In den Tropen der Seele

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In den Tropen der Seele
kultur.lieblingsbild.
Paul Gauguin (1848–1903)
Nafea faaipoipo (Wann heiratest du?), 1892
Öl auf Leinwand, 101,5 x 77,5 cm
Vincent van Gogh (1853–1890)
Mademoiselle Gachet au piano, 1890
Öl auf Leinwand, 102,5 x 50 cm
In den Tropen der Seele
Gauguin und van Gogh träumten den gleichen Traum
Gottfried Boehm*
Künstler verlangte dies, bis an die
Grenzen zu gehen und über sie hinaus – in kulturell-geografischem, in
psychischem und in malerischem
Sinne. Anläufe dazu hatten Künstler
seit Beginn des 19. Jahrhunderts bereits unternommen, den heiligen
Raum des Ateliers etwa mit der Arbeit im Freien vertauscht, sich ganz
auf die Sichtbarkeit der Motive konzentriert. Und jetzt, gegen Ende des
Jahrhunderts? Gauguin und van
Gogh ging es, jedem auf seine Weise,
darum, die Erfahrungsräume des
Gefühls, die Kräfte der Emotionen,
die Begierden bildlich darzustellen,
dem Resonanzraum der Seele im Gemälde eine Bühne aufzuschlagen.
Sehnsucht. Diese Sehnsucht nach
dem Leben und stärkerem Lebensausdruck führte Gauguin bald über
den äussersten Horizont nach Polynesien (1891), weil er sich dort – das
natürliche Leben der Eingeborenen
teilend, zugleich aber doch malend
– den exotischen Traum zu erfüllen
hoffte, der so viele europäische Gemüter bewegte: wieder einfach zu
werden, an den Quellen des Ursprungs zu trinken. Van Gogh träumte den gleichen Traum, anders.
Schon das Licht der Méditerranée
erschien ihm als Erfüllung, dort fühlte er sich in seinem imaginären
­Japan angekommen.
«Nafea» ist ein geheimnisvolles
Bild, obwohl es so einfach scheint. Es
handelt von zwei Polynesierinnen,
die aber doch mit ganz europäischen
Augen gesehen werden. Wer das
Fremde berührt, kontaminiert es mit
Eigenem, das hatten vor Gauguin bereits die Seefahrer, Ethnologen, Missionare und ganz zielstrebig die
französische Kolonialverwaltung erfahren. Gauguin wehrte sich dagegen, und in seinen Bildern wird ein
Kampf zwischen eigenen Bedürfnissen und fremden Sitten ausgetragen.
Er entführt uns in «Nafea» in eine
tropische Farbwelt, aus starken Komplementärkontrasten gefügt. Das
Beziehungsspiel von Rot und Grün,
gelbem Ocker und Violett, Blau und
Orange schafft ein Klima gesteigerter Sinnlichkeit. In ihm figurieren
die jungen Frauen – ganz dem Auge
des Betrachters dargeboten. Ihre
enge Beziehung untereinander beruht im Übrigen auf Abwendung.
Die Kauernde hat die Sitzende im
Rücken, beider Blicke begegnen sich
nicht. Doch scheinen sie vertraut, alles voneinander zu wissen und sich
– folgt man dem Titel, den Gauguin
in der Sprache der Eingeborenen an
den unteren Bildrand geschrieben
hat – über Intimes auszutauschen:
Wann heiratest du?
Gebärde. Diese Konversation be-
dient sich nicht der Worte, sondern
der Sprache des Körpers. Die Haltung der Hände, Arme und Füsse,
des Kopfes und der Hüften erscheint
sprechend. Verstärkt durch eine
deutliche Asymmetrie. Die rechte
Körperhälfte der Kauernden gewinnt
insgesamt sehr viel mehr Raum und
Gewicht als die linke, die lediglich
knapp ausgeführt ist. Nach rechts
und in die Breite vollziehen sich ausladende Bewegungen, Ellenbogen
und Hüfte markieren besonders exzentrische Punkte. Gauguin macht
sich, wie andere Maler der Zeit, das
Motiv der Kauernden zunutze, denn
es erlaubt, mit der menschlichen
Anatomie recht frei umzugehen. Der
Körper der jungen Frau schraubt und
windet sich wie ein lebendes FrageZeichen. Die auf ihr Herz zurückdeutende Hand setzt ein Ausrufezeichen
obendrein. Ganz anders die Begleiterin: ihre aufrechte Haltung signalisiert Klarheit, die Gebärde ihrer
Hand weist fraglos in eine aufstrebende Richtung, über die Szene des
Bildes hinaus.
ren Kultur, an der sie abgelesen wurde. Gauguin wollte sein exotisches
Leben gestalten, nicht abbilden. Es
ging ihm um das Eigene im Fremden,
die Aura des Menschlichen, die uns
wie neu begegnet.
Klang. Auf der anderen Seite der
Welt ist van Goghs «Mademoiselle
Gachet» zu Hause. Die Bürgerstochter genügt am Piano einem gesellschaftlichen Comment. Wo berührt
dieses Salonstück Gauguins Welt,
wo die Tropen der Seele? Gewiss
nicht in der dargestellten Szene.
Wieder geht es um Abwendung –
jetzt aber vom Betrachter. In verlorenem Profil dargestellt, greift die Frau
in die Tasten. Das aber gibt van Gogh
Gelegenheit, ihr Kleid besonders zu
betonen. Es breitet sich als eine Fläche aus und dient als subtiler Seismograf eines Stroms von farbigen
Kräften, die mittels Punkten und
Strichen zirkulieren und das ganze
Bildfeld erfassen. Dabei kommt etwas Unsichtbares an die Oberfläche
dieser banalen Szene, das ihr einen
ganz anderen Sinn verleiht. Die
Rhythmen farbiger Punkte und Linien, zum Beispiel Rot über Grün, oder
Grün über Rot, bringen Unausgesprochenes zum Vorschein. Das Interieur samt Mademoiselle Gachet ist
ein Ort chromatischer Klänge, Klänge nicht des Pianos, sondern des Auges, ein Resonanzraum der Seele.
Rätsel. Viel wurde über Inhalt und
Sinn dieser conversatio exotica räsoniert. Wer stellt die Frage, wer antwortet? Warum trägt die Kauernde
das Hüfttuch der Eingeborenen, die
Sitzende ein hochgeschlossenes Missionskleid? Diese Art des Rätselns
wird kein Ende nehmen, dafür hat
der Maler gesorgt, als er Vieldeutigkeiten einbaute und die Szene direkt
an uns, die Betrachtenden, adressierte. Wir sind die Dritten in diesem
imaginären Gespräch. Wir begegnen
den Blicken beider Figuren, befinden
uns davor und dabei. Was sich uns da
enthüllt, in die Gebärden der Körper
und in dunkle Haut gekleidet, an die
exotischen Gestade von Insulinde
versetzt, das sind die erotischen Fantasien des Westens. Das Bild zeigt
einen rite de passage, das heisst einen Übergang vom Mädchen zur
* Gottfried Boehm ist Professor für
Frau, eine Szene der Adoleszenz, die ­Neuere Kunstgeschichte an der Univerebenso fern wie nah erscheint, uns sität B
­ asel und Direktor des Nationalen
ebenso gehört wie einer ganz ande- ­Forschungsschwerpunktes «Bildkritik».
BaZ | 24. Oktober 2008 | Seite 13
Ein etablierter Banker, namens Paul
Gauguin, verlässt im Jahre 1886,
knapp vierzigjährig, Frau und fünf
Kinder und damit ein geregeltes Leben, um sich von da an allein der Malerei zu widmen – unter denkbar
elenden Umständen. Im Herbst 1888
folgt er den Lockungen eines anderen Getriebenen – er heisst Vincent
van Gogh – und begibt sich zu gemeinsamer Arbeit in die südfranzösische Stadt Arles. Diese biografische
Konstellation – sie währte nur wenige Wochen und endete im Bruch –
lässt auch die beiden so unterschiedlichen Gemälde einander näherrücken: so fern sich das 1892 in Tahiti
entstandene «Nafea faaipoipo»
(Wann heiratest du?) und das 1890
in Auvers-sur-Oise gemalte «Mademoiselle Gachet au piano» auf den
ersten und zweiten Blick auch sein
mögen. Van Gogh suchte damals,
psychisch zerrüttet, Halt bei Docteur
Gachet, einem Arzt, Kunstsammler
und Amateurmaler, der – unter anderem mit Cézanne befreundet und
von ihm porträtiert – einer der ersten Anhänger der neuen Malerei gewesen war. Seine Tochter Marguérite sass van Gogh am 28. und 29. Juni
1890, im Salon klavierspielend, Modell. Vier Wochen später sollte sich
der Maler dann, am Rande des Dorfes, das Leben nehmen.
Was die Lebensgeschichten der
beiden Künstler zerreisst, sie aus­
einandertreibt, ist allerdings eine
ähnliche Leidenschaft. Sie möchte
einen Aufbruch sondergleichen bewirken, ein neues Bild von den Intensitäten des Lebens schaffen. Vom