Prolog - Ullstein Buchverlage

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Prolog
S
ie drehte ihren Kopf zur Seite, um die Mutter Gottes
nicht mehr sehen zu müssen.
Durch die Schlitze der Maske konnte sie ihre Umgebung deutlich erkennen. Die Wände der kleinen Kapelle waren mit schwarzem Tuch verhängt. Mondlicht fiel durch das
offene Portal und mischte sich mit dem Schein der Kerzen,
die um den Altar herum aufgereiht waren. Am Boden davor kauerten sechs Novizen. In ihrer Mitte hockte ein alter,
fetter Mann, der in eine rote Soutane gehüllt war. Auf dem
Kopf trug er eine seltsame Kappe, die zwei Hörner zierten.
Leise murmelten die Männer Gebete und wiegten dabei ihre
Oberkörper vor und zurück. Der Klang ihrer Stimmen veränderte sich nicht.
Sie lauschte angespannt, um die Männer verstehen zu können.
»Sanguis eius super nos et filios nostros.« Immer wieder
waren es die gleichen Worte.
»Sanguis eius super nos et filios nostros.« – »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.« Sie ließ ihren Blick über
die Gruppe gleiten. Die Novizen mussten alle noch recht
jung sein. Ihre Kutten waren heraufgeschoben bis über die
Oberschenkel, darunter waren sie nackt. Sie konnte die Geschlechtsteile der Männer sehen. Langsam drehte sie ihren Kopf
nach links. Hinter dem Altar hing ein schwarzer Vorhang, auf
den ein umgekehrtes Kreuz gestickt war. Es war weiß wie ihr
nackter Leib. Im Licht der vielen Kerzen leuchtete ihre Haut
wie Elfenbein.
Sie lag ausgestreckt auf dem Altar, die Arme hinter dem
Kopf verschränkt. Unter sich spürte sie den kalten Stein des
Opfertisches. Der fette Alte löste sich aus der Gruppe und
trat auf sie zu. Auch er war maskiert. Sie konnte seine Erregung förmlich spüren, während er die Augen langsam über
ihren Körper wandern ließ. Sanft legte er eine Hand auf ihren
Bauch, direkt über den Nabel. Sie erschauerte. Mit dem Zeigefinger begann er ein Mal zu zeichnen. Sie hob den Kopf,
um sehen zu können, was es war. Es fiel ihr nicht schwer, das
Zeichen zu erkennen. Ein fünfzackiger Stern mit einem Kreis
darum. Der Alte beugte sich zu ihr herunter. Seine Lippen
berührten ganz leicht ihr Ohr, während er ihr zuflüsterte:
»Gehorche deinem Meister und unterwerfe dich, denn er
achtet auf dich.«
Überrascht stellte sie fest, dass er einen schönen Atem hatte.
Erneut zeichnete er mit seinem Finger das unsichtbare Mal auf
ihrem Bauch nach. Dabei wiederholte er die Beschwörungsformel, diesmal jedoch etwas deutlicher. Die kauernden Novizen fielen in die Beschwörung ein. Ihre Stimmen wurden
lauter und immer eindringlicher, bis sie die ganze Kapelle ausfüllten. Dann wurde der Vorhang zur Seite geschoben. Eine
Frau trat dahinter hervor. Die Stimmen brachen jäh ab.
La Voisin war in das schlichte Ordenskleid einer Nonne
gehüllt. Sie musste sich in aller Hast angezogen haben, denn
einige rote Strähnen lugten unter ihrer Haube hervor. In ihren
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Armen hielt sie ein kleines Bündel aus schwarzem, glänzendem Stoff. Das Bündel bewegte sich. Der Alte blickte auf.
»Wurde langsam Zeit«, knurrte er ärgerlich.
»Es ging nicht schneller«, zischte die Voisin zurück. »Ich
kann mich schließlich nicht um alles kümmern.«
Der Alte bedeutete ihr zu schweigen. La Voisin gehorchte,
übergab ihm das Bündel und trat zu der Gruppe der Novizen.
Lautlos sank sie neben ihnen auf die Knie.
Sie spürte, wie er das Bündel auf ihren Körper legte, direkt
unter ihre Brüste. Dann entfernte er den schwarzen Stoff. Der
Säugling bewegte die Beine. Sie konnte die winzigen Zehen
erkennen.
Es war schön, dieses kleine Lebewesen auf ihrem Körper zu
spüren. Sie wollte ihn berühren, doch ein eiserner Griff legte
sich um ihr Handgelenk und riss es zurück. Erschrocken sah
sie den Alten an. Plötzlich blinkte etwas auf. Panik überfiel
sie. Ein Dolch sauste auf sie herab. Dann hörte sie ein leises
gurgelndes Geräusch und fühlte eine warme Flüssigkeit ihren
Bauch hinunterrinnen.
Der Alte nahm den leblosen Säugling von ihrem Körper.
Verschwommen, wie in einem Traum, sah sie das Blut des
Kindes in einen silbernen Pokal strömen. Er reichte den
Leichnam La Voisin, küsste das Gefäß mit dem Blut und
schlug verkehrt herum ein Kreuz. Kraftvoll erklang seine
Stimme: »Aschtaroth, Asmodeus, Fürsten der Liebe, ich beschwöre
euch, dieses Kind als Opfer anzunehmen, das ich euch darbringe,
damit meine Wünsche erfüllt werden. Erhaltet mir die Freundschaft
meines Geliebten. Lasst mich die erste Frau in seinem Hause sein,
geachtet und geehrt von allen, die darinnen wohnen. Keine Bitte
soll mir verwehrt bleiben, sei es für meine Verwandten oder meine
Gefolgsleute.«
Wieder beugte er sich zu ihr herab. Er hob sanft ihren Kopf
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und führte den Pokal mit dem Blut des Kindes an ihren Mund.
Ekel überfiel sie. Sie presste die Lippen aufeinander. »Ihr müsst
davon trinken«, sprach er eindringlich. Sie sah zu ihm auf, fiel
in das tiefe Schwarz seiner Pupillen und trank. Warm war das
Blut in ihrem Mund, warm und süß, so süß.
Sie schloss die Augen.