Wolfgang Bergmann Wo Körper ist, kann kein „Ich“ sein
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Wolfgang Bergmann Wo Körper ist, kann kein „Ich“ sein
Wolfgang Bergmann Wo Körper ist, kann kein „Ich“ sein Anmerkungen zu Eßstörungen und Selbstverletzungen I. Ich denke an Celine oder Mariella, kleine Mädchen, gerade 10 oder 12 Jahre alt, die die Praxis betreten, als stünden sie auf einer Bühne. Sie wirken so, als seien sie fortwährend um einen perfekten Auftritt und eine perfekte Körpererscheinung bemüht. Sie sind früh dazu angehalten worden, sich zur Geltung zu bringen. Das beginnt mit dem intelligenzfördernden Spielzeug im Vorschulalter, setzt sich mit der motivationsunterstützenden Hausaufgabenhilfe oder dem Balletttraining fort. Perfektion und Vergleich mit anderen, von den ersten Schulnoten bis zum Talentnachweis in der Tanz- oder Singgruppe, haben ihr Selbstbewusstsein von Anfang an geprägt, zusätzlich genährt von den digitalen Bildern in Magazinen, TV oder im Kino, in denen alle Menschen schöner erscheinen, als sie in Wirklichkeit jemals sein könnten. Dies alles ist ihrem Selbstgefühl und ihrem Körperselbst eingeschrieben. Und so verhalten sie sich auch. Sie sind oft geschminkt mit ihren zehn Jahren, manche haben die erste oder zweite Diät hinter sich, dem Ideal der Perfektion eifern sie mit Leib und Seele nach. Wie ein Maß des Unerreichbaren - wie ein Menetekel hängt es über ihrem Selbst, ihrer Selbstliebe. Auf diese Weise werden Depressionen und Essstörungen schon im Keim angelegt. Bei vielen Mädchen erkenne ich, seit ich die Zusammenhänge im Groben verstanden habe, die ersten Anzeichen schon früh. Diese resignierte, mutlos gestimmte Feindschaft gegen den eigenen Körper kündigt sich an, bevor sie als Störung (dann allerdings unübersehbar) in Erscheinung tritt. Essstörungen - vor allem unter Mädchen verbreitet - sind das narzisstische Bemühen um eine Perfektion, die den Körper überfordert, ihn schließlich überwinden will. Wir werden noch ausführlich darauf eingehen. Sie sind immer begleitet von einer inneren Gewissheit der Wertlosigkeit. Neben der Hyperaktivität sind sie die zweite große Identitätsnot unserer Kinder. Es gibt ein drittes Phänomen, das die pädagogische und psychologische Öffentlichkeit beunruhigt: die Tatsache, dass immer mehr Kinder sich selber verletzen. Sie schneiden mit Messern, Nägeln oder Scheren in ihre Unterarme, Beine oder Brüste, sie fügen sich Verletzungen unterschiedlichen Schweregrades und unterschiedlicher Schmerzintensität zu. Dies ist, wie wir anhand der Lebensgeschichten dieser Kinder noch sehen werden, ein weiteres Signal einer in die Krise geratenen Körperlichkeit junger Menschen. Das damit verbundene Gefühl lässt sich so umschreiben: »Ich will ja doch leben, aber mit diesem Körper, der mein Feind ist, der meine inneren Bilder eines heilen Selbst widerlegt, kann ich nicht eins sein; ich bin fremd im eigenen Körper und will mich doch als ein Selbst spüren; also eigne ich mir auf paradoxe Weise ein unbezweifelbares Empfinden meiner Körperlichkeit an, dessen Garant und Bestand der Schmerz ist.« 2. In dem wunderbaren Buch Alice im Hungerland - die beste Autobiografie einer essgestörten jungen Frau, die ich kenne - beschreibt Marya Hornbacher ihre 15 Jahre dauernde Magersucht und Bulimie. In keiner anderen Selbstbeschreibung fand ich die permanente Anstrengung der Essgestörten, sich und ihren Körper an einem Ideal zu messen und deshalb die Welt als Kulisse, als Auftrittsort ihrer Performance anzusehen, so ausdrucksvoll dargestellt. Marya schreibt: »Irgendwo im hintersten Winkel meines Hirns gibt es die Gewissheit: der Körper ist nicht mehr als ein Kostüm und kann durch reine Willenskraft verändert werden. Ein neuer Körper würde mich wie ein Kostüm zu einem anderen Menschen machen, einem Menschen, der möglicherweise irgendwann sogar gut wäre.« Die Umdefinition ihres natürlichen Körpers zum Kostüm bedeutet: Sie will mit ihrem Körper manipulieren, sie will »bezaubern«, sie will ihren Körper am optimalen Auftrittsort platzieren und perfektionieren, sie will den Körper als »Ideal«. Das gelingt nicht auf natürliche Weise, also muss der Körper verkleidet oder maskiert werden. Zugleich wird damit das Körper-Sein an sich geleugnet. Marya schreibt: »Ich lernte sehr früh meinen Text sorgfältig zu wählen… ich weiß im Voraus, was ich sagen soll. Ich kleide mich den Anlässen entsprechend, wie es die Rolle erfordert. In meinem Kleiderschrank hängen verschiedene Frauen auf den Bügeln, jedes Kostüm repräsentiert eine ganz andere Person.« So versteckt sie sich und ihren Körper und betritt zugleich eine Bühne. Sie will die Welt verzaubern und sich zugleich von der Schuld ihres Körperseins befreien. Dabei verfährt sie höchst differenziert, und ebenso radikal. Sie zeigt nicht nur, dass ihre Körpererscheinung nicht ihr wirklicher Körper ist, nein, sie geht noch weiter: auch das Kostüm bedeckt nicht einen Körper, der sich unter der Verkleidung verbirgt, es ist vielmehr so, dass das Kostüm nur ein weiteres Kostüm, die Maske eine darunter liegende Maske verbirgt, wie die Puppe in der Puppe. Es gibt gar keine »natürliche Substanz«, über der die Kostüme und Masken hängen. Es gibt keinen Körper. Das ist die Logik ihres Willens. Als ich ihr Buch las, fiel mir ein, dass ich eine ähnliche Beobachtung vor nunmehr acht Jahren am Phänomen Madonna gemacht hatte. Sie war in den 80er- und 90erJahren bei mittelmäßiger Begabung zur Video-Queen, zur Kult-Gestalt aufgestiegen. Ich hatte mich gefragt, warum sie auf Millionen Menschen derart faszinierend wirkte. Ich hatte es folgendermaßen beschrieben: »Der Erfolg zeigt, dass hier etwas funktioniert. Madonna: mal die coole Geschäftsfrau, mal das >Material Girl<, mal die katholische Göre mit Vaterkomplex, mal die Peitschen schwingende Domina und ganz zuletzt die sehnsuchtsvolle Frau mit Kinderwunsch, zwischendurch der blonde Sex-Vampir, und als solche nicht einmal eine selbst erfundene Maske, sondern ein Imitat einer anderen, der toten Marilyn Monroe. Keiner hat vor ihr das Vexierspiel der Identitäten so perfekt vorgeführt. Keiner hat sich so offensichtlich in Rollen verkleidet, hinter denen sich alles oder nichts verbergen konnte - ihr Gesicht war und ist ihr Geheimnis, wahrscheinlich ein banales.« Über Madonnas sexuelle Tabubrüche hatte ich vermerkt: »Keine wilden erotischen Energien verbargen sich hinter diesem Tabu, kein Verbot hatte da dunkle Triebe aus menschlichen Abgründen gefesselt, die nun freigesetzt wurden, nichts davon. Auf dieser Masche ritten andere. Madonna zeigte etwas ganz anderes. Nämlich: das Tabu war gar kein Tabu, nur eine Schimäre, ein Nichts. Das Verbot zu durchbrechen bedeutete nichts. Und das hieß weiter: Alles ist möglich. Auch der Bruch des Tabus war wiederum nur ein Spiel, eine Inszenierung, so wie die Erotik, die jedem Tabu innewohnt, nur ein Spiel, eine Inszenierung ist. Sie stülpte eine Maske über die andere, mit kalter Perfektion, das ist ihr Erfolgsprinzip.« Hier stoßen wir auf eine neue, den digitalen Welten, denen die modernen Kind nachhängen, verbundenes Motivbündel, für unser gelerntes Vokabular und unsere therapeutischen oder beratenden Bemühungen ist dies alles schwer zu verstehen, Pädagogik ist zumal in Deutschland dem Rationalen verpflichtet und tut sich schwer damit, ästhetisch-unbewusste Wirkungen zu entziffern. Aber auf dieser Linie werden wir weiterdenken und –grübeln müssen, wenn wir für die Kinder, die sich selbst entwerten oder nie ein „kohärentes“ Selbst als Körper und Geist entfaltet haben, hilfreich sein wollen. 3. Natürlichkeit ist peinlich, Intimität jeglicher Art ist erst recht peinlich. Alles, was an den realen Körper gemahnt und seine Maskierung beeinträchtigt, ist abstoßend. Es widerspricht dem Willen zum Ideal. Marya schreibt zu Recht, dass ihre Aufgabe darin bestand, ihre »äußere Hülle zu verbergen.« Und weiter: »Das war auch gut so, denn was ich versteckte, war wie rohes Fleisch. Rot, heiß und entzündet.« In diesem Zusammenhang gebraucht sie eine wundervolle Metapher, ich will sie ausführlich zitieren: »Ich ging durch den Spiegel und dahinter stand alles kopf. Die Bedeutung der Worte verkehrte sich in ihr Gegenteil. Hinter dem Spiegel wird man selbst zum Zentrum des Universums. Alle Dinge reduzieren sich auf die Beziehung, die sie zu einem selbst haben, du klopfst gegen das Glas - und die Menschen drehen sich um, sehen dich, lächeln und winken. Dein Mund bewegt sich, ohne einen Laut von sich zu geben.« Maryas Metapher spielt natürlich auf Alice hinter den Spiegeln an. Und wieder fiel mir beim Lesen ein, dass sich mir vor vielen Jahren im Zusammenhang mit der Analyse von Computerspielen dieselbe Metapher aufgedrängt hatte - zu einem damals höchst populären Computerspiel: »Auffallend oft stürzt Super Mario in einen Spiegel und erlebte seine Abenteuer hinter oder in dem Spiegel, also in einem Nirgendland, in dem alle Dinge auf dem Kopf stehen. « Die Computerfantasien führen ebenso wie die Fantasma der Magersucht in ein körperloses »Neverland«. In dieser Körperlosigkeit verbirgt sich ein Narzißmus, den Ernest Jones bereits vor fast einem Jahrhundert so umschreib: „auf diesem Planeten leben, ohne Körper und ohne Wunsch – das ist der „narzißtische Traum“. Wo die jungen weiblichen Kinder und Jugendliche den glücksversprechenden Bildern aus digitalen Tagtraum-Welten nachhängen und darüber das reale Soziale, das Miteinander von Gesicht zu Gesicht, bedeutungsärmer wird, verlagert sich dieser Narzißmus auf eine eigenartige Selbstaufhebung des Körperlichen zugunsten der Wunscherfüllungen im virtuellen Raum, dazu die letzten Abschnitte unter 4. 4. In dem sehr lesbaren und lesenswerten Buch Heiliges Fasten - Heilloses Fressen verknüpft das Ärzte-Ehepaar Edda und Horst-Alfred Klessmann Bildinterpretationen genauer gesagt: die Wiedergabe von teilweise sehr differenzierten Bilderfahrungen mit allgemeinen Analysen der Magersucht. Das Autorenpaar berichtet von einer sehr jungen, schwer essgestörten Frau. Im Verlauf der Therapie, in der Bilderkennung und -verstehen im Zentrum standen, fertigt sie ein Selbst-Bild an. Sie zeichnet sich als einsame Gestalt, dürftig bekleidet, auf einem hohen grauen Berg. Ein Gefühl von Erhabenheit und ein unvergleichlicher Blick, so schreiben die Autoren, eröffnen sich dort. Weit unten gibt es Felder und ein kleines Dorf, Gemeinschaft und blühende Obstbäume. Mit einem auffällig geschwungenen Schriftzug schreibt die junge Frau unter ihre Zeichnung: »Keiner holt mich hier herunter«. Die Autoren interpretieren dies, differenziert, zum einen als Warnung, »untersteht euch, mir nahe zu kommen«. Zum anderen, fahren sie fort, handele es sich um eine versteckte Anklage: »Mich holt ja doch keiner«. Sie sagen, ein Wunsch nach Nähe sei spürbar bei gleichzeitiger Angst vor Nähe. Mir erscheint eine andere, mindestens ergänzende Deutung sinnvoll. Sie lautet: » Wagt es nicht, mich von meiner einsamen Höhe herunter zu holen, ich würde ja stürzen und wer von euch hätte genug Kraft, um mich dann noch aufzufangen?« Die junge Frau in Klessmanns Beschreibung ist einen langen Weg gegangen. Sie musste steigen und sich mühen, sie ist über Steine und Geröll gestolpert und hat sich viele Male an harten Felsvorsprüngen gestoßen, sie tat sich weh, bis sie ihre einsame Position, so weit oberhalb der blühenden Obstbäume und des kleinen gemütlichen Dorfes erreicht hatte. Ihrer Position im Bild ist die Anstrengung des Weges anzumerken. Einsam ist es dort oben, und schmerzlich war der Weg. Umso eindringlicher und präziser - ja, kalt und unerbittlich - fällt, denke ich, die Prüfung für denjenigen aus, der sich solch einer Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu nähern versucht. Er will sie, so muss es ihr doch erscheinen, aus ihrem besonderen Alleinsein in gehobener Position herausstoßen, vielleicht stürzt sie dabei... Aus der Perspektive des Dorfes betrachtet, ist das dürftig bekleidete Wesen dort oben fast in den Himmel gestellt. Der Himmel, das ist diese kalte Bläue, ist das Unfassbare, ist natürlich die Auflösung aller Grenzen, auch der des Körpers, ist die Nähe zur Endlosigkeit, zum Nichts. Wie verlockend das alles ist! Man spürt ja geradezu den Sog, dem sich die junge Malerin beim Zeichnen hingab. Deswegen haben die Sekten oder andere maßlose Verführer oft die plausibleren Lösungsangebote für solche Kinder und Jugendliche. Und die digitalen Medienbilder und -realitäten haben sie auf andere Weise auch. Schon ihre Ästhetik ist radikal. Wo unsere Patientinnen die Kälte des Blaus aufsuchen, da verfügen die digitalen Apparate über eine noch tiefere, intensivere Kälte, nämlich die des gerechneten Blaus, Farben aus algorithmischen abstrakten Rechenvorgängen, aus der Endlosigkeit der Zahlenreihen, die einen Körper in Lichtpunkte verwandeln und ihn so auf dem Bildschirm erscheinen lassen! Die digitalen Bilder sind wie die Selbstbilder der Magersüchtigen ins Absolute gestellt, in den Geist der Mathematik und gleichzeitig in eine Ästhetik des Lichts. Ein Klick reicht aus, um die Körper der Menschen und Dinge zum Verschwinden zu bringen, um das in diese Sehnsuchtslandschaft gestellte Ich auszulöschen. Nichts, so scheint mir, kommt den Fantasien und den Todessehnsüchten der Magersüchtigen eindeutiger entgegen. Zwischen Existenz und Nicht-Existenz ist nur eine feine Schnittstelle, eine minimale graduelle Unterscheidung ~ einem magersüchtigen Mädchen auf dem Übergang zur Körperlosigkeit leuchtet solche Ästhetik unmittelbar ein. In der realen Welt gibt es - außer in ihrer Psyche - nichts Vergleichbares. Hier, in diesen Bildern ist es perfekt zum Ausdruck gebracht worden. Wer den Zugang zur Bildwelt der magersüchtigen Kinder sucht, wird ihn am ehesten über die Bilder der Informationstechnologien finden. In ihnen ist das Leibliche nicht verleugnet, ist nicht verdrängt, sondern ausgelöscht. Wäre es nur verleugnet und verdrängt, dann lägen die Körperbedürftigkeiten mit ihren Wünschen und Abhängigkeiten ja immer noch wie eine Bedrohung auf der Lauer, wären irgendwo im Hintergrund oder Untergrund verborgen (darauf zielen ja auch viele therapeutische Bilddeutungen ab, »wir suchen in diesen körperlosen Landschaften oder Szenen das verborgene Körperliche«). In den artifiziellen Bildern der Informationstechnologie ist dies nicht der Fall, das Leibliche, das Materialhafte, das Objekthafte des eigenen Körpers ist schlicht nicht existent. In der digitalen Bildästhetik »steht man über den Dingen«. Der Schmutz und die Rissigkeit, die Falten und die Vergänglichkeit (die Zeit!) der wirklichen Dinge ist aufgehoben. Sie ist überwunden. Wenn nur der eigene Körper sich in diese Ästhetik vermischen, in sie einmengen und in ihr auflösen könnte, dann wären alle Sehnsüchte gestillt! Diese Texte sind überarbeitet, folgen aber wesentlich Passagen aus meinem 2001 bei Patmos und als Taschenbuch 2005 bei Beltz erschienen Buch „Das Drama des modernen Kindes – Hyperaktivität, Magersucht, Selbstverletzungen“, und einer weiteren Passage aus „Halt mich fest, dann wird ich stark – wie Kinder Gefühle lernen“ Pattloch, 2008