Untitled - Oliver Czarnetta

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Untitled - Oliver Czarnetta
Oliver Czarnetta Sieben Jahre
Ludwig Museum Koblenz
Salon Verlag
Umschlag / Cover: Spektrum · Harz, lebensgroß, 2007 | Spectrum · Resin, lifesize, 2007
Grußwort
Greeting
Wie könnte es sein, wenn wir befähigt wären, dem
Menschen hinter seine Stirn zu schauen? Wenn es uns
gelänge, zu seinem Innersten vorzustoßen und seine
Gedanken zu entziffern und nicht bloß zu erraten?
Wäre es nicht so, als würde uns damit die Welt endlich
offen stehen und die Missverständnisse, die unseren
Alltag und unser »Miteinander« so häufig in Frage
stellen, könnten ein für alle mal aus dem Weg geräumt
werden? Träfen wir dann nicht endlich auf eine Welt
voller Frieden und Menschlichkeit?
Oliver Czarnetta umkreist diese Gedanken in seinem künstlerischen Werk, das sich mit großer Konsequenz dem ursprünglichsten Thema menschlicher
Gestaltung zuwendet: Dem Portrait, dem Bildnis im
weitesten Sinne. Diese eigentümliche »Ahnenreihe«,
die entstanden ist, drückt jedoch weit mehr aus als
ein schlichtes Portrait zu leisten vermag, wenn man
beobachtet, wie wandlungsreich er die Köpfe in kleinen
Serien formuliert, ihre andersartige Erscheinungsweise
modellierend vorantreibt und ihnen immer wieder
neue Grundzüge des Daseins abzuringen vermag.
Da erscheinen die lasierten und farbig gefassten Köpfe
auf roh behauenen Holzscheiten formal so unendlich
weit von den zu Kuben umformulierten »Quadratschädeln« zu sein, noch dazu als letztere die Sensibilität
der nuancierten Erfassung seelischer Momente so
völlig außer Acht zu lassen scheinen. Es mag auch
zunächst befremden, was dann diese massiven blockartigen Köpfe, die an Konsistenz und Undurchdringlichkeit nichts zu überbieten vermag und die zugleich
jegliches Licht von sich weisen, ihrerseits wohl gemein
haben sollten mit den durchlichteten gläsern schimmernden Köpfen, die zur Zeit im Vordergrund des
künstlerischen Wirkens stehen.
Hermetik und Transparenz sind nur zwei Pole,
die man in Oliver Czarnettas Werk immer wieder vorfindet. Es sind zwei sich berührende und zuweilen
auch sich versöhnende Gegensätze, die er aufzeigt
und denen er Raum schaffend nachgeht. Er bietet
keine Lösung, keine endgültige Aussage über das
Sein des Menschen, aber im ständigen Umkreisen
der unterschiedlichsten Formen, der differenzierten
Zugriffsweisen schafft er zugleich Möglichkeiten der
How would things be if we were able to see inside a
person’s head? If we were to succeed in accessing his
innermost core and deciphering his thoughts – and not
just guessing. Wouldn’t it be as if a whole world had
opened up and the misunderstandings which challenge
our everyday life and our »togetherness« could for once
and for all be cleared up? Might we then find a world
full of peace and humanity?
Oliver Czarnetta revolves around these thoughts
in his art, which directs itself to the most primal theme
of human art: the portrait, the image in the broadest
sense. The resulting strange »line of ancestor« expresses
much more than a mere portrait could, especially when
one observes the diversity the artist has created in the
diminutive series of heads, modelling and forming the
diverse ways they appear, into unique beings and extracting ever more new facets of their existence. The form
of these glazed and coloured heads on rough hewn logs
appears to be worlds apart from the block-like »square
heads«, especially since the latter seem to completely
disregard the sensibility of nuanced comprehension of
emotional moments. It may initially be hard to understand what these solid blocklike heads which appear to
have nothing to surpass in consistency and impenetrability but simultaneously deflect any kind of light might
have in common with the glassy, shining heads filled
with light which are currently the focus of Czarnetta’s
artistic work.
Hermeticism and transparency are only two poles
which one finds again and again in Oliver Czarnetta’s
work. They are two touching and yet sometimes reconciliatory opposites which he depicts and which he
expansively pursues. He offers no solution and no final
declaration about human existence, but, in perpetual
ambit of the vastly different forms and the differentiated
methods of approach, he simultaneously creates possibilities of convergence, contention and interpretation.
The artistic process becomes a dissection of the
possibilities of human existence and yet simultaneously
remains an attempt to gain access to the insides through
the outer shell. Although with time the portrait-like
traits and thus all individuality disappear, there remains
the awareness that with the breaking open of the skin
3
Annäherung, der Auseinandersetzung und der Interpretation.
Der künstlerische Prozess wird so zu einem sezierenden Rekurs auf die Möglichkeiten des Mensch-Seins
und bleibt zugleich ein Versuch, sich über die äußere
Hülle einen Zugang zum Innersten zu verschaffen.
Wenngleich mit der Zeit die portraithaften Züge und
damit alles Individuelle schwinden, bleibt doch auch
die Erkenntnis, dass mit dem Aufbrechen der äußeren
Haut und dem Eindringen in ein Inneres nicht zugleich
auch eine neue Dimension psychischer und geistiger
Spiritualität hinzugewonnen werden kann. Die ›gläsernen‹ Köpfe bei Oliver Czarnetta scheinen ihrerseits
viel mehr auf physiologische Zusammenhänge, auf
ihre biomorphen Strukturen, hinzuweisen, denn tatsächlich eine Offenbarung innerer Qualitäten preiszugeben. Sie zeigen zugleich – und auch dies als Qualität
menschlichen Daseins – ihre ganze Fragilität.
Es bleibt auch nach der Sicht auf die skulpturalen
Kopf-Variationen von Oliver Czarnetta die ewige Frage
nach dem, was den Menschen ausmacht: nach seinem
Gesicht, nach seinem Wesen, nach seinem Innersten.
Der menschliche Kopf steht dabei im Zentrum aller
Bemühungen diesem Geheimnis nahe zu kommen.
»Marcel Proust hat seinen berühmten Romanzyklus
A la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit) genannt. Das menschliche Gehirn
mit seinen Myriaden von Gedächtnis-Spuren ist in
jedem Moment unseres bewussten und unbewussten
Lebens a la recherche du temps régagné – auf der
Suche nach der wiedergewonnenen Zeit – den molekularen Engrammen unserer glücklichen und weniger
glücklichen Erinnerungen.«1 In Czarnettas Werkstücken
verbleibt etwas von dieser beunruhigenden Suche
nach diesen Facetten des menschlichen Daseins – im
Äußeren wie im Inneren.
An dieser Stelle sei Dank gesagt an alle, die dieses Ausstellungsvorhaben sowie diesen Katalog mit
großem Enthusiasmus vorangetrieben und realisiert
haben. Allen voran Oliver Czarnetta selbst und Prof.
Wolfgang Becker für sein Engagement und KatalogBeate Reifenscheid
beitrag.
1
and the penetration of the insides a new dimension of
psychic and mental spirituality can be gained. Oliver
Czarnetta’s glassy heads seem to refer to more psychological contexts and to their biomorphological structures
than actually offering a revelation of inner qualities.
They simultaneously show – and this too as a quality
of human existence – their complete fragility.
Even in view of Czarnetta’s head variations, the
constant search for what constitutes people – the face,
the being, the very marrow – still remains. The human
head is the centre of all attempts to solve this mystery.
»Marcel Proust called his famous novel In Search of Lost
Time. The human mind with its myriads of tracks of
memory is in every moment of our concious and unconcious life searching for regained time and the molecular
engramms of our happy and not so happy memories.«1
Something of this disquieting search for these facettes
of human exisitance remains in Czarnetta’s work –
externally and internally.
At this point I would like to thank everybody who
made everything possible by enthusiastically promoting
the exhibition project and catalogue. Most of all Oliver
Czarnetta and Professor Wolfgang Becker for his dedication and contribution to the catalogue.
Beate Reifenscheid
Wilfried Siefert, Das Vermächtnis der Gene – Die Gene des Gedächnisses, in: Am Fluss des Heraklit, Neue Kosmologische
Perspektiven. Hrsg.: Eberhard Sens, Frankfurt a. M. 1993, S.123.
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Brücke · Beton, Höhe 35 cm, 2008 | Bridge · Concrete, height 35 cm, 2008
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Oliver Czarnetta – Skulpturen 2001 – 2008
Oliver Czarnetta – Sculptures 2001 – 2008
DIE MONADE SCHAUT IN DEN SPIEGEL
THE MONAD GAZES INTO THE MIRROR
»Ich habe noch nie einen Apollo in den Gärten des
Papstes betrachtet, ohne ihn darum zu beneiden, dass
er sich so den Blicken darbieten kann, wie seine Mutter
Latona ihn geboren hat. Nur wenn man frei ist, fühlt
man sich wohl; seine Ansichten zu verbergen ist noch
beschwerlicher, als seine Haut zu bedecken.«
»I have never contemplated an Apollo in the Pope’s
gardens, without envying him that he can offer
himself to the gaze as his mother Latona bore him.
Only when free, does one feel at ease; it is harder
to hide one’s views than it is to cover one’s skin.«
(Marguerite Yourcenar, L’Œuvre au Noir / The Abyss)
(Marguerite Yourcenar, Die schwarze Flamme)
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Single Interieur – Blick in die Ohren · Beton, Spiegel, Höhe 27 cm, 2006
Single Interior – view of the ears · Concrete, mirrors, height 27 cm, 2006
Das Vorhaben
The undertaking
Die Bemerkung, Czarnetta sei ein junger Künstler,
scheint das Vorhaben einzuschränken, über sein Werk
zu schreiben. Aus ihr folgt die Schilderung seiner
Jugend, seiner Entscheidung, nicht den Weg des
Kunsthistorikers zu gehen, sondern sich der freien
Kunst zu widmen, aber sie fordert auch eine Antwort
auf die Frage: Ist dieses Werk jung?
Die Antwort auf diese Frage ist umso drängender,
als der Kunsthistoriker Czarnetta sich mit alter Kunst
beschäftigt hat, mit den Werken längst gestorbener,
nahezu vergessener Steinbildhauer; und sie provoziert eine zweite Frage: ist ein junger Kunsthistoriker
gut disponiert, um ein Künstler zu werden?
Das Werk von etwa dreihundert Skulpturen, das
in den sieben Jahren von 2001 bis 2008 entstanden ist,
besteht vorwiegend aus Menschenköpfen, von außen
gesehen. Am Ende hat diese Perspektive Czarnetta nicht
gereicht, und seit 2006 versucht er, in die Köpfe hineinzuschauen, als wären sie Häuser, die bewohnt sind.
Eine kleine Werkgruppe führt ihn seit kurzer Zeit von
Häusern zu Siedlungen und von Siedlungen zu Brücken.
Er erweitert den Blick oder, sagen wir, die Kommunikation. Stand er im Verdacht, sich monologisch ein
Personal zu erschaffen, das ihn selbst vervielfältigt, so
erscheinen die Brücken nun wie schwankende Bretter,
die waghalsige Sprünge in unbekannte Dimensionen
erlauben. Ist das ein »Zoom«, der eine Werkentwicklung kennzeichnet – oder gar die Ausbreitung einer
Persönlichkeit?
¬
The observation that Czarnetta is a young artist, seems
to limit the enterprise of writing about his work. From
it follows the depiction of his adolescence, his decision
not to follow the path of art-historian, but to devote himself to art, but it also demands an answer to the question:
Is this work young?
The answer to this question is all the more pressing,
since the art historian Czarnetta concerned himself with
old art, with the work of long-dead, nearly forgotten
sculptors; and it provokes a second question: is a young
art historian well placed to become an artist?
The work of about a threehundred sculptures,
created in the seven years from 2001 to 2008 , consists
mainly of human heads shown from the outside. In the
end this perspective was not enough for Czarnetta, and
since 2006 he tries to see inside the heads, as if they
were inhabited houses. Recently, a small body of work
has been leading him from houses to settlements and
from settlements to bridges.
He broadens the gaze, the communication. Were
he was suspected of a monologue, creating personnel
to duplicate himself, the bridges now seem like swaying planks, which allow audacious leaps into unknown
dimensions. Is that a ›zoom‹, which indicates a development of the work – or even a broadening of a personality?
None of the sculptures, which Czarnetta dealt with
as art historian, were as small as those he modeled in
his seven years as an artist.
¬
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Keine der Skulpturen, mit denen sich Czarnetta
als Kunsthistoriker beschäftigt hat, war so klein wie die,
die er in den sieben Jahren als Künstler modellierte.
Seine Köpfe sind nur teilweise lebensgroß, und
manche von ihnen fordern größte Nahsicht – eine
Hand kann sie umschließen. Solche Miniaturen auf
zarten Stengeln fordern museale Präsentationen,
Sorgfalt und Behutsamkeit, sie setzten dem Pathos
monumentaler Gebärden Bescheidenheit und Diskretion entgegen.
Wozu dienen ihm diese Werke? Für wen schafft
er sie? Sind sie Fingerübungen eines Menschen, der
auf etwas wartet?
→ S. 11
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His heads are only life-size in parts, and some require a closer view – a hand can enclose them. Such
miniatures on tender stalks demand museum-style presentation, care and caution, they oppose the pathos of
monumental gestures with humility and discretion.
What do these works serve him for? Who does
he create them for? Are they the finger exercises of a
human being waiting for something?
→ S. 11
Scheinportraits · Zinn bemalt, Höhe 7 cm, 2001 | Quasi-portraits · Tin painted, height 7 cm, 2001
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Scheinportrait · Zinn bemalt, Höhe 7 cm, 2001 | Quasi-portrait · Tin painted, height 7 cm, 2001
Das Leben
The life
Er trägt einen in Deutschland seltenen Namen, aber
er wurde in Düren geboren, und sein Leben ist fest
im Rheinland verwurzelt. Der 42-Jährige arbeitet in
Aachen, teilt sich ein großes Atelier mit vier Künstlerfreunden und erfüllt seit einigen Monaten einen Lehrauftrag für Plastik am Kunstwissenschaftlichen Institut
der Koblenzer Universität – als Künstler. Ich hebe das
hervor, weil bisher das ungewöhnlichste Ereignis in
diesem Leben vor einer Universität stattfand: die Entscheidung des approbierten Steinmetzgesellen, ein
Studium der Kunstgeschichte zu beginnen.
Czarnetta legte nach einem Studium von elf Jahren 2003 dem Kunsthistorischen Lehrstuhl der RWTH
Aachen eine Dissertation zum Thema Neugotik in
Aachen vor, in der er sich mit dem Bildhauer Gottfried
Götting beschäftigt, der 1864 bis 1874 »unter strenger
Aufsicht des Aachener Stiftskapitels … und des Aachener Dombauvereins« etwa 100 Steinskulpturen von
40 bis 260 cm Höhe für die gotischen Fassaden des
Aachener Doms herstellte. Er vergleicht diese Werke
mit den neugotischen Skulpturen des Kölner Doms.
»Die Aachener Skulpturen sind feingliedriger und feiner gearbeitet, sie sind nicht so stark durch den Kulturkampf geprägt, sondern stellen eine breite Palette
an menschlichen und christlichen Werten dar.« Er betont ihre »dem Menschen zugewandte Art, die dem
Betrachter die Identifikation erleichtert.«
Nach dieser Arbeit wuchs in Czarnetta das Bewusstsein, dass er nicht disponiert war, die bildende
Kunst der Vergangenheit und Gegenwart als Historiker
und Kritiker kommentierend zu begleiten. Aber der
Steinmetzgeselle kann auch in Gottfried Götting nicht
ein Vorbild gefunden haben, der in großer Abhängigkeit von Programmen, Auftraggebern und dem geforderten gotischen Stil gearbeitet hat. Immerhin: er
würde sich der Bildhauerei mit großer Ausschließlichkeit widmen, er würde nicht an einer Akademie wie
der nahe gelegenen Düsseldorfer nach einem Lehrer
suchen, er würde eine Nische bauen, in der er sich in
großer Unabhängigkeit und Freiheit entwickeln könnte.
1995 ist er so weit, dass er sich an Ausstellungen in
Galerien, Kunstvereinen und Museen beteiligt. Und er
beginnt, kleine Lehraufträge anzunehmen. Er spricht
gern über das, was er tut.
→ S. 15
He has a surname that is rare in Germany, but was born
in Düren, and his life is deeply rooted in the Rhineland.
The 42-year old works in Aachen, shares his large workshop with four artist friends and holds a lectureship
for sculpture at the Art Institute of the University of
Koblenz – as an artist. I stress this, since the so far most
unusual event in this life took place in front of a university: the qualified stonemason’s decision to start studying art history.
After eleven years of studies, Czarnetta presented
the chair of art history at the RWTH Aachen with a dissertation on the subject of Neo-Gothic in Aachen, in which
he deals with the sculptor Gottfried Götting, who from
1864 to 1874 »… under strict supervision of the Aachen
Stiftskapitel (diocese chapter) … and the Aachen Dombauverein (cathedral building association)« produced
about 100 stone sculptures for the gothic façade of
Aachen Cathedral ranging in height from 40 to 260 cm.
He compared these to the neo-gothic sculptures of
Cologne Cathedral.
»The Aachen sculptures are of more graceful build,
and more finely wrought. They are not shaped as much
by the cultural struggle, but represent a broad palette
of human and Christian values. ›He emphasised their‹
viewer-oriented bearing, which makes the identification
easier for the beholder.«
After this, Czarnetta became aware that he wasn’t
disposed to an accompanying commentary on the art
of the past and present as a historian and critic. But
equally the stonemason can not have found a model in
Gottfried Götting, who worked largely dependent on
programmes, clients and the required gothic style. After
all: he would dedicate himself exclusively to sculpture,
wouldn’t search for a teacher in an academy like the
one in nearby Düsseldorf, he would construct a niche,
in which he could develop withample independence
and freedom. In 1995 he is ready to participate in exhibitions in galleries, art societies and museums. He begins
to accept smaller lectureships. He enjoys talking about
what he does.
→ S. 15
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Scheinportraits · Zinn bemalt, Höhe 7 cm, 2001 | Quasi-portraits · Tin painted, height 7 cm, 2001
Brücke, Beton, Höhe 35 cm, 2008 | Bridge, concrete, height 35 cm, 2008
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Scheinportraits · Zinn bemalt, Höhe 7 cm, 2001 | Quasi-portraits · Tin painted, height 7 cm, 2001
Die Bildnisgalerie
The image gallery
Je mehr Menschen zusammen leben, umso schwerer
ist es, allein zu sein. Allein sein ist Teil einer Vorstellung
von Freiheit. Czarnetta und ich sprachen über den
Schriftsteller, der allein an seinem Schreibtisch das
Personal eines Romans zusammenstellt – aus Elementen von Personen, die ihm vertraut sind, und aus durchaus unvertrauten, fremden. So er, der Köpfe formt.
Er nannte die ersten 2001 Scheinporträts.
Er setzte nicht dort an, wo er als Steinmetz aufgehört hatte: er schlug die Köpfe nicht aus Steinen.
Sie sollten so klein sein, dass man sie nur in einer
weichen Materie modellieren konnte – etwa 7 cm hohe
Wachsskulpturen, die sich mit den Fingern, mit Zahnstochern und Streichhölzern formen, unaufwendig in
Zinn gießen und dann bemalen ließen. Man spießt sie
auf Eisenstäbe und stellt sie auf kleine Sockel. Mit den
Sockeln steigert er ihren Ausdruck: sie können hohe,
massive Holzblöcke sein, über denen sich die Köpfe
wie abgeschlagene Trophäen auf jeweils zwei Stäben
recken.
Diese Bozzetti sind keine Handschmeichler,
Czarnetta hat die Güsse nicht mit Messern und Feilen
geglättet, sie erhalten sich die malerische Unschärfe
der Skizze. Die Personen bleiben im Ungefähren;
wenngleich ihre Augen geöffnet sind; wenngleich sie
sehen, schauen sie nicht. Sie sind Männer und Frauen
verschiedener Alter, sie lachen oder weinen nicht;
der Ausdruck ist zurückgenommen, sie sind bei sich.
Zugleich sind die Bozzetti kleine Klumpen aus
einem weichen Metall, die beiläufig die Form von
Köpfen und die Züge von Gesichtern erhalten haben.
Sie sind ganz von innen her entstanden. Sie verbergen nichts.
Diese Arbeiten konnten Betrachter verleiten, den
Künstler zu bitten, sie zu porträtieren. Czarnetta ist sehr
selten auf solche Wünsche eingegangen. Es erschien
sinnlos, den Scheinporträts Bildnisse existierender
Personen hinzuzufügen.
→ S. 19
The more people live together, the harder it is to be
alone. To be alone is part of a picture of freedom.
Czarnetta and I talked about the author, who composes
the cast of a novel alone at a desk – from elements of
people that he is familiar with and from unfamiliar
ones, strangers. So it is with him who shapes heads.
He called the first ones in 2001 »quasi-portraits«.
He didn’t start where he ended as a stonemason:
he didn’t hammer the heads from stone. They were to
be so small, that they could only be modeled in a soft
substance – wax sculptures about 7 cm high which let
themselves be shaped with fingers, toothpicks and
matches, cast in tin without much ado and then painted.
They are speared on metal rods, set onto small plinths.
With the plinths he augments their expression, they can
be high, solid blocks of wood above which the heads
stretch like chopped off trophies each on two poles.
These bozzetti are no f latterers of the hands,
Czarnetta has not smoothed the casts with knives and
files, they retain the painterly impreciseness of the
sketch. The persons remain in the approximate; even
though their eyes are open; even though they see, they
are not looking. They are men and women of varying
age, they do not laugh or cry; the expression is reserved,
they are within themselves.
At the same time the bozzetti are small lumps of
a soft metal, that incidentally developed the shapes of
heads and the features of faces. They came into being
from within, hiding nothing.
These works could tempt viewers to ask the artist
to portray them. Czarnetta has rarely indulged such
wishes. It seemed senseless to add images of existing
people to the quasi-portraits.
→ S. 19
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Hybrid II · Harz, Eisen, Gips, 2001, lebensgroß | Hybrid II · Resin, iron, plaster, lifesize, 2001
Hybrid I · Harz, Eisen, Gips, 2001, lebensgroß | Hybrid I · Resin, iron, plaster, lifesize, 2001
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Holon
»Die menschliche Persönlichkeit scheint mir wie eine
Zwiebel in Schichten aufgebaut, vom ewig teilbaren
zum ewig ausgedehnten, in beiden Richtungen ohne
definiertes Ende. Das »Ich« als vermeintlich statischer
Kern entpuppt sich als Illusion, als weiterer Mikrokosmos in einem weiteren Makrokosmos. Unsere Persönlichkeit wäre demnach als Prozess zu verstehen, der in
der Korrespondenz von Außen und Innen stattfindet,
in der Spannung zwischen den Schichten.«
Holon
»The human personality seems to me layered like an
onion, from the infinitely divisible to the infinitely expanded with no defined end in both directions. The ›I‹
as putatively static core emerges as illusion, as a further
microcosm in a further macrocosm. Our personality is
therefore to be understood as a process which takes place
in the correspondence of outer and inner, in the tension
between the layers.«
(Czarnetta)
(Czarnetta)
2001 beginnt Czarnetta, einige lebensgroße Köpfe
aus Gips, Harz und Eisen zu formen: die stämmigen
runden Hälse tragen glatte, kugelige Köpfe, durch
deren glasige Harzhülle die Gesichtszüge schimmern.
Verformte Eisenreste sind aggressiv in die Gipse eingelassen, sie suggerieren Verletzungen / Verstümmelungen. Hybrid II trägt ein Gesicht wie eine der gemalten
Personen von Francis Bacon, der Mund ist ein dunkles Loch; Hybrid I ist mund- und augenlos, eine aufgesetzte Spange verschließt die massive Kalotte.
Die Skulpturen leuchten in der Transparenz des Harzes,
der die Gipskerne wie exotische Präparate umgibt.
Man entdeckt auf ihnen beiläufig gestanzte Zahlen
und Buchstaben. Sie stehen fest auf runden Eisenplatten, ja, sie scheinen sich unter diesen ›Halskrausen‹ fortzusetzen.
Hybrid nennt Czarnetta diese Skulpturen, weil er
Materien unterschiedlicher Konsistenz und Erscheinung – Harz, Gips, Eisen – zusammen zu fügen begonnen hat. Das wird ihn weiterhin interessieren, und insbesondere das Harz, jenes merkwürdig warme ›Glas‹,
dessen Fluss gelenkt werden, das Gegenstände auffangen, gefangen nehmen kann, fasziniert ihn zunehmend.
2002 entsteht ein lebensgroßer, schwarzer, braun
gefleckter Kopf auf kurzem Halsansatz, an dem der
dramatische Ausdruck der Verletzung ganz zurückgenommen ist. Das Gesicht drückt sich gleichsam wie
durch einen Strumpf an die Oberfläche. Der ›Strumpf‹
ist aber eine Hülle aus aufgeschnittenen Fahrradschläuchen, die über den Gipskern gespannt ist. Die Person
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Holon · Gips, Gummi, Harz, lebensgroß, 2002 | Holon · Resin, rubber, iron, lifesize, 2002
In 2001 Czarnetta begins to shape some heads in plaster,
resin and steel: the sturdy round necks carry smooth,
round heads, through whose glassy resin casing the features shimmer. Deformed steel pieces are aggressively
set into plaster, they suggest wounds /mutilations.
Hybrid II bears a face like that of one of Francis Bacon’s
painted figures, the mouth is a dark hole. Hybrid I is
without mouth and eyes, a clamp closes the solid crown.
The sculptures glow in the transparency of the resin,
which surrounds the plaster cores like exotic compounds. Incidentally embossed numbers and letters can
be discovered on them. They stand firm on round steel
plates, yes, they seem to perpetuate under those ruffs.
Czarnetta calls these sculptures hybrids, because he
has begun joining together materials with different consistencies and appearance – resin, glass, steel. This will
keep on interesting him, particularly resin, that strange
warm ›glass‹, whose flow can be directed, which can
receive, imprison objects, fascinates him increasingly.
In 2002 a life-size black head, mottled brown on a
short neck, evolves, with the dramatic expression of hurt
fully taken back. The face presses itself to the surface
more or less like through a stocking. The »stocking« is
a casing of gutted bicycle inner tubes which are stretched
over the plaster core. The figure drowns in the sculpture.
The viewer wants to look for it with their fingers.
Czarnetta calls this sculpture Holon. He must have
leafed through the books of Arthur Koestler and Ken
Wilber, where he encountered the layer models of holar
systems which gave words to his perceptions of sculpture
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versinkt in der Skulptur. Der Betrachter möchte sie mit
den Fingern suchen.
Czarnetta nennt diese Skulptur Holon. Er muss in
den Büchern von Arthur Koestler und Ken Wilber
geblättert haben, dort ist er auf die Schichtenmodelle
holarer Systeme gestoßen, die seinen bildnerischen
Vorstellungen einer in Schichten aufgebauten Skulptur
Worte gaben. Seine Äußerung über die menschliche
Persönlichkeit als Zwiebel verkürzt die Theorie dort,
wo sie die beherrschende Neigung des Holon zur Autonomie übergeht.
Das Holon ist das Kind der Monade von Leibniz; er
definierte sie als fensterloses ›Atom der Natur‹, das eine
›eingehüllte Vielheit‹ besitze, die ihm die Möglichkeit
gebe, sich selbst zu entfalten. Ähnlich autark kann sich
im holaren Schichtmodell jede Schicht nur selbst reflektieren, aber jene transzendieren, die unter ihr liegen.
Es gibt eine atavistische Sehnsucht zum Wort, und
jeder, der ein Bild herstellt, sucht eigentlich ein Wort,
und es beglückt ihn, ein Wort zu finden, das seinem
Bild angemessen erscheint.
Czarnetta nennt die dem Holon folgenden Skulpturen Schichtporträts. Sie bestehen aus Gesichtern, die
wie Masken Kopfformen aufgesetzt sind; Masken aus
Harz, die nicht erlauben zu entscheiden,ob sie mit den
inneren Organen der Köpfe verbunden sind, wenngleich sie als Bildnisse zu ›leben‹ scheinen. Oder: ihr
›Naturalismus‹ ist stärker als der der Köpfe, die sie
bedecken; jene erscheinen skalpiert. Nur dort, wo die
Schicht des Gesichtes sie bedeckt, transzendieren sie.
Marguerite Yourcenars Zitat weist auf eine Verbindung von Freiheit und Wahrheit hin. Die Maske ist
dagegen ein Requisit der Lüge, und Czarnetta führt
uns jetzt in ein dialektisches Feld der forschenden
Betrachtung und Spiegelung, in der er die Lüge, die
Illusion als Instrument der Vergewisserung benutzt.
built up in layers. His statement about the human personality as an onion curtails the theory where it transcends the dominant tendency of the Holon towards
autonomy.
The ›Holon‹ is the offspring of Leibniz’ monad, he
defines it as windowless »atom of nature«, which possesses a »shrouded multiplicity«, giving it the possibility
to unfurl itself. Similarly autarkic, each stratum in the
holar layer model can only reflect itself, but transcend
the underlying one.
There exists an atavistic longing for the word, and
whoever produces an image, is essentially searching for
a word, and is pleased to find one which seems appropriate for that image.
Czarnetta calls the sculptures following the Holon
›layer portraits‹. They are composed of faces which are
are superimposed like masks onto head shapes; masks
of resin, which do not permit the decision of whether or
not they are connected to the heads’ inner organs, even
though they appear to »live« as likenesses. Or: their
»naturalism« is stronger than that of the heads they
cover and which appear scalped. They transcend only
where the facial layer covers them.
Marguerite Yourcenar’s quote indicates a connection of freedom and truth. The mask on the other hand
is a requisite of the lie, and Czarnetta now guides us
into a dialectic field of exploratory observation and
mirroring, in which he employs the lie, the illusion as
an instrument of self-assurance.
→ S. 25
→ S. 25
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Schichtportrait · Gips, Wachs, Harz, lebensgroß, 2002 | Layerportrait · Plaster, wax, resin, lifesize, 2002
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Schichtportraits · Gips, Wachs, Harz, lebensgroß, 2002 | Layerportraits · Plaster, wax, resin, lifesize, 2002
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Altertum
Antiquity
Vor dieser Serie kleiner Zinnköpfe, die 2004 entsteht,
wird jeder Kunsthistoriker sich gern historischer Bauplastik erinnern, deren Pflege vernachlässigt, die dem
Verfall anheim gegeben worden ist. Czarnetta nennt
die modellierten Rundplastiken Fragmente : sie zeigen
Scharten und Nähte, die andeuten, dass sie aus getrennten Teilen bestehen. Diese ›Verletzungen‹ brutalisieren die Gesichter. Der Betrachter erleidet ihren
Anblick so, wie er Vergänglichkeit erleidet, wenn er
Sandsteinskulpturen vergangener Jahrhunderte
betrachtet, die Wind und Regen angefressen haben.
Aber der Eindruck von Verwitterung durch Alter
kann mit der Wahl des Materials als Illusion hervorgerufen werden, wie die 2005 entstandenen Köpfchen
aus Beton zeigen. Das moderne Medium, das eine detaillierte Behandlung nicht zulässt, wirkt hier wie Jahrhunderte alter Tuffstein, den ein vulkanisches Feuer
ausgeglüht hat.
Und es sind nicht einmal Spuren von Verwitterung, Erosion und Zerfall nötig, um Alter zu evozieren.
Es genügen Hinweise auf kulturelle Erinnerungen, die
noch heute vielen Europäern seit Johann Joachim
Winckelmanns ›edler Einfalt, stiller Größe‹ gegenwärtig
sind: die strahlende Helligkeit antiker Marmorgestalten,
der gesammelte Ausdruck ihrer Gesichter, ihre Neigung
zur Schönheit, ihr Mangel an ›Charakter‹. Czarnetta
erreicht diese Illusion mit Hilfe der Gießmasse Keramin,
die stark aushärtet und den Eindruck eines glatten
hellen Steines erweckt. Die Glätte des Gusses suggeriert zugleich die Maske, so wie das Wort für Abgüsse
von toten Gesichtern verwendet wird: Totenmasken.
Confronting this series of small tin heads, which comes
into existence in 2004, every art historian will be pleasantly reminded of historical architectural sculpture,
whose care has been neglected, that has fallen prey to
ruin. Czarnetta calls these modeled circular sculptures
fragments: they display notches and seams, that indicate
their composition of separate parts. These injuries brutalise the faces. The viewer suffers their sight, as they suffer
the transience apparent in the sandstone sculptures of
past centuries that have been eroded by wind and rain.
But the impression of weathering through age can
be evoked as an illusion through the choice of material,
as evidenced in the small concrete heads of 2005. That
modern medium which does not allow for detailed treatment, here comes across like centuries old tuff which
has been annealed by volcanic fire.
Traces of weathering, erosion and decay are not
even necessary to evoke age. References to cultural
memories, which are still familiar to many Europeans
since Johann Joachim Winkelmann’s »noble innocence,
silent grandeur«, are sufficient: the gleaming brightness
of antique marble figures, the collected expression of
their faces, their tendency towards beauty, their lack of
»character«. Czarnetta accomplishes this illusion with
the help of the casting compound keramin, which bonds
hard and is suggestive of smooth bright stone. The
smoothness of the cast simultaneously suggests the mask,
as the word is used for casts of dead faces: death masks.
→ S. 35
→ S. 35
24
Fragment · Zinn, Höhe 12 cm, 2004 | Fragment · Tin, height 12 cm, 2004
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26
Fragmente · Zinn, Höhe 7 bis 12 cm, 2004 | Fragments · Tin, height 7 to 12 cm, 2004
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Scheinportraits · Zinn, Höhe 5 cm, 2005 | Quasi-portraits · Tin, height 5 cm, 2005
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Scheinportraits · Beton, Höhe 5 cm, 2005 | Quasi-portraits · Concrete, height 5 cm, 2005
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Scheinportraits · Keramin, Höhe 5 cm, 2007 | Quasi-portraits · Ceramin, height 5 cm, 2007
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Kleiner Boxer · Tesa-Packband, Höhe 7 cm, 2005 | Little Boxer · Adhesive tape, height 7 cm, 2005
Bricolage
Bricolage
Ein Bildhauer, der in Wachs modelliert, eine Form aus
Gips herstellt und eine Bronzeskulptur gießt, bewegt
sich auf einem historisch gesicherten Terrain. Czarnetta
wird immer wieder auf diesen Boden zurückkehren.
Aber seine Leidenschaft gehört neuartigen Materialien
wie Epoxidharz, Gummi, Styropor, Tesa-Packband, Fliesenkleber, Keramin …, Stoffe, die auch Hobbykünstlern angeboten werden. Er liebt es zu basteln (und er
erzählt mit Vergnügen, wie seine Mutter ihn als Kind
gelehrt hat, aus geschnittenen Streifen von Fahrradschläuchen Bälle zu wickeln, die besonders hoch springen). Er wird nicht versäumen, das Fundstück des
Backenzahns eines Schweins in eine Skulpturengruppe
zu integrieren.
Ich benutze das Wort ›bricolage‹ mit seinem theoretischen Hintergrund, den Claude Lévi-Strauss in seinem Text Das wilde Denken konstruiert hat. Sein
›Bastler‹ ist jener Forscher, der ziellos gesammelte
Materialien verwertet, um in enger Vertrautheit mit
dem Zufall ein ›Modell‹ aufzubauen, das nicht das
Resultat wissenschaftlichen, sondern ›mythischen‹
Denkens ist.
Es ist eigentlich selbstverständlich, dass wir von
einem Künstler einen Hang zu ›mythischem‹ Denken
erwarten, zu jenen Unschärfen, die dem Bild möglich
machen, sich über die Schärfen des Wortes hinwegzusetzen, zu jenem Gestaltungsprozess, der das wissenschaftliche Denken wie ein Zwilling begleitet.
Czarnetta, der Kunsthistoriker und Künstler, erhält sich
die Zwillinge in so großer Nähe, dass der Betrachter
seiner Werke sie zu verwechseln droht.
Die Serie der Boxer liefert Beispiele für solche Irritationen. Die Köpfe mit ihren summarischen, ›groben‹
Gesichtszügen erinnern in der Tat an die von Faustkämpfern und anderen Athleten, wie wir sie von Fotos,
aber auch von römischen Skulpturen kennen, und fast
leugnet der Betrachter, ihre Wirkung auf die Eigenart
des Materials zurückzuführen, aus dem sie hergestellt
sind. Was bedecken die Tesa-Packband-Klebestreifen?
Andere Klebestreifen? Wie schwer oder wie leicht ist
so eine Skulptur? Wäre sie eine ›Puppe‹ aus beklebtem
Papiermaché wie die des rheinischen Karnevals oder
die Figuren Siegfried Neuenhausens aus den siebziger
A sculptor who models in wax, produces a mould in
plaster and casts a bronze, moves in historically secured
terrain. Czarnetta will keep returning to this ground.
But his passion belongs to newer materials like epoxy
resin, rubber, styrofoam, adhesive tape, tile adhesive,
keramin …, all materials also on offer to hobby artists.
He loves to tinker, and he joyfully relates how his
mother taught him as a child how to wind balls from
cut-up bicycle inner tubes, that would jump particularly
high). He will not fail to incorporate the found molar
of a pig into a sculptural group.
I use the word »bricolage« with its theoretical background, which Claude Lévi-Strauss constructed in his
text The Savage Mind. His tinkerer is the explorer who,
in close familiarity with coincidence, uses aimlessly collected materials in order to construct a »model«, which is
a result not of scientific, but of »mythical« thought.
It is essentially self-evident to expect a tendency
towards »mythical« thought from an artist, towards those
uncertainties that enable an image to transcend the precision of the word, towards that design process, which
accompanies scientific thought like a twin. Czarnetta
the art historian and artist keeps the twins in such close
proximity that the viewer is in danger of confusing them.
The series of Boxers provides examples of such irritations. The heads with their sweeping, »rough« features indeed recall those of pugilists and other athletes as
we know them from photos or even from Roman sculptures, and the viewer nearly denies and refues to ascribe
their effect to the characteristics of the materials used
in their composition. What do the adhesive tape strips
cover? Other strips of tape? How heavy or light is such
a sculpture? Were it a ›doll‹ made of laminated paper
maché such as those of the Rhineland carnival or
Siegfried Herrenhausen’s figures from the 70’s, there
would be unity between the medium and the ›image‹ it
communicates. But those solemn faces overshadowed
by sorrow demand something like timeless validity, and
thus the adhesive tape threatens to metamorphose into
bronze.
→ S. 41
35
Jahren, bestünde Einklang zwischen dem Medium
und dem Bild, das es vermittelt. Aber jene von Leiden
überschatteten, pathetischen Gesichter beanspruchen
so etwas wie zeitlose Gültigkeit, und so droht sich das
Tesa-Packband in den Augen des Betrachters in Bronze
zu verwandeln.
→ S. 41
36
Kleiner Boxer · Tesa-Packband, Höhe 7 cm, 2005 | Little Boxer · Adhesive tape, height 7 cm, 2005
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Große Boxer · Tesa-Packband, lebensgroß, 2005 | Big Boxers · Adhesive tape, lifesize, 2005
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Vitrifikation
Vitrification
Ein Kopf, dessen Oberfläche aus Packbandstreifen besteht, ist ein eingepackter, ein verborgener Kopf.
Gefesselten Geiseln wird der Mund mit Klebeband
verschlossen, damit sie nicht schreien. Ein verborgener
Kopf ist ein versteckter Kopf; es gibt Gründe, ihn zu
verstecken. Sollte er sichtbar bleiben, weil man ihn
überwachen will, so ließe sich eine durchsichtige Verpackung herstellen. Im Atommüll-Lager im französischen La Hague werden strahlende Abfälle vitrifiziert,
in Glaskuben eingelassen, so dass mögliche Veränderungen beobachtet werden können. Bernsteine erlauben den Blick auf Jahrmillionen alte Insekten.
Czarnetta gießt in der Serie Spektrum seit 2006
lebensgroße Kopfformen in transparentem Harz.
Es entstehen überaus glatte Skulpturen, deren
Formen die Hand widerstandslos folgt. Eine von ihnen
liegt: die Stange, die sie trägt, dringt in das rechte Ohr
des Kopfes. Czarnetta muss zugeben, an die Muza
adormita von Constantin Brancusi gedacht zu haben,
als er sie entwarf. Aber jene ist aus Marmor und makellos, während dieses Spektrum hinter der makellosen,
durchsichtigen Haut Unreinheiten und Durchbrüche im
Harz aufweist. In der ›Verglasung‹ wird ein verletzter
Kopf konserviert; er nimmt dadurch Werte auf, die auch
Brancusi suchte: Seltenheit, Schönheit. Dagegen hat
die spannungsvolle Dialektik zwischen Schale und
Frucht, Hülle und Kern, Maske und Gesicht den Rumänen um 1910 nicht interessiert: hundert Jahre später ist
sie ein Symptom des Zeitgenossen, der sich gegen ein
Übermaß der medialen Außenlenkung zur Wehr setzt.
In anderen Köpfen erscheinen in der gläsernen
Schicht schwarze Graphismen, Graffiti, verzerrte Buchstaben und Zahlenfolgen, die wie bewegte Projektionen
in diesem ›fließenden‹ Raum schwimmen – nahezu unlesbare, geheime Botschaften, die jene konservierten
Gehirne und die ihrer Betrachter tauschen. Sie können
sich aber auch von solchen absichtsvollen skripturalen
Elementen befreien, sich vegetal verästeln, mineralisch
aussintern oder elektromagnetische Energiebündel
ausformen, die sich über die Augenhöhlen legen.
Spektrum ist ein Gespenst, eine Erscheinung, und
zugleich die Summe der Farben, die wir im Regenbogen
sehen – immateriell, aber sichtbar.
¬
A head whose surface consists of adhesive tape strips,
is a wrapped, hidden head. Tied up hostages’ mouths are
secured with adhesive tape, so that they don’t scream.
A concealed head is a hidden head, there are reasons to
hide it. Should it remain visible in order to be surveilled,
a transparent wrapping could be produced. In the
nuclear waste storage facility in the French La Hague
radiation waste is vitrified, set into glass cubes, so that
possible variances can be monitored. Amber allows
glimpses of millions of year old insects.
In the series Spectrum from 2006 Czarnetta casts
life-size head shapes in transparent, solid resin.
Exceedingly smooth sculptures emerge, whose
shapes the hand follows unopposed. One of them reclines: the bar it carries penetrates the head’s right ear.
Czarnetta has to admit that he was thinking of Constantin
Brancusi’s Muza adormita when he designed it. But she
is made of marble and without fault, while this Spectrum
shows blemishes and openings under the faultless,
smooth skin. An injured head is conserved through »vitrification«; it acquires values that Brancusi also sought:
rarity, beauty. The engrossing dialectic between paring
and fruit, casing and core, mask and face didn’t interest
the Romanian around 1910 though: a hundred years
later it is a symptom of the contemporary, who is resisting an excess of medial outside direction.
In other heads, black graphisms appear before the
white plaster base, graffiti, distorted letters and series
of numbers, that swim like moving projections in this
»flowing« space – well-nigh unreadable, secret messages
which interchange those conserved brains with the
viewers. But they can also free themselves from such
intended scriptural elements, ramify vegetally, sinter
minerally or form electromagnetic energy bundles, that
cover the eye sockets.
»Spectrum« is a ghost, an apparition, and at the
same time the sum of the colours we see in the rainbow
– immaterial but visible. Spectrum could describe the
sum of the elements, that a sculpture indicates or evokes,
and Brancusi’s spherical, inifinitely complete marble
images of the muse or the newborn would be splendid
examples of the accomplishment of shaping matter in
such a way, that invisible becomes visible in its aura,
ˆ
Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006
ˆ
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41
Spektrum könnte die Summe der Elemente bezeichnen, die eine Skulptur andeutet oder evoziert,
und jene sphärischen, unendlich vollkommenen Marmorbildnisse der Muse oder des Neugeborenen von
Brancusi wären großartige Beispiele für den Erfolg,
die Materie so zu formen, dass in ihrer Aura Unsichtbares sichtbar wird, dass sie sich in eine Haut verwandelt, durch die sich Unsichtbares in die sichtbare Welt
drückt. Aber das ›Gespenst‹ des Czarnetta ist eine
Konserve, ein Präparat, das eine trügerisch glatte Hülle
zugleich verbirgt und sichtbar macht. Das Konzept der
Arbeit überwuchert ihre Ästhetik: diese Skulpturen
scheinen nur die Werte von Seltenheit und Schönheit
zu transportieren und verleugnen dabei nicht eine
selbstquälerische Lust an der Illusion.
→ S. 49
42
that it transforms itself into a skin, through which the
hidden presses itself into the visible world.
But Czarnetta’s »ghost« is a preserve, a preparation,
which simultaneously hides and unveils a deceptively
smooth shell. The concept of work overgrows its aesthetic; these sculptures only seem to transport the values of
rarity and beauty while not denying a self-tormenting
desire for the illusion.
→ S. 49
Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006
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Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006
Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006
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Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006
Spektrum · Harz, lebensgroß, 2006 | Spectrum · Resin, lifesize, 2006
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Wachzahn · Fliesenkleber, Höhe 70 cm, 2008 | Watchtowertooth · Tile adhesive, height 70 cm, 2008
Ausbrüche
Eruptions
Wenn das Konzept einer Arbeit die Auseinandersetzung
mit ihrer Gestaltung zu beherrschen beginnt, können
dramatische Wechsel der Materialien, der Medien, der
Ausdrucksgesten stattfinden. Czarnetta verlässt 2007
die Serie der Spektren und überträgt die Vorstellung
eines Kopfes, die Dialektik zwischen Innen und Außen,
in die eines Hauses. Das kleine Betonmodell erscheint
wie eine Festung mit Fenstern, die Ausgucke sind, ein
Kubus, der sich ebenso in die Breite wie in die Höhe
vervielfältigen lässt. Und Czarnetta vervielfältigt ihn,
setzt Häusergruppen zusammen, die mit den Wurzeln
von Schweinezähnen in durchsichtigen Harzwürfeln
wie in Unterkiefern verwachsen sind. In lockerer Formation entsteht das Modell einer Stadt. Der Monolog
des Menschen unter seiner Maske, des Verborgenen,
des Konservierten ist aufgehoben und durch das Gemurmel einer großen Gruppe ersetzt.
Der Gedanke der Öffnung, der ausgestreckten
Hand, des Dialogs führt Czarnetta zu neuen Experimenten: er bricht die geschlossene Hausform auf, öffnet
das Dach, setzt es fragil als Kuppel über den dunklen
Block, und er formt – wiederum aus Beton – Brücken,
Skizzen zu Brücken, unfertige Brücken, altertümliche,
ruinös wie nach einer Zerstörung, labil ausbalancierte
Trassen zwischen zwei aufragenden Pfeilern, oder jene,
die zwischen zwei Pylonen beginnt und am Ende der
Bahn zwei stählerne ›Finger‹ vorsichtig ausstreckt, um
den sicheren Boden zu finden.
»Das war eine wilde Zeit« sagt er und kehrt zu den
Monologen der ›Eingeschlossenen‹ zurück, nicht zu
jenen Köpfen, die sich nur unvollkommen gegen die
Blicke der Außenstehenden schützen können, weil ihre
Schutzschicht durchsichtig ist, sondern zu den Betonhäusern, die groß genug sind, um einen menschlichen
Kopf zu verbergen.
→ S. 59
When the concept of a work begins to dominate the
debate with its composition, dramatic changes of materials, media and expressive gestures can occur. In 2007
Czarnetta leaves the series of spectra and transposes the
idea of a head, the dialectic between internal and external to that of a house. The small concrete model seems
like a fortification with windows that are look-outs, a
cube which can be replicated horizontally as well as
vertically. And Czarnetta multiplies it, composes groups
of houses which, with their pig’s teeth roots, have
grown into transparent resin cubes like into mandibles.
The model of a town develops in relaxed formation.
The monologue of the human under his mask, of the
obscured, the conserved is suspended and replaced by
the murmuring of a large group.
The notion of the opening, of the extended hand,
the dialogue, leads Czarnetta to new experiments: he
breaks open the closed shape of a house, opens the roof,
sets it as a fragile dome above the dark block, and he
shapes – in turn from concrete – bridges, sketches of
bridges, unfinished bridges, antiquated routes, ruined
as if post-demolition, unstably balanced between two
towering pillars, or the one which begins between two
pylons and extends two steel »fingers« carefully at the
end of the tracks to find the secure ground.
»That was a wild time« he says and returns to the
monologues of the »enclosed«, not to those heads, that
can only inadequately guard against outsiders’ gaze,
because their protective cover is transparent, but to
those concrete houses, that are large enough to conceal
a human head.
→ S. 59
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Haus · Beton, Höhe 12 cm, 2007 | House · Concrete, height 12 cm, 2007
Wachzahn · Fliesenkleber, Höhe 42 cm, 2008 | Watchtowertooth · Tile adhesive, height 42 cm, 2008
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Wachzahn · Fliesenkleber, Höhe 52 cm, 2008 | Watchtowertooth · Tile adhesive, height 52 cm, 2008
Stadt · Harz, Schweinezähne, Gips, Höhe 8 bis 15 cm, 2008 | City · Resin, pigteeth, plastic, height 8 to 15 cm, 2008
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Boot · Zement, Höhe 15 cm, 2007 | Boat · Concrete, height 15 cm, 2007
Boot · Zement, Höhe 20 cm, 2008 | Boat · Concrete, height 20 cm, 2008
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Brücke · Beton, Höhe 22 cm, 2007 | Bridge · Concrete, height 22 cm, 2007
Brücke · Beton, Höhe 38 cm, 2007 | Bridge · Concrete, height 38 cm, 2007
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Lounge Interieur · Beton, Opernglas, Höhe 30 cm, 2006 | Lounge Interior · Concrete, lorgnette, height 30 cm, 2006
Bunker
Bunker
1992 erschien in deutscher Sprache das Buch BunkerArchäologie von Paul Virilio, in dem er seine eigenen
schwarz-weißen Fotografien der deutschen Bunker an
der französischen Atlantikküste publizierte. Einer Kindheitserinnerung folgend, hat er sie 1958 systematisch
dokumentiert. Er widmet ein Kapitel ihrer Anthropomorphie und zeigt verblüffende Beispiele von ›Köpfen‹,
kleinen runden und eckigen Gebäuden mit Ausguckund Schießschlitzen, die jenen bedrohlich magischen
Ausdruck dem Meer zuwenden, den wir aus Fotografien der Skulpturen der Osterinsel kennen, und er
zitiert Ernst Jünger, der den Besuch eines dieser Bunker beschreibt: »Hier erst erkannte ich den Ort als
Wohnsitz eisenkundiger Zyklopen, denen das innere
Auge fehlt …«
Czarnetta beginnt 2006 eine Serie von Betonskulpturen, denen er sozusagen hemdsärmelig den Namen
Lounge Interieur gibt. Diese roh erscheinenden Kuben,
die an der Wand hängen, sind in Wirklichkeit hohle, nach
unten offene Volumen, ›Helme‹, in denen ein menschlicher Kopf eine sichere Hülle findet. In die Front einer
dieser ›Glocken‹ ist ein Paar von Ferngläsern eingegossen, das dem Benutzer erlaubt hinauszuschauen.
Wie jene Bunker der deutschen Armee an den
Westküsten Europas sind sie aus Beton gegossen, und
in den Fotografien übersieht das Auge den Größenunterschied. Von der Enge des Ein-Mann-Bunkers zu
der des Ein-Kopf-›Helms‹ ist es darum nur ein kleiner
Schritt; gemeinsam ist ihnen die zweifache Funktion
der ängstlichen Beobachtung der Umwelt und des
Schutzes vor ihr. Die kleinen Skulpturen steigern die
Drohung, die die großen zu vermitteln die Aufgabe
haben. Sie laden nicht selbstverständlich ein, sie zu
benutzen, sie stoßen den Betrachter zurück – wie ein
Apotropaion, ein Abwehrzauber, der seinen Besitzer
gegen den »bösen Blick« und Unheil bringende Flüche
schützt. Sie schützen den, der seine Angst vor ihnen
überwindet und zu ihnen flüchtet. Dort ist er allein.
Die ›Helme‹ lassen nur einen Kopf herein.
In der nächsten Serie widerfährt dem Betrachter
eine Überraschung. Er ist eingeladen, sich einem Betonkubus so weit zu nähern, dass er durch seine Öffnungen hineinschauen kann.
¬
In 1992 Paul Virilio’s book Bunker Archaeology was published in German, in which he exhibited his black and
white photographs of the German bunkers on the French
Atlantic coast. Following a childhood memory he systematically documented them in 1958 . He dedicates a
chapter to their anthropomorphism and shows astonishing examples of »heads«, small round and angular buildings with look-outs and gun-slits, turning that same
menacingly magical expression towards the sea that we
know from photographs of the Easter Island sculptures,
and he quotes Ernst Jünger’s description of a visit to one
of these bunkers: »Only here did I recognise the locality
as the dwelling of cyclopes, experienced with iron, that
are missing the inner eye …«
In 2006 Czarnetta begins a series of concrete sculptures which he calls quasi-casually Lounge Interior. These
seemingly unrefined cubes, which hang on the wall,
are in reality hollow volumes opening downwards,
»helmets«, in which a human head finds secure cover.
A pair of binoculars is let into the front of one of those
»bells«, which allow the user to look out.
Like the German army’s bunkers along the coasts of
Europe’s west, they are cast in concrete, and in the photographs the eye ignores the size difference. This makes
it only a small step from the constriction of the one man
bunker to that of a one head »helmet«; they have in
common the dual function of fearful observation of the
surroundings and protection from them. The small
sculptures augment the threat, which it is the large ones’
duty to convey. They don’t invite their use as a matter
of course, they repel the viewer-like an Apotropaion, a
defensive spell, that protects its owner against the »evil
eye« and disaster-carrying curses. They protect whoever overcomes fear of them and flees to them. There
he is alone. The »helmets« only allow in one head.
There is a surprise in store for the viewer in the
next series. He is invited to approach a concrete cube
close enough to be able to see into its openings. The
block has a »face«, which the viewer penetrates. His eyes
look through two eye holes, mouth and nose are pressed
against openings.
The title Single Interiors describes drily what can be
seen: view of the double chin, one eye’s view of another,
59
Der Klotz hat ein ›Gesicht‹, in das der Besucher eindringt. Seine Augen schauen durch zwei Augenlöcher,
sein Mund, seine Nase drücken sich gegen Öffnungen.
Die Titel der Single Interieurs beschreiben trocken,
was er sehen wird: Blick auf das Doppelkinn, Blick des
einen Auges auf das andere, Blick unter das Kinn von
vorn, Blick in die Nase, Blick auf die Unterseite der
Oberlippe … Czarnetta hat in die Betonbehälter jeweils
zwei Spiegel so eingebaut, dass sie diese barocken
Wunder produzieren können: die camera obscura der
Selbstbespiegelung.
Folgerichtig, damit die Ohren gespiegelt werden
können, ist eine der Skulpturen ein dreifacher Kubus
in U-Form, ein ›Flügelbau‹, Stufensockel zeigt jene, die
das Kinn wiedergibt. Die Variationen sind ihrem Zweck
geschuldet und ebenso wenig Ergebnisse eines ästhetischen Spiels wie die Erscheinungsweisen der Objekte.
Sie bleiben Behälter und tragen die Spuren ihrer einfachen, rohen Herstellung. Sie könnten Vogelkästen
sein, aber sie sollten nicht aus der Distanz betrachtet
werden; sie fordern im Gegenteil eine Annäherung,
die ungewöhnlich ist; erst wer sie vollzieht, begreift
sie. Sie nähern sich optischen Geräten der Augenmedizin in technischen Museen, Stereoskopen der frühen
Fotografie, ihre Lust an der Überraschung kann sie in
Kuriositätenkabinette führen – das Konzept ist streng,
es fordert kein Ornament.
→ S. 67
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frontal view under the chin, view up the nose, of the
underside of the upper lip … Czarnetta has incorporated two mirrors into each concrete container, so that
they can produce these baroque miracles: the camera
obscura of self-reflexion.
Consequently, in order to mirror the ears, one of
the sculptures is a U-shaped threefold cube, a ›wing
edifice‹, another, which reflects the chin, displays tiered
plinths. The variations owe to their purpose and are just
as little results of an aesthetic game than are the objects’
appearances. They remain containers and show traces
of their simple, coarse manufacture. They could be bird
boxes, but should not be viewed from a distance, on the
contrary, they demand an uncommon approach, comprehensible only to whoever carries it out. They approximate optical instruments of ophthalmic medicine in
technical museums, stereoscopes from early photography, their delight in surprise can lead them into chambers of curiosities – the concept is strict, no ornaments
required.
→ S. 67
Single Interieur – Blick unter das Kinn · Beton, Spiegel, 30 cm, 2006
Single Interieur – Frontal view under the chin · Concrete, mirror, 30 cm, 2006
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Lounge Interieur · Beton, Höhe 27 cm, 2006 | Lounge Interior · Concrete, height 27 cm, 2006
Lounge Interieur · Beton, Höhe 30 cm, 2006 | Lounge Interior · Concrete, height 30 cm, 2006
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Single Interieur – Blick auf das Doppelkinn · Beton, Spiegel, Höhe 35 cm, 2006
Single Interior – View of the double chin · Concrete, mirror, height 35 cm, 2006
Single Interieur – Blick in die Nase · Beton, Höhe 22 cm, 2006
Single Interior – View up the nose · Concrete, height 22 cm, 2006
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Single Interieur – Blick auf die Unterseite der Oberlippe · Beton, Spiegel, Höhe 25 cm, 2006
Single Interior – View of the underside of the upper lip · Concrete, mirror, height 25 cm, 2006
DIE MONADE SCHAUT IN DEN SPIEGEL
THE MONAD GAZES INTO THE MIRROR
Diese bricolages, deren Oberflächen Czarnetta roh
belässt, sind Beispiele einer ›art brut‹, die sich aus dem
›klassischen‹ Feld der Scheinporträts weit entfernen.
Auf dem langen Weg von den einen zu den anderen hat
ihn eine energische Neugier getrieben, in Menschen, in
sich selbst einzudringen. Das muss nicht überraschen:
Bildnisse und Selbstbildnisse gehören zu den ältesten
Zeugnissen der Bildenden Kunst, und Künstler wie
Rembrandt oder Munch haben sich selbst in allen
Altersstufen forschend porträtiert. Aber Czarnetta hat
mit großer Ausschließlichkeit in dieser ersten Werkphase seines Künstlerlebens Köpfe von Menschen,
immer wieder Köpfe hergestellt, und in ihrer Mitte
stehen in seinem Atelier die Abgüsse seines eigenen
Kopfes, die er herstellte, nachdem er sich entschloss,
auf seine Kopfhaare zu verzichten. Die ›Ausbrüche‹ sind
der einzige Versuch, die Köpfe zu verlassen.
In dieser Werkphase formt er aus Materialien,
die im Rohzustand flüssig sind. Sie gestatten ihm zu
kneten, zu kleben, zu gießen, er bedarf keiner Hilfe, er
bleibt mit seinen Köpfen allein. Er wechselt dramatisch
die Distanz zwischen Betrachter und Objekt. Viele Köpfe
sind so klein, dass er sie nahe an die Augen führt, wenn
er sie herstellt. Die lebensgroßen fordern einen konventionellen Abstand – von Kopf zu Kopf. Am Ende
beseitigt er den Abstand ganz: er drückt sein Gesicht
an Augen, Nase, Mund und Kinn des Anderen. Der
Andere, den er sucht, ist er selbst.
Horst Bredekamp beschreibt in seinem Buch
Die Fenster der Monade einen Leibniz, der sich der
mechanistischen Lehre seiner Zeit widersetzt, dass die
Seele des Menschen eine tabula rasa sei, in die sich
die äußere Welt einschreibt. In seiner Monadologie
schottet er sie ab und definiert sie als eine autonome
Monade, die das Universum in sich trägt. Bredekamp
versucht, in den Schriften von Leibniz die Fenster zu
finden, die sie mit der Außenwelt so verbinden, dass
ihre ›sphaera intellectus‹ die eindringenden Bilder mit
den eigenen verknüpfen und auswerten kann. In jenem
barocken Theater der Natur und Kunst, das er schildert,
wäre das Konzept der Single Interieurs eine höchst
sonderbare Demonstration: die Monade schaut durch
ein Fenster und spiegelt sich selbst. Was wird sie tun?
These »bricolages«, whose surface Czarnetta leaves
crude, are examples of an ›art brut‹, which depart far
from the ›classical‹ field of quasi-portraits. On the long
way from the one to the others he was driven by an
energetic curiosity to permeate humans, himself. This
should not surprise: portraits and self-portraits belong
to the oldest evidence of art, and artists like Rembrandt
or Munch have portrayed themselves in all stages of life.
But in this first working stage of his artistic life Czarnetta
has exclusively produced human head, repeatedly heads,
and in their midst stand in his workshop casts of his own
head, made after he decided to forego his hair. The
›eruptions‹ are the only attempt to abandon the heads.
In this work phase he moulds from materials that
are liquid in their natural state. They permit him to
knead, glue and cast, he needs no help, remains alone
with his heads. He dramatically swaps the distance between viewer and object. Many heads are so small that he
brings them close the eye while working on them. The
life-sized ones require a conventional distance – head
to head. In the end he removes distance altogether: he
presses his face against eyes, nose, mouth and chin of
the Other. The Other, that he is looking for, is himself.
Horst Bredekamp describes in his book The Windows of the Monad a Leibniz, who resists the mechanistic
teaching of his time, that the human soul is a tabula
rasa, into which the outside world inscribes itself. In
his monadology he isolates it and defines it as an autonomous monad, carrying the universe within itself.
Bredekamp attempts to find the windows in Leibniz’
writing which link them to the outside world, so that
their ›sphaera intellectus‹ can connect the intruding
images with its own and interpret them. In that baroque
theatre of nature and art, that he describes, the concept of
Single Interiors would make for a highly unusual demonstration: the monad looks through a window and reflects
itself. What will it do? Will it recognise that which it sees
as its own? Will it be content? Will it approach other
windows? Will it try to destroy its reflection or will it
fear losing it? The questions circle around the complex
of fear.
Fear and worry drive the sculptor Czarnetta when,
while kneading faces, he discovers that their skin can be
67
Wird sie das, was sie sieht, als ihr Eigenes erkennen?
Wird sie zufrieden sein? Wird sie sich anderen Fenstern
zuwenden? Wird sie ihr Spiegelbild zu zerstören suchen
oder wird sie Angst haben, es zu verlieren? Die Fragen
kreisen um den Komplex der Angst.
Angst und Sorge treiben den Bildhauer Czarnetta,
wenn er beim Kneten von Gesichtern darauf stößt,
dass ihre Haut sich vom Kern der Köpfe lösen lässt,
dass sie eine Maske sein kann, die das Gesicht verbirgt,
ein Helm, der es schützt, eine gläserne Hülle, die die
Auseinandersetzung mit der Welt verfälscht und unterbindet. In seinen monomanischen Spiegelkabinetten
versucht er, durch die Haut hindurch, durch ihre Öffnungen, durch die Löcher der Nase und der Ohren in
Köpfe hineinzuschauen. Die Monade, die sich zu entfalten sucht, stößt auf Hindernisse. Der Blick durch ihre
Fenster fällt auf sie selbst zurück.
Angst und Sorge produzieren hier Unternehmungsgeist, Lust am Experiment und einen großen
Mut, die Regeln der Disziplin zu brechen. Die Persönlichkeit, die sich als Prozess begreift (ich referiere das
Zitat Czarnettas), schöpft ihre Kraft aus der Leugnung
eines statischen Kerns des Ich – ein Abenteuer. Das
Œuvre, das nicht einem prästabilierten schöpferischen
Wesen entspringt, besitzt die Freiheit, jugendlich, energisch, elastisch, unpathetisch zu sein.
Der Wind, der das Wasser kräuselt, in dem sich
dieser Narziss spiegelt, wird ihn vom Ufer verjagen, ehe
er sich ertränkt. Die Monade schaut in den Spiegel.
separated from the core of the heads, that it can be a
mask, which hides the face, a helmet, that protects it, a
glass coat that falsifies and inhibits the debate with the
world. In his monomaniacal mirror cabinets he tries to
see into the inside of heads through the skin, through
their openings, through the holes of the nose and ears.
The monad that tries to unfold, runs into obstructions.
The view through the windows settles on itself.
Here fear and worry produce initiative, the joy of
experimenting and much courage to break the rules of
discipline. The personality which sees itself as process
(I refer to Czarnetta’s quote), draws its strength from the
denial of a static core of the ego – an adventure. The
œuvre that doesn’t spring from a pre-stabilised creative
being, possesses the freedom to be youthful, energetic,
elastic, non-solemn.
The wind that ripples the water in which this Narcissus is reflected, will chase him from the shore, before
he drowns himself.
Wolfgang Becker
Wolfgang Becker
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Single Interieur – Blick vom einen Auge in das Andere · Beton, Spiegel, Höhe ca. 25 cm, 2006
Single Interior – One eye’s view of another · Concrete, mirror, height ca. 25 cm, 2006
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Biografie
Biography
1966 Geboren in Düren
1992 Steinbildhauer-Gesellenprüfung
1993 – 2004 Studium der Kunstgeschichte / Philosophie
an der RWTH Aachen
2004 Promotion zum Dr. phil. der Kunstgeschichte mit
einer Arbeit über neugotische Steinskulpturen
am Aachener Dom
Seit 2007 Künstlerischer Mitarbeiter am kunstwissenschaftlichen Institut der Universität Koblenz
1966 born in Dueren
1992 sculptor-apprentice diploma
1993 – 2004 Studies of philosophy / history of arts at the
university of Aachen
2004 Promotion with a doctor thesis on neogothic
sculpture at the Aachen cathedral
since 2007 Artistic associate at the institute of aesthetics
and art history
Ausstellungen (Auswahl)
1997 Teilnahme an einem internationalen Bildhauersymposium mit Abschlussausstellung im Ludwig
Forum für internationale Kunst in Aachen
2000 Einzelausstellung in der Burg Stolberg
– Einzelausstellung im Kunstverein Pit Weber, Oelde
2001 Teilnahme an der »International Sculptors Exhibition«, National Museum of Contemporary Art,
Seoul / Korea
2003 Einzelausstellung in der Galerie Downtoart,
Gent, Belgien
2005 Ausstellung im Rahmen der »Dürener Kulturtage« auf Schloss Burgau, Düren
– Einzelausstellung im Schloss Neersen, Temporäre Galerie der Stadt Neersen
– Gruppenausstellung im Kunstbunker im Nordpark, Mönchengladbach
2006 Einzelausstellung in der Galerie Lutz Rohs, Düren
– Einzelausstellung in der Galerie 23 m², Aachen
2007 Teilnahme an der »Höhler Biennale«, Gera
– Teilnahme an der Skulpturenausstellung
»Schwarz-Weiß« des Museums Schwarzenberg
2008 Einzelausstellung »Neue Galerie Kloster Bronnbach«, Bronnbach
– Einzelausstellung »Galerie am Elisengarten«,
Aachen
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Exhibitions (selection)
1997 Participation at an international sculptor-symposium and exhibition in the Ludwig Forum for
international Art, Aachen
2000 One-man-show in the castle of Stolberg
– One-man-show in the art association »Pit Weber«,
Oelde
2001 Participation at the »International Sculptors
Exhibition«, National Museum of Contemporary
Art, Seoul / Korea
2003 One-man-show in the Gallery Downtoart, Gent,
Belgium
2005 Group show »Duerener Kulturtage«, Castle
Burgau, Dueren
– One-man-show in the Castle of Neersen,
Temporary Gallery of the City of Neersen
– Group Show in the »Art Bunker«,
Moenchengladbach
2006 One-man-show in the Gallery Lutz Rohs, Dueren
– One-man-show in the Gallery 23 m², Aachen
2007 Participation at the »Hoehler Biennial«, Gera
– Participation at the sculpture exhibition
»Schwarz-Weiß« in the Museum Schwarzenberg
2008 One man show »Neue Galerie Kloster
Bronnbach«, Bronnbach
– One man show »Galerie am Elisengarten«, Aachen
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Impressum / Imprint
Es erscheint eine Vorzugsausgabe. Den ersten zwölf
Exemplaren liegt eine Arbeit von Oliver Czarnetta bei.
A special edition will be available. A work by Oliver
Czarnetta will accompany twelve copies of this book.
Vielen Dank an Prof. Dr. Wolfgang Becker, Dr. Beate
Reifenscheid und die Galerie am Elisengarten, Aachen
Many thanks to Prof. Dr. Wolfgang Becker, Dr. Beate
Reifenscheid and the Galerie am Elisengarten, Aachen
In Zusammenarbeit mit Ludwig Museum Koblenz.
In corporation with Ludwig Museum Koblenz.
Gestaltung / Layout:
Marco Lietz, Philipp Althoff
Texte / Essays:
Dr. B. Reifenscheid, Prof. Dr. W. Becker
Übersetzungen / Translations:
Alastair French (Dr. B. Reifenscheid),
Costia Khoury (Prof. Dr. W. Becker)
Druck / Printing:
Steinmeier, Deiningen
Fotografie / Photography:
Anne Gold: Umschlag,
S.10–13,16–23, 28–33, 40–48, 51–53, 56, 57
Philipp Althoff: S. 5–9, 14, 24–27, 34–39, 50, 54, 55, 58–69
Petra Deta Weidemann: S.70
© 2009 Oliver Czarnetta, Beate Reifenscheid,
Wolfgang Becker & Salon Verlag
ISBN 978-3-89770-346-9
Salon Verlag, Köln
www.salon-verlag.de, [email protected]
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the
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