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Jürgen Nagel
Fehlt nur die Blümchentapete
DDR-Alltagskultur als Versuchsanordnung
Ohne unser Land verlassen zu haben, sind wir ausgewandert aus einer Heimat, die uns nie Heimat war. Anläßlich des
Einigungsvertrages haben wir einen kräftigen Schluck aus
abgestandener Seltersflasche genommen - für die wir gezahltes Pfand nicht mehr erstattet bekamen. Und vielleicht
sehen das einige anders.
»Plaste und Elaste aus Schkopau« - in Erinnerung an
seine Zeit als innerdeutscher Transitreisender kann sich
mancher Altbundi noch immer fast ausschütten vor Lachen.
Und meint, die Riesenwerbung des »VEB Chemische Werke
P2 in Eisenhüttenstadt
1950: Stalinstadt, die »erste sozialistische Stadt Deutschlands«, wird aus dem Boden gestampft - das spätere Eisenhüttenstadt, im DDR-Volksmund: »Schrottgorod« (russisch
Gorod=Stadt). Nach sowjetischem Vorbild ist die Architektur bestimmt durch die Doktrin der »nationalen Bautradition«
(sozialistisch im Inhalt, national in der Form). Fast alle
Etappen des DDR-Wohnungsbaus sind in der Stadt ablesbar. Im genormten Wohnungstyp P2, einem Vorläufer der
»Sozialistisch im Inhalt, national in der Form.«
BUNA« sei das Symbol der implodierten DDR schlechthin.
Also wurde der elf Meter hohe Leuchtkasten an der Elbbrücke
(als Verstoß gegen das Bundesfernstraßen-gesetz) demontiert - und hielt durch die »Aura des Objektes« Einzug ins
Deutsche Historische Museum in Berlin. Doch ist die Frage
berechtigt, ob diese »Aura« durch museale Wertung nicht
erst entsteht.
Ein Museum ist ein Ort der Geschichte und der Erinnerung. »Geschichte ist eine Legende, auf deren Verbreitung
man sich geeinigt hat.« (Napoleon) Und Erinnerung ist
subjektiv sehr verschieden. Aber die Objektwelt der Dinge
und die Bildwelt der fotografierten Objekte haben ihre
eigene Sprache - sie sind unser soziales und kulturelles
Gedächtnis. Die museale Sammlung von Banalem gibt der
Banalität gesellschaftliche Bedeutung. Doch man sieht nur,
was man weiß.
Plattenbauweise, wird 1953/54 der Wohn-komplex II erbaut,
nach den »16 Grundsätzen des Städtebaus«. Jeder Wohnkomplex sollte sämtliche (?) Lebens-funktionen einer Stadt
erfüllen: Wohnungen, Schulen, Kindereinrichtungen, Geschäfte - man sehe sich um im Eisenhüttenstadt von gestern.
Arbeit hatte man einst im Eisenhüttenkombinat Ost (EKOStahlwerk), in der Werft oder im Hafen - man sehe sich heute
um in der Stadt am Oder-Spree-Kanal. Oder sonstwo in
Neubundesland. Man weiß nur, was man gesehen hat.
Dokumentationszentrum Alltagskultur der
DDR
1995: »Tempolinsen und P2« steht auf einem Transparent
am Balkon in der Erich-Weinert-Allee. Im engen Gang der
Ausstellung hängen Fotografien aus der Dokumentar-
Schauplätze
HORCH UND GUCK, Heft 18 (1/96)
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sammlung »Spurensicherung« (Jürgen Nagel) - Losungen
und Symbole der DDR. Die Glashütter Großuhren an den
Wänden stehen alle auf 5 Minuten vor 12. Wann sind sie
angehalten worden, im Herbst 89? Da war es doch längst 10
nach 12. Unter der angehaltenen Zeit überreicht Brandenburgs Kulturminister Steffen Reiche (SPD) dem Leiter
des Städtischen Museums Eisenhüttenstadt, Andreas Ludwig, einen gelben Einkaufskorb aus »Plaste«. Für den
West-Berliner Historiker und Initiator des »Dokumentationszen-trum Alltagskultur der DDR« klingt das Wort komisch.
Anders für den gelernten DDR-Bürger: Plaste ist für ihn
eines der Alltagswörter aus DDR-Tagen - um genau zu sein:
aus 40 Jahren DDR. Was zu Buche schlägt, so oder so.
Nach fast drei Jahren intensiver Sammlungstätigkeit
wird die erste Ausstellung des Dokumentationszentrums in
provisorischen Räumlichkeiten der geschlossenen Kita 2
gezeigt. Das städtebauliche DDR-Ambiente von Eisenhüttenstadt bietet den angemessenen Rahmen. Zu sehen
sind die tausend kleinen Dinge des realsozialistischen Alltags, die nur für den Besucher aus dem Westen mit dem
Glanz von Kuriositäten behaftet sind. Er steht vor den
Exponaten wie vor exotischen Fundstücken: Banales in
Glasvitrinen - Gegenstände des ganz gewöhnlichen DDRAlltags, Wegbegleiter über Jahre oder Jahrzehnte, vom
frühen Morgen bis zum frühen Morgen. Und also behaftet
mit Leben, dem Leben des Gestern.
Und bevor jemand fragt, wo eigentlich die weggelebte
Alltagswelt der Bundesrepublik in ähnlicher Form ausgestellt wird, hat Brandenburgs Kulturminister die Antwort
auf eine andere Frage parat: »Die Aufbewahrung von Gegenständen aus der DDR-Alltagskultur ist keine Verherrlichung der DDR, sondern bietet Anschauungsunterricht.
Das ist kein Pilgerort für DDR-Nostalgiker, sondern Erinnerung an Kindheit und Jugend, an ein Land, das nicht mehr
real ist.«
Tempolinsen und das Zimmer des Sekretärs
»Der Plan ist unser Kampfprogramm« und »Meine Hand für
mein Produkt« - sie konnten nicht groß und nicht rot genug
sein, die Losungen und Parolen, die wir uns über die Köpfe
hängen ließen. Aber es las sie ja keiner. Man hatte sein
kleines Leben in und mit der Sicherheit, zog sich zu-rück in
die immer wieder beschworene Nische. Man rann-te durch
den Alltag nach begehrter »Bückware«. Hatte man weder
»Vitamin B« (Beziehungen) noch »Bunte Flie-sen« (Westmark), so kochte man sein kleines Süppchen - zum Beispiel
»Tempolinsen« oder »Tempoerbsen«, vorge-kochte Hülsenfrüchte für ein Schnellgericht aus der Papp-schachtel.
Mit oder ohne Meckern richtete man sich ein in der solidarischen Mangelgesellschaft.
Bis dann über Nacht der westliche Überfluß auf Pump in
diesen Alltag einbrach. Wo war denn da die heute inflationäre Betonung einer »DDR-Identität«? So gut wie nichts,
was da nicht von einem Tag zum anderen auf dem Müll der
Geschichte landete - nicht nur angebliche oder wirkliche
»Überzeugungen« und Lebensentwürfe. Millio-nenfach
weggeworfene und durch westliche Glitzerpro-dukte ersetzte Dinge waren sehr schnell aus dem alltäglichen Gebrauch verschwunden. Der nun plötzlich auch von Otto
Normalverbraucher gescholtene Wolf Biermann sang mit
vollem Recht: »... sie sägen den Ast ab, auf dem sie sit-zen.«
Und stärker noch als die Arbeitsplätze wären die kleinen
Gegenstände des Alltags für immer verschwunden, würden
sie nicht im Museum bewahrt.
Über 15.000 Alltagsgegenstände, von A wie Abzeichen
der »Jungen Pioniere« bis Z wie Zigaretten aus »volkseigener« Produktion, hat das »Dokumentations-zentrum Alltagskultur der DDR« gesammelt. Fernseher und Waschmittel,
Möbel und FDJ-Ausweise, Plastegeschirr und Kosmetika,
Bücher und Lebensmittelkonserven - zusammengekommen
durch Schenkungen und Übernahmen und durch
»Musealisierung« dem täglichen Gebrauch entrissen, mutieren diese Banalitäten zu Kultur-gegenständen. Und leisten einen anschaulichen Beitrag zum Wissen über die
Gesellschaft der DDR.
Die Ausstellung »Tempolinsen und P2« zeigt in einer
Auswahl von rund 1.000 Exponaten, was die Menschen für
aufhebenswert und also kulturwürdig halten. Denn die
Sammlung ist ein Ort dessen, was aus der Öffentlichkeit
zugetragen wurde und wird. Jeder einzelne Gegenstand
beinhaltet Erfahrungen und Erinnerungen des alltäglichen
Lebens und hat seinen eigenen Bedeutungshinter-grund.
Auch »Das Zimmer des Sekretärs« - mit obligatorischer
Schrankwand und den »Ikonen« der Macht und Sicherheit.
Fehlt nur die Blümchentapete...
Die Binnen- und die Außensicht
Die Ausstellung in Eisenhüttenstadt markiert einen ersten
Schritt auf dem Weg zu einem (aus Kostengründen) noch
fernen »Museum Alltagskultur der DDR«. Die Sammlung
versteht sich als öffentlicher Prozeß und als Ort kulturhistorischer Arbeit. Aus der Objektfülle will sie einen
Zwischenstand zeigen - nicht die abgerundete DDR-Geschichte ist beabsichtigt, sondern eine »Versuchsanordnung«, die jederzeit auch ganz anders möglich ist.
Auf Initiative von Andreas Ludwig wurde die Ausstellung von vier weiteren Honorarkräften erstellt, paritätisch
besetzt nach Herkunft aus Ost und West. Jeder Autor
zeichnet für einen bestimmten Bereich und bringt seine
eigene Position ein. Keine DDR-Nabelschau also, schon gar
nicht »Ostalgie«, sondern Binnensicht und Sicht von Außen
gleichermaßen.
Unterstützt durch einige Fotoserien und zugeordnete
Chronologien gliedert sich die Ausstellung in der Kita 2 in
die Bereiche: Bildung und Erziehung, Jugendkultur, Konsumkultur, Präsent-20-Kleidung, Freizeit und Medien, Bibliothek, Phonothek und Café. Dazu kommen in zwei Wohnungen: P2-Wohnkultur, Massenprodukte, Küchen-geräte,
»Eine Biographie in Auszeichnungen«, »Das Büro des
Sekretärs«, Fotogalerie.
Heraustretend aus dem DDR-typischen Ambiente von
Eisenhüttenstadt, wird die Ausstellung »Tempolinsen und
P2« noch bis zum 24. Juni 1996 im Kreuzberg-Museum in
Berlin zu sehen sein. In diesem »Hauptstadt-Milieu« werden sich zwei scheinbar entgegengesetzte Aussagen wohl
sehr schnell vereinen: »Von fremden Dingen umgeben,
gewinnt das Vertraute an Bedeutung«1
»Kolossal fremd (...) gibt sich das (...) ehemals so vertraute Mobiliar. Der Eindruck von Schäbigkeit (...) dominiert
die einst als kostbar oder zumindest unerläßlich erachteten
Dinge.«2
1
Andreas Ludwig in: »Etwas säuerlich«, Der Spiegel,Nr. 46 vom
13. 11. 1995.
2 Jürgen Rennert in: Vorwort zu »Parole Zukunft« von Jürgen
Nagel,
BasisDruck, Berlin 1992.
Jürgen Nagel, geboren 1942, arbeitet als freier Fotograf und
Autor in Berlin
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HORCH UND GUCK, Heft 18 (1/96)
» ...dem täglichen Gebrauch entrissen, mutieren diese Banalitäten zu Kulturgegenständen.«
»Das ist kein Pilgerort für DDR-Nostalgiker...«
Schauplätze
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