand sich im Krankenhaus des Saint-Jean Baptiste in Jerusalem. Sie war schwanger. Während sie ihr Kind zur Welt brachte, verlor sie die Sehfähigkeit. Nach dem Wochenbett brachte sie ihr Mann... bis zur sehr ruhmreichen Kirche, wo der, dessen Zeichen wir machen, an einem Holzkreuz aufgehängt wurde, der Basilika Saint-Sepulce... Sie beteten beide an diesem Ort, aber sie wurden nicht erhört. Enttäuscht in ihrer Hoffnung, wendeten sie ihre Gedanken an die Seligste unter den Seligen, an die Notre Dame von Rocamadour, und versprachen, sich in der Abtei mit Geldkatze und Stab einzufinden. Sogleich öffneten sich die Augen der Frau. Man kann sich vorstellen, wie sie lobpriesen und verherrlichten den Stern der Meere, der durch seinen Lichtschein der Demut unsere blinden Seelen bestrahlt und unseren geschwächten Gliedern die Kraft zurückgibt.“ (Die Staatsbücherei in Paris besitzt 5 Kopien des Buches der Wunder von Rocamadour, die auf Ende des 12., Anfang des 13. Jahrhunderts datiert sind.) Der Pilger von Rocamadour Die Pilger kamen aus ganz Europa und schlugen die nach Rom führenden Wege (cami roumiou) ein und dann, dank einer Erweiterung, die zu allen übrigen Wallfahrtsorten (Pilgerstraßen). Das vertraute Bild dieser großen Reisenden des Mittelalters zeigt sie immer mit einem Bettelsack und dem Stock oder Pilgerstab (in pera et bacuio), an dem die Geldbörse befestigt ist. Sie tragen ein Unterkleid mit langen Ärmeln und einen Überwurf (eine Art Cape) auf diesem Unterkleid und eine Kapuze, ein Kleidungsstück, das den Kopf und die Schultern bedeckt. Ab dem 15. Jahrhundert tauchen die so genannten Pelerinen auf und ein breitrandiger Hut, der vorn heruntergeklappt ist. Die Risiken auf den Wegen sind natürlich sehr groß, und sehr oft schließen sich die Armen, die sich keine Eskorte leisten können, zu Gruppen zusammen. Der Pilger steht während der ganzen Zeit der Pilgerreise unter dem Schutz der Kirche. Vor der Abreise werden die Insignien gesegnet. Zu diesem Zweck gewährte Ihnen das kanonische Recht einen Rechtsstatus und besondere Vorteile. Daher werden während seiner Abwesenheit seine Besitztümer beschützt, und unterwegs wird ihm der „Friede Gottes“ zuteil, der alle willkürlichen Festnahmen oder Überfälle von ihm abhält. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 76 Bevor wir weiterfahren, muss erwähnt werden, dass einige Pilgerfahrten mehr oder weniger unter Zwang stattfanden. Die Kirche oder einige Gerichte verdammten die Schuldigen, eine SühneWallfahrt zu unternehmen. (Was dazu führte, dass sehr oft die Wege noch unsicherer wurden!) Die flämischen Gerichte waren die „aktivsten“ auf diesem Gebiet: ein Gesetz aus Liège bestrafte alle Personen, die eine andere geschlagen hatte und Spuren hinterließ „zu Fuß eine Wallfahrt nach Rocamadour zu unternehmen“. Nach einer oft langen, anstrengenden und gefährlichen Reise entdeckte der Pilger die grandiose Siedlung von Rocamadour. Man muss die Verfassung verstehen, in der er sich befindet, vereitelte Gefahren unterwegs und die zurückgehaltenen Hoffnungen während der ganzen Reise, gibt er sich dann voll und ganz der Freude hin, nachdem er das gesteckte Ziel erreicht hat. Das Buch der Wunder erzählt uns sogar einige Geschichten, die beinahe an Hysterie grenzen. Aber vergessen wir nicht, dass wir uns in die Umstände des Mittelalters versetzen müssen und seiner besonderen Mentalität. Hören wir eher die erbauliche Geschichte des Ritters von Bazas: „Als er am Rand des Felsens ankam, ließ er seine Kleider fallen, ohne Angst, vor den Augen aller seine beschämende Nacktheit zu enthüllen. Er legte sich einen Strick um den Hals und ließ sich wie ein Dieb durch zwei seiner Angehörigen ziehen, während zwei andere ihn erbarmungslos mit Besen vor sich her schoben.“ Das Buch der Wunder ist angefüllt von Anekdoten und erzählt uns auf diese Art die Bußen, die die Pilger sich auferlegten. Die verbreitetste war jedoch das Hinaufsteigen der großen Treppe auf den Knien, der Büßer zog Ketten hinter sich her, die das Gewicht seiner Sünden symbolisierten. In der Wundertätigen Kapelle angekommen, erreicht die Ergebenheit ihren Höhepunkt und sehr oft überließen sich die Pilger einer Folge von Bitten, Klagen, Seufzern derart, dass ein Mönch einschreiten und mit Stockhieben die Ordnung wieder herstellen musste! — Aus diesem Grund sind einige Szenen eher spaßig: Warum hat eines Morgens der Wärter der Kapelle eine junge Frau zurückgestoßen, die in der Ecke des Altars betete? Trotzdem sie keinen Lärm macht, sie ist stumm. Es sei ihre außergewöhnliche Schönheit, die die Pilger ebenso wie die Mönche ablenkt! Sie wird auf wundersame Art geheilt durch die Jungfrau, „zur Stunde der Vesper in dem Augenblick, wo alle anfangen, das Magnifikat zu singen“. Wenn ein Wunder geschah, war an demselben Ort ein Notar (Urkundsbeamter) beauftragt, es niederzuschreiben, damit es alle L’escalier des pèlerines, die Pilgertreppe erfahren. Aber die beste Reklame blieb trotzdem die Werbung, die von den Pilgern selbst ausging (von Mund zu Mund), Zeugen der Wohltaten der sehr Heiligen Jungfrau. Die Erkenntlichkeit der Pilger drückt sich in den zahlreichen Gaben und Spenden ebenso wie in den Votivbildern aller Art aus, wie Ketten der ehemaligen Gefangenen, Nachbildung der Schiffe der geretteten Seeleute oder alle Arten von mehr oder weniger seltsamen Gegenständen. Kurz gesagt, sie fuhren nach Hause, das Herz voller Jubel. Rocamadour und die wichtigsten Daten des Mittelalters Las Navas de Tolosa (1212) Aus den Schulbüchern haben wir alle gelernt, dass die Mauren von Charles Martell im Jahre 732 in Poitiers besiegt worden sind. Aber im XIII. Jh. hatten sie einen großen Teil Spaniens besetzt! Um der sarazenischen Anwesenheit ein Ende zu bereiten, vereinigten die Könige von Castille, von Navarra und von Aragon ihre Mächte für die große „Reconquista“ der Iberischen Halbinsel. Die Schlacht von Las Navas de Tolosa (Kleiner Marktflecken im Süden der Provinz von Jaén gelegen) sieht die sehr christliche Armee des Königs sich den zahlenmäßig fünfmal überlegenen Truppen des Emir Al Nacir gegenüberstehen. Doch, als der Ausgang des Kampfes für die in die © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 77 Flucht geschlagenen Katholiken verhängnisvoll zu werden schien, „in dieser äußersten Ge fahr wird die Standarte der Heiligen Jungfrau von Rocamadour, die, wie durch ein Wunder in diese Provinzen mitgenommen, zum ersten Mal weitläufig erhoben, allen Augen der Krieger offenbart, die nun bis zur Aufgabe verharren, und nach allen Seiten in die Knie gingen: Sogleich gewährte Gott eine unverhoffte Rettung durch die Glorreiche Maria von Rocamadour...» Letztendlich wird der flüchtende Emir hunderttausend Mannen auf dem Schlachtfeld verlieren und Rocamadour wird an Ansehen gewinnen für diesen entscheidenden Sieg für Spanien. Rocamadour - der Kreuzzug gegen die Albigenser Am 15. Januar 1208 wird der Pontifikal-Legat Pierre de Castelnau auf den Ländereien des Grafen von Toulouse ermordet. Der Papst Innozenz III., außer sich vor Wut, löst einen umfassenden Kreuzzug gegen den Süden Frankreichs aus im Hinblick auf die Auslöschung einer Religion, die sich in der Bevölkerung ausgebreitet hatte: den Katharismus. Die Ritter aus dem Norden, von Simon de Montford befehligt, fallen über den Süden des Languedoc her und erobern die großen Städte (Béziers, Carcassonne, usw.). Sie plündern, metzeln alles nieder und verwüsten eine ganze blühende, von den Troubadouren besungene Gegend; den Kreuzzug nach und nach in einen Eroberungskrieg umwandelnd. Man erinnert sich an den berühmten Ausspruch, von den Kreuzrittern, während der Gemetzel ausgestoßen: „Gott wird die Seinen erkennen…“. Während des Winters 1211/1212 und vor der entscheidenden Schlacht von Muret, die Raymond VI., Graf von Toulouse, und seinen Schwager Pierre II. d'Aragon gegenüberstellt, lässt sich Simon de Montfort mit seinen Truppen in Rocamadour nieder. Die Siedlung, die von den Wirren verschont blieb, verfügt nun über ein Verteidigungssystem und Möglichkeiten der Unterbringung, geeignet eine Armee zu beherbergen. Man kann hier sicherlich nicht von Pilgerfahrten sprechen, selbst wenn einige behaupten, dass Simon de Montfort gekommen sei, um sich unter den Schutz der Jungfrau von Rocamadour zu stellen. Einige Jahre später im Jahre 1244, nach dem Fall von Montsegur, kam Saint Louis an diesen Marienort. unternahm eine Wallfahrt, die gleichzeitig dazu diente. seine Autorität in der ganzen Gegend zu bestätigen. Der Hundertjährige Krieg Anno 1369 ist Rocamadour von den Engländern besetzt. Die Wallfahrt dauert immer noch an, von den Besetzern respektiert, und die Pilger eilen weiterhin in Scharen herbei obwohl die Wege immer gefährlicher werden. Im Jahre 1422 regiert der „kleine König von Bourges“, Karl VII., über ein zum großen Teil von den Engländern besetztes Land. Weder im Besitz von finanziellen Mitteln noch einer Armee, war die einzige Lösung, den einheimischen Patriotismus zu wecken. Karl VII., durch Vermittlung des Bischofs von Tulle, sendet eine Bittschrift an Martin V., um die Zustimmung Unserer lieben Frau von Rocamadour zu erbitten. In einer Bulle, im Jahre 1428 veröffentlicht, verleiht der Papst den Pilgern von Rocamadour Ablässe. Von da an strömen diese zu zigtausenden zu den Wallfahrtsstätten. Wir kennen auch das Nachfolgende: „An den Mittfasten des nämlichen Jahres (1429) kam auf den König Frankreichs, unserem Seigneur, eine Jungfrau zu, die von sich behauptete, vom Gott des Himmels dem König gesandt zu sein, um die Engländer aus dem Königreich Frankreich zu vertreiben“. Am 17. Juli 1429 ließ Johanna von Orleans den König in Reims konsekrieren. Jahrhunderte der Verwahrlosung und Vernachlässigung... Während des ganzen Mittelalters war Rocamadour der erste Marienwallfahrtsort des Abendlandes, dennoch, nach dem Hundertjährigen Krieg und den Verheerungen, die er in dieser Gegend angerichtet hat und nach der schrecklichen Pest-Epidemie die anschließend wütete, wird die Wallfahrt eine Periode des Nachlassens erleben. Sicher es gibt noch große festgesetzte Zeitpunkte durch die Jubelablässe, oder „großen Verzeihungen“, die tausende von Pilgern anziehen Aber die innere Haltung hat sich verändert und © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 78 die Pilgerfahrten, Kundgebungen andächtiger Art, charakteristisch für das Mittelalter veraltern nach und nach. Im Jahre 1317, im Anschluss an die Gründung der Diözese von Tulle werden die Benediktinermönche von Rocamadour durch ein Domherren-Kapitel ersetzt. Diese 15 an der Zahl im Jahre 1425 und auf ein striktes Minimum beschränkt im Laufe der Jahre sind nicht in der Lage, der Instandhaltung der Örtlichkeit zu genügen Die Pilger werden immer weniger, die Spenden und Opfergaben reichen nicht mehr aus. Die Plünderung und Inbrandsetzung des Oratoriums im Jahre 1562 durch die Protestanten, von Capitaine Bessonies angeführt, bedeuteten einen schweren Schlag für den Zustand der Heiligtümer. Und bei dieser Gelegenheit wird der Körper des Saint Amadour zerbrochen und anschließend verbrannt. Alle Archive der Siedlung werden zerstört. Die Überforderungen, unter der französischen Revolution veranlasst, beschleunigen nur den Verfall der Gebäude. Die Kapellen werden so gut wie eben möglich erhalten, aber es sind vor allem die Priorei und der Abts- Palast, die die größten Schäden erleiden, oft auch durch totale Vernachlässigung bedingt. Das große Unternehmen zur Restauration im XIX. Jahrhundert Zwei Männer stehen hauptsächlich am Beginn der Restauration der ernsthaft zerrütteten Heiligtümer. Es handelt sich um einen Priester aus Paris, den Abbé Caillau (1794 - 1850), der auf wundersame Weise durch die Jungfrau von Rocamadour geheilt wird, wird sich der Wiederbelebung der Wallfahrten widmen. Nachdem er ein Manuskript über Rocamadour verfasst hatte, vermittelt er persönlich in den Kreisen der Hauptstadt, um die Siedlung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 79 Der zweite, Monsignore Bardou, Bischof von Cahors, übernimmt es, die notwendigen finanziellen Mittel zu sammeln; um dies zu erreichen, scheut er nicht davor zurück, im Jahre 1856 eine regelrechte Staats- Lotterie auf die Beine zu stellen, um die Restaurationsarbeiten anzukurbeln. Er wird in seinen Bemühungen von zahlreichen Priestern der Gegend, vor allem von Pater Bonhomme, Pfarrer von Gramat, unterstützt. Abbé Chevalt, Priester der Diözese von Montauban, wird die Aufgabe der Leitung der Baustelle anvertraut. Wenn auch einige Initiativen dieser Restauration mehr oder weniger lobenswert sind, kommt diesen Männern doch das Verdienst zu, diese alten Mauern, mit soviel Leidenschaft und Rührung behaftet, für uns wieder aufleben zu lassen. Nun komme ich wieder zu Wort, nachdem ich kundige Materialien vor Ort benutzte, um die Fakten der Vergangenheit von Rocamadour zu erhellen, die immer auch verknüpft sind mit anderen Orten und so auch einen – wenn auch groben - Teppich weben, der für mich eine Grundlage in französischer und europäischer Geschichte bildet. Martina und ich erklommen also die vielen abgenutzten 216 Stufen, auf denen die freiwilligen und unfreiwilligen Pilger jahrhundertelang hinaufgerutscht sind, bis wir atemlos auf der Ebene der sieben Kapellen anlangten. Viel Zeit blieb nicht, alles zu sehen. Ein kleines Museum lud ein, wir gingen schnell hindurch. An einem Souvenirstand erwarb ich ein kleines Heftchen, die Quelle des Vorausgegangenen. Dann gelangten wir durch ein reich verziertes, im spätgotischen Stile gearbeitetes Portal in die Kapelle Notre Dame, in der die wundertätige Heilige Jungfrau seit langer Zeit die Seelen der Pilger erquickt und manches Wunder tut, das ohne sie bei entsprechendem Willen auch geschehen wäre. Im Halbdunkel erkannten wir den Altar, Gestühl, Nischen; nahmen den bekannten Geruch von Weihrauch und Notre Dame de Rocamadour: verbrannten Kerzen wahr. Die Wände sind von der Zeit und dem Schwarze Madonna Rauch der Kerzen geschwärzt. Diese Kapelle ist der Mittelpunkt jeder Wallfahrt und das Endziel aller Pilger hierher. Die „Schwarze Madonna“ steht oberhalb des Altars, der von 1989 stammt, und umgibt einen einfachen Altar. Diese Jungfrau, Reliquiar aus Holz, stammt aus dem 12. Jahrhundert und war mit Silberlamellen überzogen, von denen nur noch wenige Spuren vorhanden sind. Auf ihrem linken Knie trägt sie das Jesuskind. Über beiden befindet sich eine goldene Krone neuerer Ausführung. Beide bringen eine strenge und feierliche Haltung dar. Rechts neben dem Eingang zur Kapelle sind Reste eines Freskos aus dem 15. Jahrhundert, das einst die ganze Fassade bedeckte, erhalten. Ich kann es nicht deuten und muss mich dem erklärenden Text des Führers anvertrauen: „Die Zeichnung „Le dict“ stellte drei Tote und drei Lebende dar. Diese Erzählung, in welcher sich die Toten an die Lebenden wenden, damit sie sich über die Unsicherheiten des Lebens bewusst werden, erscheint im Mittelalter immer wieder. Hier stellt die Freske drei bedrohliche Tote dar: Einer hält ein Leichentuch, der zweite einen langen Speer und der dritte (beim Durchbruch eines Fensters zerstört) war mit dem Spaten eines Totengräbers ausgerüstet. Die drei Lebenden warnen drei Ritter, die auf Pferden saßen, reich herausgeputzt, die vor dieser erschreckenden Erscheinung bestürzt anhalten.“ Ein eigenartiger, in den Felsen eingefügter Turm birgt die Kapelle Saint-Michél, in der schöne farbige Fenster das Morgenlicht filtern. Verschiedene Niveaus heben die Verschiedenartigkeit dieser Kapellen hervor. Es gibt originale Fresken aus dem 12. und 13. Jh. auch im Inneren der verschiedenen Kapellen, eine wundertätige Glocke. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 79 Es gibt das Schwert des Ritters Roland12, scheinbar mühelos in den Stein hinein gesteckt, inmitten der Ketten von Gefangenen. Vieles sahen wir in der kurzen Zeit unseres Ganges nicht; solche Plätze lernt man nie vollständig kennen, es sei denn, man hält sich zu Studienzwecken länger hier auf. Wir treten heraus auf einen kleinen Vorplatz. Von hier aus kommt man zu dem „Haus Marien“, eine ehemalige Einsiedelei am Hang der Felswand, die im Jahre 1856 vollständig rekonstruiert wurde. Das Haus war geschlossen, diente heute sicher der Unterbringung wessen auch immer. Ich stellte mir vor, Novizen vor der Priesterweihe oder hohe Würdenträger auf der Wallfahrt. Ich habe einen hübschen Blick an dem runden Turm des hohen Bischofspalastes seitlich vorbei ins Tal des Alzou hinunter. Dieser Turm ist 39 m hoch. Er ist das Ergebnis einer Rekonstruktion aus den Jahren um 1868. Das Bauwerk war in die Jahre gekommen. Der Bischof wollte es als Zweitresidenz umbauen lassen. Es ist sicher dem Zeitgeist geschuldet, dass so etwas wie ein Operettenschloss herausgekommen ist. Der Bischofspalast ist seltsamerweise nie bewohnt worden und heute ein sakrales Museum mit Sammelstücken des ganzen Départements. Bald fanden wir einen Ausgang, die Porte Saint-Martial, von der ein Kreuzweg mit 13 Kehren und 14 Stationen hinauf zum Schloss führte. Ziemlich oben war der Felsen tief ausgehöhlt. Über das kunstgeschmiedete Geländer hinweg öffnete sich ein großer Hohlraum, der durch steinerne Säulen gestützt ist, leer, aber in Richtung der schon erwähnten Einsiedelei der richtige Ort. Hohe Bäume versperrten die Sicht ins Tal, doch mit jedem Rocamadour, Meter Steigung versprach die Aussicht oben gewaltig zu werden. Turm des Bischofspalastes Und es war auch so. Wir hätten zwar für die Besteigung des Aussichtspunktes im Schloss noch einmal Eintritt zahlen müssen, aber die Zeit war abgelaufen- wir mussten zurück zum Bus ins Tal! Es gibt auf der Hochfläche die Bürgermeisterei und einen Fußpfad zum Kreuz von Jerusalem. Weiter kann man den Ort l’Hospitalet besuchen, und ich halte mir vor Augen, hier Ferien zu machen… Wir stellten uns zu einigen Wissenschaftlern, die gerade einen Bergsteiger zum professionellen Abstieg, mit Seil und allerhand Karabinern, an einer abschüssigen Außenmauer ausrüsteten. Möglich, dass eine Inspektion stattfand. Immerhin birgt der verwitternde Felsen die Gefahr des Steinschlages. Genau darunter befinden sich die Häuser des Ortes. Auf einem gewundenen Pfad marschierten wir im Eilschritt talwärts, der sich am Ende in eine Hetzjagd wandelte, in der beklemmenden Angst zu spät zu kommen. Genau am Parkplatz unseres Busses, an der Porte du Figuier, stießen wir zur Reisegruppe. Wir hatten für die ganze Besichtigung von Rocamadour sage und schreibe eine Stunde Zeit! XIV. Conques W ir fahren auf der Nationalstraße 140 nach Südosten durch das Département Lot, eine Landschaft, die an jeder Straßenbiegung schöner zu werden scheint, zumal sich ab und zu nun die Sonne durch die Wolken stiehlt. Bei dem Städtchen Gramat kreuzen wir den jungen Alzou, der hier schon fast zu einem bedeutungslosen Bach verkümmert ist. Hier in Gramat gibt es eine „Schule der französischen Gendarmerie für die Ausbildung von Hundeführern“. Überall stoßen wir auf Anzeigen und Werbeschilder für foies gras quercynoise, abgeleitet von der Landschaft Quercy, in der sich auch ein sehr großer Nationalpark befindet. Die Natur entfaltet sich 12 Roland, in der Sage einer der 12 Paladine Karls des Großen; verteidigte nach dem Feldzug in Spanien die Nachhut gegen die Basken und fiel 778 bei Roncesvalles; geschichtlicher Markgraf Hruodlandus von der Bretagne. Rolands Taten besingen französische, spanische und italienische Gedichte, wie das Rolandslied; um 1100 im französischen „Chanson de Roland“ gefasst, dann mehrfach umgebildet, um 1170 vom Pfaffen Konrad in deutsche Reimpaare übertragen, wobei gleichzeitig der nationale durch einen christlichen Grundton abgelöst wurde. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 80 zur vollen sommerlichen Pracht. Überall beginnen die Sommerblumen zu erblühen. Es ist die Zeit der weißen Lilien, der königlichen unter den Blumen. 35 km sind es etwa bis Figeac, einem etwas größeren Ort, wie schon gesagt, Sitz der Unterpräfektur des Dép. Lot. Hier wurde vor 215 Jahren ein Mann geboren, der sich in der Welt der Wissenschaft einen großen Namen gemacht hat, Jean François Champollion. Es gibt am Ort ein kleines Museum, das sein Lebenswerk würdigt. Wir fahren vorbei- dennoch verweile ich ein wenig… Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie, entnehme ich neugierig seine Lebensdaten: Jean-François Champollion (* 23. Dezember 1790 in Figeac im Departement Lot, † 4. März 1832 in Paris) war ein französischer Sprachwissenschaftler. Er wurde als Sohn Jacques Champollions, einem Buchhändler, geboren. Die Unruhen der Revolution verhinderten eine reguläre Ausbildung. Mit 13 begann er verschiedene orientalische Sprachen zu lernen, und mit 17 hielt er erfolgreich einen Vortrag über die Ähnlichkeiten zwischen dem Koptischen und Hieroglyphen. Im Selbststudium und mit Hilfe eines privaten Lehrers erwarb er weitere hervorragende Sprachkenntnisse und beherrschte bereits mit 18 Jahren acht alte Sprachen. Im März 1801 zog er zu seinem Bruder Jacques-Joseph nach Grenoble, wo er weiterhin vor allem privat unterrichtet wurde und eine Leidenschaft für Ägypten entwickelte (ganz Frankreich war durch die zurückkehrende ägyptische Expedition Napoléons daran interessiert). 1802 traf er den aus Ägypten zurückgekehrten und zum Präfekten der Isère ernannten Mathematiker Jean Baptiste Joseph Fourier. Dieser zeigte ihm Teile seiner ägyptischen Sammlung und weckte in Champollion das lebenslange Streben nach der Entzifferung der Hieroglyphen mit der Erklärung, dass niemand diese Schriftzeichen lesen könne. Vom November 1804 bis August 1807 besuchte Champollion das neu eröffnete Lyzeum und verfolgte dort trotz des strikt vorgeschriebenen Lehrplans seine eigenen Sprachstudien auf Kosten seiner Gesundheit weiter. Er präsentierte nach Schulabschluss im August 1807 seinen "Aufsatz der geographischen Beschreibung Ägyptens vor den Eroberungen durch Kambyses" und wurde dafür zum Mitglied der Akademie von Grenoble ernannt. Von 1807 bis 1809 studierte er in Paris, wo er seine bereits umfangreichen Sprachkenntnisse um Arabisch, Persisch und Koptisch erweiterte. Dort arbeitete er auch erstmals mit dem Stein von Rosetta, sein darauf basierendes Alphabet des Demotischen half ihm, nicht-hieratische Papyri zu entschlüsseln - er war sich des Unterschieds nicht bewusst. 1810 wurde Champollion in Grenoble Professor für alte Geschichte auf einer geteilten Stelle an der neu eröffneten Universität. Seine Arbeit an den Hieroglyphen wurde in den folgenden Jahren vor allem durch Mangel an Materialien, die Wirren der Rückübernahme Frankreichs durch die Royalisten und das dadurch verursachte Exil in Figeac von März 1816 bis Oktober 1817 behindert. Zurück in Grenoble, übernahm er zwei Schulen und heiratete im Dezember 1818 Rosine Blanc. Durch politische Intrigen ermüdet und seiner Ämter beraubt, reiste er im Juli 1821 wieder nach Paris. Dort konzentrierte er sich vor allem auf Übersetzungen zwischen Demotisch, Hieratisch und den Hieroglyphen. Der Stein von Rosetta © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 81 Anhand einer quantitativen Symbolanalyse des in der Fachwelt berühmten und (Schlüssel-)Steins von Rosetta13 erkannte er, dass Hieroglyphen nicht nur für Worte allein stehen konnten. Mithilfe der Namenskartuschen für Ptolemäus und Kleopatra auf einem Obelisken von William John Bankes, dem Stein von Rosetta, Abbildungen aus einem Tempel in Abu Simbel und anderen Papyri entdeckte er, dass einzelne Hieroglyphen für Buchstaben standen, andere für Buchstabenkombinationen, für ganze Örter, oder dass sie gar kontextbestimmend waren. Im September 1822 gelang es ihm, ein vollständiges System zur Entzifferung der Hieroglyphen aufzustellen. Er veröffentlichte Teile der Arbeit im Oktober 1822 (Brief an M. Dacier betreffend das Alphabet der phonetischen Hieroglyphen) und eine ausführliche Erklärung im April 1824 (Zusammenfassung des Systems der Hieroglyphen im Alten Ägypten). Auf der Suche nach weiteren ägyptischen Schriften verbrachte er die Zeit von Juni 1824 bis März 1826 in Italien, speziell in Turin. Dort fand und übersetzte er den "Königspapyrus Turin" - eine sehr ausführliche Auflistung der ägyptischen Pharao-Dynastien. Er hielt dies eine Weile geheim, da er die Zeitrechnung der Kirche insgesamt in Frage stellte. Von August 1828 bis Dezember 1829 leitete Champollion eine französisch- toskanische Expedition nach Ägypten den Nil entlang bis Wadi Halfa. Viele dabei entdeckte Materialien sind die einzigen Zeugnisse der zu der Zeit oft als Steinbruch verwendeten Tempel. Am 4. März 1832 starb Jean-François Champollion an einem Schlaganfall. Er ruht auf dem Père Lachaise Friedhof in Paris. Schade, dass wir hier in diesem Ort nicht einmal das Museum besuchen dürfen. Aber es würde das sowieso schon reichliche Programm sprengen und nicht allen Interessen gerecht werden. Der Name Champollion war mir nicht unbekannt. Ich hatte das Original des Steins in London gesehen und natürlich in Ägypten einiges von ihm im Zusammenhang mit den Hieroglyphen gehört. Im ägyptischen Museum von Kairo steht eine Kopie. Ich erinnere mich an einen Viadukt, den wir unterquerten, eine Insel im Kreisverkehr, die sich durch sprudelnde Fontänen hervortat und eine Abzweigung von der Hauptstraße, der wir nun folgten, bis wir auf engem Parkplatz im heißen Mittagssonnenschein mit einer Handbewegung unseres Führers eine Straße hinunter gewiesen wurden. Eigentlich hatte ich Hunger, doch das kulturelle Erlebnis stand im Vordergrund. Wir waren in Conques, zwei Sterne im Baedeker, Wallfahrtsort der Pilger auf dem Jakobswege nach Santiago de Compostella. Wir kamen von oben. Die Türme einer Kirche stiegen aus einer Talsenke empor, je weiter wir der asphaltierten Hauptstraße in den Ort hinunter folgten. Dann machte diese einen Knick, und wir fanden uns unversehens im Mittelalter. Ein unverhüllter Glockenturm über bemoosten Steinschieferdächern überraschte mich; alte Fachwerkhäuser, Natursteinmauern, rankendes Grün, der Blick an bewaldeten Hängen hinauf, alles bot Glockenturm des ehemaligen einen solch bezaubernden Anblick, dass sich das Herz weitete, der Rathauses von Conques Hunger vergessen war und nur das Auge wandernd schweifte. 13 Der Stein von Rosetta oder Stein von Rosette oder auch Rosettastein (frz.: la pierre de Rosette) ist eine halbrunde Stele aus Gabbro mit einem in drei Schriften eingemeißeltem Text, der maßgeblich zur Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen beitrug. Der Stein stammt aus dem Jahr 196 v. Chr. Darin eingemeißelt ist ein Dekret des Rates der ägyptischen Priester. Das Besondere daran ist, dass dieser Text in drei verschiedenen Schriften geschrieben wurde, so dass drei Bevölkerungsgruppen ihn lesen konnten: für die Priester auf Ägyptisch in Hieroglyphen für die Beamten auf Ägyptisch in demotischer Schrift für die griechischen Herrscher über Ägypten auf Griechisch im griechischen Alphabet Als Napoléon in Ägypten einmarschierte, wurde der Stein am 15. Juli 1799 von einem französischen Offizier namens Pierre François Xavier Bouchard bei Rosette im Niltal gefunden. Der General Menou nahm ihn zunächst in sein Haus nach Alexandrien. Seit 1802 befindet sich der Stein im Britischen Museum in London. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 82 Peter Großer führte uns gleich zum Höhepunkt der Sehenswürdigkeit des Ortes, der Kirche SainteFoy mit dem einzigartigen Tympanon des Jüngsten Gerichtes. Um den kleinen malerischen Vorplatz scharen sich die ältesten Häuser des Ortes, Dorfes. Eine Treppe führt hinunter, die Topografie des Ortes ist der felsigen Hanglage angepasst. Er strahlt eine wunderbare und ruhige Beschaulichkeit aus. Keine Autos sieht man, nur die weißen Segeldächer eines Cafés, ein paar Freisitze, grüne Pflanzenkübel. Der Platz ist mit alten Kopfsteinen gepflastert. Die Hausfassaden schauen stolz auf dich herab, als wollten sie sagen: „Schaut wie alt wir sind und wie wir uns gehalten haben!“ Und dann wende ich mich dem Portal der Kirche zu. Das Tympanon allein ist einer ganzen Reise nach hier wert. Vergessen ist alles bisher Gesehene, was Figürliches aus dem romanischen Zeitalter auf uns Heutigen Vorplatz bei Sainte-Foy in Conques gekommen ist. Im tief liegenden Bogenfeld erschließt sich erst beim Nähertreten eines der wichtigsten Werke romanischer Bildhauerkunst. Im Zentrum der Anlage sitzt Christus, im Vergleich zu den anderen Personen überdimensioniert dargestellt. Er zieht den Blick auf sich. Von ihm gehen die Bildwirkungen aus. Von ihm aus zu seiner Linken ist die Hölle im Vergleich zum himmlischen Paradies so recht drastisch ins Bild gebracht, dass auch damals dem verstocktesten Sünder das Grausen gekommen sein musste, wenn er sich vorstellte, beim Jüngsten Gericht unter den zur ewigen Verdammnis Verurteilten zu gehören. Man musste weder lesen noch schreiben können. Auf der einen Seite herrscht Ordnung, Klarheit, Ruhe und Frieden, Beschaulichkeit und Liebe, während auf der anderen Seite Gewalt, Grausamkeit und Entsetzen abzulesen ist. Der Aufbau des Ganzen ist einfach gehalten. Der Rundbogen des Feldes enthält drei übereinander liegende Register, die durch Spruchbänder in lateinischer Sprache abgegrenzt sind. Diese Register hat der oder haben die Künstler in mehrere Felder Klosterkirche Sainte-Foy in Conques abgeteilt, die etwa zwanzig Platten aus gelbem Sandstein Westportal entsprechen. Diese Platten sind zunächst in einer Werkstatt bearbeitet worden, bevor sie wie ein riesiges Puzzle zusammengesetzt worden sind. Dabei sind keine Figur und keine Szene durch Fugen unterbrochen worden. Bei dieser Darstellung des „Jüngsten Gerichts“ ließen sich die Künstler hauptsächlich vom Matthäus- Evangelium inspirieren. Zwei Engel halten zu beiden Seiten des Kopfes von Christus ein Spruchband mit den Worten fest: „Kommt ihr Gesegneten meines Vaters! Nehmt in Besitz das Reich, das Weltschöpfung für euch bereitet ist…“ seit der ´ Dann wird er zu denen auf seiner Linken sagen: „Hinweg von mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist!... Diese werden eingehen in die ewige Pein, die Gerechten aber ins ewige Leben.“ © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 83 Unterstützt werden diese Weisungen durch die Gesten seiner Arme. Der rechte zeigt zum Gruße an die Seligen nach oben, der linke stößt die Verdammten in das Reich des Teufels hinab. Mit diesen Gesten scheint Christus das großartige Geschehen um ihn herum zu lenken, das sich nun bereits seit acht Jahrhunderten auf dem Kirchenvorplatz abspielt. Christus thront in einem Rahmen aus Sternen und Wolken, die durch Reihen von Girlanden dargestellt sind. Er ist von allen seinen Engeln umgeben. Zu seiner Linken schwenkt ein Engel einen Weihrauchkessel, ein anderer hält das aufgeschlagene Buch des Lebens. Zwei weitere Engel, die mit Schwert und Lanze bewaffnet sind, haben die Aufgabe, die wimmelnde Masse der Teufel und Verdammten am Eingang zur Hölle unter Kontrolle zu halten. Zu Füßen von Christus tragen zwei aus einer Wolke herausragende Engel Fackeln, denn vom Tag des Jüngsten Gerichts heißt es: „Die Sonne wird sich verdunkeln, und der Mond wird nicht mehr scheinen…“ In den Ecken rechts und links des oberen Registers blasen zwei Engel die Trompete zum Jüngsten Gericht. In der Mitte ganz oben halten zwei weitere Engel das riesige Kreuz über Christus. Der Zug der Auserwählten, der sich auf die Rechte des Herrn zubewegt, wird von der Jungfrau Maria angeführt, gefolgt von Petrus mit dem Schlüssel zum Paradies. Beide tragen im Gegensatz zu den irdischen Gläubigen, die sich hinter ihnen drängen, einen Heiligenschein. Eingeweihte bestätigen, dass der Künstler die Kühnheit besaß, die wichtigen Persönlichkeiten des Klosters von Conques in diesen triumphalen Zug einzubeziehen: den Einsiedler Datus als Gründer des Klosters, dann einen Abt mit seinem Hirtenstab, der an der Hand Kaiser Karl den Großen, den legendenhaften Förderer des Klosters an der Hand nach sich zieht. Da aber der Kaiser durchaus mit Sünden beladen ist, tragen zwei Mönche hinter ihm Schätze, die auf himmlischen Ablasshandel abzielen. Unter Christus ist die Szene des himmlischen Wägens dargestellt, in der sich der Erzengel Michael und ein spöttischer Teufel herausfordernd anblicken. Obwohl der Teufel zu mogeln versucht, indem er seinen Zeigefinger auf die Waagschale drückt, fällt das Wiegen zugunsten der guten Taten aus. Links ist die Auferstehung der Toten so lebendig dargestellt, als handele es sich um einen Film: Mit Hilfe der Engel, die den Sargdeckel hochheben, steigen die Toten einer nach dem anderen aus ihren Sarkophagen. Das untere Register besteht aus zwei Teilen: Links die Darstellung des Paradieses in Form einer idealisierten Architektur, die mit ihren Zinnen, Säulen und Arkaden das „Himmlische Jerusalem“ symbolisiert. In der Mitte sitzt Abraham und hält in seinen Armen zwei Kinder, die deren Unschuld bedeuten sollen. Er ist von mehreren Figuren umgeben, die streng in Zweiergruppen geordnet jeweils unter einer Arkade stehen: die weisen Jungfrauen mit ihren Lampen, die Märtyrer mit ihren Palmenzweigen und die Apostel mit ihrem Buch. An der Pforte zum Paradies empfängt ein Engel die Auserwählten. Hinter einer Wand sieht man einen mit einer Keule bewaffneten Teufel, der die Verdammten in den entsetzlichen Schlund der Hölle treibt. In krassem Gegensatz zum himmlischen Frieden stellt der Bildhauer und Schöpfer dieses Werkes das Chaos und Durcheinander in der Hölle dar. Satan sitzt als Pendant zu Abraham in der Mitte der rechten Szene. Die Füße auf den Bauch eines Verdammten gestellt, liegt er in den Flammen und dirigiert, wie gesagt wird, als Faulpelz die wahnsinnigen Folterungen, die die Verdammten zu erleiden haben. Um ihn herum sind zahlreiche Teufel damit beschäftigt, die Todsünder mit sichtbarer Freude zu quälen. Eine buhlerische Frau und ihr Liebhaber werden, mit Stricken aneinander gebunden, vor den Satan geschleppt und warten auf sein Urteil. Der Geizhals mit seiner Geldbörse am Hals und einer Kröte unter seinen Füßen wird weit über dem Boden an einem kurzen Strick erhängt. Ein Teufel reißt die Zunge aus dem Mund einer kleinen sitzenden Figur, die die Verleumdung oder üblen Nachrede symbolisiert. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 84 In dem kleinen Dreieck links über dem Schlund der Hölle ist die Wut verkörpert: ein Teufel verschlingt das Hirn eines Verdammten, der mit einem Messer, das er sich in den Mund stößt, Selbstmord begeht. Daneben nimmt ein anderer, buckeliger Teufel einem Verdammten seine Harfe weg und reißt ihm mit einem Haken die Zunge aus dem Mund. Dieser unglückliche Sünder, der zugleich Musiker und Sänger war, steht wahrscheinlich für den Komödianten, den Volksbelustiger, der die Genusssucht dieser Welt symbolisiert. In dem gegenüberliegenden Dreieck oben rechts ist eine erstaunliche und höchst ironische Szene dargestellt: Über den Flammen wird ein Mann von zwei Teufeln am Spieß geröstet, von denen einer einen Hasenkopf hat. Ist dies die Folter des Wilddiebs? Oder wird der Jäger in der Hölle, dieser verkehrten Welt, zum Opfer seines Wildes? Über dem Türsturz nimmt die Hölle noch zwei Reihen des mittleren Registers ein. Hier hielt sich der Bildhauer nicht mehr an bestimmte Themen und ließ seiner Phantasie freien Lauf. In einem unbeschreiblichen Wirrwarr von Körpern und Köpfen beschäftigen sich die mageren Höllenkreaturen, die einen schrecklichen Gesichtsausdruck haben, vergnügt mit der Folterung der Verdammten und liefern sich darin einen Wettstreit. In dem linken Feld reißt ein Teufel einem König, der zum Spott vollkommen nackt ist, mit den Zähnen seine Krone vom Kopf. Der schlechte König zeigt mit seinem Finger auf den Zug der Erwählten und auf Karl den Großen, als ob er seinen Verdruss darüber äußern wolle, nicht auf der richtigen Seite zu sein. Darüber sind Teufel mit einem unheimlichen Gesichtsausdruck zu sehen, die Axt, Streitkolben und sogar eine Armbrust schwingen, eine Waffe, die zu Beginn des 12. Jahrhunderts nur sehr selten dargestellt wurde. Diese Waffensammlung könnte eine Veranschaulichung der Schrecken des Krieges sein. Das rechte Feld stellt eine äußerst schreckliche Folterung dar: einen sitzenden Verdammten, der in die Hände eines zürnenden Teufels geraten ist, wird bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen, die eine andere Höllenkreatur mit Genuss verschlingt. Daneben erbricht der an den Füßen aufgehängte Säufer den Wein, den er sein Leben lang getrunken hat. Im Jahre 1940 konnte durch den Abdruck des Tympanons von Conques, der für das Pariser Museum französischer Kunstdenkmäler gemacht wurde, der Münzfälscher identifiziert werden, der sich in dem kleinen Dreieck über dem Säufer befindet. Dies war aufgrund seiner Werkzeuge möglich: ein Amboss, eine Sammelschale mit Geldstücken und vor allem ein Münzstempel, eine Art kleine Röhre, die er in der Hand hält. Am erstaunlichsten ist, dass der Bildhauer sich die Mühe gemacht hat, auf das Ende dieses winzigen Werkzeugs, das von unten nicht zu sehen ist, die Prägematrize eines Geldstücks und die Inschrift Cunei (Prägestempel), einzumeißeln. Die Folter dieses Fälschers, der in den Flammen sitzt, besteht darin, das brodelnde Metall zu trinken, das ihm ein Teufel mit Gewalt einflößt. Auf der gleichen Ebene links finden die schlechten Mönche ihren Platz in der Hölle. Ein Abt stürzt mit seinem Hirtenstab zu Boden. Ein buckliger und dickbäuchiger Teufel fängt in einem Fischernetz drei Mönche, zu denen ein weiterer Abt mit umgefallenem Hirtenstab gehört. Diese Darstellung der Hölle soll dem des Lesens unmächtigen Betrachter mit allen Mitteln Angst und Schauder einflößen, denn den folgenden Verweis unten am Türsturz konnten die meisten Menschen zu der Zeit nicht lesen: O PECCADORES TRANSMUTETIS NISI MORES JUDICIUM DURUM VOBIS SCITOTE FUTURUM. Oh Sünder, wenn ihr eure Sitten nicht ändert, wird euch ein furchtbares Urteil widerfahren. Um noch eindringlicher zu wirken, war die ganze Darstellung mit grellen Farben bemalt, von denen noch viele Reste erhalten sind: im Bereich des Paradieses war Blau und im Bereich der Hölle Rot der dominierende Farbton. Das Tympanon war nämlich ursprünglich eine Relieffreske. Die Tatsache, dass die Darstellung religiösen Schriften, insbesondere dem Matthäus-Evangelium, nachempfunden ist, schließt das Einflechten realistischer und anekdotischer Einzelheiten nicht aus. Durch die Vielzahl ihrer Figuren und ihres mit Absicht erzählenden und belehrenden Charakters wendet sich diese Tympanon- Darstellung vom Jüngsten Gericht an jedermann, ohne dabei in © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 85 Oberflächlichkeit zu verfallen. Man kann sich sehr gut die Pilger auf dem Kirchenvorplatz dabei vorstellen, wie sie die Szenen eine nach der anderen entziffern. Für viele stellten die künstlerischen Darstellungen in den Kirchen die einzigen Bilder dar, die sie in ihrem Leben zu sehen bekamen. Die Kunstwerke von Conques besitzen zwar vielleicht nicht die erhabene Großartigkeit derjenigen, die in Toulouse und Moissac zu sehen sind, aber sie waren dem einfachen Volk sicherlich weit zugänglicher. Das Tympanon wurde in der Zeit von 1107 bis 1125, in der Abt Bonifatius das Kloster leitete, von einem Bildhauer geschaffen, der höchstwahrscheinlich auch an der Kathedrale von Santiago de Compostella gearbeitet hat. Danach ließ die Qualität der Bildhauer-Kunstwerke rapide nach, wie es die letzten Kapitelle der Kirche beweisen, die an den Bögen des Hauptschiffes zu sehen sind. Die Hochreliefs der Verkündigungsgruppe sind jedoch von der starken Persönlichkeit des Tympanonmeisters gekennzeichnet. Mit wunderbarer Verspieltheit hat er (sich selbst?) im Band des äußeren Bogens in regelmäßigen Abständen, als Fertigteil sozusagen, versteckte Köpfe eingelassen, die listig oder lustig über das Reliefband schauen und mit gegenläufig packenden Händen das Steinband versuchen, es so zu biegen, dass sie das Geschehen vor dem Portal heimlich beobachten können. Kaum jemand bemerkt und beachtet dieses raffinierte Detail. Unglaublich. Heiligenfiguren habe ich schon deren viele gesehen. Aber mich hat es beinahe umgeworfen. Mit welcher Kraft, Anschaulichkeit und böser Phantasie der Künstler – ich werde mich auf einen beschränken – die Höllenqualen dargestellt hat. Viele dieser schrecklichen Visionen scheinen dennoch aus dem diesseitigen realen Leben gegriffen zu sein. Gefoltert wird bis heute. Die Geschichte von Conques ist untrennbar verbunden mit der des Klosters, das den Ort in den 1000 Jahren seines Bestehens prägte. Das Christentum breitete sich in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, lange bevor die Kreuzzüge stattfanden, nur langsam aus. Kristallisationspunkte waren oft Einsiedeleien, Eremiten, wandernde Mönche. Es ist graue Vergangenheit, von der nicht viel überliefert wurde, und wir Deutsche wissen fast gar nichts über die Religion nördlich des römischen Limes. Stammtafel der Merowinger Im gallischen Raum dagegen haben römische Geschichtsschreiber sehr viel mehr hinterlassen. Wie in Rocamadour, so geht der Ursprung von Conques auf einen Einsiedlermönch zurück. Durch das Wirken eines Sankt Martin von Tours und der ersten Verbreiter des Christentums in Gallien durchdrang das Christentum langsam die ländlichen Gebiete. An der Stelle, an der sich später Conques befinden sollte, gab es vielleicht schon zu Zeiten der Merowinger (etwa 450 – 755) eine erste Kultstätte. Inmitten dieser abgelegenen Gegend, die aber dennoch dicht bevölkert war, versammelten sich die Christen der Umgebung, bevor die Sarazenen sie im 7. Jahrhundert zerstörten. Es gab zu Zeiten des Kaisers Diokletian14 in Agen, fernab von Conques, eine junge Christin, die zur Märtyrerin wurde, weil sie sich geweigert hatte, die heidnischen Götter anzubeten. Dieses Mädchen, 14 Diocletian, Aurelius Valerius Diocletianus, stammte aus Dalmatien und war niederer Herkunft. Geboren nach 230, diente er sich vom einfachen Soldaten zum Offizier der kaiserlichen Leibwache empor. 284 wurde er von der Armee zum Kaiser ernannt, kämpfte gegen den noch amtierenden Carinus und wurde, als dieser ermordet wurde, 285 vom Senat als Kaiser anerkannt. Am 1. März 293 richtete er eine Viererherrschaft (Tetrarchie) ein. Mit ihm herrschten also Maximian, Galerius und Constantius. Diocletian kämpfte gegen Alemannen, Sarmaten, Perser und dehnte die Ostgrenze bis zum Euphrat aus. Er warf 296/297 einen Aufstand in Ägypten nieder. 303 fand unter seiner Leitung eine letzte große Christenverfolgung statt. Er ließ in Spalato (Split, Kroatien) einen großartigen Kaiserpalast bauen, der nach ihm hieß und in dem er 305 starb. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 86 das durch St-Caprais, Bischof von Agen, bekehrt worden war, war knapp 12 Jahre alt. Sie trug den Namen Foy oder (lateinisch) Fides. Sie wurde auf Feuer geröstet und danach geköpft. Das muss etwa 303 gewesen sein… Frühe Quellen aus dem Jahre 819 erwähnen einen Einsiedler namens Dadon oder Datus, von lateinisch Deodatus (=Gott gegeben). Dieser hatte zusammen mit anderen frommen Männern, unter ihnen ein gewisser Medraldus, eine Abtei gegründet, die in dieser Armedei nicht hätte bestehen können, wenn nicht die Karolinger aus politischen und religiösen Gründen die Klöster ihres Reiches mit ihrer Gunst überschütteten und in vielen Dingen deren Lebensunterhalt ermöglichten. Ludwig der Fromme, der zu Lebzeiten seines Stammtafel der Karolinger Vaters Karl der Große König von Aquitanien war, soll das Kloster von Medraldus mehrmals besucht haben. Im Jahre 819 schenkte er dem Kloster nicht weniger als 20 Landstücke. Zwanzig Jahre später teilte ihm Pippin II., König von Aquitanien, Figeac, das „Neue Conques“ zu, wo sich zahlreiche Mönche ansiedelten. Der Reliquienkult nahm immer mehr Bedeutung an. Die Gläubigen brauchten etwas Gegenständliches, das sie verehren und anbeten konnten. Und so begab es sich, dass die frommen Mönche die Gebeine der Heiligen Fides von Agen für sich beanspruchten und in einer Nacht- und Nebelaktion, die sie verschönernd „heimliche Übertragung“ nannten, zu sich herüber holten. Das geschah im Jahre 866. Die Ankunft der Heiligen Fides in Conques bewirkte in den nächsten Jahrhunderten eine große Zunahme der Bedeutung der Abtei. Durch den entstandenen Reichtum konnten Kunstwerke und eine neue Kirche mit drei Schiffen geschaffen werden. Ohne Führung betraten wir die Kirche. Sie wirkt sehr hoch, da sie relativ kurz ist. Die Topografie des Geländes ließ es nicht anders zu. Ihr wird nachgerühmt, eines der besten Zeugnisse romanischer Kunst zu sein, neben Saint-Sernin in Toulouse (in meinem Reisebericht „Tour de France“ beschrieben) und der Pilgerkirche von Santiago de Compostella, was den künstlerischen Gestaltungsdrang des 11. und 12. Jahrhunderts betraf. Man darf hier nicht den Dom von Speyer dagegenstellen, diese reiche „Kaiserkirche“ der Salier in Deutschland, die etwa zu dieser Zeit entstand. Dennoch bin ich beeindruckt von der Höhe, als ich in der Vierung Conques, Klosterkirche nach oben schaue. Sainte-Foy Conques, Klosterkirche Sainte-Foy In einer Seitenkapelle des Chores überstrahlt eine holde, reine Jungfrauenfigur, wahrscheinlich die heilige Fides oder Foy, eine marmorgetäfelte Nische, die voll von vergoldeten Platten, von mit goldenen Blumengirlanden geschmückten Säulen umrahmt ist. Was mich heute sehr ärgert und wofür ich mich ein wenig schäme ist, dass ich die wundervollen Kapitelle an den Säulen des Chorumganges nur flüchtig wahrgenommen habe, Figurenkapitelle, deren kunstvoll in Stein gehauenen Geschichten viele Themen des christlichen Lebens versinnbildlichen. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 87 Natürlich müsste ich den Kopf heben, spähen, müsste Säule für Säule mit den Augen ab“grasen“. Uns saß aber wieder die Zeit im Nacken. So übersah ich diese Schönheiten der romanischen Bildhauerkunst. Wir wollten noch zum Museum, zur Schatzkammer. Eine ganz moderne, in warm getöntes Holz grob und surreal geschnitzte Jungfrau Maria steht in einer anderen, im Mittagslicht erhellten Seitenkapelle. Heute muss man die Gläubigen des Computerzeitalters mit anderen Bildwerken inspirieren, sie zum Übersinnlichen anregen, abstrahieren. Das Jenseitige muss, wie man früher es den Analphabeten durch realistisches Abbild nahe brachte, heute verschlüsselt sein, zur individuellen Auslegung offen. Fazit: Die Kirchenkünstler haben sich mit der modernen Wissenschaft arrangiert. Wir traten an der Südseite der Kirche ins Freie und stiegen die wenigen Stufen einer Treppe hinunter. Das kleine Museum, benannt nach einem Bürgermeister von Conques, Dr. Joseph Fau, in das wir kurz hinein schauten, barg für mich Normaltouristen keine nennenswerten Sehenswürdigkeiten: einen Reliquienschrank, einen Schrank für Messgewänder, bemalte Holzstatuen… Was die Pilger, die die unwirtlichen, wenn auch ausgetretenen Pfade des Jakobsweges zogen, damals von Le Puy-en-Velay, einem der vielen Ausgangspunkte für eine Wallfahrt über Conques nach Santiago de Compostella, auf sich nahmen, kann wohl niemand mehr so recht nachvollziehen. Obwohl es heutzutage viele Leute gibt, die diese Wege per Auto oder Fahrrad – um nicht laufen zu müssen - oder per pedes – wobei ihnen das Gepäck nachbefördert wird – versuchen nachzuempfinden. Der Unterschied: Der rechte Glaube fehlt, der feste Glaube an die Seligkeit im Himmel, an die Vergebung der irdischen Sünden, an die Milderung der Qualen des Fegefeuers, die das Ziel in Santiago de Compostella den erschöpften Pilgern nach solchen Entbehrungen sicher versprach. Vier große Hauptwege gab es damals in Frankreich. Ihre Ausgangspunkte waren Paris, Vézelay, Le Puy-en-Velay und Arles. Erst später hat sich das Wegenetz verästelt und nach Osten erweitert. Einen bedeutenden Meilenstein neben der Erleuchtung durch die Schwarze Jungfrau von Puy, die Segnung © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 88 durch die Schwarze Madonna von Rocamadour bildete auch die Anbetung der heiligen Fides in Conques. Vom Museum war es nicht weit über den ehemaligen Klosterhof, dessen Mittelpunkt ein Brunnen aus graugrünem Stein zierte. Er sei aus Beilstein, hieß es im Führer. Ich konnte diesen Namen in der deutschen Geologie nicht finden. Er ist möglicherweise auf die Art seiner Bearbeitung mit dem Beil entstanden. Die Schatzkammer wollte ich sehen, doch sie hatte gerade um diese Stunde geschlossen. Nur der erhalten gebliebene Rest des Kreuzganges vom Kloster war zugänglich. Hier bewunderte und fotografierte ich einige selten schöne romanische Säulenkapitelle. Conques, Klosterhof, Brunnen und Kreuzgang Pilgerwege im alten Frankreich Das mittelalterliche Refektorium ist noch erhalten und etwa dreißig Kapitelle, die zu den Arkaden des Kreuzganges gehörten. Die Bildhauer und Steinmetzen zu Beginn des 12. Jahrhunderts erzählten mit diesen Figuren aus dem damaligen Leben. Sie meißelten Krieger und Mönche, Tierfiguren und Blattranken. Eines will ich groß herausstellen. Auf ihm krabbelt gerade eine Wespe, die hier irgendwo ihr heimliches Schlupfloch hat. Nach allen Seiten schauen die Köpfe der klösterlichen Bauherren herab. In wunderbar künstlerisch gestalteter Weise halten ihre Hände handwerkliche Symbole. Schatten gibt es hier und Schutz vor der Sonne. Ein anderes zeigt Ritter mit Schild und Lanze. Ich halte mir vor Augen, dass man solche zeitigen Bildwerke in Deutschland suchen muss. Und hier in Südfrankreich finde ich sie in einer unvergleichlichen Vielzahl. Sie widerspiegeln das klösterliche, aber auch das weltliche Leben drastisch, plastisch und vielfältig. Nun wollen wir noch ein wenig durch den Ort wandern. Eine Schulklasse verschwindet in einer abschüssigen Gasse. Der Lehrer zeigt auf die alten Fachwerkhäuser, deren Geschosse zur Straße hin vorspringen. Ich schätze ihr Alter auf mindestens fünfhundert Jahre. Was haben die alles erlebt! Wichtige Prozessionen, die Hugenottenkriege, die Pestzeiten, die Französische Revolution, die Weltkriege der Neuzeit…Conques war tausend Jahre und länger ein Ort für die Pilger, ein religiöses Zentrum… Nun strömen wir Touristen hierher und atmen – Zeit. Plötzlich sind wir allein, schauen in den Mittagsglast in das Tal des Dourdou hinunter, in den der Wildbach Ouche sich ergießt Conques, Kreuzgang, Ritterkapitell und über Äonen ein schluchtenreiches Tal gegraben hat. Unweit Conques mündet der Dourdou in den Lot. Von hier sehen wir kein Wasser. Das Dorf scheint in der Mittagshitze zu schlafen. Nur die Insekten schwirren um die Blüten, die jetzt im September noch einen letzten Anlauf nehmen und ihre ganze schwere Pracht von Farbe und Duft aussenden. Es ist still. Ein Tor gewährt Durchblick auf weiteres Mauerwerk, das sich das an ihm emporrankende Grün sichtlich gefallen lässt. Ein Schild verrät seinen Namen, die Porte du Barry, ein altes Stadttor in der Rue Charlemagne, die von einer Doppelreihe alter Häuser gesäumt wird. Diese sind in den © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 89 Hang hinein gebaut. Man betritt das Haus von unten im Erdgeschoss. Die Hintereingänge führen oft aus den Obergeschossen heraus. Treppen verbinden die parallelen Hauptstraßen, wenn man sie so nennen darf. Conques war schon früh befestigt gewesen, besaß noch zwei andere Stadttore. Reste von Wällen gibt es zu entdecken, alte Stadtbrunnen, die die Quellen einfassten, die das für die vielen Menschen das notwendige Wasser sammelten. Aus dem Ort hinauf führen Wege, auf denen die Pilger kamen, von denen ein erster Blick über Kirche und Kloster möglich wurde, das ersehnte Tagesziel. Alles Entdeckungen, die wir auf unserem kurzen Rundgang nicht machen konnten, aber eine unbestimmte Sehnsucht erweckten, hier einmal Urlaub zu verbringen, sich zu vertiefen, den alten Zeiten nachzugehen, die Ruhe dieses Platzes in sich aufzunehmen. Abschied von Conques, eines Relikts tausendjähriger Geschichte. Vorbei die kurze Zeit, den Blick wieder nach vorn gewendet, geht es weiter. Wir fassten die nächste Etappe ins Auge. Immer jetzt am Ufer des Dourdou entlang, führte uns die Départementsstraße 901 über Salles-laSource, das seinen Namen von großen und sicher quellreichen Felsenhöhlen herleitet, wieder nach Rodez hinein. Rodez ist eine zweigeteilte Stadt, Hauptstadt des Départements de l’Aveyron und liegt auf einem Hügel über dem gleichnamigen Fluss. Der Aveyron kommt in Mäandern aus den Cevennen und ergießt sich nach 250 km bei Montauban in den Tarn. Rodez ist Bischofssitz mit einer Kathedrale und einem 87 m hohen Glockenturm, den wir im Vorbeifahren sehen. Die jahrhundertealte Zweiteilung ließe sich bei einem Stadtrundgang feststellen. Rings um die Kathedrale schart sich die alte Bischofsstadt, die - mit einer Mauer umgeben - sie abgrenzt von dem Marktflecken des ansässigen Landadels mit der Place du Bourg und der Stadtkirche als Zentrum. Wir halten nun im Bus etwas Mittagsschlaf. Die Vormittagsstunden waren anstrengend. Ich döste vor mich hin. Doch eine innere Unruhe ließ mich nicht recht abschalten, wie es manche meiner Mitreisenden trefflich konnten. Sie klappten einfach das Visier herunter und ließen alles um sich herum egal sein. Ich brachte das nicht. Einmal im Leben komme ich durch diese Traumlandschaft. Da muss man aufpassen, dass nichts Schönes ungesehen an mir vorbeifliegt. So riss ich auch den Fotoapparat an die Wange, als während einer Dorfdurchfahrt auf der N 88 oben auf dem Hügel die Reste eines Kastells auftauchten, deren verfallene Mauerreste von einer noch intakten Kirche begleitet wurden. Im Nachhinein kann ich den Namen Château Gages-de-Haut bei Rodez, Dép. Aveyron schwerlich genau noch bestimmen. Ich vermute, es ist die alte Burg Gages-le-Haut. Wir stoßen bald auf die Autobahn A 75 und fahren südwärts in Richtung Millau. Es beginnen sich am Himmel schwere Wolken zusammenzuziehen, werden immer dunkler, drohender und schwärzer. Urplötzlich ergießen sie ihre Regenlast so heftig, dass wir nur noch durch Wasserschleier hindurchfahren. Der Scheibenwischer schafft es fast nicht mehr. Die Landschaft verschwimmt im milchigen Nebel. Dann lässt der Regen nach und hört so plötzlich auf, wie er begonnen hat. Die ersten Erhebungen der Cevennen werden uns links am Horizont gezeigt. Wir fahren auf einer erst 2004 freigegebenen Teilstrecke der A 75, die das Tal des Tarn mit einer auf riesenhohen Talpfeilern ruhenden Schrägseilbrücke überspannt. Eigens um dieses neue technische Wunder, wenn auch nur aus der Ferne sehen zu können, hält Knut kurz zu einem kurzen Fotostopp an. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 90 XV. Gorges du Tarn – Ste-Ènimie - Mende M it über 343 Metern über dem Tal des Tarn ist das Viaduc de Millau in Frankreich weltweit die höchste Autobahn- Hängebrücke. Von dem deutschen Unternehmen Bridon International in Gelsenkirchen wurde das schwerste Seil der Welt dafür gefertigt. An der 36 000 t schweren Stahlkonstruktion wirkte die renommierte französische Fa. Eiffrage (Eiffelturm) mit. Mit 400 Millionen € Baukosten hat diese Firma die Konzession zur Mauterhebung auf 50 Jahre erlangt. 500 Arbeitskräfte haben von 2001 – 2004 Viaduc de Millau am Abend daran gebaut. Mehr als 10 000 Fahrzeuge passieren diese Brücke täglich. Verbaut wurden 85 000 t Beton. Die Pfeiler sind 16 m tief auf 300 m2 gegründet. Die Fahrbahn ist 32 m breit. Die Pylonhöhe ist 87 m. Pro Pylon sind 22 Seile gespannt. Laser- Reflektoren messen in jeder Sekunde 100mal alle Schwankungen und melden die Ausschläge > 0,3 mm. Die Hersteller geben 100 Jahre Gewährleistung. Das sind die Superlative. Der Grund, diese Überführung zu bauen: Etwa auf halber Strecke zwischen Clermont-Ferrand und Montpellier quälte sich jedes Jahr im Sommer mit Beginn der Ferienzeit eine Blechkarawane über die Straßen rund um das Städtchen Millau und verursachte bis zu 50 km lange Staus auf dem Weg zum Mittelmeer. Die Franzosen wählten eine elegante Lösung. Seit Ende 2004 schwingt sich nun die kühne, von Norman Foster und dem Ingenieur Michel Virlogeux entworfene Multischrägseilbrücke mit sieben Pylonen über das Tal. Leider scheint die Sonne noch nicht, als wir diese Hochleistung der Ingenieurkunst aus der Ferne bewundern dürfen. Mit weißen Dreiecksscheiben über einem weißen Strich vor der Kulisse grün bewaldeter Berge hat hier der Mensch die Natur auf weite Sicht deutlich markiert und ihre ihn hindernden Formen übertrotzt. Wir fahren nicht nach Millau, sondern biegen vorher bei Aguessac ab. Wir befinden uns jetzt im Département de la Lozère, das eine Bevölkerungsdichte von knapp 15 Einwohnern/km2 hat. Hier wird der berühmte Roquefort- Käse produziert. Auf der Karte finde ich die Namen Causse de Sauveterre, Causse Méjean. Das sind flächige, stark verkarstete und dünn besiedelte Hochplateaus aus Kalkstein, in die sich die Abflüsse der westlichen Cevennen in Erdzeitaltern bis 600 m tiefe Schluchten eingegraben haben. Diese Schluchten heißen Gorges, Schlünde auf Deutsch. (Der berühmteste Gorge ist der Grand Canyon du Verdon in den Voralpen.) In einen solchen Schlund, den Gorges du Tarn fuhren wir etwa beim Ort Les Vignes zwischen diesen beiden „Causses“ bei wieder aufkommendem Regen hinein. Der berühmte Aussichtspunkt Point Sublime in Nähe des Ortes Les Baumes Hautes ist 400 m hoch- leider… Der Tarn wird aus mehr als 45 Karstquellen gespeist, und seine Talwände ragen bis zu 500 m empor. Eine aufregende Fahrt, besonders wenn man sie mit individuellen Unterbrechungen auf eigene Faust machen könnte. Wir hingen aber unter der Regie von Peter Großer im Bus fest, der die große Zeitplanung mit Zwischenstopps und abendlicher Ankunft berücksichtigen musste. So gingen mir natürlich wundervolle Motive verloren, etwa in den Felsen gesprengte enge Durchfahrtstore oder kleine Wasserfälle, die das gerade gefallene Wasser wieder ableiteten, weil angelaufene Scheiben oder die weißen Köpfe der Mitfahrer die Sicht verstellten. Die Straße war so eng, dass wir nirgendwo anhalten konnten, um den Gegenverkehr nicht zu blockieren. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 91 Links steile Felswände, rechts der Fluss, in abwechselnden abenteuerlichen Formationen das rechte Ufer- Natur pur! Die steinerne Macht abgestürzter Felsbrocken hindert vielerorten den wilden, ungebändigten Fluss, zwingt ihn zu brausenden Kehren und stürzenden Kaskaden und lässt ihn sogar manchmal unter riesigen Quadern verschwinden. Die Straße passiert den Pas de Souci, ein Felsenmeer, durch den sich wild schäumend der Fluss hindurch windet. Dann drängelten einige Frauen und Männer, dass sie mal müssten. Bald tauchte ein Gasthaus auf, das sogleich von der Meute Blasenschwacher gestürmt wurde. Die Besitzerin, die wir fragten, verzog ihr Gesicht, weil sie richtig vermutete, dass wir ihr keinen Umsatz verschafften, sie gestattete uns die Benutzung ihrer Örtlichkeiten. Es ist französische Tradition, solcherart Bedürftigen leibliches Wohl angedeihen zu lassen, ohne Unterschied von Zuoder Abfuhr, die dieses leibliche Wohl erzeugt. Bei diesem Halt fing es wieder an, stärker zu regnen. Dennoch stürmte ich mit einigen anderen einen kleinen Aussichtsfelsen hinauf zu einer Plattform, von der das romantisch- wilde Tal des Tarn nach beiden Seiten eine unvergessliche Aussicht und einen herrlichen Blick entlang des felsigen und dennoch grünen Tales bot. Leider vertrieb uns der Regen. Während der Fahrt stellte ich mir immer nur vor, wie schön es sein müsste, hier zu wandern oder auf einigen Strecken des Tarn mit einem Kajak zu fahren, wie wir an einigen ruhigeren Flussbiegungen eine Menge Kanuten beobachten konnten. Das Tal öffnete sich hinter dem Ort La Malène. An den steilen Felsen über dem Dorf sollen noch Brandspuren nachweisbar sein, die von den Verwüstungen des Jahres 1792 stammen, als die Siedlung abgebrannt wurde. Viele Adelige waren vor den Revolutionären hierher geflüchtet, entdeckt und getötet worden. Ein Schloss ragte am Hang empor, das Château de la Caze (15. Jh.). Unbeschreiblich wild, ursprünglich und romantisch gebärdet sich hier das Zusammenspiel von Fels und Wasser, von Grün und Himmel in diesem Tal. Die Hügel wichen etwas zurück und bald, hinter einer Brücke über den Fluss, bog Knut auf einen Parkplatz ein. Über diesem zogen sich die Häuser einer kleinen Ortschaft den Hang hinauf. Wir hatten eine Stunde Zeit. Schwere Wolken hingen noch am Himmel. Es drohte immer wieder zu nässen anzufangen. Ich stieg mit Martina schnell die steilen Gassen empor, um einen Überblick zu gewinnen. Wir waren in Ste-Enimie, ein Dorf mit 500 Einwohnern, das in die Engstelle über einer Tarnschleife gebaut und vor seinen Überschwemmungen in der Ebene des Parkplatzes nicht sicher ist. Im Sommer kann man hier unten Kajaks und Kanus mieten. Gegründet wurde an diesem Hang um 630 ein Kloster von der heiligen Enimie, eine fromme Merowingerin, die hier an einer Quelle vom Aussatz geheilt wurde und in der Grotte Ermitage westlich des Ortes begraben sein soll. Altes Gemäuer und Kopfsteinpflaster beherrschten den Charakter der engen Gassen. Wir stiegen sie hinauf. Das schönste, was der Ort bot, war dann neben den stillen Winkeln zwischen alten Häusern oben ein Blick ins Tal auf den Bogen, in den der Tarn durch härteres Gestein gezwungen wurde. Ein paar Frauen standen und schwatzten vor einem Geschäft. Es gibt in solchen Orten viel Zeit, ein kostbares Gut, dem wir gerade hinterher jagten. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 92 Ste-Enimie im Gorges du Tarn: Blick von der Wehrmauer auf den Ort Wir folgten dann der D907B in einigen Serpentinen einige Hundert Meter steil bergauf, durften noch einmal zu einem Panorama-Foto aussteigen. Weit in die Schlucht reichte der Blick: Einfach überwältigend! Es war schon später Nachmittag, beinahe Abend, als wir in Mende, dem Hauptort des Départements de la Lozère ankamen. Inzwischen war die Sonne durch die Wolken gebrochen, und ich verging auf meinem Busplatz beinahe vor verhindertem Kameraglück, als ich in der Abendsonne die Kathedrale in goldgelbem Glanze und ihre Türme in gotischer Schönheit im Vorbeifahren nicht besser festhalten konnte als mit Schnappschuss durchs verkeimte Busfenster. Mende liegt im Tal am Rande der Causse de Mende, dessen Hochfläche etwa 300 m höher liegt. Wieder empfing uns ein anderes Hotel, das Drei- SterneHaus „Urbain V.12“ Wir sind in der Geburtsstadt von Papst Urban V., die im Kern noch mittelalterliches Gepräge aufweist, wie mir agile Mitreisende berichteten, die sich abends noch zu einem Stadtbummel entschlossen haben. Wir waren zu müde und gingen nach dem Abendessen zeitig zu Bett. Mende ist im Tal des Lot gelegen und war früher der Hauptort der französischen Grafschaft Gévaudan. Die Legende berichtet, es seien in deren undurchdringlichen Wäldern zwischen 1765 und 1768 von einer geheimnisvollen Bestie (ohne Zweifel ein Wolf mit dreifacher Größe) fünfzig Personen getötet worden. So hat jedes Städtchen seine Histörchen. Mende hat ungefähr 12 000 Einwohner und ist Bischofssitz. Zur Zeit der Religionskriege im 16. Jh. ist es arg gebeutelt und geplündert worden. Das will heißen, dass es heute nur noch wenige kulturelle Zeugnisse aus den Zeiten davor gibt. Wir bewohnten ein Zimmer an einer verkehrsreichen Kreuzung, Kathedrale Notre Dame zu Mende, 1368 an der sich die Fernverbindungen Lyon- Toulouse sowie begonnen, Türme 16. Jh., 1579 von Clermont-Ferrand – Nîmes treffen. Der Verkehrslärm wurde Hugenotten zerstört, Neuaufbau im 17.Jh. erfolgreich von dicken Schallschutzscheiben gedämmt, und wir schliefen tief und traumlos. Mittwoch, 22. Juni 2005 XVI. Le Puy-en-Velay D er Start erfolgte gegen 8 Uhr20, nachdem wir -nur kurz - noch ein kleines Denkmal eines großen Stadtvaters besichtigten. Den Mann, dem es gewidmet war, fand ich in keinem französischen Lexikon; so muss die Inschrift auf dem Stein sein Wirken erhellen: Theophile Roussel (1816 – 1903), Volksvertreter 1849, Deputierter in Florac 1871, Senator 1879, Präsident des Verwaltungsrates im Département Lozère, Institutsmitglied- welches? Kaum dass wir einige Kilometer aus der Stadt heraus waren, kam Unruhe im Bus auf, die sich nach vorn fortpflanzte: „Herr Großer, mein Mann hat sein Handy im Hotel liegenlassen?“ Eine Frau warf sich für ihren vergesslichen Mann ins Zeug „…?“Alles wog nun ab, was den Verlust eines Handys heutzutage ausmachte und jeder sah ein, dass wir unverzüglich mit dem großen Reisebus umkehren und nach Mende zurückfahren mussten. Jeder dachte im Geheimen, dass es ihm in ähnlichem Falle auch gut getan hätte, und so verbreitete sich eine Atmosphäre von großzügig maßvoller Toleranz im Bus. Wir kehrten um und holten das Handy. 12 Urban V., Papst 1362-1370, Seliger, eigentlich Guillaume Grimoard, * um 1310 bei Mende, † 19. 12. 1370 Avignon; Benediktiner; kehrte gegen den Widerstand Frankreichs 1367, von Kaiser Karl IV. unterstützt, nach Rom zurück, musste aber 1370 erneut nach Avignon gehen. Seligsprechung 1870. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 93 So kam es, dass wir das Teilstück unserer Fahrt von Mende nach Badaroux viermal durchmaßen. Es ging nun bergan auf die Höhen der nördlichen Cevennen, dieses waldreichen Mittelgebirges, von 900 m auf etwa 1200 m, wobei dessen höchste Erhebungen über 1500 Meter sind. Die Cevennen erstrecken sich zwischen dem Zentralmassiv und den Küstenebenen des Mittelmeergebietes. Nach Osten, dem Rhônetal zu, fällt es steil ab, während wir uns im Westen auf dem verkarsteten und steppenähnlichen Hochplateau bewegen, rechter Hand den Mont Lozère, links im Hintergrund die sanften Hügel der Monts de la Margeride. Aus dem Fenster schauend, ein wenig wehmütig, diese Natur nicht einmal selbst zu erleben, die frische Luft zu genießen, sehe ich die blühenden Wiesen, jetzt kurz vor dem Heumond- sie sind allerdings von unzähligen Steinbrocken übersät, als hätte jemand mit Bedacht und Umsicht diese Felsenstücke ausgebracht. Wir sehen Bäume, Baumgruppen, ab und zu eine Steinmauer, mit der sich ein Schäfer seine Weiden abgesteckt hat; Schafe in jeder Menge und braune Kühe, mit denen sich die Bewohner ihr Auskommen sichern. Mischwald erfrischt das Auge, durchsetzt mit hellem Birkengrün. Wir durcheilen kleine Dörfchen, winzige Flecken mit hübschen Kirchen und niederen Glockentürmchen. Madonnenbilder am Wegesrand verkünden die Nähe der Jungfrau Maria. Hier hat der Katholizismus seine Gläubigen noch fest im Griff. Hinter den Ortschaften weitet sich der Blick wieder über grüne Wiesen, die von mäandernden Bächen durchschnitten sind, an deren Ufern Weiden wachsen. Ab und zu finden sich auch seltsam falbe Kühe, wie wir sie in Deutschland nicht kennen. „1155 Meter!“ verkündete Herr Großer laut. Wir konnten es an Meilensteinen am Wegesrand überprüfen. Dann wieder niedrige Häuser, Supermarkt, Kirche, Gewerbehöfe, Gaststätten. Es ist 9 Uhr 50. Wir passieren den Ort Langogne. Er ist kultureller Mittelpunkt für einen Umkreis von 30 Kilometern, besitzt das Musée de la Filature13 und zeigt Geräte der handwerklichen Seidenweberei. Unweit dieses Ortes verläuft der Fluss Allier, den wir jetzt kreuzen. Hohe Pappeln säumen ihn wie eine Wand. In der Nähe gibt es einen Stausee, die Barrage de Naussac, die die Wasser des Allier bändigt. Wir haben am heutigen Morgen die Region Languedoc verlassen und sind auf der gut asphaltierten Nationalstraße N88 unbemerkt in die Region Auvergne, in die Landschaft Massif Central hinüber gewechselt. Die „region administratif“ ist in vier Départements mit folgenden Hauptorten (Sitz der Präfekturen) eingeteilt: 03 Allier Moulins 15 Cantal Aurillac 43 Haute Loire Le Puy-en-Velay 63 Puy-de-Dôme Clermont-Ferrand Wir fahren also in die Auvergne hinein, in das grüne Herz Frankreichs. Der blaue Himmel ist von fedrig gewebten Wolkenflächen wie ein zartes Aquarell gefärbt. Verwitterte Felsengruppen ragen aus der jetzt sehr gebirgigen Landschaft. Der Col du Rayol (1240 m) bildet einen Hochpunkt am Horizont. Wir sind oben auf der Hochfläche und langsam neigt sich die Straße hinab. Eine menschliche schwarze Pappfigur mahnt an das Opfer eines Verkehrsunfalls. Das Herz der Pappe wird von zwei roten Pfeilen durchbohrt und symbolisiert kaum einen Verliebten. „J’avais 35 an“, stand in roten Buchstaben darauf: Ich wurde 35 Jahre alt. Jeder Kraftfahrer sollte nachdenklich werden. In Deutschland würden die Straßenränder mit Armeen solcher Figuren gesäumt sein. Nun sind wir im Département 43 Haute Loire und gespannt auf dessen Hauptstadt. 13 Filature = frz. Spinnerei © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 94 Nach Le Puy sind es noch 32 km, lese ich auf einem Verkehrsschild. Bergkuppen begrenzen in milchiger Ferne den Horizont. Wir fahren auf einer Hochfläche auf etwa 1100 m. Kleine Gruppen von Fichten und Krüppelkiefern bewachsen die felsigen blühenden Karstwiesen. Das Städtchen Costaros fliegt an den Busfenstern vorbei. Niedrige Häuser, viele Blumen fallen ins Auge. Alles ist schmuck und gepflegt. 4 km von hier liegt in 1300 m Höhe der kleine Kratersee Lac du Boucher, lese ich von einem Wanderhinweisschild ab. Es gibt für die Franzosen unendlich viele Möglichkeiten, auch in dieser Region in den Tälern der Flüsschen, Seen und Gebirgsbäche zu wandern, auf dem Wasser zu paddeln, auf schattigen Talwegen Rad zu fahren, Aussichtsfelsen zu besteigen. Kurz und verknappt: Man wird wenig Franzosen im Ausland finden, wenn sie Urlaub haben. Ihr eigenes Land ist so vielseitig und schön, dass sie es gar nicht nötig haben, in die Ferne zu schweifen. Außerdem haben sie ein Problem mit anderen Sprachen. Wir stoßen im milchigen Mittagsglast in die eben hinunter. Links begleiten uns noch die sanften Hügelkuppen der Monts du Devès, in denen der Monistrol-d’Allier mit 1421 m Höhe herausragt. Sie treten aber bald immer mehr zurück, je mehr wir uns der Stadt nähern. Dann beleben sich die Straßenränder. Vereinzelte Häuser tauchen auf, verdichten sich. Vorortverkehr lässt unsere Fahrt verlangsamen. Kreuzungen, Ampeln, Abzweigungen, Gewerbe…Wir sind in Le Puy-en-Velay14. Mittagszeit. Im Zentrum sucht Knut auf einem großen Parkplatz unterzukommen. Er umkurvt mehrmals den großen Brunnen Crozatier (1857) Le Puy-en-Velay: Place du Breuil, Stadtbrunnen und und lädt uns aus. Blick auf die Statue Notre Dame de France auf dem Rocher Corneille Wir haben zwei Stunden Zeit, von 11 – 13 Uhr, die Stadt kennen zu lernen. In großer Hitze laufen wir im Rudel los, halten uns auf dem belebten Boulevard Maréchal Foyolle zunächst zusammen, nur mit der groben Orientierung als Richtung, die uns das Wahrzeichen hoch oben in dieser Pilgerstadt gibt: eine riesige Marienfigur auf einem Berghügel, direkt über der Innenstadt. Das ist mein Ziel. Nachdem ich an der Mairie, der Bürgermeisterei, an einem winzigen Marktplatz, einen Handzettel mit Stadtplan in die Hand bekam, löste ich mich vom Tross und steuerte zunächst auf das Kloster zu, dabei immer auf buckligem Kopfsteinpflaster empor steigend. Natürlich mit Martina. Die Rue Cardinal de Polignac ist eng. Hier steh die Privatschule Anne Marie Martel. Sie lebte 1644-1673 und gründete 1668 in Le Puy-en-Velay die Kongregation der „dames de l’Instruction“, bekannt unter dem Namen der „Béates“15. Die Fräuleins zogen in die kleinen Dörfer des Velay, um dort Religionsunterricht zu erteilen, Lesen, Schreiben, Rechnen und Spitzenklöppeln zu lehren sowie den Kranken und Sterbenden beizustehen. Die kleinen Häuser der Béates, die „assembles“, werden in vielen kleinen Weilern heute wieder restauriert und als Versammlungsraum genutzt. Wir folgen der Rue Cardinal de Polignac und sehen zur Linken und Rechten viele alte Stadthäuser der Adelsfamilien aus dem Umland aus dem 15. bis 17. Jahrhundert. Ich erfahre aus dem Prospekt: Der Kardinal Melchior de Polignac (1661 – 1741) war nicht nur Erzbischof von Auch und Botschafter Frankreichs in Le Puy-en-Velay Rue Cardinal de Polignac 14 Le Puy-en-Velay: Der Ortsname ist abgeleitet von dem französischen Wort le puits = der Brunnen. Velay ist der Name der Landschaft am Oberlauf des Allier im Zentralmassiv. 15 Les béates = frz. (etwa): die Seligen © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 95 Polen, sondern handelte auch 1713 im Namen der Franzosen den Vertrag von Utrecht aus, der dem Enkel Ludwig XIV. den Thron Spaniens unter dem Namen Philipp V. zuerkannte. Er war zudem Schriftsteller, Gelehrter und Sammler antiker Skulpturen. Seine Antikensammlung wurde nach seinem Tode von Friedrich dem Großen aufgekauft und befindet sich heute zum Teil in Sanssouci. Wir gelangen durch ein Tor, die Porte St-Georges, das die Straße noch einmal enger macht, in die Rue St-Georges. Bald stehen wir am Eingang zum Kloster, das direkt an die Nordseite der Kathedrale anschließt. Martina will warten und interessiert sich nicht. Ich bereue nicht den kleinen Obolus und schaue mir zunächst die Schatzkammer an. Eine Treppe führt zum Museum für religiöse Kunst zu einer Sammlung von Gemälden, Statuen und kirchlichem Geschmeide, in deren Herkunft und Bedeutung ich nicht eindrang. Sie war im ehemaligen Ständesaal des Velay untergebracht. Mehr Interesse fand ich an einem Fensterziergitter, durch das ich ein schönes Foto vom Turm der Kathedrale schoss. Dann gelangte ich hinunter in den romanischen Kreuzgang. Dieser steht unter Denkmalschutz und stammt zeitgleich aus der Bauzeit der Kirche, nämlich aus dem 11. bis 12. Jahrhundert. Seine Arkaden, der Wechsel von hellem und dunklem Stein, die Skulpturen seiner Kapitelle erinnern ein wenig an maurische Bautraditionen – sagen die Fachleute. An der Giebelseite im ehemaligen Kapitelsaal konnte ich ein sehr altes, gut erhaltenes Fresko aus dem 13. Jahrhundert ablichten, das eine Kreuzigungsszene zeigt. Die Ruhe und der Schatten des Innenhofes erzeugten bei mir sofort eine eigenartige Stimmung. Meine Phantasie begann sich auszumalen, wie dieses von der Außenwelt isolierte Idyll auf die Mönche gewirkt haben muss, die ihr Leben in den Dienst ihres Glaubens gestellt hatten. Eine junge Frau saß auf dem Rand unter den Arkaden. Ohne sie aufzustören, konnte ich kein neutrales Foto nehmen. Sie gibt aber in ihrer beschaulichen Haltung mit ihrem schönen Sonnenhut ein friedliches Bild. Ich hole Martina und betrete durch eine Seitentür im Nordteil die Kathedrale. Gesang ertönt. Am Altar drängt sich eine Gemeinde von Pilgern, wie ich vermutete. Wir Touristen drücken uns leise am Rand entlang und lassen diese große Wallfahrtskirche auf uns wirken. Dann schaue ich nach dem Allerheiligsten, der Schwarzen Madonna. Sie stammt aus dem 17. Jahrhundert und muss bedenken, dass während der Religionskriege die Hugenotten in Frankreich viel Kirche ausgeraubt, geplündert, ihre Bilder und Statuen verbrannt hatten. Eine zweite Welle gegen die katholische Kirche tobte in den Le Puy-en-Velay, Kreuzgang an der Kathedrale „Unserer Lieben Frau der Verkündigung“ Revolutionswirren Ende des 18. Jahrhunderts. Die Originalstatue wurde 1794 auf der Place de Martouret verbrannt. Mit dieser Madonna aus einer benachbarten Kirche wollte man der Marienverehrung wieder eine materielle Basis geben. Die echte Statue soll einer Gabe Ludwig IX. (1214 – 1270) entstammen, die dieser angeblich als Geschenk eines ägyptischen Sultans auf dem 7. Kreuzzug 1248 erhalten hat. Ein Gang führt uns zur Sakristei, die einige Elemente des Kirchenschatzes Zeigt, einen Verkaufsstand enthält, wo ich mir eine Postkarte kaufe und einen Blick in die Gewandkammer Schwarze Madonna werfe. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 96 In einer Nische hatte ich einen schönen Blick auf eine in Holz geschnitzte fast lebensgroße Figurengruppe einer „Beweinung Jesus“. Wir verlassen die Kathedrale über die repräsentative Westseite, von deren Portal eine lange Steintreppe in die Rue des Tables, die Straße der Tische führt. Sie heißt so, weil früher hier viele Händler ihre Stände und Tische aufgeschlagen haben, um die Gläubigen „abzufetten“. Doch ehe wir die Treppe hinab stiegen, gewahrte ich ein Plakat mit dem Hinweis, dass in einer Seitenkapelle eine Ausstellung über das Grabtuch von Turin gezeigt würde. Da sie gerade zur Mittagszeit geschlossen werden sollte, drang ich in den Pförtner, uns einen Blick noch werfen zu lassen. Für mich hatte sie besondere Bedeutung. Vor Jahren beschäftigte mich dieses Phänomen dieses angeblichen Grabtuches Jesu. Ich hatte mich mit dem Bericht über das ominöse und fast sagenhafte Grabtuch von Turin befasst16. Auf diesem Grabtuch, das im Dom zu Turin vor einigen Jahren beinahe verbrannt wäre, ist bekanntlich das Negativbild eines Gekreuzigten zu sehen. Seit 1357 ist es lückenlos dokumentiert. 1898 wurde es das erste Mal fotografiert. Bei Umkehrung der Helligkeitswerte erscheint das berühmte Turiner Christusbild. Nun versuchen die Exegeten herauszufinden und wissenschaftlich nachzuweisen, ob es das wirkliche Grabtuch des am Kreuz gestorbenen Heilands der Christenwelt ist. Trägt es zu einer Aufhellung der Vorgänge bei der Kreuzigung des Heilands bei? Eine Kopie in natürlicher Größe von diesem Grabtuch hing nun, ich war völlig überrascht, hier in diesem Raum. Alles war französisch beschriftet. Ich konnte nun nicht entnehmen, was für neue Erkenntnisse, vielleicht der Wissenschaftler oder auch nur der Kirche, hier serviert wurden. Bis heute bemühen sich viele Disziplinen der modernen Wissenschaft nachzuweisen, ob das Tuch nun wirklich das Grabtuch Jesu war oder nicht. So viel steht schon zweifelsfrei fest. Dieses Tuch war wirklich das Grabtuch eines Gekreuzigten aus dem engeren Raum um Jerusalem und ist etwa zweitausend Jahre alt. Ob es einem Menschen namens Jesus von Nazareth zugeordnet werden kann, wird wohl niemals nachzuweisen sein. Le Puy-en-Velay: Zentrum für Ausbildung zum Spitzenklöppeln 16 Nun stiegen wir die vielen Stufen der großen Freitreppe hinab. Rechts unten zog das ausgestellte Klöppelkissen und eine dahinter im Trachtenkostüm sitzende Frau meine Aufmerksamkeit auf sich. Martina steuerte, ohne dass ich von diesem schönen Bild eine Aufnahme machen konnte, schoss Martina in ihren kleinen Spitzenladen hinein, die Frau stand auf und folgte ihr, musste sie ja ein Geschäft vermuten. So konnte ich nur das verwaiste Klöppelbänkchen aufnehmen, für mich in dieser Kunst wahrhaft völlig Unkundigen dennoch ein seltenes Schnäppchen in diesem Lande. Beim Weitergehen fielen mir noch mehrere solcher Geschäfte auf. Ich erfuhr dann schnell, dass Le Puy-en-Velay ein Ausbildungszentrum für Spitzenklöppeln im Haute-Loire und sogar für ganz Frankreich ist. Es wurde 1974 eingerichtet. Wir stießen dann auch in der Rue Raphaël auf ein sehr großes Geschäft mit repräsentativen, beeindruckenden Auslagen, die diesen Ruf festigten. Hier soll die Tradition einerseits erhalten und gepflegt und von hier andererseits wieder in alle Welt getragen werden. Was kann man alles entdecken! Doch wie wenig Zeit steht zur Verfügung, und man muss schnell sein wie ein Guppy im Aquarium. Wir hatten nun noch ein großes Ziel: Hinauf zur Notre-Dame-deFrance auf den Rocher Corneille! Die Sonne schien heiß, jetzt um die Mittagszeit, und es war ein mühsames Stück Weg! Wir meisterten ihn zusammen mit vielen Menschen, vor allem Jugendgruppen in W. Bulst/H. Pfeiffer,: „Das Turiner Grabtuch und das Christusbild“, Verlag Josef Knecht, Frankfurt/Main, 1987 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 97 einheitlicher Kleidung, die sich aufgeregt und laut schwatzend, um uns herum tummelten. Der Blick von oben auf die roten Dächer der Stadt und die grünen Hügel der Umgebung war überwältigend. Besonders ein Vulkankegel fiel auf, der 85 m hohe Aiguilhe17 St-Michel . Oben thront wie ein Schloss im Märchen die Chapelle St-Michel d’Aiguilhe, die wahrscheinlich irgendwann im 10. oder 11. Jahrhundert einen römischen Merkurtempel abgelöst hat. Le Puy-en-Velay vom Rocher Corneille nach Norden. Im Vordergrund der Aiguilhe St-Michel Dann stehen wir zu Füßen der eisernen Madonna, die 22,7 Meter hoch aufragt; sie hat das Jesuskind im Arm, eine goldene Sternenkrone auf dem Haupt. Sie wurde 1857-1860 errichtet, ist ganz in Rosa gestrichen und besteht aus dem Eisen von 213 Kanonen, die im Krimkrieg18 1856 von den Russen erbeutet wurden und ihr zu Ehren nach dem Frieden von Paris umgeschmolzen wurden. In ihrem Inneren führt eine steile, enge Treppe aus Gusseisen empor. Von außen kaum sichtbar, sind in ihrem Gewand geschickt Öffnungen, kleine Luken, angebracht, durch die der Besucher Blicke ins Land werfen kann, ein Erlebnis der besonderen Art. Ich drängelte mich natürlich auch hinauf, bildete dieser Aufstieg gewissermaßen und fast buchstäblich den Höhepunkt meiner Visite in Le Puy. Auf der Plattform kniet ein bronzener Bischof in betender Haltung vor dem Madonnendenkmal. Junge Mädels in weißen Blusen und Hüten, in dunkelblauen Röcken kämpfen zwischen jugendlichem Übermut und religiösem Eifer. Sie werden streng bewacht von ältlichen Schwestern, die sie zusammenhalten und von Zeit zu Zeit zur Ordnung rufen. Über den Bischof hinweg kann ich die Kathedrale und das Kloster und die jetzt in der Hitze brütende Altstadt sehen. Es ist schön hier oben. Ich habe ein gutes Gefühl. Nun forderte die Natur ihr Recht. Einerseits mussten wir nach einem stillen Örtchen suchen- der Leser lache nicht, es gehört zum Wohlbefinden genauso wie die andere Seite, nämlich den Leib mit Nahrung zu versorgen. Also eilten wir jetzt bergab zum Bus zurück. Ein wenig schon hatte ich die Orientierung. Und einen Hauch dieser Pilgerstadt, eines Ausgangspunktes auf dem Jakobsweg nach Compostella, hatten wir eben auf dem Felsen Corneille gespürt. Noch einmal blieb ich vor dem kompakten Brunnen Crozatier stehen, dann siegte der Reisealltag. Im Bus versorgte uns Peter Großer mit Bockwurst und 5-Minuten- Suppen und Getränken. Indessen nahm Knut genau 13 Uhr die Fahrt auf und lenkte uns durch den dichten Stadtverkehr auf die Landstraße. Während der Fahrt nach Norden hielten wir schon nach etwa 20 Minuten zu einem Fotostopp. 6 kim nordwestlich von Le Puy erhebt sich ein ungefähr 100 m hohes Basaltplateau unvermittelt aus einer besiedelten Ebene. Auf ihm weisen die Ruinen eines Schlosses, des Château de Polignac, auf einen 17 Aighuilhe= la aiguille, frz. Nadel, (Berg-, Turm-)spitze Krimkrieg, 1853—1856, Krieg zwischen Russland und der Türkei, an deren Seite 1854 England und Frankreich, später (1855) auch Sardinien in den Krieg eintraten. Ursache war das Expansionsstreben Russlands auf dem Balkan, das weder England noch Frankreich zulassen wollten. Die Entscheidung im Krimkrieg fiel mit der Belagerung und Besetzung der Krimfestung Sewastopol (erster Stellungskrieg der modernen Geschichte). Finanznot zwang Russland zum Frieden von Paris (1856). 18 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 98 Mann hin, den ich vorhin beschrieben habe. Seine Glanzzeit hatte diese Burg sicherlich im 16. Jahrhundert, war gut befestigt, so dass es heute auch „ La Forteresse de Polignac“, Festung genannt wird, gegen feindliche Angriffe schon durch seinen natürliche Lage gesichert. Die famille de Polignac hat in der Politik des Velay und Frankreichs schon immer eine Rolle gespielt. Der berühmteste Polignac war sicher Melchior, der Kardinal. Aber eine gewisse Yolande, Duchesse de Polignac (1749 -1793), war eine intime Freundin der Maria Antoinette am Hofe Ludwig XVI. Gewiss hat sie sich in Versailles ihren Herzoginnen- Titel in weichen Pfühlen erworben. Der Geschichtskundige ahnt, wo sie ihren Kopf verloren hat. 1793 hielt die Revolution unter den Königstreuen blutige Ernte, und die Guillotine sauste auf und nieder. Ein Sohn von ihr, Jules Auguste Armand, Prince de Polignac, geboren 1780 in Versailles (ich schätze mal, Vater nur ihr bekannt!), wurde später Ratspräsident und Außenminister in den Jahren Napoleons und starb erst 1847. Die ländlichen Baronien, zu der auch Polignac gehörte, wurden nach einem ehernen Gesetz immer dem Erstgeborenen weitervererbt. Der zweite und jeder weitere Sohn musste dann in den Armen der Kirche sein Heil suchen oder in der Politik an einem Fürstenhofe, oder er studierte eine Wissenschaft. Die Töchter erhielten eine Mitgift und wurden möglichst in den Adel verheiratet. Erst die Französische Revolution durchbrach diese absolutistischen Regeln und löste mit der neuen Herrschaft des Bürgertums die des Feudaladels ab. Da gleichzeitig die Kirche ihre Vormachtstellung verlor, verfielen viele dieser Adelssitze, da ihnen das Geld ausging. Erst Ende des 19. und im 20. Jahrhundert bauten sich reich gewordene Bürger und Industrielle manches Schloss auf dem Lande wieder auf. Oder es holte sich ein Zweig der Familie sein Schloss zurück, wie wir es auf Beynac an der Dordogne aus dem Stammbaum erfuhren. Polignac jedenfalls blieb bis heute eine Burgruine mit einer Wehrmauer, wobei es landschaftlich auf diesem Gesteinsrücken einen wunderbaren Platz einnimmt. Weithin sichtbar steht noch der 32 m hohe Donjon, der aus dem 14. Jh. stammt. Schade, wir mussten nach ein paar Fotos von diesem Anblick Abstand nehmen und wieder einsteigen. Eine Stunde später, gegen 14.15 Uhr, erreichten wir Brioude, das am Ufer des Allier liegt. Das etwa 8000 Einwohner zählende Städtchen ist für ihre Basilique St-Julien (1060 – 1180) berühmt, die mit 74 m Länge die größte romanische Kirche in der Auvergne darstellt. Sie wurde zu Ehren eines römischen Heiligen namens Viennes gebaut. Wir hielten irgendwo in der Nähe mit Sicht auf eine alte Steinbrücke über den Allier Mittagsrast. Wundervolle Ruhe und eine grüne erhabene Landschaft bezauberte mich. Ich fotografierte wilde weiße Lilien, die Königsblume der Franzosen. 14.50 Uhr überfuhren wir die unsichtbare VerwaltungsGrenze zum Département Puy-de-Dôme, dessen Hauptstadt Clermont- Ferrand ist. Aber zunächst hielt unsere Reiseleitung in dem Städtchen Issoire an. Alle stürmten an den Ort der reflexiven Leiblichkeit. Als diese Lebensfunktion geregelt war, folgten wir Peter Großer über die Straße und hatten wieder Auge und Ohr für einen Blitzbesuch in der großen Kirche St-Austremoine, die etwa aus dem 12. Jahrhundert stammt. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 99 XVII. Issoire ssoire liegt an der Mündung des Flusses Couze d’Ardes in den Allier. Es ist ein Industriestädtchen mit schon knapp 16 000 Einwohnern und hat neben dieser großartigen Kirche und einigen Denkmälern nicht allzu viel Kulturelles zu bieten, das über seine Stadtgrenzen hinaus weist. Aber diese Kirche! Doch halt! Ein Stadtprospekt verrät mir, dass die Stadt dennoch ihre Geschichte und einige bewahrte historische Bauten aufzuweisen hat. Das zeigt schon der Grundriss der Altstadt. Die heutigen Boulevards bilden einen Ring um sie. Hier verliefen die einst die Wehrmauern. Wie viele französische Städte litt Issoire sehr in der Zeit der Religionskriege. Vieles brannte ab oder wurde sinnlos zerstört. Einige wunderschöne Bauwerke sind erhalten geblieben, so die Abteikirche St. Austremoine aus dem 12. Jh. (1), der wir gerade zustrebten. Nicht vergessen darf der Besucher, der hier länger verweilen darf die folgenden: (2) Romanisches Kunstzentrum Georges-Duby, (3) Kulturzentrum Nicolas-Pomel, (4) Museum des Steines der Weisen Issoire, Plan der Altstadt mit den wichtigsten historischen Bauten (5) Hôtel Bohier, (6) Arkadenhaus, (7) Hôtel Duprat, (8) Hôtel Charrier, (9) Uhrenturm, (10) Getreidehalle, (11) Hôtel Clément, (12) Maison Bartin. Ich lasse mich hierüber nicht weiter aus, weil wir uns nur auf die Abbatiale St-Austremoine konzentrierten, die Abteikirche. Sie ist eine der fünf bedeutendsten romanischen Kirchen in der Auvergne. Dieses Bauwerk zeichnet sich schon von außen durch seine eindrucksvollen Ausmaße, seine reichen Malereien im Innern und die besondere Pracht seines Chores aus. Sie steht schon seit 1835 unter Denkmalsschutz. Als wir in das weite Längsschiff eintraten, hörten wir Musik. Im Chor musizierte eine junge Streichergruppe, deren Leiterin sich sogar bei uns entschuldigte und fragte, ob sie uns nicht störten. Wir versicherten ihr das Gegenteil und unsere Freude über das Spiel. Sie meinte, sie würden üben, und es klänge nicht schön genug. Wir erhielten ihr Einverständnis, dass wir im Chor herumgehen und fotografieren dürften, während sie spielen. So blieben wir in gegenseitiger Toleranz. Vielkerzige Leuchter ließen den Chorraum in warmem Licht erstrahlen. Die Säulen mit der doppelten Bogenreihe darüber in all ihrer farbigen Pracht (19. Jh.) zu beschreiben, die den Chorumgang begrenzten, ist mir nicht möglich. Die figürlichen Kapitelle erzählten jedes eine biblische Geschichte in solcher meisterhaften Eindringlichkeit. Ich fand, dass ich die schönsten romanischen Kapitelle überhaupt sah. Im Vorraum entdeckte ich noch ein wundervolles Wandfresko, das das Jüngste Gericht in erstaunlicher Schönheit darstellte. Issoire, Abbatiale St-Austremoine I © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 100 Dieses Fresko des Jüngsten Gerichts aus dem 15. Jahrhundert im Vorraum der Kirche hat etwas von der Art des Hieronymus Bosch. Sünder werden in ein Drachenmaul geworfen. Ein Mägdelein wird in einer Schubkarre zur Hölle befördert. Die aus ihren Gräbern Gestiegenen werden von einer Jungfrau auf steinigem Bergwege hinauf zum Urteil gewiesen. Zu Christus im Mittelbogen blicken andächtig die Erlösten. Die Verdammten aber überlässt der Erzengel Michael, ritterlicher Kämpfer gegen den Satan, der Hölle. Was hatte es mit dem heiligen Austremoine auf sich? Er war Missionsbischof in Rom. Sieben solcher Leute gab es in der Auvergne. Der heilige Austremoine ist der erste Bischof in Clermont-Ferrand gewesen, wohnte dort bei einem Juden und wollte dessen Sohn bekehren. Da hat man ihn erschlagen. Irgendwann ist er dann heilig gesprochen worden. In der geräumigen Krypta, in die wir hinunter stiegen, fand sich in einer Nische eine Statue von ihm: „Priéz pour nous“, „Bitte für uns.“ Wir alle haben nötig, dass jemand für unsere Sünden betet. Doch wer anders als solche Heiligen, an die man aber fest glauben muss, tut dieses? Ich versuchte noch einmal, einige Kapitelle zu fotografieren. Es fehlte für diesen Abstand das rechte Licht, oder ich verwackelte bei langer Belichtungszeit. So traf ich nur wenige dieser herrlichen romanischen Kunstwerke in scharfen Konturen. Und mein Auge allein musste diese Dämonen und Bestien, aber auch die Szenen aus dem Abendmahl mit den eingeschlafenen Aposteln wahrnehmen und versuchen zu behalten. Eine wunderschöne Madonna mit dem Kinde glänzte in allen Brauntönen im farbigen Lichte eines bunten Glasfensters. Das war ein gutes Abschiedsbild. Auf Wiedersehen, Issoire! Schon 15.15 Uhr jagte unser Knut mit dem Bus auf der A75 weiter nach Norden. Bald kamen wir, in der Nähe des Hauptorts im Département Puy-de-Dôme, Clermont-Ferrand, in einen bouchon18. Die nachmittägliche Hauptverkehrszeit erlebten wir mit. Es gab auch Baustellen auf dieser viel befahrenen Autobahn, eine der Hauptadern aus Zentralfrankreich nach Paris. Rechter Hand floss auf langen Strecken der mit starkem Gefälle nach Norden strebende Allier. Richtige kleine Stromschnellen konnte ich an einigen Stellen beobachten. Um 16.30 passierten wir C.-Ferrand. Leider wird auf dieser Reise keine Zeit sein, sie zu Baustelle auf der A 75 nach Paris besuchen. XVIII. Clermont-Ferrand D er Doppelname hat natürlich seinen Ursprung in der langen Ortsgeschichte. Einst lag hier auf einem Hügel, beinahe zu Füßen der höchsten Erhebung der Auvergne, des Puy-deDôme, eine keltische Siedlung namens Oppidum Nemessos. Im 3. Jahrhundert wurde sie christianisiert, von den Römern besetzt und zu der blühenden Stadt Augustonemetum gemacht. Ab dem 8. Jahrhundert hieß sie Clair- Mont. Bis zum 10. Jahrhundert wurde dieser Ort von den 18 le bouchon = frz. Stöpsel, Korken, Spund; (Verkehrs-)Stau © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 101 Franken, Mauren und Normannen mehrmals niedergemacht und zerstört. Im November des Jahres 1095 rief Papst Urban II. in seiner Rede auf der Synode in Clermont - im Beisein von über 300 Bischöfen und Äbten – hier zum ersten Kreuzzug auf. Robert, ein Mönch aus Reims, der behauptet, bei dieser Rede dabei gewesen zu sein, verlegt sie sogar aufs freie Feld und schildert sie zehn Jahre später so: Papst Urban II. reist nach Clermont und predigt den Kreuzzug Clermont, 27. November. Auf freiem Feld hält Papst Urban II. vor Rittern und Klerikern aus ganz Frankreich eine mit Spannung erwartete Rede. Die Menge ruft am Ende: Deus lo vult. Gott will es, und der Papst bestimmt: Dies soll der Schlachtruf sein! Spontan hefteten sich viele ein Stoffkreuz an und gelobten ihre Pilgerschaft… (Miniatur um 1350 aus Peter Milger Die Kreuzzüge“, Orbis Verlag) Robert, der Mönch, zitiert den Papst (1106) in dieser Rede weiter: „…sie beschneiden die Christen und das Blut der Beschneidung gießen sie auf den Altar oder in die Taufbecken. Es gefällt ihnen, andere zutöten, indem sie ihnen die Bäuche aufschneiden, ein Ende der Därme herausnehmen und an einen Pfahl binden. Unter Hieben jagen sie sie um den Pfahl, bis die Eingeweide hervordringen und sie tot auf den Boden fallen…Ihr solltet von dem Umstand berührt sein, dass das Heilige Grab unseres Erlösers in der Hand eines unreinen Volkes ist, das die heiligen Stätten schamlos und gotteslästerlich mit seinem Schmutz besudelt.“ Die Hintergründe des ersten und auch der folgenden sechs Kreuzzüge sind andere als nur der religiöse Eifer, das christliche Jerusalem zu retten. 1076 kommt es zu heftigen Kämpfen zwischen den seldschukischen Türken und den fatimidischen, schiitischen Herrschern Ägyptens um Jerusalem. Die Türken behalten die Oberhand und richten unter den schiitischen Moslems ein Blutbad an. Weiterhin ist Byzanz in der Krise. Die Seldschuken eroberten Kleinasien und bedrohen Konstantinopel, die Hauptstadt von Ostrom. Sie betrachten sich gegenseitig als Ketzer. Im Jahre 1085 ist Kleinasien von den Türken vollständig besetzt. Also ruft Urban die Gläubigen auf: „Dieses Land ist von Gott den Söhnen Israels zum Eigentum gegeben worden, wo Milch und Honig fließen, wie die Schrift sagt. Jerusalem ist der Nabel der Welt, das Land ist fruchtbarer als andere, ein zweites Paradies der Lustbarkeiten…“ - und er lässt neben dem Lohn im Himmel: „…Wer nur aus Frömmigkeit, und nicht zur Erlangung von Ehre oder Geld zur Befreiung der Kirche Gottes nach Jerusalem aufgebrochen ist, dem soll die Reise auf jeder Buße angerechnet werden…“ Auch einen Lohn auf Erden winken: „…Das Land, das ihr bewohnt, vom Meer und Bergen eingeschlossen, ist durch eure große Zahl zu eng geworden. Es enthält keinen Überfluss an Reichtum und die Nahrung reicht kaum für ihre Erzeuger aus…“ Peter der Mönch führt den Kreuzzug an Miniatur um 1350 Es wehte ein neuer Wind im Abendland. 19 Der lothringische Herzog Gottfried von Bouillon schwang sich im Sommer 1096 zum Führer des ersten Kreuzzuges auf und eroberte 1099 Jerusalem. Christliche Reiche und Ritterorden wurden gegründet, um die Logistik abzusichern. Alte Reiche gerieten in Gefahr der Vernichtung… 19 Gottfried IV., Gottfried von Bouillon, Herzog von Niederlothringen seit 1087, * um 1060, † 18. 7. 1100 Jerusalem; Führer des 1. Kreuzzugs (1096—1099); verkaufte zuvor alle seine Güter einschließlich der Stammburg Bouillon; erstürmte 1099 Jerusalem, wurde im selben Jahr zum ersten König von Jerusalem gewählt, begnügte sich aber mit dem Titel „Vogt des Heiligen Grabes“. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 102 1731 wurde das nordöstlich gelegene Montferrand, Sitz der Grafen der Auvergne, nach Clermont eingemeindet. Ein berühmter Sohn der Stadt ist Blaise Pascal20 (1623 – 1662). Seit 1832 existiert die Tradition der Gummi- Industrie. 1886 nahm hier die Reifenfirma Michelin ihren Sitz. Sie beschäftigt heute einen großen Teil der Arbeiterschaft in der Stadt. Irgendwann warfen Bistum Clermont und Grafschaft Montferrand ihre Brocken zusammen, und so heißt die Stadt heute eben Clermont-Ferrand. Ihre Haupt-Kirche ist schwarz. Schon von weitem sah ich ihre gotischen Türme in die Höhe ragen. Sie blieb in der Ferne. XIX. Vichy O bwohl Vichy im Département Allier liegt, dringen wir nicht weit in diesen vierten Verwaltungsbezirk der Auvergne ein. Vichy liegt am südlichen Rande der Bezirksgrenze rechts des Allier. Trotz einiger Kulissenschieberei der Wolken am Himmel hat das Wetter gehalten. Es sind, als wir in Vichy eintrafen, um 17 Uhr noch 32° C Lufttemperatur. Wir kommen von Westen in die Stadt über den Pont de l’Europe, die Europabrücke. Sie überspannt hier den Lac d’Allier. Der Allier ist zu einem kleinen See verbreitet worden. Er dient als Regattastrecke und zu wassersportlicher Betätigung. Mit Hilfe des Reiseleiters, der einen Stadtplan verwendet, lenkt Knut den Bus durch ein Netz von Einbahnstraßen, bis wir an einem kleinen Platz schnellstens unsere Koffer aus dem Bus empfingen, weil wir die enge Straße verstellten. Durch parkende Autos und einen enge Gasse mussten wir unsere Koffer bugsieren, über einen winzigen Platz, die Place Sévigné. Einige Bäume verstellten die Vorderfront eines kleinen Hotels. Wir waren angekommen und sollten hier zwei Nächte logieren. Hôtel Grignan21, hieß das Haus, in dessen Gängen ich erst einmal unser Zimmer suchen musste. Das Zimmer war eng, dunkel und ruhig, die Fenster gingen auf eine noch kleinere Gasse oder einen gepflasterten Hof hinaus, die Luft war stickig. Wir hatten eine lange Fahrt hinter uns. Dennoch überredete ich Martina, mit mir noch einen Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen Vichy ist mir als Name bereits schon lange im Begriff. Es ruft Assoziationen zum zweiten Weltkrieg herauf. Andererseits ist es schon lange ein berühmtes Kur- und Heilbad mit kohlensauren Natriumquellen; bekannt auch durch den Versand von Wasser und seinen Salzen, die Herstellung von Zuckerwaren und Arzneimitteln. In den Jahren von 1940-1944 war es französischer Regierungssitz, der so genannten VichyRegierung. Nach dem von Ministerpräsident Marschall Pétain22 abgeschlossenen Waffenstillstand mit Deutschland (22. 6. 1940) wurde der größte Teil Frankreichs von deutschen Truppen besetzt. Die Regierung nahm ihren Sitz in Vichy, das im unbesetzten Teil des Landes lag; Pétain erhielt am 10. 7. 1940 von der Nationalversammlung unbeschränkte Vollmachten. Er errichtete als Staatschef des État Français ein autoritäres Regime; leitender Minister war bis Dezember 1940 P. Laval, bis April 1942 F. Darlan, danach wieder Laval. Das politische Ziel der Vichy-Regierung war es, durch Zusammenarbeit (Kollaboration) mit Deutschland möglichst viel Eigenständigkeit für Frankreich zu retten. Von außen bekämpfte das „Freie Frankreich“ Charles de Gaulles, von innen eine wachsende 20 Pascal, Blaise, französischer Mathematiker, Theologe und Philosoph, * 19. 6. 1623 Clermont, Auvergne, † 19. 8. 1662 Paris; frühreif, beschäftigte sich schon als Kind mit Mathematik. 1639 erschien seine Schrift über die Kegelschnitte (Pascalscher Satz); mit 19 Jahren erfand er eine Rechenmaschine; 1647 schrieb er über das Vakuum, 1649 über die Zykloide. Pascal begründete die Wahrscheinlichkeitsrechnung… 21 Grignan: Ort und Adelssitz bei Nyons im Département Drôme im 17. Jh. 22 Pétain, Philippe, französischer Offizier und Politiker, * 24. 4. 1856 Cauchy-à-la-Tour, Département Pas-de-Calais, † 23. 7. 1951 Port Joinville, Île d'Yeu; als Organisator der Abwehrschlacht von Verdun (1916) zum Nationalheld geworden, 1917 Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte, 1922—1931 Generalinspekteur, 1934 Kriegsminister, 1940 Ministerpräsident; schloss den Waffenstillstand mit Deutschland und Italien. Als Staatschef (1940—1944) gründete Pétain die autoritär- paternalistische „Vichy“- Regierung, die Frankreich eine gewisse Unabhängigkeit von Deutschland bringen sollte. 1945 wurde er wegen Hoch- und Landesverrats („Kollaboration“) zum Tod verurteilt, aber zu lebenslänglicher Haft begnadigt. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 103 Widerstandsbewegung (Résistance) die Vichy-Regierung. Nachdem im November 1942 auch der Rest Frankreichs von deutschen Truppen besetzt worden war, verlor die Vichy-Regierung ihre Wirkungsmöglichkeiten. Durch diese Stadt spazierten wir nun, in straffem Schritt, denn Martina suchte eine Boutique und hatte mir abgerungen, beim Bummeln durch die noch belebten Straßen vorrangig solche zu besuchen. Ich versprach es ihr, war sie doch meistens meinen Wünschen gefolgt. Wir fanden zwar einige Läden- Martina jagte nach einem weißen langen Rock – doch nirgendwo fand sie das Richtige. Dann war es gegen 19 Uhr. Die Geschäfte schlossen. Wir erlebten diese Stimmung intensiv. Jetzt begann die Zeit der Eisdielen, Restaurants und Straßencafés. In strahlender Pracht dominieren die Kurhäuser. Den Kurpark streiften wir nur am Rande. Weißgestrichene schmiedeeiserne Ziergitter wetteifern im Kontrast mit dem Grün der Parkbäume. Dahinter beeindrucken die hohen Bauten der Kurhäuser und Kurhotels aus der Gründerzeit, deren Glanz langsam morbide und brüchig wird. Hier steigen nun nicht mehr die gekrönten Häupter und betuchten Großbürger ab, sonder Vichy reiht sich in die Reihe aller Bäder ein, die Vichy, Boulevard in der Fußgängerzone ihre Wässer für alle sprudeln lassen. Trotzdem gibt es noch 300 Hotels in dieser Stadt, die schon in der Römerzeit gegründet wurde. Die Quellen spenden zwei Heilwässer, eines mit 23°, das andere 40°C. In der Altstadt Vichys gibt es noch wenige, dafür wirklich alte Häuser in stillen Gassen. Ganz in der Nähe unseres Hotels lockte mich eine Kirche in ihren stillen Bann, die Église St-Blaise, die Blasiuskirche. Martina wollte schon ins Hotel. Ich erholte mich in diesem recht eigenartigen Bauwerk für einen Augenblick, fand einen Moment der Ruhe und Besinnung und Abstand von den vielen Eindrücken des Tages, überwand die hetzende Reizüberflutung. Das Innere war eine große Halle mit Emporen. Aber das Wundervollste schien mir, dass ich allein war und das vielfach gefilterte und gebrochene Abendlicht durch die hohen Glasfenster für mich und in Andacht genießen konnte. Im Hotel dann fand das abendliche Mahl statt. Es gab Wein und Hühnchen, fettige Bratkartoffeln und Gemüse, Wasser und Brot dazu. Ich weiß es nicht mehr genau. Einmal konnten wir die Koffer ausgepackt lassen. Das scheppernde Geräusch der Klimaanlage begleitete mich Vichy. Hallenkirche Église St-Blaise in den Schlaf. Donnerstag, 23. Juni 2005 XX. Vulcania und Puy de Dôme H eute stand es jedem frei, an dem angebotenen fakultativen Ausflug teilzunehmen. Bis auf ein junges Ehepaar fanden sich aber alle am Bus ein, der nahe einer kleinen Grünanlage parkte, die den bekannten Namen John F. Kennedys trägt. Leichte Schleierwolken im Osten kündeten das Wetter an, dessen Prognose ich frühmorgens immer 5 Minuten vor der halben Stunde im zweiten französischen Fernsehen (TeléMatin) verfolge. Heute soll es bis zu 33° C warm © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 104 werden. Wir verlassen die Stadt, überqueren den Allier auf dem Pont de Bellerive. Die Straße führt an den Hippodromen vorbei, wo einige Sulkifahrer gerade ihre Pferde trainierten. Wir fuhren wieder gen Süden, der Autobahn A71 auf Clermont- Ferrand zu. Wieder durchmaßen wir im Bus diese interessante Stadt, ohne sie kennen zu lernen. Die schwarze Kathedrale, so genannt, weil sie aus dunklem Basaltgestein erbaut ist, sahen wir nur aus der Ferne. Am Horizont erhoben sich die runden Vulkankegel der Auvergne, die diese so berühmt machen. Unser erstes Ziel sollte aber zunächst das Vulkanmuseum Vulcania sein, von dessen außergewöhnlichem Charakter wir schon viel hörten. Es ist mitten in einen erloschenen Vulkankrater 40 Meter in den Berg hineingebaut worden. Aber das erschloss sich uns erst allmählich. Vom Bushalteplatz zum Eingang führten Wege durch ein parkähnliches Gelände zu einem modernen Gebäudeensemble. Dort schraubten wir uns auf einem spiralförmig abfallenden Gang in die Tiefe des ehemaligen Vulkankraters. Wie soll ich das Folgende beschreiben? Ein Prospekt formuliert es dem Fremden so: „In diesem architektonischen Komplex, der sich harmonisch in die Vulkanlandschaft des Naturparks einfügt, haben Sie die Möglichkeit, einen Tag lang eine faszinierende Welt zu erforschen, die sonst nur Vulkanologen zugänglich ist. 3D- Film und ein Film auf einer Riesenleinwand, ein Erdbebensimulator, naturgetreue Landschaftsnachbildungen, interaktive Touchscreens, zahlreiche spannende Animationen, die Ihnen alle Aspekte des Vulkanismus nahe bringen, lassen Sie durch die Zeit reisen und andere Vulkanplaneten überfliegen.“ Der Spiralweg endet auf einer Ebene, die gewissermaßen die Erdgeschosszone des Komplexes darstellt und die geschickt die so genannte Caldera nutzt, eine weitläufige Vertiefung vulkanischen Ursprungs. Hier wurden wir eingecheckt, in einen modernen Bau eingelassen. Viele Menschen in fremder Sprache, umherwirbelnde Schulklassen, Dutzende Piktogramme und Hinweise zu mehreren Untergeschossen, zu denen Fahrstühle führten, Treppen, Blicke in Schächte nach unten, die verwirrende Vielfalt der Möglichkeiten, sich das Programm selbst zu gestalten und die wenigen Informationen, die wir zunächst hatten, lösten Unsicherheit aus. Die Hauptattraktion führte uns zu einem verabredeten Zeitpunkt wieder zusammen. In einer dichten Menschentraube gelangten wir durch eine Schleuse in einen studioähnlichen Raum, mehr breit als lang. Die vordere Breitseite nahm eine Leinwand über die ganze Fläche ein. Von da stiegen Podeste mit Geländern zur Gegenseite auf, mit nummerierten Stehplätzen. Am oberen Geländer jedes Stehplatzes bemerkte ich zwei Druckknöpfe, auf denen die Stärke des Vulcania: Im Simulationsraum für seismische Beben Bebens einstellbar ist. Das Licht erlosch. Ein Mann erschien auf der übergroßen Leinwand – wir vernahmen ihn deutschsprachig – und führte uns in das Pompeji des Jahres 79 und begleitete uns durch den Film. Vorher bat er uns, je nach Lust und Laune, an den zwei Knöpfen die gewünschte Stärke des Erdbebens einzustellen, das wir erleben wollten, etwa von 5 bis 8 auf der Richterskala. Dann lief ein Film ab, der die Vision einer ruhigen friedlichen Landschaft zeigte und den Betrachter in das römische Herkulaneum23 unterhalb des Vesuvs mitten hinein nahm. Kühe weideten. Menschen gingen ihrer Beschäftigung nach. Nächste Szene: Ein Marktplatz mit fröhlichen Menschen, Händlern, Männern, Frauen, Kinder, Tiere aller Art. Plötzlich grummelte es leise, und das Podest, auf dem ich stand, übertrug die Erschütterung auf meinen ganzen Körper. Ich hielt das 23 Herculaneum, Herkulaneum, heute Ercolano, antike Küstenstadt in Kampanien, 7 km östlich von Neapel; 79 n. Chr. mit Pompeji vom Schlamm des Vesuvausbruchs zugeschwemmt; Ausgrabungen seit 1738; Siedlungsreste aus samnitischer Zeit, seit 307 v. Chr. römisch; rechtwinklig angelegtes Straßennetz, Stadtmauer, Theater, 2 Thermenanlagen, sog. Basilika (wahrscheinlich Curia, mit den schönsten Wandmalereien von Herculaneum) und vorzüglich erhaltene Privathäuser mit z. T. erhaltenen Inneneinrichtungen (Mobiliar aus Holz und Hausrat); vor der Stadt Villen mit Bronzebildwerken und einer Bibliothek von Papyrusrollen. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 105 Rohr fester. Auch im Film liefen die Leute nun wie in Panik wild umher, sichere Plätze suchend. Inzwischen gab es neue, derbere Erdstöße. Die Podeste rüttelten und polterten unter uns. Einige zart Besaitete im Raum kreischten auf. Meine Hände umklammerten das Geländer. Dann begann im Film das Chaos. Risse entstanden in Fassaden, riesige Spalte taten sich auf, Schlammlawinen wälzten sich zu Tal, Figuren fielen von ihren erhöhten Standorten, Säulen stürzten ein, begruben Menschen und Tiere. Wildes Schreien auf der Leinwand, die ungeheure optische Nähe, der Raumton schlossen unsere Sinne voll in dieses Naturgeschehen ein. Ich fühlte mich hineingerissen in diesen Weltuntergang. Menschen lagen in ihrem Blut unter Trümmern begraben, verzweifelt nach Hilfe schreiend. Jetzt krachten Steinblöcke den Berg herab, polterten zu Tal und zerstörten alles, was ihnen im Wege stand: Behausungen, Tierherden, Menschengruppen. Feuer brach aus, ein schreckliches Flirren und Sausen erfüllte die Luft, Staubwolken verfinsterten den Himmel. Inzwischen schüttelte uns das Podest durch und durch, riss an unserer Verklammerung mit dem Geländer, brachte uns aus dem Gleichgewicht, während vorn die Verwüstungen weitergingen. Nun machte die Kamera den Blick auf den Berg frei: Rotglühende Lavaströme wälzten sich den Hang hinab, alles Grün und menschlich Erbaute unter sich begrabend. Durch unheilvolles Grollen kündigte sich ein weiterer Erdstoß an, noch heftiger als der vorhergehende, er ließ uns ahnen, welche Steigerungen es noch geben kann, und immer wieder dröhnte, krachte, rüttelte und polterte es, auf der Leinwand war nur noch schwarzes Pfeifen und Zischen, ohrenbetäubendes Tosen umgab uns in unerträglicher Lautstärke. Das Podest unter mir spielte verrückt, stieß mich hin und her, krachte vor und zurück und stauchte mich, als führe ich mit hundert Sachen über einen frisch gepflügten Acker. Es war völlig finster. Jeder fühlte sich allein in diesem Chaos… Das ging einige Minuten so. Plötzlich ging das Licht wieder an. Der Mann erschien wieder, lächelte freundlich. Unsere Podeste beruhigten sich. Wir fühlten wieder festen Boden unter uns. Die Demonstration war zu Ende. Sehr wirkungsvoll. Besser kann man derzeit ein Erdbeben nicht simulieren und nachempfinden, glaube ich. Es sei denn, man erlebt es in Echtzeit. Dann allerdings… Das war wirklich ein Höhepunkt. Die Anlage entstand erst im Jahre 2005 und war noch neu. Im Amphitheater lief ein 12minütiger Film über die Entstehung des Zentralmassivs, ein weiterer Höhepunkt! Wer sich noch nicht mit geologischen Vorgängen beschäftigt hat, staunt was die Naturkräfte unter ihren wechselseitigen Zwängen zustande bringen. Der Film war sehr populärwissenschaftlich angelegt, er soll ja auch Kindern und Jugendlichen verständlich sein. Am Anfang führte der Film ins Innere der Erde, wo Vulcanus24 mit seinen Gesellen am Schmiedefeuer arbeitete und die rechte Glut entfachte. Dann schritt in Ledersandalen ein mittelalterlicher Forscher am Rande des Vulkanes, wollte an den Rand des Kraters. Da spie er Feuer und begrub ihn in einer Lohe von glühenden Steinen und giftiger Asche. Echte Vulkanausbrüche wurden gezeigt, an manchen Stellen der Erde, und ihre Auswirkungen, Naturgewalten, Katastrophen- ein spannender, lehrreicher Film. Aufnahmen aus dem Flugzeug vermittelten lebendige Bilder rot kochender Vulkane, fließender alles Leben vernichtender Lavaströme und explodierender Bergkegel mit unvorstellbarer Sprengkraft. Der Zuschauer erfuhr vom Ätna, dem Stromboli, den aktivsten europäischen Vulkanen, aber auch von St. Helena in Nordamerika, den Vulkanen auf Hawaii, den Katastrophen vom Krakatau in Indonesien und anderes. 24 Vulcanus, Volcanus, römischer Gott des (Erd-)Feuers; ursprünglich etruskischer Gott, dem griechischen Hephaistos gleichgesetzt. Im Mittelpunkt seines Hauptfestes stand ein Fischopfer. Hephaistos, Hephäst(us), lateinisch Vulcanus, in der griechischen Mythologie Gott des Feuers und der Schmiedekunst, der (hinkende) Sohn von Zeus und Hera, Gatte der Aphrodite. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 106 Wir hatten viel Zeit an diesem Vormittag, nach meinem Geschmack zu viel. Wir schauten uns nun in den Museumsräumen um, setzten uns in den Vulkangarten, einer verglasten Orangerie, in der neuseeländischen Baumfarn neben Pflanzen aus dem Vulkanmassiv wuchsen und verspeisten ein mitgebrachtes Brot. Ich ging kurz nach draußen und fotografierte das Glashaus von außen. Weiter waren im Inneren dann zu sehen ein fünfminütiger Dokumentarfilm über die Eruption des Mount St-Helena am18. Mai 1980, die Rampe der Glutwolken und die erschütternden Bilder an einem Modell, wie die heimgesuchte Stätte unter der dicken Ascheschicht danach aussah. Im bequemen Liegesessel erlebten Martina und ich einen Kometenflug in einem Planetariumssaal. Das war schon faszinierend. In einem Raum des untersten Geschosses zeigten verschiedene Vitrinen Modelle und Dioramen von verschiedenen Stellen der Erde, wie es vor und nach einem Vulkanausbruch aussah. Mythen und Legenden von Vulkanen und verschwundenen Städten wurden mit interessantem Bildmaterial vermittelt. Allerdings wurde mir dann doch die Zeit lang, und wir waren dann am Ende froh, als wir uns wieder treffen konnten und um genau 14.35 Uhr die Fahrt weiterging. XXI. Orcival und St-Nectaire W ährend des Fahrens erzählte Peter Großer von der Auvergne, seinen dreißig bis fünfzig oder hundert Vulkanbergen, je nachdem wo man die Höhengrenze wählt, vom historischen Stammgebiet der Bourbonen25, dem Bourbonnais, etwa mit dem Territorium des heutigen Départements Allier übereinstimmend. Die wallende Hügelkette zieht am Busfenster vorüber, davor liegt das Plaine de Limagne, ein natürliches Becken, das vom Allier durchflossen wird. Der Puy de Dôme überragt mit 1465 m als höchster die Berge des Zentralmassivs, die „Chaîne des Puys“. Bald sahen wir ihn. Er Les Chaîne des Puys, die Vulkanhügel der Auvergne war unser nächstes Ziel. Vorerst fuhr uns Knut in die Irre, auf einen anderen Berg. Auf enger steiler Straße geht es den Berg hinan. Je höher wir kommen, desto größer wird der Überblick, immer schöner die Sicht auf das grüne, bucklichte Land der hundert Hügel. Nach 14 km Fahrt auf dieser Mautstraße mit 12% Steigung erreichten wir bald den höchsten Punkt. Allerdings führt auch noch ein Weg, der aus der Römerzeit stammt, mit 30 – 40% Steigung herauf. Hier oben wurde uns nun nur eine halbe Stunde Aufenthalt gegönnt. Das war entschieden zu wenig, um wenigstens einen Rundgang um das Gipfelplateau zu machen. Drachenflieger schwebten in der Luft, Paraglider muss ich sie richtiger benennen. Ihre bunten Schirme belebten das Bild, das ich von hier oben aufnahm. Der Puy de Dôme liegt 1000 m über Clermont-Ferrand und 500 m über Vulcano. Ein Fernsehturm beherrscht das steinige Gipfelmassiv des Berges. Im Altertum errichteten die Kelten hier oben ihrem Gott eine Kultstätte, dann die Römer einen Merkurtempel, dessen Reste ich mir in aller Schnelle ansah. Auch die Gallier betrachteten ihn als heiligen Berg. 1872 stieß man auf diese Reste, als man das Observatorium baute. 25 Bourbonen, französisches Königsgeschlecht, Zweig der Kapetinger, seit 1327 Herzöge von Bourbon, herrschte 1589—1792 und 1814—1830 in Frankreich. Bourbonenlinien regierten auch in Spanien 1700—1931 und seit 1975, in Neapel-Sizilien 1734—1860, in Parma-Piacenza 1748—1802 und 1847—1860. Das Wappenzeichen der Bourbonen ist die Lilie. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 107 1648 diente die Höhe dieses Berges Blaise Pascal zu einem Experiment. Er wollte den Versuch von Torricelli zum Luftdruck überprüfen und bat daher seinen Schwager Florin Périer, im selben Moment die Höhe der Quecksilbersäule oben auf dem Puy de Dôme zu messen wie er in Clermont: Die Differenz betrug 8,4 cm. Die Hypothese vom Luftdruck war somit experimentell bestätigt. Ein denkwürdiges Datum wird hier immer wieder genannt: Am 11. März 1911 (an anderer Stelle las ich auch 7. März) startete in Paris ein Flugzeug und legte den Weg zum Puy de Dôme in 5 Stunden 11 Minuten zurück, um den begehrten Michelin- Preis zu gewinnen. Der Pilot Eugène Renaux landete seine Maschine samt Passagier auf dem Gipfel und gewann den Grand Prix de Michelin von 100 000 Francs. Ich verschaffte mir noch in aller Schnelle, schon von Martina zur Eile gemahnt, einen Blick hinunter nach Clermont-Ferrand. Dazu musste ich auf dem Gipfelplateau noch ein Stück steigen. Einen kurzen Foto- Halt in 1320 m Höhe durften wir noch kurz nach der Abfahrt genießen, einen Blick nach Norden über die grandiose Vulkankette, die sich, 5 km breit, längs eines 30 km langen tektonischen Grabens am Westrand der Limagne erstreckt. Sie ist erst etwa vor 50 000 Jahren entstanden. Ich stelle mir vor, dass da bereits hier Menschen lebten! Welchen Glauben an das Übersinnliche, das Unbegreifliche müssen ihnen damals diese Naturgewalten eingeflößt haben! Auf der Fahrt durch diese herrliche, sehr dünn besiedelte, beinahe unberührte Landschaft geriet ich ins Schwärmen. Die Sonne beleuchtete das Grün der Wiesen. Der blaue Himmel, die weißen Wolken und die Wellen der geschwungenen, dunklen Vulkankuppen im Hintergrund bildeten die vollendete Ergänzung, um mich, Naturfreund, zu begeistern. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 108 An einer Stelle zeigte uns Peter Großer bei einem kurzen Ausstieg eine Besonderheit des Vulkanismus. Während die Erosion in Äonen bereits wieder die Schuttkegel und Auswurfmassen vieler Vulkane abgetragen hat, blieben ihre Schlote, die aus festem Tiefengestein wie zum Beispiel aus Basalt bestanden, stehen. Solche Basaltspitzen nennt man Necks, und die konnten wir sehen. Zwischen zwei solchen Necks bot sich ein Landschaftsbild, so unberührt, wie es vielleicht nur die Maler des 14. Jahrhunderts noch sehen durften. Wir kamen an einem Stausee vorbei, erklommen auf ruhigen Landstraßen einige Höhe und landeten schließlich in einer kleinen Ortschaft, Orcival. Sie ist berühmt wegen ihrer romanischen Basilika aus dem Jahre 1130. Man kann im Ort, wie wir dann bei einem kleinen Spaziergang feststellen konnten, noch die für die Auvergne typischen Dachplatten aus Lavastein beobachten, die von Experten „klingende Lava“ genannt wird. (Wir haben es nicht überprüft.) Auvergne, Necks, Schlote ehemaliger Vulkane aus hartem Basalt Die Kirche ist mit ihrer Narthex fast in den Hang hinein gebaut worden. Sie weist die für Kirchen der Auvergne typischen Merkmale auf: den pyramidenförmig sich von den Umgangskapellen bis zur Vierung und dem Turm aufstaffelnden Chor und die durch Schildwände und hohe Stützarkaden verstärkten Seitenwände. Auf der Südseite, mit einer Reihe von Blendarkaden unter der Traufe, öffnet sich der Haupteingang, Johannes gewidmet… So weiß es der Reiseführer. Diese Wallfahrtskirche ist – für Geologen interessant – aus Andesit gebaut. Sie wurde vom Kloster La Chaise-Dieu gegründet, im 15. und 19. Jahrhundert erneuert. Sie gehört zu den schönsten romanischen Gotteshäusern der Auvergne. Hinter dem Hochaltar steht das Gnadenbild, die Figur der Muttergottes von Orcival, eine Schnitzarbeit mit wohlerhaltener Goldschmiedefassung. Die auf dem Himmelsthron mit dem Christusknaben auf dem Schoß schlank und aufrecht sitzende Maria stellt ein universales Symbol dar, den „Thron der Weisheit“. Leider gelang mir in der Halbdämmerung nur ein unscharfes Foto. In der Krypta fanden wir zwei wunderbare einmalige Altäre. Den einen konnte ich nicht deuten, stand doch in goldenem Schrein in der Mitte ein goldener Vogel. Staunend stand ich davor und musste feststellen, dass es immer wieder Dinge gibt, die © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 109 sich meinem Verständnis verweigern. Ich nahm schweigend die Größe des Kirchenschiffs wahr, das uns während der Besichtigung nicht erhellt wurde und im Halbdunkel blieb. Es strahlte eine feierliche Schlichtheit aus, die ergreift. Die Bögen der hoch aufstrebenden Pfeiler nehmen den Blick bis in die Lichtfülle des Chores hinein, die mit der Nachmittagssonne durch die Fenster eindringt. Der Chor selbst war durch eine hölzerne Balustrade von der Vierung abgegrenzt. Es gab kaum Raumschmuck, der den Gläubigen ablenkt. Die einfachen Kirchenbänke bilden ebenfalls eine Blickperspektive. Alles konzentriert sich im Halbrund des Chores. Eine schöne, schlichte, sehr alte Kirche. Wir traten ins Freie, nicht ohne die Tür zu bewundern, die mehr als ein halbes Jahrtausend den Kirchenraum geschützt hat. Das rissige Holz ist mit kunstvollen schmiedeeisernen Schmuckbändern beschlagen. Die Angeln quietschen, aber sie funktioniert noch. Wir gehen ein wenig im Ort spazieren, genießen die warme seidige Luft des frühen Nachmittags, erfreuen uns an den Blumen in den Rabatten. Ein Kriegerdenkmal erinnert an die Toten des ersten und zweiten Weltkrieges, die das Dorf, das heute 360 Einwohner hat, opfern musste. Eiserne Kreuze schmücken das Ziergitter. Die Trikolore liegt dabei. Über dem Sockel des Mahnmales rahmen vier Säulen die Listen der Gefallenen. Die Säulen tragen ein Sandsteinpodest, auf dem ein gusseiserner Soldat steht, in voller Montur, eine Fahne an sein Herz gedrückt, sein Blick stolz und siegesgewiss in unmessbare Ferne gerichtet. Sein Gewehr steht in einem Lorbeerstrauch- seltsame Symbolik. Wie viel Elend und Herzeleid hat der unselige Krieg über die Menschen gebracht! Wer bannt die finsteren Mächte, die immer wieder die Menschen wie wilde Wölfe übereinander herfallen lassen? Seit es Menschen auf der Erde gibt, hat es keine Zeit ohne Kriege gegeben, keine Zeit, in der es nicht um Macht und Besitz gegangen wäre, im Kampf um Land, Nahrung, Wasser und Sklaven für billige Arbeit. Wir trafen uns wieder an der Wallfahrtskirche aus dem graubraunen Andesitstein und nahmen Abschied von Notre Dame. Sie war damals, etwa zur Zeit des Dritten Kreuzzuges26, ein Kristallisationspunkt für 500 Kirchen in der Region. Die Benediktiner waren rege im Kirchenbau. Die christliche Kirche versammelte ihre Schäfchen unter dem Hirtenstab der zahllosen Bischöfe, welche das wirksame Gift der von ihr erzeugten Feindbilder in sie träufelte. Da wuchsen Gotteshäuser wie Pilze auf dem neuen Humus der Gläubigkeit. In der Werbung für die Kreuzzüge wurden Muslime zu „barbarischen Heiden“ gestempelt und damit ihrer Menschlichkeit beraubt. Ihre umstandslose Enteignung und Tötung war nun erlaubt. Was machen heute die Amerikaner und Engländer im Irak? Nichts hat sich geändert. 26 3. Kreuzzug: 1189 – 1192, Führer: Kaiser Friedrich I. Barbarossa (zu Lande bis Antiochia) und Richard Löwenherz (zu Wasser über Kreta, Rhodos und Zypern bis Akkon). Friedrich ertrinkt am 10. Juni 1190 in Kleinasien. Der Dritte Kreuzzug hatte sein Ziel, die Rückeroberung Jerusalems, verfehlt. Die Präsenz der Kreuzfahrer im Nahen Osten wurde aber durch die Errichtung des Kreuzfahrerstaates Zypern und die Wiedererrichtung des Königreichs Jerusalem – mit Akkon als neuer Hauptstadt – vorläufig gesichert. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 110 Wir bewundern die schönen romanischen Kirchen, doch was damals mit den Menschen geschah, was in ihren Köpfen vorging, woran sie glauben gelehrt wurden- damit beschäftigen sich nur noch wenige. Man sollte darüber nachdenken! Schon versteht man die Welt von heute besser. Ich ging ein paar Ansichtskarten kaufen und geriet in dem kleinen Ladengeschäft in einen Stau von Leuten, die gerade einem Touristenbus entstiegen waren. Meine Mitreisenden warteten schon, als ich mit Martina 17.15 Uhr in unseren Bus kletterte, der auch sogleich losfuhr. Die Fahrt führt wieder durch beinahe unberührtes, man sagt auch das schönste Gebiet der Auvergne. Wir schauen zurück auf den 1885 m hohen Puy de Sancy. Er ist der höchste Berg des Zentralmassivs. Eine Seilbahn führt hinauf. Die Kuppe ist noch grün, aber kahl an ihren Hängen: die Baumgrenze ist fast erreicht. Wir befinden uns in den so genannten Monts Dore, einer der schönsten Gebirgszüge dieser Gegend. Ich habe das Glück, im Bus in der ersten Reihe zu sitzen, beobachte, wie eine weiße Wolke am Himmel emporsteigt, als wir die Auffahrt zum Col de la Croix Morand (1401 m) meistern. Sie quillt und steigt, steht wie Rasierschaum oder geschlagene Sahne am blauen Himmel- weißer geht’s nicht! Ein einsames Pferd steht auf einer grünen Weide. Rechts taucht ein See auf, der reizvolle Lac Chambon. Er hat eine Fläche von 60 ha, ist 16 m tief und liegt 877 m ü. NN. Grüne Inseln schwimmen auf dem stillen Wasser. Irgendwo in diesem Gebiet entspringt die Dordogne. Es könnte nirgendwo schöner sein als hier! Wir streifen die Ortschaft Murol, über der sich das romantische Château de Murol (12. Jahrhundert) erhebt. Hier in dieser nach der Französischen Revolution verfallenen Zitadelle soll, so erzählt Peter Großer, sich einst eine Schäferin vor der Minne eines Lehnsherrn mit einem Sprung in die Tiefe gerettet haben. Sie überstand ihn lebend. Als sie davon berichtete, glaubte man ihr nicht. Da sprang sie nochmals und- brach sich den Hals. Es ist alles Landschaft pur hier, unbeschreiblich. So gegen 18 Uhr erreichen wir den kleinen verwinkelten Doppelort St-Nectaire, der etwa 700 m über dem Meere liegt und ungefähr 700 Einwohner zählt. Der untere Teil, St-Nectaire-le-Bas, ist heute Thermalbad mit über 40 heißen und kalten Quellen, die Nieren- und Stoffwechselbeschwerden lindern. Wir fahren hinauf. Der höher gelegene Dorfkern St-Nectaire –le-Haut wird um die um 1160 erbaute Kirche St-Nectaire überragt, die zu den schönsten und bedeutendsten Kirchen der Auvergne zählt. Auf einem etwas erhöhten Standort erhebt sie sich mit hochstrebender Eleganz und ausgewogenen Proportionen. Ich umrunde sie. Das tief stehende Licht ist für ein Foto sehr ungünstig. Außerdem werden wir vom Reiseleiter zur Eile angetrieben. Man gibt uns 20 Minuten zur Besichtigung. Das ist Minusrekord. Der Weg zurück nach Vichy ist weit. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 111 Diese Kirche wurde ebenfalls vom Kloster La Chaise- Dieu27 erbaut. Während der Herrschaft des Konvents28 wurde sie schwer beschädigt und musste an den Türmen und an der Westfassade grundlegend restauriert werden. Ich belese mich später im Reiseführer über das, was ich beim Betreten des von der Abendsonne beschienen Westportals nun im Eiltempo besichtigen darf: Ich befinde mich… in einer dreischiffigen Tribünen- Basilika mit Chorumgang, drei Apsis- und zwei Querschiff- Kapellen, einer typischen Vertreterin der Romanik in der Auvergne. Anders als sonst ruht aber das Gewölbe des Mittelschiffs nicht auf Pfeilern, sondern auf Säulen. Das Westmassiv hat Emporenkapellen über dem Narthex29, und im Querschiff finden sich gestelzte Bögen, die mitraähnlich30 zugespitzt sind. Berühmt sind die 103 Kapitelle der Kirche aus Lavagestein wegen ihrer fein ausgearbeiteten dekorativen Blattranken und figürlichen Von Engeln getragen… Plastik. Die schönsten Szenen, vor denen auch ich bewundernd stehen bleibe und Fotos zu machen versuche, mit Resten von Bemalung, finden sich an den sechs Säulen des Chorrunds, mit 87 Figuren… Lange könnte man davor stehen, die in Stein gemeißelten Geschichten des Alten und Neuen Testaments herausbuchstabieren. Die Reliefs sprechen die Sprache der Kirchenväter des Mittelalters, plastisch, eindringlicher fast als gemalte Bilder… Da sind Szenen aus der Offenbarung des Johannes, seiner Apokalypse, aus dem Leben Christi und aus dem Alten sowie Neuen Testament abgebildet, schlicht und dennoch zweckdienlich: warnend, belehrend, aufbauend, tröstend. Auch die „Bösen“ sind dargestellt, die Teufel in ihrer Vielgestalt, ein wahrhaft teuflisches (romanisches) Bestiarium, ein himmlisches und höllisches Figuren- Panoptikum! Ich habe mit Fotografieren zu tun, das leider nicht so recht gelingt wegen der mangelhaften Beleuchtung. Wir gehen in der Kirche umher, staunen an den Säulen empor. So etwas sah ich nur in Issoire, hier nun wieder. Ich bekomme langsam eine Vorstellung, mit welcher bildhaften Kraft im Mittelalter gestaltet wurde. Leider ist in Deutschland fast nichts Derartiges erhalten geblieben. In vielen Kriegen wurde alles verwüstet und zerstört. Durch die wunderschönen Bleiglasfenster flutet das warme Abendlicht herein. Sie gehören genauso zum Raumprogramm wie die Säulen mit ihren Kapitellen, der Altar und die Seitenkapellen. Wir wurden abgerufen. Es bleibt keine Zeit, den Ort anzuschauen. Der Reiseleiter hat jetzt Eile und berät Knut, wie er am besten fahren kann, um rechtzeitige nach Vichy zu gelangen. Es ist jetzt schon 18.40 Uhr. Noch sind draußen 31°C, es war ein warmer Tag. 27 La Chaise-Dieu: frz. (wörtl.) Stuhl Gottes Konvent, [der; lat., „Zusammenkunft“] französisch Convention nationale, Nationalkonvent, in der Französischen Revolution die nach dem Sturz des Königtums (1792) gewählte, die Verfassung gebende Versammlung (bis 1795). 29 Narthex, [der; griechisch], Vorhalle altchristlicher und byzantinischer Basiliken. 30 Mitra, [die; griechisch, „Binde“], liturgische Kopfbedeckung der Bischöfe und Äbte, nach oben zur Spitze zulaufend 28 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 112 Auf der Landstraße Nr. 978 bewegten wir uns auf der Route de fromage, der Käseroute weiter in Richtung Autobahn. Käseroute, wie zu vermuten ist, weil Käse von Schaf oder Ziege natürlich ein hier bevorzugt erzeugtes Landesprodukt ist. Zunächst lag wieder eine romantische Burg am Weg, Champeix. Der Ort zieht sich an einem Hang hinauf und oben thront die verlassene Burgruine. Dann durchfuhren wir das Dorf Plauzat , und bald erreichten wir die Autobahn A71, die uns mit ihrem nüchternen Straßenverkehr aus einer geträumten heilen Landschaft wieder in die Realität der umweltzerstörenden Modernität zurückholte. Das Thermometer im Bus zeigte um 19 Uhr immer noch um die 30°C an, die Sonne wollte noch nicht untergehen. Der Kalender schrieb zwei Tage nach Sonnenwende- die längsten Tage des Jahres. Von nun an wurde es eine sehr eintönige und einschläfernde Fahrt, einmal weil die Landschaft rechts und links der Straße kaum Interessantes bot, zum anderen, weil wir vom Gesehenen und Erlebten erschöpft und gesättigt waren. Wir fuhren und fuhren und bekamen mächtigen Hunger. Nach so viel Kultur meldete sich der Magen und forderte sein Recht. Wieder durchmaßen wir mit 100 km/h die Hauptstadt der Auvergne, Clermont- Ferrand, und sahen nicht viel von ihr. Eine Dunstglocke hing über der Ebene. Die Autobahn streckte sich. Wir wurden auch müde. Viele hingen in ihren Sitzen und hatten die Augen schon fest geschlossen. Es gab auf dieser Fahrt noch einen Punkt, an dem einige Aufregung entstand. Ich bekam es als erster mit. Wir waren zu weit auf der A71 gefahren. Schon meldeten uns Schilder mit abnehmenden Zahlen die km- Angaben nach Paris. Knut hatte in einem unachtsamen Moment den Abzweig nach Vichy verpasst, und wir waren schon viele km zu weit nach Norden gefahren. Ehe wir einen Abzweig zum Umkehren erreichten und dieselbe Strecke zurückgefahren waren, wurde es dunkel. Müdigkeit und Hunger wuchsen, einige Unzufriedenheit mit Knuts mangelnden Französischkenntnissen auch, denn er konnte viele Verkehrs- Schilder nicht übersetzen. Peter Großer musste aushelfen, und der hatte auch einen Moment nicht aufgepasst. Doch alles wurde gut. Wir bekamen noch unser Essen im Hotel und genügend Bettruhe, obwohl davor noch das unangenehme Kofferpacken sein musste. Im Zimmer war es heiß diese Nacht. Freitag, 24. Juni 2005 XXII. In die Bourgogne – Paray-le-Monial Ein schöner Morgen graute herauf. Wir starten 8.30 Uhr zum neunten Tag unserer Reise. Wir mussten unsere Koffer einige kleine Straßen weit bis zum Bus transportieren. Dieser parkte vor der kleinen Anlage, wo wir gestern den großen Auvergne- Ausflug begannen. Bevor alle ihr Gepäck herbeigeschleppt hatten, nahm ich mir noch etwas Zeit, die Grünanlagen am Ufer des Allier zu erkunden. Auf einem kleinen Teich zwischen schattigen Bäumen schwammen Entenvögel und sogar ein Schwan. Ich lief zum Fluss hinunter und genoss den freien Blick auf die Allierbrücke, die in sechs flachen Stahlbögen das Wasser überspannt und die elegante Betonfahrbahn trägt. Einige Angler hielten bewegungslos ihre Rute ins Wasser, und auf dem Uferweg liefen einige Jogger, um sich auf die spätere Behandlung durch den Orthopäden vorzubereiten. Aus Paris kommen Schreckensmeldungen. Sintflutartige Regenfälle sollen Überschwemmungen verursacht haben. Heute soll es wieder heiß werden, Temperaturen bis 32°C drohte Metéosat an. Jetzt sind es schon 29°. Ein Denkmal im winzigen Park fiel mir auf, weil es so neu und wichtig auf sich aufmerksam machte. Bei Denkmalen bin ich immer neugierig, wie der Leser schon weiß. Marie de Rabutin-Chantal Marquise de Sévigné (1626 – 1696) Célèbre Curiste En 1667 et 1677 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 113 Also ein berühmter Kurgast war sie, die Marquise de Sévigné, berühmte französische Briefschreiberin. Nach ihrer Heirat mit dem Comté de Grignan 1669 schrieb sie danach zahlreiche Briefe sowie andere Korrespondenz. Diese Briefe (posthum 1726 erschienen) stellen kostbare Dokumente über das Leben des Adels im 17. Jahrhundert dar und zeugen von dem literarischen Genie einer hochgebildeten Frau. Vichy schneidet sich von ihrem literarischen Ruhm ein Scheibchen ab, weil sie hier zweimal kurte. Ich denke, der Zusammenhang mit Vichy ist kläglich, zumal die Marquise zeit ihres Lebens in Paris lebte. Aber wer weiß es – man müsste ihre Briefe lesen – vielleicht hat sie gerade hier schöne Zeiten verbracht? Lassen wir Vichy diesen leichten Schimmer ihres Ruhmes! Heute nun führt uns der Weg nach Nordwesten in Richtung Heimat. Wir verlassen das Département Allier und fahren geradewegs in das Département Saône-et-Loire, ins Burgund, die Bourgogne, dieses geschichtsträchtige ehemalige Herzogtum, das erst 1493 endgültig an Frankreich fiel. Ich will mir jeden Sermon ersparen, da diese Landschaft nicht Ziel unserer Reise war. Wir streiften es heute nur, obwohl die kulturellen Glanzpunkte dieses Tages am Wege dieser Durchreise lagen: Paray-leMonial, Mâcon, Cluny, Tournus, Beaune. Schnell verließen wir das Weichbild von Vichy, diesem Traditionskurort am Flusse Allier, der nach Norden zur Loire strebt, sich mit ihr zu vereinigen. Nach kurzer Fahrt, kaum dass wir uns es auf den Sitzen bequem gemacht haben, erreichen wir die Ortschaft Lapalisse, einen Verkehrsknotenpunkt. Hier bewacht das gleichnamige Schloss schon seit dem 11. Jahrhundert den Übergang über die Besbre. Sein berühmtester Schlossherr war Jacques II. de Chabannes (1470 – 1525), auch de La Palice genannt, Marschall von Frankreich, der auch die mittelalterliche Burg zum RenaissanceSchloss, wie es seine Reste heute zeigen, umgebaut hatte. Franz I. brachte diese neue Bauweise aus Italien mit. Von La Palice erzählt man sich in Frankreich, dass er in der Schlacht von Padua sein Leben verlor. Da er tapfer bis zuletzt gekämpft hatte, komponierten ihm zu Ehren seine Soldaten ein Lied mit diesem Vers: Un quart d'heure avant sa mort, il était encore en vie...31 An diesem naiven Vers hat man im Volksmund bis heute festgehalten, wenn man einen ehren will, der bis zum letzten Atemzuge gekämpft hat. Auf den Wiesen warten die Grasrollen auf ihre Plastikhüllen und den Abtransport in die Scheunen. Die Départementsstraße 907 steigt an und überwindet einige große Steigungen. Die Landschaft ist hügelig, und manche Ortschaft, von der es zu erzählen gibt, blieb hinter unseren Rädern unerkannt liegen. Diese Hügelkette sind die Ausläufer der Monts de la Madeleine. Sie wird hier ungefähr 500 m hoch und steigt bis gegen Morvan bis auf 900 m an. Bei dem Städtchen Digoin fahren wir über den größten Fluss Frankreichs, die Loire, die hier von ihrer Fließrichtung von Nord nach 31 Un quart d'heure… „Ein’ Viertelstund’ vor seinem Tod, da war er noch am Leben...“ © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 114 Nordwesten abweicht. Hier treffen sich auch Teile des Kanalsystems, die die Flüsse Seine, Loire, Marne, Sâone und Rhône im Burgund miteinander verbinden (Canal du Centre, Canal de Roanne Digoin). Wir fahren aber durch die Stadt hindurch und halten erst, als wir am Ziel der ersten Etappe sind: Paray-le-Monial. Es ist heiß geworden. Wir bemerken es erst richtig, als wir den Bus verlassen. Gemeinsam laufen wir durch eine Parkanlage, die rechts und links eines Flüsschens, der Bourbince, sich erstreckt, über eine kleine Brücke zu dem imposanten Kirchenbau, der diesen Ort berühmt macht. Fußgänger nehmen mir die freie Sicht und das „unbefleckte“ Bild auf die Klosterkirche, die Basilika des heiligen Herzens Jesu. Davor breiten sich die wuchtigen Gebäude des dazugehörigen Klosters. Zuerst gehe ich mit Martina in das Office de Tourisme und besorge einiges Papier, das zum Ort und zur Kirche nähere Erläuterungen verspricht. Es gibt Prospekte in deutscher Sprache. Ich habe sie jetzt vor mir und dazu meine Bilder. Die Eindrücke der Realität und Natürlichkeit des Originals lassen sich nur schwer wiedergeben. Zunächst, als wir in die Basilika eintreten, es ist etwa die vierzehnte Kirche auf dieser Reise, fällt mir das wunderbare Licht auf, das jetzt zwischen 10 und elf Uhr vormittags in den großen Kirchenraum flutet. Mit Fortschreiten der Sonne ändert sich die natürliche Beleuchtung und spielt effektvoll mit den Gelbtönen der Steine von Säulen und Decken und Wänden… Das Kirchen- Innere beeindruckt mit seiner Höhe, dem Zusammenspiel seiner Proportionen, den Beziehungen der Linien zueinander, seiner dekorativen Schlichtheit und Größe. Was macht sie nun heute zum bekannten Wallfahrtsort der katholischen Gläubigen? Es gibt eine einfache Antwort: Sie gilt als „Tochter von Cluny“. Ich habe bereits in meinem Band „Tour de France“ ausführlich von Cluny berichtet und will mir hier Einzelheiten sparen. Trotzdem ist ein Rückblick in die Geschichte notwendig und interessant. Im Jahre 973 beschließt Graf Lambert von Chalon die Gründung eines Benediktiner- Klosters in Paray-le-Monial. Sein Freund, Mayeul, Abt von Cluny, förderte den Bau, der auf einem Hügel über Paray errichtet wurde. Die Kirche wurde 980 geweiht. 20 Jahre danach beschließt Hugues, Sohn des Grafen Lambert und Bischof von Auxerre, das Kloster von Parayle-Monial der Abtei von Cluny anzugliedern. Die Mönche von Paray verlassen wenig später das erste Kloster, um am Ufer der Bourbince ein größeres zu bauen, dessen Kirche 1004 eingeweiht wird. Von dieser Kirche aus dem 11. Jahrhundert blieben nur noch die Vorhalle und der rechte Turm. Hugues von Semour wird Abt von Cluny, der nun Allgemeine Fachbegriffe architektonischer den Ausbau der Kirche in Paray um 1049 nach dem Modell Elemente einer Kirche der Abteikirche in Cluny (Cluny III) weiter betreibt. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 115 Im 16. Jahrhundert, zur Zeit der Religionskriege in Frankreich, plündern Calvinisten Kloster und Kirche. 1619 lassen sich auf Antrag der Marquise de Gondy die Jesuiten hier in Paaray nieder 1626 lässt sich die Gemeinschaft „Visitation Sainte Marie“ in der Nähe des Turmes St. Nicolas nieder und errichtete hier ein Kloster. Dann folgten Ordensgemeinschaften vorwiegend der Jesuiten, die vom katholischen Spanien- man denke an die unselige Zeit der Inquisition! – geleitet wurden die Klarissinnen, die Karmeliterinnen, Dominikanerinnen… Dann passierte etwas, das man den Ereignissen in Lourdes zur Seite stellen kann. Ich entnehme die „Fakten“ den prospektiven Kirchenschriften: Am 20. Juni 1671 tritt eine junge Novizin in das Visitationskloster ein. Sie ist 24 Jahre alt und heißt Marguerite-Marie Alacoque. Mit 14 Jahren wurde sie von einer Kinderlähmung geheilt. Beim ersten Besuch im Kloster im Mai 1671 offenbarte sich ihr Jesus mit den folgenden Worten: „Hier gehörst Du hin!“ Marguerite-Marie ist mit einer außergewöhnlichen spirituellen Gnade gesegnet. Sie hat die Sehergabe und ist Seherin. Jesus versicherte ihr erneut: „Ich Paray-le-Monial, Basilika zum Heiligen Herzen richte meine Gnade am Geist Deiner Ordensregeln Jesu, gebaut 1049 nach dem Modell Cluny III aus.“ Am 6. November 1672 schreibt sie in ihrer Autobiografie: „…Ich gehöre für immer meinem Geliebten…Ich bin seine Sklavin, seine Dienerin…“ Ein Dialog bahnt sich an zwischen der Schwester und Jesus. Sie hat nun mehrere Erscheinungen, die erste große am 27. Dezember 1673. Marguerite-Marie betet vor dem Heiligen Tabernakel, wo Jesus ihr das tiefe Bewusstsein seiner Gegenwart verleiht und ihr anvertraut, dass sein Herz ihr die ersehnte Barmherzigkeit gewähren wird: „Mein göttliches Herz verzehrt sich in Liebe zu den Menschen und besonders zu Dir, so dass es seine tief empfundene Barmherzigkeit nicht mehr zurückhalten kann. Sie soll durch Dich verbreitet werden….die Menschen vor dem Abgrund der Verdammnis zu bewahren.“ Marguerite-Marie hat im Laufe ihres Nonnenlebens – sie wird später Novizenmeisterin – noch viele Erscheinungen und Ekstasen, so auch am 2. Juli 1688 die des Heiligen Herzens Jesu mit dem Auftrag an die Schwestern und die Jesuiten, die Gottergebenheit zu verbreiten. Am 17. Oktober 1690 stirbt Schwester Marguerite-Marie. Sie sagte noch: „Ich spürte seine Gegenwart, als wäre ich jemandem nahe, den man in der Finsternis der Nacht nicht mit eigenen Augen sehen kann.“ Am 18. September 1864 wird sie von Papst Pius IX. selig gesprochen. Am 13. Mai 1920 folgt ihre Heiligsprechung durch Papst Benedikt XV. 1792 werden die letzten Mönche von den Eiferern der Französischen Revolution aus Paray verjagt. Danach wird die Kirche Pfarrkirche. 1846 wird sie unter Denkmalschutz gestellt. 1875 wird sie von Papst Pius IX., der nach Paray-le-Monial kommt, in den Rang einer „Basilika Minor“ erhoben und danach - noch in diesem Jahrhundert - restauriert. 1986 besucht Papst Johannes Paul II. Paray-le-Monial und würdigt deren internationalen Ruf. 1990, 300 Jahre nach ihrem Tod, fand in Paray-le-Monial eine festliche Wallfahrt statt, an der mehr als 120 000 Gläubige teilnahmen. Ich trete also in diese Kirche ein, bin beeindruckt von der strahlenden Helligkeit und der Lichtfülle. Eine Gruppe sitzt in Altarnähe und lauscht einem Erklärer. Wir wenden uns nach rechts zum Südportal, das den Zugang zum Kloster darstellt. Beides wurde im 18. Jh. angefügt. Ein Wandelgang umschließt einen stillen grünen Klosterhof, aus dem man eine besonders gute Sicht auf das Hauptschiff und den Glockenturm hat. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 116 Der aufgeklärte Mensch von heute, um nicht zu sagen ein Atheist oder ein Protestant des reformierten lutherischen Glaubens würde die Jesuiten32 und ihr 500jähriges Wirken mit gespaltenem Sinn betrachten. Immerhin führten sie im Mittelalter der Inquisition fleißig neue Opfer zu, verfolgten die Anhänger des reformierten Glaubens, ließen während der Religionskriege Andersgläubige im Namen Jesu foltern und verbrennen. Sie wurden vom Volk gefürchtet, aber auch geschätzt, weil sie sich andererseits im sozialen Bereich sehr für die Schwachen einsetzten. Dass Paray-le-Monial ein besonderer Stützpunkt der Jesuiten war und noch ist, kann ich nicht übersehen. Deshalb ist diese Kirche und die Stadt mit ihrer interessanten Klostergeschichte für mich auch ein Höhepunkt unserer Reise. Auf dem Rückweg aus dem Klosterhof durch die Kirche entdecke ich zwei Besonderheiten. Das südliche Querschiff wird von einer mit einem Eisenstaket abgetrennten so genannten „Gotischen Kapelle“ eingenommen. Hier ruhen die Gebeine der Familie Damas- Digoin. (Ich erinnere mich der Stadt Digoin am Verkehrsknoten an der Loire.) Klosterhof der Basilika zum Heiligen Herzen Jesu in Paray-le-Monial Sie wurde im 15. Jh. als Familiengruft angelegt und gilt als Kapelle des Heiligen Sakraments. Das nördliche Querschiff hat ein Weihwasserbecken zum Mittelpunkt. Das Becken wird seit dem 15, Jh. als Weihwasserkessel von den Mönchen benutzt. Hier entdecke ich ein in allen Farben sprühendes Glasfenster mit dem recht selten dargestellten Motiv des Kindesmords zu Bethlehem. Blick in den Hochchor Zum Abschied aus dieser schönen Kirche nehme ich ein wunderbares Gebet mit auf den Weg, mit dem ich getrost für mich und meine Taten bitten kann. 32 Jesuiten, lateinisch Societas Jesu, Abkürzung SJ, Gesellschaft Jesu, katholischer Orden, 1534 von dem Spanier Ignatius von Loyola gegründet und von Papst Paul III. 1540 bestätigt. Er breitete sich im 16. Jahrhundert in Europa aus und war vor allem das Instrument der Gegenreformation. Als Missionare waren und sind die Jesuiten in Asien, Afrika und Amerika tätig. Bekannt sind die sog. Reduktionen in Paraguay zum Schutz der Indianer. Der große Einfluss der Jesuiten auf Kirche und Staat im 17. und 18. Jahrhundert rief so starken Widerstand hervor, dass Clemens XIV. unter dem Druck der romanischen Staaten den Orden 1773 auflöste. 1814 wurde der Orden durch Pius VII. wieder eingeführt. In Deutschland war er 1872—1917 verboten. Die Jesuiten sind in einer militärisch straffen Organisation zusammengefasst und werden streng und sorgfältig ausgewählt (Ausbildung der Professen 17 Jahre). Sie tragen kein eigenes Ordenskleid und haben kein gemeinsames Chorgebet. Geistliche Übungen führen zu einer starken Zucht des eigenen Willens. Zu den drei üblichen Ordensgelübden kommt als 4. noch der unbedingte Gehorsam gegenüber dem Papst hinzu. Die Jesuiten werden von einem Jesuitengeneral, dem 4 Generalassistenten beratend zur Seite stehen, von Rom aus geführt. Die Mitglieder der SJ (rund 23 000) werden unterschieden in: Professen, Koadjutoren (Priester und Laienbrüder), Scholastiker und Novizen. Die Jesuiten widmen sich besonders der Mission, Erziehung, Wissenschaft und Großstadtseelsorge. Ihr Wahlspruch: „Omnia ad maiorem Dei gloriam“ (lateinisch, „Alles zur größeren Ehre Gottes“). © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 117 Martina und ich wollten etwas von der Stadt sehen. Vor dem Kirchplatz, in der Anlage am Ufer der Bourbince steht ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen des ersten Weltkrieges, das Paray-le-Monial seinen „Kindern, die es heldenhaft vor den Gefahren der barbarischen Invasion beschützten und für die Einheit des Vaterlandes fielen“, errichtete. Die Barbaren waren wir, ging mir durch den sinn, unsere Väter und Großväter und ihr unseliger Herrscher und seine Adelskaste, die Deutschland und Europa in zwei Weltkriege stürzte. Eine Gasse schlängelte sich in die Gemäuer der Altstadt. Bald standen wir vor der eigentlichen Wallfahrtskirche, der Visitationskapelle zur Hl. Marie in der Rue de la Paix. In einer kleinen Kapelle neben dem Hauptschiff liegen die Gebeine der Heiligen Marguerite-Marie und sind Ziel der Wallfahrt vieler Pilger, die hier herkommen. Das Rathaus ist ein schönes Bürgerhaus. Der Tuchhändler Pierre Jayet hat es sich um 1525 bauen lassen und viel Geld in den Zierrat der Renaissance hineingesteckt. Seit 1858 sitzt hier der Rat der Stadt. Unweit davon steht noch der Turm St-Nicolas. Er gehört zu den Resten einer gotischen Kirche von 1535, die nach den Wirren der Revolution abwechselnd als Gefängnis, Gerichtsgebäude und Lagerhaus genutzt wurde. Einiges wurde abgerissen. Dass überhaupt noch etwas steht, haben die Bürger erzwungen, denn auf die Uhr an dem Turm wollten sie nicht verzichten, und so überdauerte er die Zeitläufte. Auf der Place de Europe fand ein Wochenmarkt statt, der Martina heftig anzog, und Planskizze von Paray-le-Monial wo sie nach Kleidung Ausschau hielt. Sie wurde aber nicht fündig, und so schlossen wir unseren Rundgang ab und strebten unter den Schatten der Bäume des Parkplatzes zurück. Die Busfahrer einiger Reisebusse spielten auf dem festen Kies des Parkweges Boule33 oder Pétanque34. Letzteres ist seine modernere Form mit erweiterten Regeln. Es ist das Spiel aller Südfranzosen. Die Männer warfen ihre schweren Eisenkugeln und standen rings um die - für den Uneingeweihten wahllos platzierten – Kugeln, die Arme in die Hüften gestützt, kritisch die Situation überblickend und sommerlich entspannt, zwei von ihnen mit Strohhüten. Der Werfer erhielt stets die Aufmerksamkeit aller anderen Mitspieler. Fast schweigend geht es zu. Jeder kennt die Regeln, prüft sein Glück und versucht, grob gesagt, das des anderen mit seinem Wurf zu zerstören. Eine einfache Strategie. Ich hatte schon in Cannes und anderswo Boulespieler beobachtet. Hier finde ich ein Stück urtümliches Frankreich. Friedlich. Vor allem geruhsam. Und gesellig. Man bedenke: Diese Kraftfahrer haben sich hier nur zufällig getroffen! 33 Boule, [bu:l; die; franz. Kugel], vor allem in Frankreich verbreitetes Wettspiel mit Wurfkugeln aus Metall oder Holz. Pétanque, Form des Boule- Spieles aus Mittelfrankreich mit erweitertem Regelumfang. Der Name stammt aus dem Okzitanischen (Sprachzweig der Provence): péd tanco = piéd fixé: fester Fuß. 34 © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 118 Übrigens hat das Boule- Spiel eine lange Geschichte, der ich einmal nachgespürt habe. Die Entwicklung der Boule-Spiele reicht Jahrhunderte zurück. Ihren Anfang nahmen sie in Form unterschiedlicher Kugelspiele, die in zahlreichen Ländern von allen Schichten der Bevölkerung ausgeübt wurden. Schon im 13. Jahrhundert wurde in Frankreich mit Holzkugeln Boule gespielt. Hierbei ging es darum, die Kugel möglichst nahe an ein Ziel zu platzieren, entsprach also in etwa den heutigen Versionen. 1369 verbot Karl V. dieses Spiel, weil er die Staatssicherheit gefährdet sah, da die Soldaten anstatt Bogenschießen zu üben, ihre Freizeit dem Boule-Spiel widmeten. Die Pariser Synode von 1697 untersagte allen Geistlichen, in der Öffentlichkeit Boule zu spielen. Genauso wie das Spiel verfolgt wurde, gab es andererseits auch öffentliche Unterstützung. Die berühmte Fakultät von Montpellier bestätigte im 16. Jahrhundert den Wert des Boule-Spiels für die Gesundheit: "Es gibt keinen Rheumatismus oder andere ähnliche Leiden, die nicht durch dieses Spiel vereitelt werden können, es ist für jede Altersstufe geeignet:" Ludwig XI. wusste das auch und spielte häufig Boule, und der bekannte Generalfeldmarschall Turenne galt als unschlagbar. Die Popularität des Spiels stieg im 19. Jahrhundert stark an. Es wurde nicht mehr nur auf Wiesen außerhalb der Stadt gespielt, sondern überall, wo Platz war, in den Straßen und auf den Marktplätzen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man in Lyon das "Boule Lyonnaise" zu spielen. 1894 wurde dort auch der erste Wettbewerb veranstaltet, bei dem über 1000 Spieler drei Tage lang um die Plätze rangen. 1906 wurde der erste Verband gegründet. In Italien entwickelte sich eine weitere Version, das "Boccia". In Frankreich gibt es heute einige unbekannte regionale Spiele sowie das bereits erwähnte "Boule Lyonnaise", das "Jeu Provencal" und das jüngste, aber heute populärste aller Boule-Spiele: "Pétanque". Die Spielidee ist immer die gleiche, es wird versucht eine oder mehrere Kugeln näher an eine Zielkugel zu platzieren als der Gegner. Unterschiedlich sind die Spielregeln, das Gewicht der Kugeln und die Abmessungen des Spielfeldes. Auf Regeln einzugehen, hat keinen Zweck. Es gibt im Regelwerk 39 Artikel und ist eine anerkannte Sportart geworden. Das Boule Lyonnaise Das Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene Spiel wird heute in großen Teilen Frankreichs praktiziert. Es ist jedoch nicht so populär wie Pétanque, u.a. weil für Boule Lyonnaise ein großer, besonders präparierter Spieluntergrund benötigt wird. Man spielte zu Beginn - wie schon im Mittelalter- mit Holzkugeln. Diese waren, um eine höhere Widerstandsfähigkeit zu erhalten sowie um rund zu laufen, mit Nägel beschlagen. Ab 1923 wurden die Kugeln aus einer BronzeAluminium-Legierung hergestellt, heute sind sie hauptsächlich aus Stahl. Ihr Durchmesser muss zwischen 9 und 11 cm liegen, und sie müssen ein Gewicht zwischen 900 und 1400 g aufweisen. Die Zielkugel muss innerhalb einer Zone zwischen 12,5 und 19,5 m zum Liegen kommen. Für die Ausführung des Wurfes hat der Spieler 7 m zur Verfügung, in denen er Anlauf nehmen kann. Das Boule Lyonnaise ist eine sehr sportliche Form des Boule-Spiels. Es gehört viel Training dazu, eine knapp 1,5 kg schwere Kugel über eine Distanz von bis zu 19,5 m zu werfen und damit noch eine gegnerische Kugel zu treffen. Das Jeu Provencal Das Boule Lyonnaise wurde immer bekannter, machte sich auf den Weg die Rhône abwärts und erreichte schließlich das Mittelmeer. Dort angekommen, wurde dem Reglement erst einmal die Strenge genommen, und die Kugeln wurden kleiner und leichter (zwischen 600 und 900 g). So entstand ein neues Kugelspiel in der Provence und wurde deshalb "Jeu Provencal" genannt. Auch hier ist viel Bewegung mit im Spiel. Beim Punktieren macht der Spieler aus einem Abwurfkreis heraus einen großen Ausfallschritt nach rechts oder links und zieht das andere Bein nach. Die Kugel muss gespielt werden, bevor das Nachziehbein den Boden berührt, es wird also auf einem Bein stehend geworfen. Man muss gleichzeitig ein Gleichgewicht finden und die Kugel bis zu 22 m weit gezielt werfen. Beim Schießen nimmt der Spieler drei Schritte Anlauf aus dem Kreis und schießt die Kugel auf einem Bein stehend ins Ziel. Diese Art des Boule-Spiels ist wie seine Lyoner Variante sehr anspruchsvoll. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 119 Das Pétanque Das Spiel entstand im Jahre 1910 in La Ciotat, einem kleinen Städtchen an der Côte d´Azur. Ein sehr guter, schon etwas älterer Spieler des Jeu Provencal musste zuschauen. Sein Rheuma plagte ihn, und er konnte weder den Ausfallschritt vollziehen noch konnte er die drei Schritte Anlauf zum Schuss nehmen, zu stark waren seine Schmerzen. Dennoch wollte er seinen Sport nicht aufgeben, und es kam ihm die Idee, die Wurfdistanz um einiges zu verkürzen und zudem ohne Anlauf im Stehen zu spielen. Man stand in einem Abwurfkreis und spielte auf eine Entfernung von 6 bis 10 m. Von der Abwurfposition - man musste mit geschlossenen Füßen im Kreis stehen - leitete sich auch der Name des Spiels ab. Die Bezeichnung für "geschlossene Füße" heißt auf französisch "pieds tanqués", auf provenzalisch hieß es "ped tanco". Diese beiden Wörter sind schon bald zu einem verschmolzen: Pétanque. Da das Spielfeld keinen strengen Regeln unterzogen wurde, eröffneten sich große Möglichkeiten, dieses Spiel auszuüben. Man war nicht mehr beschränkt auf ein genau eingeteiltes Spielfeld auf einem bestimmten Platz, sondern man spielte auf Plätzen vor Kirchen, in Parks und auf ungepflasterten Dorfstraßen. Ich erlebte es soeben und freute mich und fotografierte die Vier, die sich durch mich nicht stören ließen. Es war noch Vormittag, genau 11 Uhr, als zum Aufbruch geblasen wurde. Die Sonne brannte, es war höllisch heiß. Dankbar saßen wir in der angenehmen Kühle des klimatisierten Busses. Wieder umfing uns eine liebliche Landschaft. Sanfte Hügel, adrette Dörfer, satte Wiesen, auf denen fette Rinder weideten. Wir befanden uns noch in der Hügellandschaft des Brionnais. Hier ist man auf die Zucht der weißen Charolais- Rinder spezialisiert. In St-Christophe-en-Brionnais findet von April bis Dezember immer donnerstags ein Rindermarkt statt. Außerdem liegen hier noch einige ganz besonders schöne romanische Kirchen, die man auf einem Rundkurs, dem Circuit des Églises romanes en Brionnais, von Paray aus abfahren und besichtigen kann. Wenn man doch mehr Zeit dafür hätte! Eine der schönsten soll die ehemalige Prioratskirche in Any-le-Duc sein. Aber wenden wir uns unserer Reise wieder zu. Leibhaftig tauchten nun diese weißen Rinder am Wegesrand auf, und sie waren so urig anzuschauen, dass Peter Großer anhalten ließ, damit wir sie ohne Spiegelungen aufs Foto bekamen. Sie sollen ein besonders schmackhaftes, festes und mageres Fleisch abgeben und sind auf der Speisekarte sehr begehrt. Schon auf der „Tour de France“ lernte ich sie schon kennen. Nun also ein Wiedersehen mit diesen edlen weißen Rindviechern! Bei 30° Hitze. Schnell wieder einsteigen! Während das Brionnais eher südlich von Paray-le-Monial liegt, entfernten wir uns von Paray in östlicher Richtung und fuhren durch das Charolais, das eigentlich das Brionnais mit einschließt und bald auch durch ihren Hauptort Charolles. Von Charolles sahen wir nichts, da er von Umgehungsstraßen eingerahmt ist, die wir benutzten. Im Valley de Charolles. Ziegenherden weideten friedlich, suchten Schatten im Mittagsglast. Dörfer lagen wie ausgestorben. Wen von den Bewohnern sieht man jetzt in der Mittagszeit schon auf der Straße! Wir bogen von Landstraßen auf noch kleinere Straßen. Peter Großer studierte eifrig die Karte und lenkte Knut mitten hinein in die Landschaft. So sah es aus. XXIII. Intermezzo in Cluny E s sollte eine kleine Überraschung werden: Die fällige Mittagspause sollte in Cluny stattfinden, dem ehemalige Benediktinerkloster, das 910 gegründet; Anfang des 10. Jahrhunderts Ausgangs- und Mittelpunkt der Cluniazensischen Reform wurde und Einfluss auf die Gründung von Hunderten von Klöstern in ganz Europa nahm. Von den drei nacheinander erbauten Abteikirchen war besonders der 2. Bau von 981 vom Einfluss auf den deutschen Kirchenbau im 11. Jahrhundert. Der 1089 errichtete 3. Bau (zerstört 1809—1815), war der größte Kirchenbau der Zeit (fünfschiffiges Langhaus, zwei Querschiffe). Wir sahen eben eine verkleinerte Form in Paray-le-Monial. Wenn man sich vorstellt, dass Cluny III damals die größte Kirche der Christenheit darstellte und der riesige Klosterbetrieb aus 10 000 Mönchen (zehntausend!) bestand, dann ahnt man die Dimension, erfasst sie aber nicht. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 120 Ich habe mich im Reisebericht „Tour de France“ ausführlich mit Cluny befasst und möchte mich nicht wiederholen. Das Wiedersehen gestaltete sich auch etwas enttäuschend. Eine Führung gab es nicht. Wir hielten auf einem staubigen Parkplatz in greller Sonne, die genau im Zenit stand. Zuerst sollte es eine halbe Stunde geben. Als ich protestierte, ließ sich die Reiseleitung auf 45 Minuten herauf handeln. Martina hatte etwas Proviant. Wir suchten uns ein schattiges Plätzchen auf einer Steinbank im Vorfeld des Klostergeländes und aßen etwas. Ich beobachtete eine Gruppe Schulkinder, die eben aus dem Museum zurückkamen. Wie viel mehr wird in Frankreich für die Kinder getan als in Deutschland! Sie plapperten wild durcheinander. Wie angestaute Bäche flossen ihre Mäuler über und überschwemmten die Stille. Selbst die vorher zwitschernden Vögel hörte ich nicht mehr. Ich spürte aber, sie hatten etwas von der Besichtigung mitgenommen. Auch in meiner Schulzeit habe ich die Wandertage und Schulausflüge am intensivsten empfunden. Die zur ständigen Ausrüstung zählende Wasserflasche ergänzte das frugale Mahl. Dann drängte ich, die knappe Zeit zu nutzen und einen Gang zu machen, die Betrachtungen vom September 2003 aufzufrischen. Ich hatte viel gelesen über Cluny und seine zentrale Rolle im 10. bis 12. Jahrhundert. Neben den wichtigen Äbten von Cluny Odilius(994 – 1049) und Hugo von Cluny (1049 – 1109), die Cluny II und III errichten ließen, letzterer auch die Abteikirche in Paray-le-Monial, muss wieder der Name von Bernhard von Clairvaux35 genannt werden, der wichtige Reformideen durchsetzte und letztendlich den Ziesterzienser- Orden gründete. Dieser Bernhard von Clairvaux bekämpfte den in dieser Zeit sehr bekannten Kirchenlehrer Petrus Abaelard36 in den Jahren nach 1130 wegen vermeintlichen Ketzertums, verklagte ihn beim Papst und brachte die Bischöfe und die Großen seiner Zeit zu einem Ketzerkonzil in Sens am 25. Mai, um Pfingsten des Jahres 1141 zusammen, um Abaelard noch vor einem Spruch des Papstes zu vernichten. Doch Abaelard schwieg und erkannte dieses Gericht nicht an. In den Streit mischen sich der Großabt des Cluniazienser- Ordens, Bernhard von Clairvaux Petrus Venerabilis von Cluny (1122 – 1156) und der Abt von Citeaux, Rainart von Bar-sur-Seine vermittelnd ein und laden beide Kontrahenten nach Cluny. Etwa am 17. oder 18. Juni 1141 war Abaelard in Cluny eingetroffen. In wenigen Tagen müssen sich Petrus und Abaelard über den gemeinsamen Plan wenigstens grundsätzlich geeinigt haben. Die ungestüme Art Bernhards dürfte nicht immer die Zustimmung Rainarts gefunden haben, und über sein Verhalten in Sens liefen schon Gerüchte um. Als wenn er auf die Einladung gewartet hätte - vielleicht war er ja auch schon vorgewarnt - brach er rasch nach Cluny auf, spätestens zwei Tage nach der Ankunft der Boten. In Cluny angekommen, stand Petrus und Rainart sicher die schwerste Aufgabe bevor, Abaelard zu bewegen, sich persönlich mit Bernhard auszusöhnen. Abaelard muss tief verletzt gewesen sein. Kurz, die Äbte von Citeaux und Cluny brachten Bernhard und Abaelard zusammen. Diese versöhnten sich offiziell, indem Letzterer in einigen Dingen sich kirchenrechtlich Bernhard unterwarf und damit der Exkommunikation entging. Offensichtlich blieb die Auflage, nicht mehr öffentlich zu lehren und Cluny nicht mehr zu verlassen... Abt Petrus Venerabilis gewährte Abaelard in Cluny Wohnrecht mit dem Ziel, Abaelard zu rehabilitieren, ihn in den Klosterverband von Cluny aufzunehmen; ihm Ruhe zu schenken und die Möglichkeit zu seiner letzten großen Arbeit, der Auseinandersetzung mit dem Judentum und dem 35 Bernhard von Clairvaux, [-kler'vo:], Heiliger, * um 1090 Fontaines bei Dijon, † 20. 8. 1153 Clairvaux; 1115 erster Abt des Zisterzienserklosters Clairvaux-sur-Aube, gründete 68 neue Klöster seines Ordens; bedeutender Theologe und berühmter Prediger; übte durch die Erneuerung des kirchlichen Geistes bei Adel, Klerus und Volk großen Einfluss auf seine Zeit aus; Begründer der mittelalterlichen Mystik; gewann 1146 König Konrad III. zur Teilnahme am 2. Kreuzzug. Heiligsprechung 1174 (Fest: 20. 8.), Erhebung zum Kirchenlehrer 1830. 36 Abaelard, [abe'lar] Abélard, Abaillard, Peter, Philosoph und Theologe der Frühscholastik, * 1079 Palais bei Nantes, † 21. 4. 1142 Kloster St.-Marcel (Saône); vermittelte durch den Konzeptualismus im Universalienstreit; wurde mit seiner Schrift „Sic et non“ beispielgebend für die scholastische Methode; der Ethik gab Abaelard neue Maßstäbe, indem er Gesinnung und Gewissen als die ausschlaggebenden Kriterien bezeichnete. Einige seiner theologischen Lehren wurden kirchlich verurteilt (1121, 1141). Abaelard führte ein unstetes Wanderleben und wurde auch durch seine Liebschaft mit Héloise (* 1101, † 1164) bekannt. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 121 Islam, einer Auseinandersetzung, die zum wichtigsten Anliegen des Abtes Petrus geworden war... Abaelard starb 1142. Er wurde neben seiner geliebten Heloïse beigesetzt, mit der er eine der bekanntesten Liebesgeschichten des Mittelalters gelebt hat. Das erste Haus, das auffällt, nähert man sich dem Klosterkomplex, ist ein zweistöckiges Gebäude mit zwei wuchtigen Erkertürmen und einer doppelseitigen Freitreppe davor. Es ist die ehemalige Residenz des Abtes Jacques von Amboise und heute Museum. Hier muss man Eintritt bezahlen. Wendet man sich danach links, gerät der Besucher über einige Stufen in den Grundrissbereich von Cluny III. Davon stehen nur noch einige Säulenstümpfe, die mich erneut mit ihrer gewaltigen Dimension beeindrucken, die diese Kirche gehabt haben muss. Wir eilen, kennen ein bisschen noch den Weg. Man hat inzwischen Häuser auf dem Grundriss errichtet, ohne diesen zu berücksichtigen, sicher auch Steine aus den …Säulenstümpfe von Cluny III… Trümmern verwendet, die unter der Herrschaft Napoleons und dem Wüten der Säkularisation37 entstanden sind. Heute steht nur noch ein Turm, auf den man aus 180 Meter Entfernung blicken kann. Cluny III war größer als die Peterskirche in Rom! Links erhebt sich neben lapidaren Zeugen das Hôtel Bourgogne. Seine Fenster sind mit Geranien und Petunien geschmückt. Wir gehen nicht ins Museum, sondern laufen hinüber in die Fußgängerzone des Städtchens Cluny, biegen aber an einem hinteren Eingang wieder in den Klosterbereich ein und spazieren langsam zum Parkplatz Von hier vorn bis hinten zum Turm zurück. Immer wird man als Besucher versucht sein, sich die erstreckte sich die fünfschiffige räumlichen Ausmaße von Cluny III vorzustellen. Basilika Cluny III Es wird nur unvollkommen gelingen und nur mit Hilfe der Modelle, die sich im Museum befinden. 13 Uhr geht die Fahrt weiter auf der Route touristique à Mâcon. Unterwegs, 17 km vor dem Hauptort des Départements Saône-et-Loire sehen wir – genau auf 396 m Seehöhe – im Vorbeifahren den Landsitz des vierten Abtes von Cluny, Hugues de Cluny, das Châtelet de Berzé. Das Dorf Berzé-laVille hat nur 500 Einwohner und liegt zu Füßen dieser Anlage, die noch eine schöne cluniazensische Kapelle mit Fresken aus dem 12. Jahrhundert aufweisen soll. Schade, dass alles so schnell vorüber eilt! So schnell wie die Jahrhunderte. Liest man davon, so ist es als wäre es erst gestern gewesen… Châtelet de Berzé, Landsitz Hugos von Cluny, 12. Jh. 37 Säkularisation: Enteignung kirchlichen Eigentums durch den Staat. In Frankreich wurde während und nach der Französischen Revolution der gesamte kirchliche Besitz und bei der zweiten Trennung von Kirche und Staat wiederum ein großer Teil (1901-1905) säkularisiert. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 122 XXIV. Mâcon und Tournus W ir fuhren nun hinüber ins Tal der Saône. Unterwegs wurden wir auf einen Platz von prähistorischer Bedeutung, einen Felssporn, aufmerksam gemacht, der im Hintergrund auftauchte. Wir sahen aus der Nähe nur ein „Modell“ des Felsens als Zierde eines Kreisverkehrs. Es ist der Rocher de Solutré. In der Nähe befindet sich noch ein Dorf mit vorwiegend Weinanbau. Es sind die Weinberge des Mâconnais, die an den Füßen dieses eigenartigen Felsens liegen. Dieser Platz war in der Steinzeit, besonders im „Solutréen“, vor 20 000 Jahren, das Erfolgsrezept der Jäger auf Rocher de Solutré, Bourgogne, nahe Mâcon Pferde und andere Tierarten. Am Fuße des Felsens fand man eine 2 m dicke Schicht von Pferdeskeletten und anderen Tierknochen. Die Taktik war klar: Die Steinzeitjäger trieben das Wild auf den langsam aus der Ebene aufsteigenden Felsen hinauf. Man sieht es aus dem Bild. Die Gehetzten hatten keine Chance und stürzten ab, leichte Beute für die homo sapiens. Noch 12 km bis Mâcon, dann tauchten die ersten Häuser auf, Vorstadtstraßen, Verkehr brandete um uns. Blumenpracht im Kreisverkehr. Parkplatzsuche für Knut und Peter Großer. Sie kommen nicht jeden Tag hierher. Nahe dem Fluss drängelt sich Knut mit seinem schweren langen Gefährt zwischen PKW’s. Er wird später weggejagt. Wir steigen aber erst mal aus und dürfen für eine halbe Stunde uns in Mâcon umschauen. Eine halbe Stunde! Peter Großer hatte aber bereits unser Einverständnis, dass wir hier nur kurz Station machen wollen. Dafür versprach er uns einen Extrabesuch in Tournus. Doch davon später. Ein Auge tränte, eines strahlte. Die Freude über den Zugewinn überwog am Ende. Spaziergang am Ufer der Saône. Auf dem Fluss ankert ein Flusskreuzer. Hitze. Ein Bettler lag mit Bettelfrau in ziemlich eindeutiger Stellung auf der blanken Erde im Schatten eines Plakataufstellers, weltentrückt, die Augen geschlossen und die Hand unter ihrem Rock. Das ist auch Frankreich. Locker vom Hocker! Ich schaue schnell weg. Moralisch dürfen die Beiden sich für mein Hinschauen nicht beschweren! Was sie gewiss nicht taten, schwebten sie auf Wolke 7- im Dreck. Wir liefen bis zur Saône- Brücke Pont Saint Laurent. Ich wollte sie mindestens einmal betreten. Die andere Seite versprach nichts Interessantes für Zentrum von Mâcon einen 30- Minuten-Trip. Dennoch steckt Historie in dieser Brücke! Schon vor dem Bestehen der Stadt Mâcon führte hier eine Furt durch die Saône. Die römischen Legionen bauten dann während der Eroberung Galliens eine Holzbrücke. Erst im 11. Jahrhundert wurde eine steinerne Brücke errichtet. Sie hatte nur sechs Bögen und wurde im Jahre 1221 befestigt. Bis 1550 fanden weitere große Umbauten statt. Aus dieser Zeit scheint die Verlängerung der Brücke zu stammen, obwohl die genaue Zahl der Brückenbögen im 16. Jahrhundert nicht bekannt ist. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 123 Während der Religionskriege erlebte die Brücke tragische Stunden. Der Gouverneur von Mâcon, Guillaume de Saint Point, trieb die hugenottischen Gefangenen – im Namen der katholischen Version der Lehre Christi – von der Brücke in die Saône und ließ sie ersäufen. Die Saint- Laurent- Brücke ist eine der wenigen Brücken der Region, die während des 2. Weltkrieges nicht zerstört wurde. Seitdem hat sie ihr Aussehen nicht verändert. Heute verleihen ihr, wie ich zählen konnte, 12 Brückenbogen Stabilität. Sie ist ein Symbol der Stadt Mâcon. Unterwegs habe ich nicht nur Bettler beobachtet, sondern auch ein Denkmal am Quai Lamartine fotografiert, das des berühmten Poeten und Politikers Lamartine38. Im Sturmschritt, da es nur noch 20 Minuten Zeit gab, zog ich Martina hinter mir her. Leider konnten wir uns der Stadt gar nicht widmen. Es war so etwas wie japanischer Tourismus. Im Laufschritt fotografieren- weiter. Klick und weiter. Wenigstens noch zur Kathedrale! Also im dichten Gewühl der Fußgänger, die sich bei etwa 35°C im Schatten der Fußwege schoben und drängten und aber mehr Zeit als wir besaßen und deshalb langsam vor uns her bummelten, lenkte ich von der Rue de Pont unsere Schritte nach links in die Rue Dombey, die dann – verlängert – in die Rue Carnot weiterführt. Hinter dem Rathaus erweitert sie sich zur Place Saint Pierre, aus der die beiden mächtigen Türme der Kathedrale gleichen Namens in die Höhe ragen. Im Office de Tourisme hole ich mir einige Prospekte und einen Plan zur Stadt. Daraus erfahre ich, dass das Rathaus aus dem 18. Jahrhundert stammt, Sankt Peter sogar erst aus den 60er Jahren des 19. Jh. Seine Verzierungen in neoromanischem Stil mit Nymphen und Friesen tauchen in allen Arkaden, Mauer-, Wand- und Fensteröffnungen wieder auf. An wichtigen Bauten, die den Charakter der Mâcon, Lamartine- Denkmal und Rathaus Altstadt von Mâcon prägen haben wir nicht gesehen: Das Ursulinerinnen- Kloster, das Lamartine- Museum, dem berühmten Bürger der Stadt gewidmet. Das Maison de Bois (erbaut 1490-1510), das älteste Haus Mâcons, hat eine einmalige, mit pikanten Figuren geschmückte Holzfassade. Dann ist noch die ehemalige Sankt Vinzent- Kathedrale, die aus dem 6. Jahrhundert stammt, zwischen dem 7. und 13. Jh. mehrfach umgebaut wurde, die 1799 begonnen wurde abzureißen- wir wissen langsam weswegen. Nur noch Reste stehen heute und zu Ehren Napoléon I. wurde an anderer Stelle eine neue errichtet, die zuerst Saint-Napoleon- Kirche, dann als dieser abdankte, dem neuen Kaiser Ludwig XVIII. zu Ehren in Saint-Louis- Kirche umbenannt. Nach der Rückkehr Napoleons von der Insel Elba wurde sie Saint-Vincent-Kirche getauft. Man sieht, es bringt nur Ärger, wenn man Bauwerke nach Lebenden benennt! Hier fanden am 4. März 1869 die Begräbnisfeierlichkeiten für Alphonse de Lamartine statt. Das war ein wenig Hintergrundwissen zu Mâcon, das ich mir im Nachhinein verschaffte. Wir eilten zum Bus und fuhren an der Saône entlang nach Norden. Mâcon, Église Saint Pierre 38 Lamartine, Alphons de, *1790 Mâcon, †1869 Paris, romantischer Poet. Mit Herausgabe der « Geschichte der Girondisten » erlangte er große Popularität. Er wurde Chef der provisorischen Regierung von 1848 und Präsident der Akademie der Künste, der Wissenschaften und Literatur von Mâcon. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 124 Kurz hinter der Steinbrücke, vom Quai Jean Jaurès aus gesehen, erweitert sich das Flussbett der Saône zu einem langen schmalen See. Wir sehen auf die Regattastrecke von Mâcon, das Bassin de Compétition. Zahlreiche Ruderboote bevölkerten die Wasserfläche, die im gleißenden Sonnenschein wie flüssiges Silber schimmerte. Dann geriet das Wasser aus dem Blickfeld, und wir verließen Mâcon auf der Avenue Général de Gaulle. Einen Boulevard, eine Place, eine Avenue oder mindestens eine Rue dieses Namens hat wohl jede französische Stadt! Alle waren gespannt auf die nächste Sehenswürdigkeit. Viele meiner Mitreisenden hingen aber auch in ihren Sesseln und betrieben Augenpflege. So viele Stationen an einem Tag, so viel Geschichte und Geschichten- die ganze Reise dünkte mich wie einen Monat, und doch waren wir erst den neunten Tag unterwegs. Links von uns breitet sich die fruchtbare Ebene des Mâconnais, eine von Hügeln, Weinbergen und kleinen Dörfern überzogenen Landschaft, von der wir nicht s mitbekamen, da jeder ein wenig vor sich hindöste. Nach einer Dreiviertelstunde vielleicht hielten wir wieder am Flussufer der Saône. Wir waren in Tournus, einem hübschen Städtchen von vielleicht 7000 Einwohnern, das schmuck im Glanze der Sonne seinen Mittagsschlaf hielt. Es liegt 30 km von Mâcon entfernt und gehört noch zum Département Saône-et-Loire. Das Thermometer zeigt 34 °C. Es ist 15.15 Uhr. Der Ort entstand in früher Zeit der Christenverfolgung im neunten Jahrhundert, überstand den Einfall der Normannen und entwickelte sich mit der Verehrung und dem Verhältnis, das die Gläubigen zur Person des Heiligen Philibert hatten. Ich finde, bei berühmten Bauwerken sollte man mit der Geschichte und seiner Herkunft anfangen, ehe man die Reste der Jetztzeit besichtigt. So versteht man besser den Sinn und Zweck dieser für die Gläubigen heiligen Stätte. Ohne dieses Hineinhorchen in die Vergangenheit bleibt Vieles optisch zwar beeindruckend, doch sinnlich unverständlich. Was sagen also die Biographen über Philibert? Ich zitiere ein Heft: SAINT-PHILIBERT (616-685) Philibert wurde 616 in der Gegend von Eauze (in der Gascogne) geboren. Er wurde in Aire-sur-Adour erzogen. Vermutlich kannte er seine Mutter nicht, die wohl verstarb, als er noch Kind war, denn schließlich wurde sein Vater, königlicher Präfekt, im Jahre 620, zum Bischof gewählt. Philibert verbrachte seine Jugend am Hofe des Frankenkönigs Dagobert. Als königlicher Beamter, „Palatin“, war er an die Person des Königs sehr gebunden, und er erlernt dort die Verwaltungsgeschäfte. In der Umgebung des Königs begegnet er Menschen, die ihn für sein Leben prägen sollten: Saint Ouen und der Abt Germer. Mit zwanzig Jahren verlässt Philibert den Hof und tritt ins Kloster von Rebais (Seine-et-Marne) ein. Er zeichnet sich durch die Demütigungen aus, die er sich auferlegte. Im Jahre 650 wird er zum Abt von Rebais gewählt; er ist nun 34 Jahre alt; für ihn beginnt nunmehr ein noch intensiveres Streben nach Vollkommenheit. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 125 Die Heiligen Philibert und Valerian Es erscheint ihm notwendig, die wichtigsten Ordensregeln seiner Zeit gründlicher kennen zu lernen: für zwei Jahre macht er sich auf als Wandermönch, um die Klöster Frankreichs und Italiens zu besuchen. Nach Rebais zurückgekehrt, legt er sein Amt als Abt nieder und wird zum Ordensgründer: er stellt eine Ordensregel auf und gründet sein erstes Kloster in Jumièges (Seine-Maritime) im Jahre 654. Philibert errichtet auch sein erstes Nonnenkloster in Pavilly, nahe bei Rouen, während er einem seiner Schüler aufträgt, die Abtei von Saint-Saens in derselben Gegend zu stiften. Indem er sich gegen die Tyrannei und die blutige Gewaltherrschaft Ebroïns, Hausmeier des fränkischen Reiches, auflehnen wollte, zog er dessen Zorn auf sich und wird in Rouen (675) eingekerkert, schließlich nach Poitiers (zu jener Zeit im unabhängigen Herzogtum Aquitanien) ausgewiesen. Er gründet dann ein neues Kloster auf der Insel Noirmoutier (676) während er viele andere (Luçon, Saint-Michel-en-l'Herm) reformiert. Nach dem Tod seines Feindes Ebroïn im Jahre 680 kommt der Heilige nach Jumièges zurück, stiftet ein zweites Nonnenkloster in Montivilliers, unweit von Le Havre (684) und verbringt seinen Lebensabend im Kreis seiner Gemeinschaft in Noirmoutier. Dort stirbt er im Alter von 69 Jahren am 20. August 685, von seinen Schülern und der heimischen Bevölkerung stark verehrt. So sah ihn sein erster Biograph: „…Philibert war von einer solchen Feinsinnigkeit beseelt, dass er nur das lehrte, was er zuvor sich selbst abverlangt hatte. Er war tieffromm, gütig und barmherzig, besaß eine hohe Begabung als Prediger, ausgestattet mit einer weiten, tiefgründigen Intelligenz, umgänglich, charakterfest, gastfreundlich gegenüber jedermann; es war ihm ein Herzensanliegen, die Sklaven freizukaufen und die Betrübten zu trösten. Begeistert widmete er sich der Errichtung religiöser Gebäude, war uneigennützig und war für viele Schüler ein Vorbild der Selbstleugnung. Er mied die Lüge wie ein tödliches Gift, er war keusch, enthaltsam und untadelig in jeder Hinsicht. Er führte ständig den Namen Christi im Munde, und in seinem Herzen spiegelte er Licht und Kraft des Heiligen Geistes wider…“ Obwohl Philibert schon zu Lebzeiten weit bekannt und geschätzt war (etwa dreißig Wunder wurden ihm zugeschrieben) hätte er nach seinem Tod dem Gedächtnis der Völker entschwinden können. Doch erfuhren dann seine Bekanntheit und sein Einfluss einen starken Auftrieb, vor allem wegen der Wunder, die sich bei der Verehrung seiner Reliquien ereigneten: es begann an seinem Grab in Noirmoutier (685-836) und setzte sich während der Flucht der Mönche vor den normannischen Einfällen fort (836-875). Nach 39jährigen Irrwegen durch ganz Frankreich fand sein heiliger Leichnam in Tournus seine letzte Ruhestätte, wo die Mönche die kleine Stiftskirche St-Valerian übernahmen und ausbauten. Dort wirken die Wunder bis in unsere heutige Zeit fort. Die Abteikirche Saint-Philibert war vom 10. bis zum 17. Jahrhundert ein bedeutsamer Wallfahrtsort. So war es allen Familienvätern der burgundischen Diözesen eine Verpflichtung, einmal jährlich nach Tournus zu wallfahren. Zahlreiche Pfarrgemeinden wählten sich ihn zum Patron, und sein Kult verbreitete sich in mehreren französischen Provinzen (Gascogne, Ile de France, Normandie, Vendée, Bretagne, Anjou, Poitou, Auvergne, Lyonnais, Burgund, Franche-Comte, Bresse, Savoyen, Flandern) und im Ausland (Italien, Kanada). © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 126 Es war gebräuchlich, dem Erstgeborenen in einer Familie den Vornamen Philibert zu geben. Dieser Brauch hielt sich bis in unsere Tage. Die Verehrung des Schutzpatrons der Abteikirche hält vor allem in der Umgebung von Tournus bis heute an. Beachtlich ist die Zahl der Fakten aus so früher Zeit! Wir stapfen schwitzend den leicht ansteigenden Weg hinauf zur Stiftskirche des hl. Philibert und erlaben uns in der dämmrigen Kühle des Gotteshauses von der kleinen Anstrengung. Ich stehe im Mittelschiff, das mit einem System von Quertonnengewölben überspannt ist und schaue auf den Chor, der durch zwei Reihen knallbunter Glasfenster erleuchtet wird. Dicke rund gemauerte Säulen streben schlicht nach oben. Die Querbögen verwirklichen das geniale Prinzip aus dem Brückenbau. Das ist das Besondere an dieser Kirche. Und sicher gibt es weitere architektonische Besonderheiten, denen ich nicht nachspüren will. Wir steigen in die Krypta hinunter. Dort ist das Gewölbe aus einem einzigen Steinblock herausgeschlagen. Die Mauern sind zum großen Teil mit weißen bearbeiteten Steinen verziert, und die Säulen, welche das Gewölbe stützen, sind im Gegenteil zu den Säulen des Schiffes dünn und schlank. Diese Krypta stammt vom Ende des 10. Jahrhunderts. Sie ist mit zwei Säulenreihen dreischiffig. Aus dieser Zeit gibt es im gesamten deutschen Raum nur noch eine dreischiffige Krypta, nämlich in der Klosterruine Memleben, dem Ort, wo der erste ottonische König Heinrich I. 936 starb. Hier in Memleben errichteten die Tournus, St-Philibert, Krypta ottonischen Kaiser eine Kaiserpfalz. Daran musste ich mich erinnern, als ich hier unten stand. Wir besuchen den Kreuzgang, der mit zwei Schenkeln einen nach außen offenen Innenhof einschließt. Im Schatten ist es still hier. Martina will hier warten, während ich einen Blick in die Kapelle St-Michael werfen will. Genau vierzig Stufen führen hinauf auf einer steilen Wendeltreppe, die vom hintersten Teil des Narthex in eine Hochkapelle führt, wie sie in den großen Kirchen dieser Zeit üblich war. Auf kurzen mächtigen Rundpfeilern ruhen die dicken Joche der das Gewölbe tragenden Bogenmauern. Der Raum ist leer. Treppen führen zu zwei kleinen Türen, durch die man früher, zur Zeit der Mönche, die Seitenschiffe der Kirche erreichte. Leider wurde mein Foto unscharf, so dass ich ein Fremdfoto einfüge. Ich fand gerade diese Kapelle faszinierend und hatte solche Anordnung noch nicht gesehen. Dann stieg ich ab und holte Martina und – hinaus in die Hitze! Einen Blick warf ich noch in das ehemalige Refektorium der Mönche, einen tonnenförmig überwölbten länglichen Raum, der, mit einigen Skulpturen geschmückt, heute als Ausstellungsraum dient. In einer Nische an der Seite saß der Vorleser. Auf der Gegenseite führt eine Tür in den Kreuzgang. Es gäbe noch viel zu entdecken, doch wieder drängt das Tagesprogramm zum Aufbruch. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 127 Tournus, St-Philibert, Michaelskapelle XXV. Beaune S chon 15.50 Uhr saßen wir wieder im Bus und starteten zum heutigen Etappenziel nach Beaune. Wir beide erinnerten uns der Stunden, die uns vor zwei Jahren hier vergönnt waren, bei dem ausführlichen Besuch des Hôtel-Dieu. Allerdings haben wir damals in Dijon gewohnt, der alten mittelalterlichen Hauptstadt des Herzogtums Burgund und des heutigen Département Côte-d’Or. Da wir von Süden nur wenige km in dieses Département eindringen, will ich mir ausführliche Bemerkungen über diesen nördlichen Teil der Bourgogne sparen. Noch waren wir aber im Dpt. Saône-et-Loire und durchfuhren im Eiltempo die Stadt Chalon-sur-Saône, etwa 60 000 Einwohner. Peter Großer erzählte uns von dem über die Grenzen der Stadt hinausgehenden Ruf, dass hier ein gewisser Nicéphor Niepce (1765 – 1833) gelebt und gewirkt hat, ein Pionier der modernen Fotografie. Ihm ist es 1827 erstmals gelungen, auf einer mit Asphalt bestrichenen Zinnplatte ein haltbares positives Lichtbild zu erzeugen. Neben Apparaten und historischen Lichtbildern wird in einem Museum am Ufer der Saône in Wechselausstellungen das Werk berühmter Fotografen gezeigt. Er schult unser Wissen weiter, als wir an einer Straßenkreuzung den Hinweis lesen, dass es nach Westen etwa 40 km bis Le Creuzot sind. Warum ist dieser Ort wichtig? Hier ein kurzer Abriss seiner Geschichte: (Wen das nicht interessiert, der blättere weiter!) Le Creuzot war in allen drei großen Kriegen, die Frankreich gegen Deutschland zu führen hatte, eines der wichtigsten Zentren der Stahlindustrie und lieferte alle Arten schwerer Waffen. Bis 1782 ist Creusot nur ein kleines Dorf ohne Industrie. 1782 wird eine königliche Gießerei in Creusot gebaut, um von den Kohlevorräten der Region zu profitieren, es ist die erste Fabrik der Stadt. Die königliche Familie beschließt ebenfalls, 1786 in Creusot die Kristallfabrikation der Königin zu bauen. Nach der Revolution wechseln 1818 die Gießerei und die Kristallfabrikation ihren Eigentümer. Die Schmieden werden 1826 zurückgekauft, aber machen 1833 Konkurs. 1836 findet die lothringische Industriellen- Familie Eugène und Adolphe Schneider hier einen Standort für die Errichtung von Stahlwerken. Sie beschließen, die Schmieden von Creusot zurückzukaufen, die besaßen die kohlehaltigen Reserven, die für die Verwirklichung ihres Projekts unentbehrlich sind. Es mangelte in der Region nicht an Eisenerz. Die Schneiders schaffen einen industriellen und städtischen Entwicklungsplan von Creusot und bauen ein Fabrikgelände so groß wie eine Stadt. 1870/71, 1914/18 und bis zur deutschen Besetzung am 18. Juni 1940 produzieren die Franzosen ihre Kanonen, und ihre Modelle werden unter Schneider- Creuzot jedem Militär gut bekannt. Man denkt an Krupp in Essen. Auch Panzer im ersten und U- Boote im 2. Weltkrieg werden zusätzlich produziert. Die Boote werden in Chalon-sur-Saône montiert und zu Wasser gelassen. Die Deutschen verschonten die Schneider- Werke und den Ort bei der Besetzung, aus gutem Grund, die Alliierten jedoch bombardierten Le Creuzot am 17. Oktober 1942 (63 Tote und mehr als 250 Verletzte). Die Bombardierung durch die Royal Air Force in der Nacht vom 20 zum 21. Juni 1943 traf Stadt, Werk und Zivilbevölkerung noch schwerer: Es gab mehr als 300 Tote und 1000 Verletzte, das Krankenhaus, das Rathaus, das Schloss, die Glaserei und drei Kirchen wurden zerstört. Das war das Schicksal einer Waffenschmiede. Doch fragen sich heute viele Franzosen: Warum haben gerade die Verbündeten ihren französischen Freunde solche Verluste zugefügt? Um das negative Image aufzuhellen: Die Fabriken von Creuzot stellten neben Kriegsmaterial auch folgendes her: Dampflokomotiven, insbesondere die Gironde (1838), einer der ersten französischen Lokomotiven. Elektrische Lokomotiven wie die BB 9004, 1955 Inhaberin des GeschwindigkeitsWeltrekordes auf der Schiene mit 331 km/h. Spezielle Stähle mit Nickel als Legierung (1889). Den Dampfpresslufthammer von Creusot, der eine sehr präzise Arbeit des Stahls erlaubt. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 128 Die ersten französischen Schienen 1827, Schienen aus Stahl von 1868 an (Anmerkung: Die TMB - Bahnen des Monts Blanc benutzen heute noch die Schneider-Schienen). Zahlreiche elektrische Betriebsmittel. Stahlgerüste für Brücken oder von Bahnhöfen (Bahnhof von Santiago de Chile 1896). Heute mit der Regression der Stahlindustrie leidet die Region wie viele ehemals blühende Industriestandorte in Europa – siehe Rhein- und Ruhr! Leer geblutet durch das Verschwinden der Quasi- Totalität seiner metallurgischen Fabriken versucht Creusot heute zu überleben, indem es seine Gewerbezweige diversifiziert. Eine Fabrik SNECMA hat sich auf den Ruinen der Fabriken Creusot- Loire eingerichtet. Die Lage der Stadt von Creusot ist sehr veränderlich und hängt in der Tat von der Konjunktur ab. Der Industriesektor ist dort noch dominierend mit zahlreichen Wachstumsindustrien: BSE, Snecma, Siag, Haulotte Group… diese Unternehmen sind ein Symbol der Erneuerung der Stadt. Die Globalisierung des Handelsverkehrs führt zu Creusot große weltweite Gruppen wie General Electric durch die Fabrik von Thermodyn, Mittal-Arcelor via insbesondere Arcelor Industeel oder noch Safran via Snecma… Der Standort heißt heute Haute Énergies. Aber das ist fast schon Börsenberichterstattung. Ich bezog diese Informationen aus dem Internet, fasziniert von den Details, die mich immer wieder hineinziehen in den Strudel der Vergangenheit. Inzwischen erwähnte Peter Großer – hinter seinen vielseitigen Erklärungen verstecke ich meine Abschweifungen vom wirklich Gesehenen – auch den Namen der Stadt Autun, die von Le Creuzot nur noch wenige 30 km weiter liegt. Es läge auf der Hitliste der romanischen Kirchen ganz weit oben, meinte er. Autun ist eine alte Römerstadt und über 2000 Jahre alt. In ihrer zweiten Blütezeit im Mittelalter erhielt sie die im cluniazensischen Baustil gehaltene Kathedrale St-Lazare. Wenn der Baedeker zwei Sterne dafür erteilt, lohnt sich auf jeden Fall ein Besuch- doch wann? Dann biegen wir von der Autobahn ab und erreichen Beaune gegen 17.50 Uhr. Wir parken wieder an der Stadtmauer. Alles ist beinahe so wie vor zwei Jahren. Martina und ich entscheiden, dass wir nicht ins Hôtel- Dieu mitgehen. Alles ist noch frisch in Erinnerung. Ich verliere hierüber auch keine Worte. Man möge in meinem Reisebericht „Tour de France“ nachlesen. Ich hole mir schnell einen „Plan de Ville“ im Fremdenverkehrsamt. Beaune befindet sich nun schon im NO des Burgund, dem Département Côted’Or. Wie die kleine Karte zeigt, wird der Höhenzug parallel der Linie Beaune – Dijon „Goldküste“ genannt, der dem Dpt. den Namen gab. An seinen Hängen wachsen und reifen die Grand Crus, die ganz großen Weine des Burgunds. Ich bummle, da es sehr warm ist, zum nächsten Eis- Verkaufsstand und folge Martina, um auch ihr einmal dienlich zu sein, in einige Boutiquen. Sie sucht einen weiten Sommerrock. Vor allem hat sie an der Boutique Camaieu Gefallen gefunden, die wir nun in jeder französischen Stadt finden müssen. Ich begleite sie amüsiert als Dolmetscher, wobei sie sich mit Gesten und unmissverständlichen Handgriffen in die Kleiderregale gut selbst verständlich macht. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 129 Kurz vor Ladenschluss, nachdem sie sich erst etwas bei Camaieu reservieren ließ, dann beim Nachbarn PINKIE kramte, verwarf, wieder zurückkam, wieder hin, bis ich ein Machtwort sprechen musste, ihre Entscheidung zu treffen, denn ich wollte noch mit ihr ein wenig die Stadt ansehen. Die Ladenschließzeit kam uns 17 Uhr entgegen und mir wie vom Himmel verordnet. Unterdessen fegte ein aufkommender Sturmwind den Staub durch die Stadt und blies uns ins Gesicht, und der Himmel verfinsterte sich zusehends. Jetzt eilten wir über die Straßen der Altstadt, um mit einem kleinen Rundgang zum Parkplatz zu finden und pünktlich da zu sein. Kleine Blitzlichter bleiben mir in der Erinnerung. Ein Blindfenster in der Rue Victor Millot in einem Eckhau, in dem sich ein hübsches Restaurant mit einem Freisitz zum Niedersetzen empfiehlt. Das MAISON D’ARLEQUIN, ein herrliches altes Fachwerkhaus mit einem Salon de The im Erdgeschoss, den ich liebend gern von innen kennen gelernt hätte. Ein wunderschöner Blick über rote Geranien hinweg, einen mit Grünalgen überzogenen Wassergraben entlang auf die alte Stadtmauer. Ein historisches Haus, im schwindenden Licht Nachmittags angeleuchtet durch ein einladendes Schild Cave a Crèpes – Restaurant et Crèperie“. Verbunden diese Reklame mit dem gleichzeitigen Angebot Antiquitäten: ANTIQUITE, ESTIMATIONS39 des „La war von Beaune, Blick auf die Stadtmauer Dann regnete es die ersten Tropfen, und schon hatten wir auch den Bus erreicht. Nun suchten Peter Großer und Knut das Hotel zu finden, das etwas außerhalb von Beaune liegen sollte, mitten in einem Weinberg. Wir hatten Hunger und der Tag war lang gewesen. Unendlich viele Eindrücke warteten auf Ruhe und Verarbeitung. Aber zuerst meldete sich der knurrende Magen. Nach einiger Suche fanden wir schließlich das etwas von der Straße zurückliegende kleine Etablissement. Es hieß wohl Hôtel Closellerie40 oder so ähnlich, ein flacher Bau, dessen Zimmerflucht im Souterrain nach hinten führte, den Bodengegebenheiten angepasst. Es gab an diesem Abend Reis mit Goulasch, getoasteten Käse und Birne in Vanillesoße. Lecker. Langsam kam Traurigkeit auf, denn morgen würde der letzte Tag in Frankreich sein und die Rückreise nach Deutschland erfolgen. Mir kamen Nachtgedanken wie Heinrich Heine, der Frankreich sehr liebte. Sein Gedicht bezog sich auf die Sehnsucht nach seiner Mutter: „Denk’ ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht…“. Natürlich hatte ich auch eine alte Mutter dort, würde sie aber in nächster Zeit wieder sehen. Woran ich mehr dachte, sind diese Verse: „…Nach Deutschland lechzt ich nicht so sehr, wenn nicht die Mutter dorten wär; das Vaterland wird nie verderben, jedoch die alte Frau kann sterben.“ Ich könnte mir gut vorstellen, in diesem schönen Land zu leben. Leider ist es ein wenig zu spät für einen Wechsel. Frankreich wird mir immer am Herzen liegen. 39 40 Estimations = frz. Schätzungen Closelle = frz. eingezäuntes Gehöft, kleiner Weinberg © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 130 Sonnabend, 25. Juni 2005 XXVI. Durch die Franche-Comté nach Hause Wecken vor dem Ausschlafen um 5.30. Frühstück 6.15 Uhr. Abfahrt 7.00 Uhr. Das war hart. Aber vor uns lagen über 1000 km Busfahrt. Das erste Teilstück führte über die A36 von Beaune in Richtung Besançon durch das Département Jura, das mit dem anschließenden Dpt. Doubs, dem Dpt. Haute-Saône und dem Territoire de Belfort zur Region Franche-Comté gehört. Großer erklärte uns wie ein Lehrer: Die Franche-Comté (dt. Freigrafschaft Burgund, manchmal auch Hochburgund) ist eine der 26 Regionen Frankreichs. 1999 hatte sie etwa 1,1 Mio. Einwohner. Geographie Die Region hat circa 230 Kilometer Landesgrenze mit der Schweiz gemeinsam. Diese natürliche Grenze wird vom Juramassiv gebildet. Die Franche-Comté liegt zwischen dem Elsass und der Region Champagne-Ardenne, wird im Westen von der Bourgogne und im Süden von der Region RhôneAlpes begrenzt. Geschichte In der frühgeschichtlichen Periode wurde die Franche-Comté von dem Volksstamm der Sequaner besiedelt. Ihre Hauptstadt Vesantio befand sich an der Stelle des heutigen Besançon. Zur Zeit der Völkerwanderung von Burgunden besiedelt, gehörte sie seit 534 zum Fränkischen Reich. Später gehörte das Gebiet zum Königreich Burgund, mit dem es 1034 nach dem Tode (1032) des kinderlosen burgundischen Königs Rudolf III. an das Heilige Römische Reich fiel. Friedrich Barbarossa heiratete 1156 Beatrix von Burgund (es ist seine zweite Gemahlin), die Erbin der Pfalzgrafschaft Hochburgund mit der Provence; er trennte das Gebiet 1169 vom übrigen Burgund ab und erhob es zur eigenen Pfalzgrafschaft. Die Bezeichnung Freigrafschaft (auf französisch la Franche-Comté) ist erst seit dem 14. Jahrhundert bezeugt. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 131 1361 fiel das Land an die Grafen von Flandern und kam 1384 mit diesem zum Länderkomplex des Hauses Burgund. Nach dem Tod Karls des Kühnen in den Burgunderkriegen mit der Eidgenossenschaft verzichteten diese für 150 000 Gulden auf ihre Ansprüche auf die Freigrafschaft. 1493 wurde sie im Vertrag von Senlis Philipp dem Schönen zugesprochen und kam damit zum habsburgischen Länderkomplex, 1556 dann an die spanische Linie der Habsburger. Zwischen Habsburg und den Eidgenossen wurde 1512 die Neutralisierung der Freigrafschaft vertraglich festgelegt, wobei die Eidgenossen deren militärischen Schutz übernahmen. Für die Eidgenossen war das Gebiet wirtschaftlich enorm wichtig, da die meisten Salz und Metallimporte von dort kamen. Wegen der inneren Zerstrittenheit und ihrer Abhängigkeit von Frankreich konnte die Eidgenossenschaft ihren Verpflichtungen gegenüber der Freigrafschaft jedoch nicht nachkommen, als diese während des Französisch-Schwedischen Krieges geplündert wurde oder als Ludwig XIV. sie 1668 (Devolutionskrieg41) und 1674 (FranzösischNiederländischer Krieg) militärisch besetzte. Im Frieden von Nimwegen musste Spanien 1678 die Freigrafschaft an Frankreich abtreten. Bis dahin hatte sie zum Burgundischen Reichskreis des Heiligen Römischen Reiches gehört. Bis 1790 war die Franche-Comté eine der historischen Provinzen Frankreichs. Sie war jedoch nicht Teil des franz. Zollgebiets. Als Verwaltungseinheit wurde das Gebiet 1790 abgeschafft und in die Departements Jura, Doubs und Haute-Saône aufgeteilt. Als geographischer Name überlebte der Begriff jedoch. Erst in den 1960er Jahren entstand die heutige französische Region Franche-Comté. Das Territorium von Belfort gehörte bis 1870 zum Elsass. Was in den hundertdreißig Jahren danach in diesem Gebiet passierte- daran können sich die meisten Zeitgenossen bestimmt noch erinnern. Drei Kriege rasten darüber hinweg. Wir fuhren zwar Autobahn, ahnten aber die Fruchtbarkeit des Landes. 40% Wald und Weideland gibt es in diesem Gebiet, alles ist voller sattem Grün. Seit 1464 wird hier genossenschaftlich „gekäst“. Für 500 l Mich erzeugt man hier 42 kg Käse, den berühmten „Comté“. Je nach Sorte wird er 9,12,18 Monate gelagert und zur Reife gebracht. Die Franche-Comté ist ein grünes Land… Wir fuhren, Peter Großer erzählte. Wir saßen in der Schule, hatten Französische Geschichte, erfuhren von Ludwig XIV. und seinem kriegerischen Kardinal Richelieu, der hier 1635 in der Franche-Comté einmarschierte. Bis Mazarin42 in den Pyrenäenverträgen 1659 das Gebiet wieder neutralisierte. Damit erlangte die Freigrafschaft wieder das Recht, die Oberste Gerichtsbarkeit auszuüben. 41 Devolutionskrieg, der 1. Reunionskrieg Ludwigs XIV. 1667/68 gegen die spanischen Niederlande. Reunionskriege: 1667—1697, die Kriege Ludwigs XIV. 1667/68 gegen die spanischen Niederlande, 1672—1678 gegen Holland und das Deutsche Reich; gegen die Augsburger Alliierten 1686 und 1688—1697 (Pfälzischer Erbfolgekrieg). 42 Mazarin, Jules, eigentlich Giulio Mazarini, Herzog von Nevers (1659), französischer Minister und Kirchenfürst, * 14. 7. 1602 Pescina, Abruzzen, † 9. 3. 1661 Vincennes; gebürtiger Italiener; Offizier und Diplomat, seit 1622 im päpstlichen Dienst, 1635/36 Nuntius in Paris, 1641 Kardinal; trat 1640 unter Richelieu in französischem Dienste, wurde 1642 dessen Nachfolger als leitender Minister, veranlasste durch seine absolutistische Innenpolitik den Adelsaufstand der Fronde, konnte sich 1653 durchsetzen und führte Frankreich weiter zur europäischen Vormachtstellung (Westfälischer Friede 1648, Pyrenäenfriede mit Spanien 1659). © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 132 Wir fuhren nun durch das Département Doubs, das nach dem gleichnamigen Fluss heißt, der aus dem hohen Kalkgebirge des Jura jenseits der Schweizer Grenze wasserreich herunterkommt, sich in vielen Mäandern durch die Ebene windet und nach 430 km bei Charlon-sur-Saône in die Saône ergießt. Seine Quelle liegt in 937 m Höhe, seine Mündung 750 m tiefer. Sie sind nur 90 km in der Luftlinie voneinander entfernt. Er ist also unterwegs ganz schön wild und hat sich abenteuerliche Schluchten gegraben, Gorges, Löcher ausgehöhlt. An einer solchen Flussschleife liegt Besançon, das wir 8.15 Uhr passieren. Hier wurde 1884 die Kunstseide erfunden, bahnbrechend für die Textilindustrie. Heute im Technikzeitalter ist die Stadt ein Zentrum der Mikroelektronik geworden. Ludwig XIV. beauftragte 1674 Vauban43 mit der Befestigung der ehemaligen Reichsstadt Besançon, nachdem er sie den Spaniern abgetrotzt hat und machte sie zur neuen Hauptstadt der nun französischen Provinz Franche-Comté. Die frühere Hauptstadt war Dole. Vauban erbaute auf den Fundamenten der spanischen Burg ein mit der damaligen Waffentechnik uneinnehmbare Festungsbauwerk. Ich habe schon über diese Stadt geschrieben, über das weltberühmte Uhrenmuseum, über den Kardinal Granvelle44, Sohn der Stadt und einer einflussreichen Adelsfamilie, von dem heute noch ein ansehenswertes Palais aus den Jahren 1525 – 1545 existiert. Berühmte Persönlichkeiten, die mit dieser Stadt in Zusammenhang gebracht werden, sind Victor Hugo45, der hier geboren wurde. Wer kennt nicht sein großes Werk „die Elenden“! Hier wurden der utopische Sozialist Charles Fourier46 geboren und die Gebrüder Lumière47, die beide hier ihre Kinderjahre verbrachten. Die Altstadt von Besançon liegt in einem Doubs- Bogen und lohnt einen Besuch. Rechter Hand sehen wir nun im Dunst des wieder sehr heißen Vormittages in der Ferne den Jura am Horizont, während links die Hügel und Berge der südlichen Vogesen von weitem langsam näher rücken. Es ist Viertel nach neun, nachdem wir Montbéliard passiert haben. Wir durchfahren jetzt durch die Burgundische Pforte, eine 28 km breite hügelige Senke, wo sich Jura und Vogesen eng gegenüberstehen, durch die Jahrtausende lang die Völker von Ost nach West und umgekehrt hindurch gezogen sind, um Land zu erobern, die Kelten, die Römer, Kaiserliche, die Italiener, die Spanier und Franken –und die Deutschen, in immer neuen Heerscharen eingefallen sind. Hier machte 1870 Colonel Denfert-Rochereau an der Spitze der 16 000 Mann starken Miliz, die zum größten Teil zur Mobilgarde gehörte, einen Monat lang 40 000 Deutschen die Annäherung an die Stadt streitig, bevor er sich in den Schutz der Zitadelle zurückzog. Er weigerte sich, Belfort mit seinen Truppen zu verlassen, auch nach 103 Tagen Belagerung und 21 Tage nach dem Waffenstillstand von Versailles, bis es die Regierung ausdrücklich befahl. Durch seine Ausdauer 43 Vauban, Sébastien le Prestre de, französischer Volkswirtschaftler und Festungsbaumeister, * 1. 5. 1633 St.-Léger-deFougeret, Département Yonne, † 30. 3. 1707 Paris; zahlreiche Festungen, u. a. Besançon, Metz und Straßburg. 44 Granvelle, Granvela, Antoine Perrenot de Granvelle, spanischer Staatsmann, * 20. 8. 1517 Besançon, † 21. 9. 1586 Madrid; Sohn von Nicolas Perrenot de Granvelle; 1550 als Nachfolger seines Vaters Staatssekretär Karls V., dann Philipps II.; ging in den Niederlanden als Berater (bis 1564) Margaretes von Parma scharf gegen die Protestanten und den niederländischen Adel vor; 1560 Erzbischof von Mechelen und 1561 Kardinal, 1571—1575 spanischer Vizekönig von Neapel. 45 Hugo, Victor, französischer Schriftsteller und Maler, * 26. 2. 1802 Besançon, † 22. 5. 1885 Paris; 46 Fourier, Charles, französischer Sozialist, * 7. 4. 1772 Besançon, † 10. 10. 1837 Paris. Die Sozialordnung sollte sich gründen auf „phalanstères“ (agrarisch geprägte Wirtschaftsgenossenschaften), die, eng gekoppelt an solidarisch organisierte Lebensgemeinschaften („familistères“), auf die Schaffung von Freiheit und Glück hinarbeiten sollten. 47 Lumière, Gebrüder Auguste (* 19. 10. 1862 Besançon, † 10. 4. 1954 Lyon) und Louis (* 5. 10. 1864 Besançon, † 6. 6. 1948 Bandon, Var); französischer Erfinder photographischer Produkte und des Kinematographen (13. 2. 1895 patentiert). © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 133 brauchte Thiers48 bei seinen hartnäckigen Verhandlungen mit Bismarck nicht Elsass- Lothringen preiszugeben, sondern konnte es zum Hauptort eines gesonderten Territoriums machen. Heute zeugt ein riesiger Löwe, le Lion de Belfort, von diesen heldenhaften Tagen, als Symbol der Kraft und des Widerstandes der Verteidiger von 1870. Mit 22 m Länge und 11 m Höhe lehnt er sich, aus rotem Vogesen- Snadstein gemißelt, mit dem Rücken an die Felswand der Burg. Bildhauer ist der in meinem „Tour de France“- Bericht schon erwähnte Bartholdi49. Die Autobahn nimmt nun nördliche Richtung an, und bald lässt sich auch das Weichbild von Belfort ausmachen. Im Vorbeifahren erhasche ich einen Moment, in dem die berühmte Zitadelle, die als das Meisterwerk von Vauban gilt, vorbeihuscht und banne sie aufs Bild. Hier wird der TGV gebaut, der französische Hochgeschwindigkeitszug, der mit 515,3 km/h Weltrekord für Schienenbahnen hält, auf der Atlantikstrecke von Paris nach Bordeaux. Als wir den Ballon d’Alsace (1250 m) erblicken, der über dem 1024 m hohen Bärenkopf hinauswächst, sind wir schon auf dem Wege in Richtung Mulhouse. Dort weicht die Autobahn ins Flachland aus und die Vogesen treten in den Hintergrund, so dass der höchste Berg der Vogesen, der Grand Ballon (1426m) nur Teil der grün sich in der Ferne hinziehenden Kulisse ist. Zitadelle von Belfort Neu waren mir auch die Erläuterungen, die Peter Großer über den Sundgau abgab, als wir den Landstrich rechts der Autobahn zwischen Belfort und Mulhouse durchfuhren. Mulhouse, auf Deutsch Mülhausen, ist die zweitgrößte Stadt des Elsass und Hauptort des Sundgaus, einem Gebiet, das auch seine eigene Geschichte erlebte. Dieses flache Land mit viel Wald, kleinen Flüssen und Seen, erstreckt sich bis zur Schweizer Grenze. Es ist 10.30 Uhr. Hier in dieser Industriestadt, von der ich nur hässliche Eisenbahnanlagen sehe, soll es ein großes Bugatti- Museum geben. Der Sundgau ist eine Landschaft im Süden des Elsass, nahe dem Dreiländereck zur Schweiz, Frankreich und Deutschland. Er bezeichnet in etwa den Landstrich zwischen Basel, Mülhausen und Belfort. Das Regionalzentrum ist die Kleinstadt Altkirch. Die Hügellandschaft ist stark von landwirtschaftlicher Tätigkeit und dörflichen Strukturen geprägt. Die klimatischen Bedingungen sind gegenüber der benachbarten Rheinebene ungünstig. Der Begriff leitet sich von Suntgowe ab, was soviel wie Südgau bedeutete. Der nördliche Teil des Elsass nannte sich Nordgowe. Historisch umfasste der Sundgau ursprünglich das gesamte Oberelsass, später jene Teile davon, die unter habsburgischer Herrschaft standen. Der höchste Punkt des Sundgaus befindet sich in der Gemeinde Bettlach auf 525 m.ü.NN. Das Erzhaus Österreich trat den Sundgau im Rahmen des Westfälischen Friedens 1648 an Frankreich ab. 48 Thiers, Adolphe, französ. Historiker u. liberaler Politiker, *14. 4. 1797 Marseille, †3. 9. 1877 St.-Germain-en-Laye; zunächst Anhänger, dann Gegner des „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe, mehrfach Minister, 1836 und 1840 Ministerpräsident und Außenminister. Nach der Februarrevolution 1848 konservativer Republikaner, unter Napoléon III. bis 1852 verbannt; seit 1863 Führer der Opposition. Thiers schloss 1871 den Frieden mit dem Deutschen Reich in Frankfurt, am 31. 8. 1871 durch die Nationalversammlung zum Präsidenten der Republik ernannt; trat 1873 zurück. 49 Bartholdi, Frédéric Auguste, französischer Bildhauer, * 2. 4. 1834 Colmar, † 4. 10. 1904 Paris; monumentale Brunnen und Denkmäler in Colmar, Paris, Lyon, Bordeaux u. a.; Hauptwerk: Freiheitsstatue im Hafen von New York, 1886 aufgestellt. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 134 9.25 Uhr wird von Knut noch einmal Télepéage kassiert, Autobahnmaut. Zwei Minuten später passieren wir die europäische Wasserscheide Rhône –Rhin. Nun fließt alles Wasser, was bisher über die Rhône ins Mittelmeer geflossen ist, in den Rhein und mit ihm in die Nordsee. Wir halten ein letztes Mal auf französischem Territorium, haben so etwas wie Mittagspause. Früher hatte man Gelegenheit, die letzten Francs an den Mann zu bringen. Heute ist mit der Euro- Währung diese Schwierigkeit überwunden. XXVII. Epilog W ir verlassen nun dieses gastfreundliche Land, diese herrlichen Landschaften und fahren in die Oberrheinische Tiefebene ein. Bei Neuenburg überqueren wir 10.40 Uhr den Rhein und sind wieder in Deutschland. Von jetzt an gibt es bis Dresden nur langweilige Autobahn. Alles schon einmal und noch einmal gesehen! Ich schließe die Augen und lasse die unterschiedlichsten Eindrücke Revue passieren. Meine Seele stand während dieser Reise offen für die Begegnung mit der Vergangenheit. Gleichzeitig lernte ich aber auch die Verhältnisse unserer Nachbarn in der Gegenwart besser kennen. In vielen Dingen ähneln sie in ihren Problemen nicht nur den unseren- sie gleichen ihnen. Was unterscheidet unsere zwei Völker, die sich Jahrhunderte bekämpft haben und doch in ihrer Kultur so ähnlich sind? Da sind die Sprache, die Lebensart, die zentrale Verwaltung, die multikulturellen Einflüsse der langen Kolonialzeit, die für Deutschland nicht so gravierend, wenn überhaupt noch vorhanden sind. Frankreich ist ein katholisches Land. Es hat nach der Reformation Martin Luthers heftige Kämpfe durchlitten, die Hugenottenkriege haben das Volk gespalten. Heinrich von Navarra, der spätere Heinrich IV. hat es aber mit seiner Konversion zum Katholizismus wieder geeinigt. Frankreich ist eine politische Einheit trotz der unterschiedlichen landschaftlichen Facetten zwischen Nord und Süd, Ost und West. Deutschland dagegen ist heute noch ein föderal rückständiger Flickenteppich. Ludwig XIV. brachte das französische Königtum auf die Höhe seiner Macht, raffte eine Menge Land, blieb aber in seinen Kriegen glücklos. Dann kam Napoleon, der Usurpator. Er fegte die Bourbonen vom Thron, das Volk ging in Paris auf die Barrikaden und machte Revolution. Die neue Republik trennte Kirche und Staat. Frankreich wurde das Land der Aufklärung, zu der alle Länder Europas hinschauten. Doch Napoleon weckte mit seinen irrwitzigen Eroberungszügen das Nationalgefühl der unterdrückten europäischen Völker und wurde von ihnen hinweggefegt. Viele freiheitliche Ideen haben wir unseren französischen Nachbarn zu verdanken wie den Code civil de français, der in Deutschland bis 1900 galt und in seinem Geiste im BGB fortlebt. Frankreich hat sich, auch durch seine Siege in den Weltkriegen, zu einem der modernsten europäischen Staaten entwickelt, während wir Deutschen immer noch in der Kleinstaaterei verhaftet sind. Trotzdem bin ich wieder in meinem Deutschland. Obwohl das besitzanzeigende Fürwort mir sehr schwer fällt, es zu eigen zu machen. Ein großer Teil dieses Landes, seine Menschen sind mir fremd. Es sind nicht die vielen Dialekte, in denen sie sprechen. Es ist ihre Denkweise, es ist dieses engstirnige, kleinbürgerliche Besitzstreben, die egoistische Anonymität, die Ellenbogenmentalität, die wahnsinnige Bürokratie und die stumpfsinnige Pedanterie, die mir oft wehtun. Doch ich bin nun einmal hier geboren und muss es annehmen. Verbessern kann ich es nicht. Die Politiker können es nicht. Der Staat wird immer kleiner, wie in der Parabel, die Balzac in seinem „Chagrinleder“ verwendet. Wenn er sein letztes Hemd an das Kapital verkauft hat, werden wir bankrott sein. Wollte Gott, dass wir Deutschen dann so geschlossen auf die Barrikaden gehen wie die Sansculotten50 seinerzeit in Paris und das Großkapital aus ihren Glaspalästen jagen. 50 Sansculotten, [franz. „ohne Kniehosen“] Sans-culottes, in der Französischen Revolution von 1789 Spottname für die Revolutionäre, die im Gegensatz zu den Aristokraten lange Hosen (pantalons) trugen; später gleichbedeutend mit Republikaner. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 135 Auch die Franzosen lieben ihren Kirchturm und mehren ihren Besitz. Aber sie fühlen anders, sie sind dem Leben näher, sie lieben die Geselligkeit und suchen sie auch. Sie arbeiten, um zu leben. Und sie sprechen miteinander. Sie lieben ihre Sprache. Das tut gut zu erleben und mitzufühlen. Vive la France! Peter Großer trägt noch einmal zusammen, wie viel Kilometer wir an den einzelnen Tagen mit dem Bus gefahren sind. 1. Tag: Dresden – Paris 1040 km 2. Tag: TGV Paris- Bordeaux (600 km) 5 km 3. Tag Bordeaux- Soulac- St. Emilion- Julien-de-Crempse 337 km 4. Tag Bergerac- Dordogne- Périgeux- Julien-de-Crempse 126 km 5. Tag Beynac- Gageac- Lascaux II- Sarlat 216 km 6. Tag Rocamadour- Conques- Gorges du Tarn- Mende 310 km 7. Tag Le Puy-en-Velay- Issoire- Vichy 296 km 8. Tag Vulcania- Puy-de-Dôme- Orcival- St-Nectaire- Vichy 351 km 9. Tag Paray-le-Monial- Mâcon- Cluny- Tournus- Beaune 270 km 10. Tag Beaune- Dresden 1029 km Insgesamt sind wir (mit den Bahn- km) 4580 km gereist. Wir kommen wie vom Programm vorgesehen abends 20.30 Uhr am Dresdener Flughafen an und sind mit dem Taxi dann 21.00 Uhr zu Hause. Es bleibt die Sehnsucht zurück nach Frankreich, die Hoffnung, es bald wieder durch Reisen zu besuchen. © R. Bührend, Sommer 2006 Seite 136