Untitled - Oliver Czarnetta
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Untitled - Oliver Czarnetta
Oliver Czarnetta Sieben Jahre Ludwig Museum Koblenz Salon Verlag Umschlag / Cover: Spektrum · Harz, lebensgroß, 2007 | Spectrum · Resin, lifesize, 2007 Grußwort Greeting Wie könnte es sein, wenn wir befähigt wären, dem Menschen hinter seine Stirn zu schauen? Wenn es uns gelänge, zu seinem Innersten vorzustoßen und seine Gedanken zu entziffern und nicht bloß zu erraten? Wäre es nicht so, als würde uns damit die Welt endlich offen stehen und die Missverständnisse, die unseren Alltag und unser »Miteinander« so häufig in Frage stellen, könnten ein für alle mal aus dem Weg geräumt werden? Träfen wir dann nicht endlich auf eine Welt voller Frieden und Menschlichkeit? Oliver Czarnetta umkreist diese Gedanken in seinem künstlerischen Werk, das sich mit großer Konsequenz dem ursprünglichsten Thema menschlicher Gestaltung zuwendet: Dem Portrait, dem Bildnis im weitesten Sinne. Diese eigentümliche »Ahnenreihe«, die entstanden ist, drückt jedoch weit mehr aus als ein schlichtes Portrait zu leisten vermag, wenn man beobachtet, wie wandlungsreich er die Köpfe in kleinen Serien formuliert, ihre andersartige Erscheinungsweise modellierend vorantreibt und ihnen immer wieder neue Grundzüge des Daseins abzuringen vermag. Da erscheinen die lasierten und farbig gefassten Köpfe auf roh behauenen Holzscheiten formal so unendlich weit von den zu Kuben umformulierten »Quadratschädeln« zu sein, noch dazu als letztere die Sensibilität der nuancierten Erfassung seelischer Momente so völlig außer Acht zu lassen scheinen. Es mag auch zunächst befremden, was dann diese massiven blockartigen Köpfe, die an Konsistenz und Undurchdringlichkeit nichts zu überbieten vermag und die zugleich jegliches Licht von sich weisen, ihrerseits wohl gemein haben sollten mit den durchlichteten gläsern schimmernden Köpfen, die zur Zeit im Vordergrund des künstlerischen Wirkens stehen. Hermetik und Transparenz sind nur zwei Pole, die man in Oliver Czarnettas Werk immer wieder vorfindet. Es sind zwei sich berührende und zuweilen auch sich versöhnende Gegensätze, die er aufzeigt und denen er Raum schaffend nachgeht. Er bietet keine Lösung, keine endgültige Aussage über das Sein des Menschen, aber im ständigen Umkreisen der unterschiedlichsten Formen, der differenzierten Zugriffsweisen schafft er zugleich Möglichkeiten der How would things be if we were able to see inside a person’s head? If we were to succeed in accessing his innermost core and deciphering his thoughts – and not just guessing. Wouldn’t it be as if a whole world had opened up and the misunderstandings which challenge our everyday life and our »togetherness« could for once and for all be cleared up? Might we then find a world full of peace and humanity? Oliver Czarnetta revolves around these thoughts in his art, which directs itself to the most primal theme of human art: the portrait, the image in the broadest sense. The resulting strange »line of ancestor« expresses much more than a mere portrait could, especially when one observes the diversity the artist has created in the diminutive series of heads, modelling and forming the diverse ways they appear, into unique beings and extracting ever more new facets of their existence. The form of these glazed and coloured heads on rough hewn logs appears to be worlds apart from the block-like »square heads«, especially since the latter seem to completely disregard the sensibility of nuanced comprehension of emotional moments. It may initially be hard to understand what these solid blocklike heads which appear to have nothing to surpass in consistency and impenetrability but simultaneously deflect any kind of light might have in common with the glassy, shining heads filled with light which are currently the focus of Czarnetta’s artistic work. Hermeticism and transparency are only two poles which one finds again and again in Oliver Czarnetta’s work. They are two touching and yet sometimes reconciliatory opposites which he depicts and which he expansively pursues. He offers no solution and no final declaration about human existence, but, in perpetual ambit of the vastly different forms and the differentiated methods of approach, he simultaneously creates possibilities of convergence, contention and interpretation. The artistic process becomes a dissection of the possibilities of human existence and yet simultaneously remains an attempt to gain access to the insides through the outer shell. Although with time the portrait-like traits and thus all individuality disappear, there remains the awareness that with the breaking open of the skin 3 Annäherung, der Auseinandersetzung und der Interpretation. Der künstlerische Prozess wird so zu einem sezierenden Rekurs auf die Möglichkeiten des Mensch-Seins und bleibt zugleich ein Versuch, sich über die äußere Hülle einen Zugang zum Innersten zu verschaffen. Wenngleich mit der Zeit die portraithaften Züge und damit alles Individuelle schwinden, bleibt doch auch die Erkenntnis, dass mit dem Aufbrechen der äußeren Haut und dem Eindringen in ein Inneres nicht zugleich auch eine neue Dimension psychischer und geistiger Spiritualität hinzugewonnen werden kann. Die ›gläsernen‹ Köpfe bei Oliver Czarnetta scheinen ihrerseits viel mehr auf physiologische Zusammenhänge, auf ihre biomorphen Strukturen, hinzuweisen, denn tatsächlich eine Offenbarung innerer Qualitäten preiszugeben. Sie zeigen zugleich – und auch dies als Qualität menschlichen Daseins – ihre ganze Fragilität. Es bleibt auch nach der Sicht auf die skulpturalen Kopf-Variationen von Oliver Czarnetta die ewige Frage nach dem, was den Menschen ausmacht: nach seinem Gesicht, nach seinem Wesen, nach seinem Innersten. Der menschliche Kopf steht dabei im Zentrum aller Bemühungen diesem Geheimnis nahe zu kommen. »Marcel Proust hat seinen berühmten Romanzyklus A la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) genannt. Das menschliche Gehirn mit seinen Myriaden von Gedächtnis-Spuren ist in jedem Moment unseres bewussten und unbewussten Lebens a la recherche du temps régagné – auf der Suche nach der wiedergewonnenen Zeit – den molekularen Engrammen unserer glücklichen und weniger glücklichen Erinnerungen.«1 In Czarnettas Werkstücken verbleibt etwas von dieser beunruhigenden Suche nach diesen Facetten des menschlichen Daseins – im Äußeren wie im Inneren. An dieser Stelle sei Dank gesagt an alle, die dieses Ausstellungsvorhaben sowie diesen Katalog mit großem Enthusiasmus vorangetrieben und realisiert haben. Allen voran Oliver Czarnetta selbst und Prof. Wolfgang Becker für sein Engagement und KatalogBeate Reifenscheid beitrag. 1 and the penetration of the insides a new dimension of psychic and mental spirituality can be gained. Oliver Czarnetta’s glassy heads seem to refer to more psychological contexts and to their biomorphological structures than actually offering a revelation of inner qualities. They simultaneously show – and this too as a quality of human existence – their complete fragility. Even in view of Czarnetta’s head variations, the constant search for what constitutes people – the face, the being, the very marrow – still remains. The human head is the centre of all attempts to solve this mystery. »Marcel Proust called his famous novel In Search of Lost Time. The human mind with its myriads of tracks of memory is in every moment of our concious and unconcious life searching for regained time and the molecular engramms of our happy and not so happy memories.«1 Something of this disquieting search for these facettes of human exisitance remains in Czarnetta’s work – externally and internally. At this point I would like to thank everybody who made everything possible by enthusiastically promoting the exhibition project and catalogue. Most of all Oliver Czarnetta and Professor Wolfgang Becker for his dedication and contribution to the catalogue. Beate Reifenscheid Wilfried Siefert, Das Vermächtnis der Gene – Die Gene des Gedächnisses, in: Am Fluss des Heraklit, Neue Kosmologische Perspektiven. Hrsg.: Eberhard Sens, Frankfurt a. M. 1993, S.123. 4 Brücke · Beton, Höhe 35 cm, 2008 | Bridge · Concrete, height 35 cm, 2008 5 Oliver Czarnetta – Skulpturen 2001 – 2008 Oliver Czarnetta – Sculptures 2001 – 2008 DIE MONADE SCHAUT IN DEN SPIEGEL THE MONAD GAZES INTO THE MIRROR »Ich habe noch nie einen Apollo in den Gärten des Papstes betrachtet, ohne ihn darum zu beneiden, dass er sich so den Blicken darbieten kann, wie seine Mutter Latona ihn geboren hat. Nur wenn man frei ist, fühlt man sich wohl; seine Ansichten zu verbergen ist noch beschwerlicher, als seine Haut zu bedecken.« »I have never contemplated an Apollo in the Pope’s gardens, without envying him that he can offer himself to the gaze as his mother Latona bore him. Only when free, does one feel at ease; it is harder to hide one’s views than it is to cover one’s skin.« (Marguerite Yourcenar, L’Œuvre au Noir / The Abyss) (Marguerite Yourcenar, Die schwarze Flamme) 6 Single Interieur – Blick in die Ohren · Beton, Spiegel, Höhe 27 cm, 2006 Single Interior – view of the ears · Concrete, mirrors, height 27 cm, 2006 Das Vorhaben The undertaking Die Bemerkung, Czarnetta sei ein junger Künstler, scheint das Vorhaben einzuschränken, über sein Werk zu schreiben. Aus ihr folgt die Schilderung seiner Jugend, seiner Entscheidung, nicht den Weg des Kunsthistorikers zu gehen, sondern sich der freien Kunst zu widmen, aber sie fordert auch eine Antwort auf die Frage: Ist dieses Werk jung? Die Antwort auf diese Frage ist umso drängender, als der Kunsthistoriker Czarnetta sich mit alter Kunst beschäftigt hat, mit den Werken längst gestorbener, nahezu vergessener Steinbildhauer; und sie provoziert eine zweite Frage: ist ein junger Kunsthistoriker gut disponiert, um ein Künstler zu werden? Das Werk von etwa dreihundert Skulpturen, das in den sieben Jahren von 2001 bis 2008 entstanden ist, besteht vorwiegend aus Menschenköpfen, von außen gesehen. Am Ende hat diese Perspektive Czarnetta nicht gereicht, und seit 2006 versucht er, in die Köpfe hineinzuschauen, als wären sie Häuser, die bewohnt sind. Eine kleine Werkgruppe führt ihn seit kurzer Zeit von Häusern zu Siedlungen und von Siedlungen zu Brücken. Er erweitert den Blick oder, sagen wir, die Kommunikation. Stand er im Verdacht, sich monologisch ein Personal zu erschaffen, das ihn selbst vervielfältigt, so erscheinen die Brücken nun wie schwankende Bretter, die waghalsige Sprünge in unbekannte Dimensionen erlauben. Ist das ein »Zoom«, der eine Werkentwicklung kennzeichnet – oder gar die Ausbreitung einer Persönlichkeit? ¬ The observation that Czarnetta is a young artist, seems to limit the enterprise of writing about his work. From it follows the depiction of his adolescence, his decision not to follow the path of art-historian, but to devote himself to art, but it also demands an answer to the question: Is this work young? The answer to this question is all the more pressing, since the art historian Czarnetta concerned himself with old art, with the work of long-dead, nearly forgotten sculptors; and it provokes a second question: is a young art historian well placed to become an artist? The work of about a threehundred sculptures, created in the seven years from 2001 to 2008 , consists mainly of human heads shown from the outside. In the end this perspective was not enough for Czarnetta, and since 2006 he tries to see inside the heads, as if they were inhabited houses. Recently, a small body of work has been leading him from houses to settlements and from settlements to bridges. He broadens the gaze, the communication. Were he was suspected of a monologue, creating personnel to duplicate himself, the bridges now seem like swaying planks, which allow audacious leaps into unknown dimensions. Is that a ›zoom‹, which indicates a development of the work – or even a broadening of a personality? None of the sculptures, which Czarnetta dealt with as art historian, were as small as those he modeled in his seven years as an artist. ¬ 7 Keine der Skulpturen, mit denen sich Czarnetta als Kunsthistoriker beschäftigt hat, war so klein wie die, die er in den sieben Jahren als Künstler modellierte. Seine Köpfe sind nur teilweise lebensgroß, und manche von ihnen fordern größte Nahsicht – eine Hand kann sie umschließen. Solche Miniaturen auf zarten Stengeln fordern museale Präsentationen, Sorgfalt und Behutsamkeit, sie setzten dem Pathos monumentaler Gebärden Bescheidenheit und Diskretion entgegen. Wozu dienen ihm diese Werke? Für wen schafft er sie? Sind sie Fingerübungen eines Menschen, der auf etwas wartet? → S. 11 8 His heads are only life-size in parts, and some require a closer view – a hand can enclose them. Such miniatures on tender stalks demand museum-style presentation, care and caution, they oppose the pathos of monumental gestures with humility and discretion. What do these works serve him for? Who does he create them for? Are they the finger exercises of a human being waiting for something? → S. 11 Scheinportraits · Zinn bemalt, Höhe 7 cm, 2001 | Quasi-portraits · Tin painted, height 7 cm, 2001 9 10 Scheinportrait · Zinn bemalt, Höhe 7 cm, 2001 | Quasi-portrait · Tin painted, height 7 cm, 2001 Das Leben The life Er trägt einen in Deutschland seltenen Namen, aber er wurde in Düren geboren, und sein Leben ist fest im Rheinland verwurzelt. Der 42-Jährige arbeitet in Aachen, teilt sich ein großes Atelier mit vier Künstlerfreunden und erfüllt seit einigen Monaten einen Lehrauftrag für Plastik am Kunstwissenschaftlichen Institut der Koblenzer Universität – als Künstler. Ich hebe das hervor, weil bisher das ungewöhnlichste Ereignis in diesem Leben vor einer Universität stattfand: die Entscheidung des approbierten Steinmetzgesellen, ein Studium der Kunstgeschichte zu beginnen. Czarnetta legte nach einem Studium von elf Jahren 2003 dem Kunsthistorischen Lehrstuhl der RWTH Aachen eine Dissertation zum Thema Neugotik in Aachen vor, in der er sich mit dem Bildhauer Gottfried Götting beschäftigt, der 1864 bis 1874 »unter strenger Aufsicht des Aachener Stiftskapitels … und des Aachener Dombauvereins« etwa 100 Steinskulpturen von 40 bis 260 cm Höhe für die gotischen Fassaden des Aachener Doms herstellte. Er vergleicht diese Werke mit den neugotischen Skulpturen des Kölner Doms. »Die Aachener Skulpturen sind feingliedriger und feiner gearbeitet, sie sind nicht so stark durch den Kulturkampf geprägt, sondern stellen eine breite Palette an menschlichen und christlichen Werten dar.« Er betont ihre »dem Menschen zugewandte Art, die dem Betrachter die Identifikation erleichtert.« Nach dieser Arbeit wuchs in Czarnetta das Bewusstsein, dass er nicht disponiert war, die bildende Kunst der Vergangenheit und Gegenwart als Historiker und Kritiker kommentierend zu begleiten. Aber der Steinmetzgeselle kann auch in Gottfried Götting nicht ein Vorbild gefunden haben, der in großer Abhängigkeit von Programmen, Auftraggebern und dem geforderten gotischen Stil gearbeitet hat. Immerhin: er würde sich der Bildhauerei mit großer Ausschließlichkeit widmen, er würde nicht an einer Akademie wie der nahe gelegenen Düsseldorfer nach einem Lehrer suchen, er würde eine Nische bauen, in der er sich in großer Unabhängigkeit und Freiheit entwickeln könnte. 1995 ist er so weit, dass er sich an Ausstellungen in Galerien, Kunstvereinen und Museen beteiligt. Und er beginnt, kleine Lehraufträge anzunehmen. Er spricht gern über das, was er tut. → S. 15 He has a surname that is rare in Germany, but was born in Düren, and his life is deeply rooted in the Rhineland. The 42-year old works in Aachen, shares his large workshop with four artist friends and holds a lectureship for sculpture at the Art Institute of the University of Koblenz – as an artist. I stress this, since the so far most unusual event in this life took place in front of a university: the qualified stonemason’s decision to start studying art history. After eleven years of studies, Czarnetta presented the chair of art history at the RWTH Aachen with a dissertation on the subject of Neo-Gothic in Aachen, in which he deals with the sculptor Gottfried Götting, who from 1864 to 1874 »… under strict supervision of the Aachen Stiftskapitel (diocese chapter) … and the Aachen Dombauverein (cathedral building association)« produced about 100 stone sculptures for the gothic façade of Aachen Cathedral ranging in height from 40 to 260 cm. He compared these to the neo-gothic sculptures of Cologne Cathedral. »The Aachen sculptures are of more graceful build, and more finely wrought. They are not shaped as much by the cultural struggle, but represent a broad palette of human and Christian values. ›He emphasised their‹ viewer-oriented bearing, which makes the identification easier for the beholder.« After this, Czarnetta became aware that he wasn’t disposed to an accompanying commentary on the art of the past and present as a historian and critic. But equally the stonemason can not have found a model in Gottfried Götting, who worked largely dependent on programmes, clients and the required gothic style. After all: he would dedicate himself exclusively to sculpture, wouldn’t search for a teacher in an academy like the one in nearby Düsseldorf, he would construct a niche, in which he could develop withample independence and freedom. In 1995 he is ready to participate in exhibitions in galleries, art societies and museums. He begins to accept smaller lectureships. He enjoys talking about what he does. → S. 15 11 12 Scheinportraits · Zinn bemalt, Höhe 7 cm, 2001 | Quasi-portraits · Tin painted, height 7 cm, 2001 Brücke, Beton, Höhe 35 cm, 2008 | Bridge, concrete, height 35 cm, 2008 13 14 Scheinportraits · Zinn bemalt, Höhe 7 cm, 2001 | Quasi-portraits · Tin painted, height 7 cm, 2001 Die Bildnisgalerie The image gallery Je mehr Menschen zusammen leben, umso schwerer ist es, allein zu sein. Allein sein ist Teil einer Vorstellung von Freiheit. Czarnetta und ich sprachen über den Schriftsteller, der allein an seinem Schreibtisch das Personal eines Romans zusammenstellt – aus Elementen von Personen, die ihm vertraut sind, und aus durchaus unvertrauten, fremden. So er, der Köpfe formt. Er nannte die ersten 2001 Scheinporträts. Er setzte nicht dort an, wo er als Steinmetz aufgehört hatte: er schlug die Köpfe nicht aus Steinen. Sie sollten so klein sein, dass man sie nur in einer weichen Materie modellieren konnte – etwa 7 cm hohe Wachsskulpturen, die sich mit den Fingern, mit Zahnstochern und Streichhölzern formen, unaufwendig in Zinn gießen und dann bemalen ließen. Man spießt sie auf Eisenstäbe und stellt sie auf kleine Sockel. Mit den Sockeln steigert er ihren Ausdruck: sie können hohe, massive Holzblöcke sein, über denen sich die Köpfe wie abgeschlagene Trophäen auf jeweils zwei Stäben recken. Diese Bozzetti sind keine Handschmeichler, Czarnetta hat die Güsse nicht mit Messern und Feilen geglättet, sie erhalten sich die malerische Unschärfe der Skizze. Die Personen bleiben im Ungefähren; wenngleich ihre Augen geöffnet sind; wenngleich sie sehen, schauen sie nicht. Sie sind Männer und Frauen verschiedener Alter, sie lachen oder weinen nicht; der Ausdruck ist zurückgenommen, sie sind bei sich. Zugleich sind die Bozzetti kleine Klumpen aus einem weichen Metall, die beiläufig die Form von Köpfen und die Züge von Gesichtern erhalten haben. Sie sind ganz von innen her entstanden. Sie verbergen nichts. Diese Arbeiten konnten Betrachter verleiten, den Künstler zu bitten, sie zu porträtieren. Czarnetta ist sehr selten auf solche Wünsche eingegangen. Es erschien sinnlos, den Scheinporträts Bildnisse existierender Personen hinzuzufügen. → S. 19 The more people live together, the harder it is to be alone. To be alone is part of a picture of freedom. Czarnetta and I talked about the author, who composes the cast of a novel alone at a desk – from elements of people that he is familiar with and from unfamiliar ones, strangers. So it is with him who shapes heads. He called the first ones in 2001 »quasi-portraits«. He didn’t start where he ended as a stonemason: he didn’t hammer the heads from stone. They were to be so small, that they could only be modeled in a soft substance – wax sculptures about 7 cm high which let themselves be shaped with fingers, toothpicks and matches, cast in tin without much ado and then painted. They are speared on metal rods, set onto small plinths. With the plinths he augments their expression, they can be high, solid blocks of wood above which the heads stretch like chopped off trophies each on two poles. These bozzetti are no f latterers of the hands, Czarnetta has not smoothed the casts with knives and files, they retain the painterly impreciseness of the sketch. The persons remain in the approximate; even though their eyes are open; even though they see, they are not looking. They are men and women of varying age, they do not laugh or cry; the expression is reserved, they are within themselves. At the same time the bozzetti are small lumps of a soft metal, that incidentally developed the shapes of heads and the features of faces. They came into being from within, hiding nothing. These works could tempt viewers to ask the artist to portray them. Czarnetta has rarely indulged such wishes. It seemed senseless to add images of existing people to the quasi-portraits. → S. 19 15 16 Hybrid II · Harz, Eisen, Gips, 2001, lebensgroß | Hybrid II · Resin, iron, plaster, lifesize, 2001 Hybrid I · Harz, Eisen, Gips, 2001, lebensgroß | Hybrid I · Resin, iron, plaster, lifesize, 2001 17 Holon »Die menschliche Persönlichkeit scheint mir wie eine Zwiebel in Schichten aufgebaut, vom ewig teilbaren zum ewig ausgedehnten, in beiden Richtungen ohne definiertes Ende. Das »Ich« als vermeintlich statischer Kern entpuppt sich als Illusion, als weiterer Mikrokosmos in einem weiteren Makrokosmos. Unsere Persönlichkeit wäre demnach als Prozess zu verstehen, der in der Korrespondenz von Außen und Innen stattfindet, in der Spannung zwischen den Schichten.« Holon »The human personality seems to me layered like an onion, from the infinitely divisible to the infinitely expanded with no defined end in both directions. The ›I‹ as putatively static core emerges as illusion, as a further microcosm in a further macrocosm. Our personality is therefore to be understood as a process which takes place in the correspondence of outer and inner, in the tension between the layers.« (Czarnetta) (Czarnetta) 2001 beginnt Czarnetta, einige lebensgroße Köpfe aus Gips, Harz und Eisen zu formen: die stämmigen runden Hälse tragen glatte, kugelige Köpfe, durch deren glasige Harzhülle die Gesichtszüge schimmern. Verformte Eisenreste sind aggressiv in die Gipse eingelassen, sie suggerieren Verletzungen / Verstümmelungen. Hybrid II trägt ein Gesicht wie eine der gemalten Personen von Francis Bacon, der Mund ist ein dunkles Loch; Hybrid I ist mund- und augenlos, eine aufgesetzte Spange verschließt die massive Kalotte. Die Skulpturen leuchten in der Transparenz des Harzes, der die Gipskerne wie exotische Präparate umgibt. Man entdeckt auf ihnen beiläufig gestanzte Zahlen und Buchstaben. Sie stehen fest auf runden Eisenplatten, ja, sie scheinen sich unter diesen ›Halskrausen‹ fortzusetzen. Hybrid nennt Czarnetta diese Skulpturen, weil er Materien unterschiedlicher Konsistenz und Erscheinung – Harz, Gips, Eisen – zusammen zu fügen begonnen hat. Das wird ihn weiterhin interessieren, und insbesondere das Harz, jenes merkwürdig warme ›Glas‹, dessen Fluss gelenkt werden, das Gegenstände auffangen, gefangen nehmen kann, fasziniert ihn zunehmend. 2002 entsteht ein lebensgroßer, schwarzer, braun gefleckter Kopf auf kurzem Halsansatz, an dem der dramatische Ausdruck der Verletzung ganz zurückgenommen ist. Das Gesicht drückt sich gleichsam wie durch einen Strumpf an die Oberfläche. Der ›Strumpf‹ ist aber eine Hülle aus aufgeschnittenen Fahrradschläuchen, die über den Gipskern gespannt ist. Die Person 18 Holon · Gips, Gummi, Harz, lebensgroß, 2002 | Holon · Resin, rubber, iron, lifesize, 2002 In 2001 Czarnetta begins to shape some heads in plaster, resin and steel: the sturdy round necks carry smooth, round heads, through whose glassy resin casing the features shimmer. Deformed steel pieces are aggressively set into plaster, they suggest wounds /mutilations. Hybrid II bears a face like that of one of Francis Bacon’s painted figures, the mouth is a dark hole. Hybrid I is without mouth and eyes, a clamp closes the solid crown. The sculptures glow in the transparency of the resin, which surrounds the plaster cores like exotic compounds. Incidentally embossed numbers and letters can be discovered on them. They stand firm on round steel plates, yes, they seem to perpetuate under those ruffs. Czarnetta calls these sculptures hybrids, because he has begun joining together materials with different consistencies and appearance – resin, glass, steel. This will keep on interesting him, particularly resin, that strange warm ›glass‹, whose flow can be directed, which can receive, imprison objects, fascinates him increasingly. In 2002 a life-size black head, mottled brown on a short neck, evolves, with the dramatic expression of hurt fully taken back. The face presses itself to the surface more or less like through a stocking. The »stocking« is a casing of gutted bicycle inner tubes which are stretched over the plaster core. The figure drowns in the sculpture. The viewer wants to look for it with their fingers. Czarnetta calls this sculpture Holon. He must have leafed through the books of Arthur Koestler and Ken Wilber, where he encountered the layer models of holar systems which gave words to his perceptions of sculpture 19 versinkt in der Skulptur. Der Betrachter möchte sie mit den Fingern suchen. Czarnetta nennt diese Skulptur Holon. Er muss in den Büchern von Arthur Koestler und Ken Wilber geblättert haben, dort ist er auf die Schichtenmodelle holarer Systeme gestoßen, die seinen bildnerischen Vorstellungen einer in Schichten aufgebauten Skulptur Worte gaben. Seine Äußerung über die menschliche Persönlichkeit als Zwiebel verkürzt die Theorie dort, wo sie die beherrschende Neigung des Holon zur Autonomie übergeht. Das Holon ist das Kind der Monade von Leibniz; er definierte sie als fensterloses ›Atom der Natur‹, das eine ›eingehüllte Vielheit‹ besitze, die ihm die Möglichkeit gebe, sich selbst zu entfalten. Ähnlich autark kann sich im holaren Schichtmodell jede Schicht nur selbst reflektieren, aber jene transzendieren, die unter ihr liegen. Es gibt eine atavistische Sehnsucht zum Wort, und jeder, der ein Bild herstellt, sucht eigentlich ein Wort, und es beglückt ihn, ein Wort zu finden, das seinem Bild angemessen erscheint. Czarnetta nennt die dem Holon folgenden Skulpturen Schichtporträts. Sie bestehen aus Gesichtern, die wie Masken Kopfformen aufgesetzt sind; Masken aus Harz, die nicht erlauben zu entscheiden,ob sie mit den inneren Organen der Köpfe verbunden sind, wenngleich sie als Bildnisse zu ›leben‹ scheinen. Oder: ihr ›Naturalismus‹ ist stärker als der der Köpfe, die sie bedecken; jene erscheinen skalpiert. Nur dort, wo die Schicht des Gesichtes sie bedeckt, transzendieren sie. Marguerite Yourcenars Zitat weist auf eine Verbindung von Freiheit und Wahrheit hin. Die Maske ist dagegen ein Requisit der Lüge, und Czarnetta führt uns jetzt in ein dialektisches Feld der forschenden Betrachtung und Spiegelung, in der er die Lüge, die Illusion als Instrument der Vergewisserung benutzt. built up in layers. His statement about the human personality as an onion curtails the theory where it transcends the dominant tendency of the Holon towards autonomy. The ›Holon‹ is the offspring of Leibniz’ monad, he defines it as windowless »atom of nature«, which possesses a »shrouded multiplicity«, giving it the possibility to unfurl itself. Similarly autarkic, each stratum in the holar layer model can only reflect itself, but transcend the underlying one. There exists an atavistic longing for the word, and whoever produces an image, is essentially searching for a word, and is pleased to find one which seems appropriate for that image. Czarnetta calls the sculptures following the Holon ›layer portraits‹. They are composed of faces which are are superimposed like masks onto head shapes; masks of resin, which do not permit the decision of whether or not they are connected to the heads’ inner organs, even though they appear to »live« as likenesses. Or: their »naturalism« is stronger than that of the heads they cover and which appear scalped. They transcend only where the facial layer covers them. Marguerite Yourcenar’s quote indicates a connection of freedom and truth. The mask on the other hand is a requisite of the lie, and Czarnetta now guides us into a dialectic field of exploratory observation and mirroring, in which he employs the lie, the illusion as an instrument of self-assurance. → S. 25 → S. 25 20 Schichtportrait · Gips, Wachs, Harz, lebensgroß, 2002 | Layerportrait · Plaster, wax, resin, lifesize, 2002 21 22 Schichtportraits · Gips, Wachs, Harz, lebensgroß, 2002 | Layerportraits · Plaster, wax, resin, lifesize, 2002 23 Altertum Antiquity Vor dieser Serie kleiner Zinnköpfe, die 2004 entsteht, wird jeder Kunsthistoriker sich gern historischer Bauplastik erinnern, deren Pflege vernachlässigt, die dem Verfall anheim gegeben worden ist. Czarnetta nennt die modellierten Rundplastiken Fragmente : sie zeigen Scharten und Nähte, die andeuten, dass sie aus getrennten Teilen bestehen. Diese ›Verletzungen‹ brutalisieren die Gesichter. Der Betrachter erleidet ihren Anblick so, wie er Vergänglichkeit erleidet, wenn er Sandsteinskulpturen vergangener Jahrhunderte betrachtet, die Wind und Regen angefressen haben. Aber der Eindruck von Verwitterung durch Alter kann mit der Wahl des Materials als Illusion hervorgerufen werden, wie die 2005 entstandenen Köpfchen aus Beton zeigen. Das moderne Medium, das eine detaillierte Behandlung nicht zulässt, wirkt hier wie Jahrhunderte alter Tuffstein, den ein vulkanisches Feuer ausgeglüht hat. Und es sind nicht einmal Spuren von Verwitterung, Erosion und Zerfall nötig, um Alter zu evozieren. Es genügen Hinweise auf kulturelle Erinnerungen, die noch heute vielen Europäern seit Johann Joachim Winckelmanns ›edler Einfalt, stiller Größe‹ gegenwärtig sind: die strahlende Helligkeit antiker Marmorgestalten, der gesammelte Ausdruck ihrer Gesichter, ihre Neigung zur Schönheit, ihr Mangel an ›Charakter‹. Czarnetta erreicht diese Illusion mit Hilfe der Gießmasse Keramin, die stark aushärtet und den Eindruck eines glatten hellen Steines erweckt. Die Glätte des Gusses suggeriert zugleich die Maske, so wie das Wort für Abgüsse von toten Gesichtern verwendet wird: Totenmasken. Confronting this series of small tin heads, which comes into existence in 2004, every art historian will be pleasantly reminded of historical architectural sculpture, whose care has been neglected, that has fallen prey to ruin. Czarnetta calls these modeled circular sculptures fragments: they display notches and seams, that indicate their composition of separate parts. These injuries brutalise the faces. The viewer suffers their sight, as they suffer the transience apparent in the sandstone sculptures of past centuries that have been eroded by wind and rain. But the impression of weathering through age can be evoked as an illusion through the choice of material, as evidenced in the small concrete heads of 2005. That modern medium which does not allow for detailed treatment, here comes across like centuries old tuff which has been annealed by volcanic fire. Traces of weathering, erosion and decay are not even necessary to evoke age. References to cultural memories, which are still familiar to many Europeans since Johann Joachim Winkelmann’s »noble innocence, silent grandeur«, are sufficient: the gleaming brightness of antique marble figures, the collected expression of their faces, their tendency towards beauty, their lack of »character«. Czarnetta accomplishes this illusion with the help of the casting compound keramin, which bonds hard and is suggestive of smooth bright stone. The smoothness of the cast simultaneously suggests the mask, as the word is used for casts of dead faces: death masks. → S. 35 → S. 35 24 Fragment · Zinn, Höhe 12 cm, 2004 | Fragment · Tin, height 12 cm, 2004 25 26 Fragmente · Zinn, Höhe 7 bis 12 cm, 2004 | Fragments · Tin, height 7 to 12 cm, 2004 27 28 Scheinportraits · Zinn, Höhe 5 cm, 2005 | Quasi-portraits · Tin, height 5 cm, 2005 29 30 Scheinportraits · Beton, Höhe 5 cm, 2005 | Quasi-portraits · Concrete, height 5 cm, 2005 31 32 Scheinportraits · Keramin, Höhe 5 cm, 2007 | Quasi-portraits · Ceramin, height 5 cm, 2007 33 34 Kleiner Boxer · Tesa-Packband, Höhe 7 cm, 2005 | Little Boxer · Adhesive tape, height 7 cm, 2005 Bricolage Bricolage Ein Bildhauer, der in Wachs modelliert, eine Form aus Gips herstellt und eine Bronzeskulptur gießt, bewegt sich auf einem historisch gesicherten Terrain. Czarnetta wird immer wieder auf diesen Boden zurückkehren. Aber seine Leidenschaft gehört neuartigen Materialien wie Epoxidharz, Gummi, Styropor, Tesa-Packband, Fliesenkleber, Keramin …, Stoffe, die auch Hobbykünstlern angeboten werden. Er liebt es zu basteln (und er erzählt mit Vergnügen, wie seine Mutter ihn als Kind gelehrt hat, aus geschnittenen Streifen von Fahrradschläuchen Bälle zu wickeln, die besonders hoch springen). Er wird nicht versäumen, das Fundstück des Backenzahns eines Schweins in eine Skulpturengruppe zu integrieren. Ich benutze das Wort ›bricolage‹ mit seinem theoretischen Hintergrund, den Claude Lévi-Strauss in seinem Text Das wilde Denken konstruiert hat. Sein ›Bastler‹ ist jener Forscher, der ziellos gesammelte Materialien verwertet, um in enger Vertrautheit mit dem Zufall ein ›Modell‹ aufzubauen, das nicht das Resultat wissenschaftlichen, sondern ›mythischen‹ Denkens ist. Es ist eigentlich selbstverständlich, dass wir von einem Künstler einen Hang zu ›mythischem‹ Denken erwarten, zu jenen Unschärfen, die dem Bild möglich machen, sich über die Schärfen des Wortes hinwegzusetzen, zu jenem Gestaltungsprozess, der das wissenschaftliche Denken wie ein Zwilling begleitet. Czarnetta, der Kunsthistoriker und Künstler, erhält sich die Zwillinge in so großer Nähe, dass der Betrachter seiner Werke sie zu verwechseln droht. Die Serie der Boxer liefert Beispiele für solche Irritationen. Die Köpfe mit ihren summarischen, ›groben‹ Gesichtszügen erinnern in der Tat an die von Faustkämpfern und anderen Athleten, wie wir sie von Fotos, aber auch von römischen Skulpturen kennen, und fast leugnet der Betrachter, ihre Wirkung auf die Eigenart des Materials zurückzuführen, aus dem sie hergestellt sind. Was bedecken die Tesa-Packband-Klebestreifen? Andere Klebestreifen? Wie schwer oder wie leicht ist so eine Skulptur? Wäre sie eine ›Puppe‹ aus beklebtem Papiermaché wie die des rheinischen Karnevals oder die Figuren Siegfried Neuenhausens aus den siebziger A sculptor who models in wax, produces a mould in plaster and casts a bronze, moves in historically secured terrain. Czarnetta will keep returning to this ground. But his passion belongs to newer materials like epoxy resin, rubber, styrofoam, adhesive tape, tile adhesive, keramin …, all materials also on offer to hobby artists. He loves to tinker, and he joyfully relates how his mother taught him as a child how to wind balls from cut-up bicycle inner tubes, that would jump particularly high). He will not fail to incorporate the found molar of a pig into a sculptural group. I use the word »bricolage« with its theoretical background, which Claude Lévi-Strauss constructed in his text The Savage Mind. His tinkerer is the explorer who, in close familiarity with coincidence, uses aimlessly collected materials in order to construct a »model«, which is a result not of scientific, but of »mythical« thought. It is essentially self-evident to expect a tendency towards »mythical« thought from an artist, towards those uncertainties that enable an image to transcend the precision of the word, towards that design process, which accompanies scientific thought like a twin. Czarnetta the art historian and artist keeps the twins in such close proximity that the viewer is in danger of confusing them. The series of Boxers provides examples of such irritations. The heads with their sweeping, »rough« features indeed recall those of pugilists and other athletes as we know them from photos or even from Roman sculptures, and the viewer nearly denies and refues to ascribe their effect to the characteristics of the materials used in their composition. What do the adhesive tape strips cover? Other strips of tape? How heavy or light is such a sculpture? Were it a ›doll‹ made of laminated paper maché such as those of the Rhineland carnival or Siegfried Herrenhausen’s figures from the 70’s, there would be unity between the medium and the ›image‹ it communicates. But those solemn faces overshadowed by sorrow demand something like timeless validity, and thus the adhesive tape threatens to metamorphose into bronze. → S. 41 35 Jahren, bestünde Einklang zwischen dem Medium und dem Bild, das es vermittelt. Aber jene von Leiden überschatteten, pathetischen Gesichter beanspruchen so etwas wie zeitlose Gültigkeit, und so droht sich das Tesa-Packband in den Augen des Betrachters in Bronze zu verwandeln. → S. 41 36 Kleiner Boxer · Tesa-Packband, Höhe 7 cm, 2005 | Little Boxer · Adhesive tape, height 7 cm, 2005 37 38 Große Boxer · Tesa-Packband, lebensgroß, 2005 | Big Boxers · Adhesive tape, lifesize, 2005 39 Vitrifikation Vitrification Ein Kopf, dessen Oberfläche aus Packbandstreifen besteht, ist ein eingepackter, ein verborgener Kopf. Gefesselten Geiseln wird der Mund mit Klebeband verschlossen, damit sie nicht schreien. Ein verborgener Kopf ist ein versteckter Kopf; es gibt Gründe, ihn zu verstecken. Sollte er sichtbar bleiben, weil man ihn überwachen will, so ließe sich eine durchsichtige Verpackung herstellen. Im Atommüll-Lager im französischen La Hague werden strahlende Abfälle vitrifiziert, in Glaskuben eingelassen, so dass mögliche Veränderungen beobachtet werden können. Bernsteine erlauben den Blick auf Jahrmillionen alte Insekten. Czarnetta gießt in der Serie Spektrum seit 2006 lebensgroße Kopfformen in transparentem Harz. Es entstehen überaus glatte Skulpturen, deren Formen die Hand widerstandslos folgt. Eine von ihnen liegt: die Stange, die sie trägt, dringt in das rechte Ohr des Kopfes. Czarnetta muss zugeben, an die Muza adormita von Constantin Brancusi gedacht zu haben, als er sie entwarf. Aber jene ist aus Marmor und makellos, während dieses Spektrum hinter der makellosen, durchsichtigen Haut Unreinheiten und Durchbrüche im Harz aufweist. In der ›Verglasung‹ wird ein verletzter Kopf konserviert; er nimmt dadurch Werte auf, die auch Brancusi suchte: Seltenheit, Schönheit. Dagegen hat die spannungsvolle Dialektik zwischen Schale und Frucht, Hülle und Kern, Maske und Gesicht den Rumänen um 1910 nicht interessiert: hundert Jahre später ist sie ein Symptom des Zeitgenossen, der sich gegen ein Übermaß der medialen Außenlenkung zur Wehr setzt. In anderen Köpfen erscheinen in der gläsernen Schicht schwarze Graphismen, Graffiti, verzerrte Buchstaben und Zahlenfolgen, die wie bewegte Projektionen in diesem ›fließenden‹ Raum schwimmen – nahezu unlesbare, geheime Botschaften, die jene konservierten Gehirne und die ihrer Betrachter tauschen. Sie können sich aber auch von solchen absichtsvollen skripturalen Elementen befreien, sich vegetal verästeln, mineralisch aussintern oder elektromagnetische Energiebündel ausformen, die sich über die Augenhöhlen legen. Spektrum ist ein Gespenst, eine Erscheinung, und zugleich die Summe der Farben, die wir im Regenbogen sehen – immateriell, aber sichtbar. ¬ A head whose surface consists of adhesive tape strips, is a wrapped, hidden head. Tied up hostages’ mouths are secured with adhesive tape, so that they don’t scream. A concealed head is a hidden head, there are reasons to hide it. Should it remain visible in order to be surveilled, a transparent wrapping could be produced. In the nuclear waste storage facility in the French La Hague radiation waste is vitrified, set into glass cubes, so that possible variances can be monitored. Amber allows glimpses of millions of year old insects. In the series Spectrum from 2006 Czarnetta casts life-size head shapes in transparent, solid resin. Exceedingly smooth sculptures emerge, whose shapes the hand follows unopposed. One of them reclines: the bar it carries penetrates the head’s right ear. Czarnetta has to admit that he was thinking of Constantin Brancusi’s Muza adormita when he designed it. But she is made of marble and without fault, while this Spectrum shows blemishes and openings under the faultless, smooth skin. An injured head is conserved through »vitrification«; it acquires values that Brancusi also sought: rarity, beauty. The engrossing dialectic between paring and fruit, casing and core, mask and face didn’t interest the Romanian around 1910 though: a hundred years later it is a symptom of the contemporary, who is resisting an excess of medial outside direction. In other heads, black graphisms appear before the white plaster base, graffiti, distorted letters and series of numbers, that swim like moving projections in this »flowing« space – well-nigh unreadable, secret messages which interchange those conserved brains with the viewers. But they can also free themselves from such intended scriptural elements, ramify vegetally, sinter minerally or form electromagnetic energy bundles, that cover the eye sockets. »Spectrum« is a ghost, an apparition, and at the same time the sum of the colours we see in the rainbow – immaterial but visible. Spectrum could describe the sum of the elements, that a sculpture indicates or evokes, and Brancusi’s spherical, inifinitely complete marble images of the muse or the newborn would be splendid examples of the accomplishment of shaping matter in such a way, that invisible becomes visible in its aura, ˆ Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006 ˆ 40 41 Spektrum könnte die Summe der Elemente bezeichnen, die eine Skulptur andeutet oder evoziert, und jene sphärischen, unendlich vollkommenen Marmorbildnisse der Muse oder des Neugeborenen von Brancusi wären großartige Beispiele für den Erfolg, die Materie so zu formen, dass in ihrer Aura Unsichtbares sichtbar wird, dass sie sich in eine Haut verwandelt, durch die sich Unsichtbares in die sichtbare Welt drückt. Aber das ›Gespenst‹ des Czarnetta ist eine Konserve, ein Präparat, das eine trügerisch glatte Hülle zugleich verbirgt und sichtbar macht. Das Konzept der Arbeit überwuchert ihre Ästhetik: diese Skulpturen scheinen nur die Werte von Seltenheit und Schönheit zu transportieren und verleugnen dabei nicht eine selbstquälerische Lust an der Illusion. → S. 49 42 that it transforms itself into a skin, through which the hidden presses itself into the visible world. But Czarnetta’s »ghost« is a preserve, a preparation, which simultaneously hides and unveils a deceptively smooth shell. The concept of work overgrows its aesthetic; these sculptures only seem to transport the values of rarity and beauty while not denying a self-tormenting desire for the illusion. → S. 49 Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006 43 44 Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006 Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006 45 46 Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006 Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006 47 48 Wachzahn · Fliesenkleber, Höhe 70 cm, 2008 | Watchtowertooth · Tile adhesive, height 70 cm, 2008 Ausbrüche Eruptions Wenn das Konzept einer Arbeit die Auseinandersetzung mit ihrer Gestaltung zu beherrschen beginnt, können dramatische Wechsel der Materialien, der Medien, der Ausdrucksgesten stattfinden. Czarnetta verlässt 2007 die Serie der Spektren und überträgt die Vorstellung eines Kopfes, die Dialektik zwischen Innen und Außen, in die eines Hauses. Das kleine Betonmodell erscheint wie eine Festung mit Fenstern, die Ausgucke sind, ein Kubus, der sich ebenso in die Breite wie in die Höhe vervielfältigen lässt. Und Czarnetta vervielfältigt ihn, setzt Häusergruppen zusammen, die mit den Wurzeln von Schweinezähnen in durchsichtigen Harzwürfeln wie in Unterkiefern verwachsen sind. In lockerer Formation entsteht das Modell einer Stadt. Der Monolog des Menschen unter seiner Maske, des Verborgenen, des Konservierten ist aufgehoben und durch das Gemurmel einer großen Gruppe ersetzt. Der Gedanke der Öffnung, der ausgestreckten Hand, des Dialogs führt Czarnetta zu neuen Experimenten: er bricht die geschlossene Hausform auf, öffnet das Dach, setzt es fragil als Kuppel über den dunklen Block, und er formt – wiederum aus Beton – Brücken, Skizzen zu Brücken, unfertige Brücken, altertümliche, ruinös wie nach einer Zerstörung, labil ausbalancierte Trassen zwischen zwei aufragenden Pfeilern, oder jene, die zwischen zwei Pylonen beginnt und am Ende der Bahn zwei stählerne ›Finger‹ vorsichtig ausstreckt, um den sicheren Boden zu finden. »Das war eine wilde Zeit« sagt er und kehrt zu den Monologen der ›Eingeschlossenen‹ zurück, nicht zu jenen Köpfen, die sich nur unvollkommen gegen die Blicke der Außenstehenden schützen können, weil ihre Schutzschicht durchsichtig ist, sondern zu den Betonhäusern, die groß genug sind, um einen menschlichen Kopf zu verbergen. → S. 59 When the concept of a work begins to dominate the debate with its composition, dramatic changes of materials, media and expressive gestures can occur. In 2007 Czarnetta leaves the series of spectra and transposes the idea of a head, the dialectic between internal and external to that of a house. The small concrete model seems like a fortification with windows that are look-outs, a cube which can be replicated horizontally as well as vertically. And Czarnetta multiplies it, composes groups of houses which, with their pig’s teeth roots, have grown into transparent resin cubes like into mandibles. The model of a town develops in relaxed formation. The monologue of the human under his mask, of the obscured, the conserved is suspended and replaced by the murmuring of a large group. The notion of the opening, of the extended hand, the dialogue, leads Czarnetta to new experiments: he breaks open the closed shape of a house, opens the roof, sets it as a fragile dome above the dark block, and he shapes – in turn from concrete – bridges, sketches of bridges, unfinished bridges, antiquated routes, ruined as if post-demolition, unstably balanced between two towering pillars, or the one which begins between two pylons and extends two steel »fingers« carefully at the end of the tracks to find the secure ground. »That was a wild time« he says and returns to the monologues of the »enclosed«, not to those heads, that can only inadequately guard against outsiders’ gaze, because their protective cover is transparent, but to those concrete houses, that are large enough to conceal a human head. → S. 59 49 50 Haus · Beton, Höhe 12 cm, 2007 | House · Concrete, height 12 cm, 2007 Wachzahn · Fliesenkleber, Höhe 42 cm, 2008 | Watchtowertooth · Tile adhesive, height 42 cm, 2008 51 52 Wachzahn · Fliesenkleber, Höhe 52 cm, 2008 | Watchtowertooth · Tile adhesive, height 52 cm, 2008 Stadt · Harz, Schweinezähne, Gips, Höhe 8 bis 15 cm, 2008 | City · Resin, pigteeth, plastic, height 8 to 15 cm, 2008 53 54 Boot · Zement, Höhe 15 cm, 2007 | Boat · Concrete, height 15 cm, 2007 Boot · Zement, Höhe 20 cm, 2008 | Boat · Concrete, height 20 cm, 2008 55 56 Brücke · Beton, Höhe 22 cm, 2007 | Bridge · Concrete, height 22 cm, 2007 Brücke · Beton, Höhe 38 cm, 2007 | Bridge · Concrete, height 38 cm, 2007 57 58 Lounge Interieur · Beton, Opernglas, Höhe 30 cm, 2006 | Lounge Interior · Concrete, lorgnette, height 30 cm, 2006 Bunker Bunker 1992 erschien in deutscher Sprache das Buch BunkerArchäologie von Paul Virilio, in dem er seine eigenen schwarz-weißen Fotografien der deutschen Bunker an der französischen Atlantikküste publizierte. Einer Kindheitserinnerung folgend, hat er sie 1958 systematisch dokumentiert. Er widmet ein Kapitel ihrer Anthropomorphie und zeigt verblüffende Beispiele von ›Köpfen‹, kleinen runden und eckigen Gebäuden mit Ausguckund Schießschlitzen, die jenen bedrohlich magischen Ausdruck dem Meer zuwenden, den wir aus Fotografien der Skulpturen der Osterinsel kennen, und er zitiert Ernst Jünger, der den Besuch eines dieser Bunker beschreibt: »Hier erst erkannte ich den Ort als Wohnsitz eisenkundiger Zyklopen, denen das innere Auge fehlt …« Czarnetta beginnt 2006 eine Serie von Betonskulpturen, denen er sozusagen hemdsärmelig den Namen Lounge Interieur gibt. Diese roh erscheinenden Kuben, die an der Wand hängen, sind in Wirklichkeit hohle, nach unten offene Volumen, ›Helme‹, in denen ein menschlicher Kopf eine sichere Hülle findet. In die Front einer dieser ›Glocken‹ ist ein Paar von Ferngläsern eingegossen, das dem Benutzer erlaubt hinauszuschauen. Wie jene Bunker der deutschen Armee an den Westküsten Europas sind sie aus Beton gegossen, und in den Fotografien übersieht das Auge den Größenunterschied. Von der Enge des Ein-Mann-Bunkers zu der des Ein-Kopf-›Helms‹ ist es darum nur ein kleiner Schritt; gemeinsam ist ihnen die zweifache Funktion der ängstlichen Beobachtung der Umwelt und des Schutzes vor ihr. Die kleinen Skulpturen steigern die Drohung, die die großen zu vermitteln die Aufgabe haben. Sie laden nicht selbstverständlich ein, sie zu benutzen, sie stoßen den Betrachter zurück – wie ein Apotropaion, ein Abwehrzauber, der seinen Besitzer gegen den »bösen Blick« und Unheil bringende Flüche schützt. Sie schützen den, der seine Angst vor ihnen überwindet und zu ihnen flüchtet. Dort ist er allein. Die ›Helme‹ lassen nur einen Kopf herein. In der nächsten Serie widerfährt dem Betrachter eine Überraschung. Er ist eingeladen, sich einem Betonkubus so weit zu nähern, dass er durch seine Öffnungen hineinschauen kann. ¬ In 1992 Paul Virilio’s book Bunker Archaeology was published in German, in which he exhibited his black and white photographs of the German bunkers on the French Atlantic coast. Following a childhood memory he systematically documented them in 1958 . He dedicates a chapter to their anthropomorphism and shows astonishing examples of »heads«, small round and angular buildings with look-outs and gun-slits, turning that same menacingly magical expression towards the sea that we know from photographs of the Easter Island sculptures, and he quotes Ernst Jünger’s description of a visit to one of these bunkers: »Only here did I recognise the locality as the dwelling of cyclopes, experienced with iron, that are missing the inner eye …« In 2006 Czarnetta begins a series of concrete sculptures which he calls quasi-casually Lounge Interior. These seemingly unrefined cubes, which hang on the wall, are in reality hollow volumes opening downwards, »helmets«, in which a human head finds secure cover. A pair of binoculars is let into the front of one of those »bells«, which allow the user to look out. Like the German army’s bunkers along the coasts of Europe’s west, they are cast in concrete, and in the photographs the eye ignores the size difference. This makes it only a small step from the constriction of the one man bunker to that of a one head »helmet«; they have in common the dual function of fearful observation of the surroundings and protection from them. The small sculptures augment the threat, which it is the large ones’ duty to convey. They don’t invite their use as a matter of course, they repel the viewer-like an Apotropaion, a defensive spell, that protects its owner against the »evil eye« and disaster-carrying curses. They protect whoever overcomes fear of them and flees to them. There he is alone. The »helmets« only allow in one head. There is a surprise in store for the viewer in the next series. He is invited to approach a concrete cube close enough to be able to see into its openings. The block has a »face«, which the viewer penetrates. His eyes look through two eye holes, mouth and nose are pressed against openings. The title Single Interiors describes drily what can be seen: view of the double chin, one eye’s view of another, 59 Der Klotz hat ein ›Gesicht‹, in das der Besucher eindringt. Seine Augen schauen durch zwei Augenlöcher, sein Mund, seine Nase drücken sich gegen Öffnungen. Die Titel der Single Interieurs beschreiben trocken, was er sehen wird: Blick auf das Doppelkinn, Blick des einen Auges auf das andere, Blick unter das Kinn von vorn, Blick in die Nase, Blick auf die Unterseite der Oberlippe … Czarnetta hat in die Betonbehälter jeweils zwei Spiegel so eingebaut, dass sie diese barocken Wunder produzieren können: die camera obscura der Selbstbespiegelung. Folgerichtig, damit die Ohren gespiegelt werden können, ist eine der Skulpturen ein dreifacher Kubus in U-Form, ein ›Flügelbau‹, Stufensockel zeigt jene, die das Kinn wiedergibt. Die Variationen sind ihrem Zweck geschuldet und ebenso wenig Ergebnisse eines ästhetischen Spiels wie die Erscheinungsweisen der Objekte. Sie bleiben Behälter und tragen die Spuren ihrer einfachen, rohen Herstellung. Sie könnten Vogelkästen sein, aber sie sollten nicht aus der Distanz betrachtet werden; sie fordern im Gegenteil eine Annäherung, die ungewöhnlich ist; erst wer sie vollzieht, begreift sie. Sie nähern sich optischen Geräten der Augenmedizin in technischen Museen, Stereoskopen der frühen Fotografie, ihre Lust an der Überraschung kann sie in Kuriositätenkabinette führen – das Konzept ist streng, es fordert kein Ornament. → S. 67 60 frontal view under the chin, view up the nose, of the underside of the upper lip … Czarnetta has incorporated two mirrors into each concrete container, so that they can produce these baroque miracles: the camera obscura of self-reflexion. Consequently, in order to mirror the ears, one of the sculptures is a U-shaped threefold cube, a ›wing edifice‹, another, which reflects the chin, displays tiered plinths. The variations owe to their purpose and are just as little results of an aesthetic game than are the objects’ appearances. They remain containers and show traces of their simple, coarse manufacture. They could be bird boxes, but should not be viewed from a distance, on the contrary, they demand an uncommon approach, comprehensible only to whoever carries it out. They approximate optical instruments of ophthalmic medicine in technical museums, stereoscopes from early photography, their delight in surprise can lead them into chambers of curiosities – the concept is strict, no ornaments required. → S. 67 Single Interieur – Blick unter das Kinn · Beton, Spiegel, 30 cm, 2006 Single Interieur – Frontal view under the chin · Concrete, mirror, 30 cm, 2006 61 62 Lounge Interieur · Beton, Höhe 27 cm, 2006 | Lounge Interior · Concrete, height 27 cm, 2006 Lounge Interieur · Beton, Höhe 30 cm, 2006 | Lounge Interior · Concrete, height 30 cm, 2006 63 64 Single Interieur – Blick auf das Doppelkinn · Beton, Spiegel, Höhe 35 cm, 2006 Single Interior – View of the double chin · Concrete, mirror, height 35 cm, 2006 Single Interieur – Blick in die Nase · Beton, Höhe 22 cm, 2006 Single Interior – View up the nose · Concrete, height 22 cm, 2006 65 66 Single Interieur – Blick auf die Unterseite der Oberlippe · Beton, Spiegel, Höhe 25 cm, 2006 Single Interior – View of the underside of the upper lip · Concrete, mirror, height 25 cm, 2006 DIE MONADE SCHAUT IN DEN SPIEGEL THE MONAD GAZES INTO THE MIRROR Diese bricolages, deren Oberflächen Czarnetta roh belässt, sind Beispiele einer ›art brut‹, die sich aus dem ›klassischen‹ Feld der Scheinporträts weit entfernen. Auf dem langen Weg von den einen zu den anderen hat ihn eine energische Neugier getrieben, in Menschen, in sich selbst einzudringen. Das muss nicht überraschen: Bildnisse und Selbstbildnisse gehören zu den ältesten Zeugnissen der Bildenden Kunst, und Künstler wie Rembrandt oder Munch haben sich selbst in allen Altersstufen forschend porträtiert. Aber Czarnetta hat mit großer Ausschließlichkeit in dieser ersten Werkphase seines Künstlerlebens Köpfe von Menschen, immer wieder Köpfe hergestellt, und in ihrer Mitte stehen in seinem Atelier die Abgüsse seines eigenen Kopfes, die er herstellte, nachdem er sich entschloss, auf seine Kopfhaare zu verzichten. Die ›Ausbrüche‹ sind der einzige Versuch, die Köpfe zu verlassen. In dieser Werkphase formt er aus Materialien, die im Rohzustand flüssig sind. Sie gestatten ihm zu kneten, zu kleben, zu gießen, er bedarf keiner Hilfe, er bleibt mit seinen Köpfen allein. Er wechselt dramatisch die Distanz zwischen Betrachter und Objekt. Viele Köpfe sind so klein, dass er sie nahe an die Augen führt, wenn er sie herstellt. Die lebensgroßen fordern einen konventionellen Abstand – von Kopf zu Kopf. Am Ende beseitigt er den Abstand ganz: er drückt sein Gesicht an Augen, Nase, Mund und Kinn des Anderen. Der Andere, den er sucht, ist er selbst. Horst Bredekamp beschreibt in seinem Buch Die Fenster der Monade einen Leibniz, der sich der mechanistischen Lehre seiner Zeit widersetzt, dass die Seele des Menschen eine tabula rasa sei, in die sich die äußere Welt einschreibt. In seiner Monadologie schottet er sie ab und definiert sie als eine autonome Monade, die das Universum in sich trägt. Bredekamp versucht, in den Schriften von Leibniz die Fenster zu finden, die sie mit der Außenwelt so verbinden, dass ihre ›sphaera intellectus‹ die eindringenden Bilder mit den eigenen verknüpfen und auswerten kann. In jenem barocken Theater der Natur und Kunst, das er schildert, wäre das Konzept der Single Interieurs eine höchst sonderbare Demonstration: die Monade schaut durch ein Fenster und spiegelt sich selbst. Was wird sie tun? These »bricolages«, whose surface Czarnetta leaves crude, are examples of an ›art brut‹, which depart far from the ›classical‹ field of quasi-portraits. On the long way from the one to the others he was driven by an energetic curiosity to permeate humans, himself. This should not surprise: portraits and self-portraits belong to the oldest evidence of art, and artists like Rembrandt or Munch have portrayed themselves in all stages of life. But in this first working stage of his artistic life Czarnetta has exclusively produced human head, repeatedly heads, and in their midst stand in his workshop casts of his own head, made after he decided to forego his hair. The ›eruptions‹ are the only attempt to abandon the heads. In this work phase he moulds from materials that are liquid in their natural state. They permit him to knead, glue and cast, he needs no help, remains alone with his heads. He dramatically swaps the distance between viewer and object. Many heads are so small that he brings them close the eye while working on them. The life-sized ones require a conventional distance – head to head. In the end he removes distance altogether: he presses his face against eyes, nose, mouth and chin of the Other. The Other, that he is looking for, is himself. Horst Bredekamp describes in his book The Windows of the Monad a Leibniz, who resists the mechanistic teaching of his time, that the human soul is a tabula rasa, into which the outside world inscribes itself. In his monadology he isolates it and defines it as an autonomous monad, carrying the universe within itself. Bredekamp attempts to find the windows in Leibniz’ writing which link them to the outside world, so that their ›sphaera intellectus‹ can connect the intruding images with its own and interpret them. In that baroque theatre of nature and art, that he describes, the concept of Single Interiors would make for a highly unusual demonstration: the monad looks through a window and reflects itself. What will it do? Will it recognise that which it sees as its own? Will it be content? Will it approach other windows? Will it try to destroy its reflection or will it fear losing it? The questions circle around the complex of fear. Fear and worry drive the sculptor Czarnetta when, while kneading faces, he discovers that their skin can be 67 Wird sie das, was sie sieht, als ihr Eigenes erkennen? Wird sie zufrieden sein? Wird sie sich anderen Fenstern zuwenden? Wird sie ihr Spiegelbild zu zerstören suchen oder wird sie Angst haben, es zu verlieren? Die Fragen kreisen um den Komplex der Angst. Angst und Sorge treiben den Bildhauer Czarnetta, wenn er beim Kneten von Gesichtern darauf stößt, dass ihre Haut sich vom Kern der Köpfe lösen lässt, dass sie eine Maske sein kann, die das Gesicht verbirgt, ein Helm, der es schützt, eine gläserne Hülle, die die Auseinandersetzung mit der Welt verfälscht und unterbindet. In seinen monomanischen Spiegelkabinetten versucht er, durch die Haut hindurch, durch ihre Öffnungen, durch die Löcher der Nase und der Ohren in Köpfe hineinzuschauen. Die Monade, die sich zu entfalten sucht, stößt auf Hindernisse. Der Blick durch ihre Fenster fällt auf sie selbst zurück. Angst und Sorge produzieren hier Unternehmungsgeist, Lust am Experiment und einen großen Mut, die Regeln der Disziplin zu brechen. Die Persönlichkeit, die sich als Prozess begreift (ich referiere das Zitat Czarnettas), schöpft ihre Kraft aus der Leugnung eines statischen Kerns des Ich – ein Abenteuer. Das Œuvre, das nicht einem prästabilierten schöpferischen Wesen entspringt, besitzt die Freiheit, jugendlich, energisch, elastisch, unpathetisch zu sein. Der Wind, der das Wasser kräuselt, in dem sich dieser Narziss spiegelt, wird ihn vom Ufer verjagen, ehe er sich ertränkt. Die Monade schaut in den Spiegel. separated from the core of the heads, that it can be a mask, which hides the face, a helmet, that protects it, a glass coat that falsifies and inhibits the debate with the world. In his monomaniacal mirror cabinets he tries to see into the inside of heads through the skin, through their openings, through the holes of the nose and ears. The monad that tries to unfold, runs into obstructions. The view through the windows settles on itself. Here fear and worry produce initiative, the joy of experimenting and much courage to break the rules of discipline. The personality which sees itself as process (I refer to Czarnetta’s quote), draws its strength from the denial of a static core of the ego – an adventure. The œuvre that doesn’t spring from a pre-stabilised creative being, possesses the freedom to be youthful, energetic, elastic, non-solemn. The wind that ripples the water in which this Narcissus is reflected, will chase him from the shore, before he drowns himself. Wolfgang Becker Wolfgang Becker 68 Single Interieur – Blick vom einen Auge in das Andere · Beton, Spiegel, Höhe ca. 25 cm, 2006 Single Interior – One eye’s view of another · Concrete, mirror, height ca. 25 cm, 2006 69 Biografie Biography 1966 Geboren in Düren 1992 Steinbildhauer-Gesellenprüfung 1993 – 2004 Studium der Kunstgeschichte / Philosophie an der RWTH Aachen 2004 Promotion zum Dr. phil. der Kunstgeschichte mit einer Arbeit über neugotische Steinskulpturen am Aachener Dom Seit 2007 Künstlerischer Mitarbeiter am kunstwissenschaftlichen Institut der Universität Koblenz 1966 born in Dueren 1992 sculptor-apprentice diploma 1993 – 2004 Studies of philosophy / history of arts at the university of Aachen 2004 Promotion with a doctor thesis on neogothic sculpture at the Aachen cathedral since 2007 Artistic associate at the institute of aesthetics and art history Ausstellungen (Auswahl) 1997 Teilnahme an einem internationalen Bildhauersymposium mit Abschlussausstellung im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen 2000 Einzelausstellung in der Burg Stolberg – Einzelausstellung im Kunstverein Pit Weber, Oelde 2001 Teilnahme an der »International Sculptors Exhibition«, National Museum of Contemporary Art, Seoul / Korea 2003 Einzelausstellung in der Galerie Downtoart, Gent, Belgien 2005 Ausstellung im Rahmen der »Dürener Kulturtage« auf Schloss Burgau, Düren – Einzelausstellung im Schloss Neersen, Temporäre Galerie der Stadt Neersen – Gruppenausstellung im Kunstbunker im Nordpark, Mönchengladbach 2006 Einzelausstellung in der Galerie Lutz Rohs, Düren – Einzelausstellung in der Galerie 23 m², Aachen 2007 Teilnahme an der »Höhler Biennale«, Gera – Teilnahme an der Skulpturenausstellung »Schwarz-Weiß« des Museums Schwarzenberg 2008 Einzelausstellung »Neue Galerie Kloster Bronnbach«, Bronnbach – Einzelausstellung »Galerie am Elisengarten«, Aachen 70 Exhibitions (selection) 1997 Participation at an international sculptor-symposium and exhibition in the Ludwig Forum for international Art, Aachen 2000 One-man-show in the castle of Stolberg – One-man-show in the art association »Pit Weber«, Oelde 2001 Participation at the »International Sculptors Exhibition«, National Museum of Contemporary Art, Seoul / Korea 2003 One-man-show in the Gallery Downtoart, Gent, Belgium 2005 Group show »Duerener Kulturtage«, Castle Burgau, Dueren – One-man-show in the Castle of Neersen, Temporary Gallery of the City of Neersen – Group Show in the »Art Bunker«, Moenchengladbach 2006 One-man-show in the Gallery Lutz Rohs, Dueren – One-man-show in the Gallery 23 m², Aachen 2007 Participation at the »Hoehler Biennial«, Gera – Participation at the sculpture exhibition »Schwarz-Weiß« in the Museum Schwarzenberg 2008 One man show »Neue Galerie Kloster Bronnbach«, Bronnbach – One man show »Galerie am Elisengarten«, Aachen 71 Impressum / Imprint Es erscheint eine Vorzugsausgabe. Den ersten zwölf Exemplaren liegt eine Arbeit von Oliver Czarnetta bei. A special edition will be available. A work by Oliver Czarnetta will accompany twelve copies of this book. Vielen Dank an Prof. Dr. Wolfgang Becker, Dr. Beate Reifenscheid und die Galerie am Elisengarten, Aachen Many thanks to Prof. Dr. Wolfgang Becker, Dr. Beate Reifenscheid and the Galerie am Elisengarten, Aachen In Zusammenarbeit mit Ludwig Museum Koblenz. In corporation with Ludwig Museum Koblenz. Gestaltung / Layout: Marco Lietz, Philipp Althoff Texte / Essays: Dr. B. Reifenscheid, Prof. Dr. W. Becker Übersetzungen / Translations: Alastair French (Dr. B. Reifenscheid), Costia Khoury (Prof. Dr. W. Becker) Druck / Printing: Steinmeier, Deiningen Fotografie / Photography: Anne Gold: Umschlag, S.10–13,16–23, 28–33, 40–48, 51–53, 56, 57 Philipp Althoff: S. 5–9, 14, 24–27, 34–39, 50, 54, 55, 58–69 Petra Deta Weidemann: S.70 © 2009 Oliver Czarnetta, Beate Reifenscheid, Wolfgang Becker & Salon Verlag ISBN 978-3-89770-346-9 Salon Verlag, Köln www.salon-verlag.de, [email protected] Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Bibliographic information by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.ddb.de.